Leseprobe Die letzte Lüge des Cameron Swift

Prolog

So hatte sie sich den Moment vor dem Tod nicht vorgestellt. Sie sah keine Bilder aus den Untiefen ihrer Erinnerung vorüberziehen. Keine Erfolge, die sie gefeiert hatte oder vertane Chancen. Stattdessen kribbelte eine unfassbare Angst unter ihrer Haut, die an Momentum gewann und durch ihren Körper zog. Sie setzte ihre Organe eines nach dem anderen außer Gefecht.

Waren sie dort draußen? Sie riskierte einen flüchtigen Blick aus dem Fenster. Sie sah niemanden und weder waren in der Ferne leise Motoren zu hören, noch nahm sie vorsichtige Schritte wahr, die bedeutet hätten, dass sie heimlich um das Haus schlichen.

Sie wünschte sie herbei. Geschützt durch kugelsichere Westen und die halbautomatischen Waffen bereit. Verflucht nochmal. Hoffentlich hatten sie das Nachbarhaus schon evakuiert und die Nachbarschaft abgeriegelt.

„Ene, mene, miste, …“

Sie drehte sich rasch wieder vom Fenster weg und blickte direkt in den Lauf der Pistole. Sie erstarrte.

Das unruhige Knie neben ihr gab das Staccato an und übertrug ein Zittern auf die Personen, die auf dem Sofa saßen.

Der Geiselnehmer wiederholte den Abzählreim und richtete die Waffe nacheinander auf alle seine Opfer. Kind, Erwachsene, Kind, Erwachsene. Wie eine Katze, die mit ihrer Beute spielte. Ein bösartiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Bitte seid dort draußen. Irgendwann würden sie Kontakt aufnehmen und versuchen zu verhandeln. Oder etwa nicht?

Das nervöse Knie neben ihr schlotterte nun und Urin lief die Wade hinunter. Sie schluckte schwer. Trotz der Hitze der aneinandergepressten Körper auf dem Sofa jagten ihr eiskalte Schauer den Rücken hinunter. Zwei Erwachsene und zwei Kinder. Einen Erwachsenen umzubringen war schon grausam. Doch ein Kind? Das war an Grausamkeit nicht zu übertreffen.

Urin bahnte sich seinen Weg über den blank gebohnerten Fußboden.

War das nicht einer dieser Momente, in dem so etwas wie ein Selbsterhaltungstrieb plötzlich einsetzte? Ein Überbleibsel tierischen Instinkts, der noch irgendwo in den Genen schlummerte. Sie hatten es mit Geschrei, Argumenten, Bitten versucht, sie hatten sogar gefleht. Doch vergeblich. Das Gesicht ihnen gegenüber blieb ruhig und unbewegt. Und ihnen gingen allmählich Ideen und Hoffnung aus. Alle Sinnesorgane waren vor Angst gelähmt.

Draußen wurde der Wind stärker und ein plötzlicher Windstoß pfiff durch die Bäume im Vorgarten. Das Geräusch schnitt ihr die Luft ab. Selbst wenn die Gehwege nicht verwaist waren, stand das Haus immer noch so weit von der Straße entfernt, dass niemand ihre Schreie und ihr Flehen hören würde. Und das hier war kein Film und dort draußen war niemand. Es würde keine heldenhafte Rettungsszene geben.

Demonstrativ lud der Geiselnehmer die Pistole durch. Ihr drehte sich der Magen um, als sie in das grausame, todbringende Gesicht hinaufsah und hörte, wie er die Worte ausspuckte:

„Also dann. Wollen wir anfangen?“

1

Sieben Tage zuvor

Die Bewohner von Collingtree Park wachten allmählich auf, als das laute Röhren eines Motorrads die Stille des Sonntagmorgens durchbrach.

Der Fahrer in schwarzer Lederkluft nahm die Kurven gekonnt mit rasantem Tempo und strahlte dabei Gelassenheit und Coolness aus. Vorbei an Häusern mit zugezogenen Gardinen, frischgetrimmten Rasenflächen und Auffahrten mit Kombis und Minivans, die sich nach einem Besuch in der Waschstraße sehnten.

Die Sonne stand am strahlend blauen Himmel und Abgase vermischten sich mit der dicken Luft. Es war Hochsommer und die aktuelle Hitzewelle zeigte kein Erbarmen. In ein paar Stunden würden die Pools in den Gärten wieder aufgefüllt und das Lachen und Kreischen der Kinder in der ganzen Siedlung zu hören sein.

Um fünf nach sieben trat Cameron Swift aus Nummer 16 der Sackgasse Meadowbrook Close und zog die Haustür leise hinter sich zu.

Der Motorradfahrer schaltete einen Gang zurück, bog um die Kurve und fuhr die Straße herauf. Cameron lud seine Golftasche in den Kofferraum seines Mercedes, als das Motorrad schlingernd wenige Meter vor dem Ende der Auffahrt anhielt. Der Fahrer nickte Cameron zu, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Eine vertraute Geste, als ob sie verabredet waren oder aber ihre Begegnung wochenlang geplant gewesen war.

Cameron runzelte die Stirn, schaute auf seine Uhr und dann zurück zum Haus. Einen Sekundenbruchteil lang überlegte er, nach Monika zu rufen, aber sie wäre nicht erfreut darüber, aus dem Schlaf gerissen zu werden, besonders wenn er auch das Baby dabei weckte. Er seufzte und ging die Auffahrt hinunter, einen neugierigen Schritt nach dem anderen, blieb am Bordstein stehen und legte den Kopf schief, um durch das dunkle Visier zu sehen.

Sie sahen einander an. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.

Der Motorradfahrer ignorierte seine Frage, zog am Reißverschluss seiner Jacke und griff in die Tasche.

Beim Anblick der Pistole riss er die Augen auf. Er schluckte, schüttelte den Kopf. Machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Die Arme ruderten, als er sich umdrehen wollte. Doch nicht schnell genug. Sein Körper zuckte mit jedem Schuss, rot spritzte es durch die Luft, dann sank er zu Boden. Streifen leuchtend roten Bluts bahnten sich ihren Weg über den Asphalt.

Der Motorradfahrer steckte die Glock wieder in die Jacke und zog sein Handy heraus. Er öffnete die Kamera, machte drei Bilder und schob das Handy zurück in die Tasche. Der Motor heulte auf und schon brauste er die Straße hinunter.

2

Beth wurde vom penetranten Klingeln ihres Handys geweckt, das eine ihr fremde Melodie spielte. Träge drehte sie sich um und gähnte. Als ihr Blick auf die roten Ziffern ihres Weckers fiel, wurde sie schlagartig wach.

„Verdammt!“

Sie sprang aus dem Bett und eilte den Flur hinunter ins Zimmer nebenan, wo Lily in ihrem Bett saß und sich die Augen rieb. Beth strich ihrer Nichte liebevoll über den Rücken. „Zeit aufzustehen, Süße. Es ist fast halb neun.“

Die Siebenjährige schob die blonden Strähnen aus dem Gesicht und stöhnte: „Wir sind spät dran.“

„Nein, sind wir nicht. Wir haben noch fünfzehn Minuten bis deine Mutter hier ist.“

„Aber mein Schwimmwettbewerb. Ich soll spätestens eine Stunde, bevor es losgeht, essen. Das hat Coach Walters gesagt.“

„Kein Problem. Steh schon mal auf und zieh dich an, ich mache dir in der Zwischenzeit eine Schüssel Cornflakes. Die gehen schnell runter und liegen nicht schwer im Magen, wenn du im Wasser bist.“

Beth ignorierte die Widersprüche, das Nörgeln und Grummeln, die ihr auf den Flur hinaus folgten. Zurück im Schlafzimmer guckte sie auf ihr Handy und stieß einen Seufzer aus. Lily hatte ihren Klingelton verstellt und der verpasste Anruf war von der Dienststelle – kein gutes Zeichen an einem Sonntagmorgen.

Sie rief zurück und wippte ungeduldig mit dem Fuß.

„Inspector Tess Gleeson am Apparat.“

„Guten Morgen, Ma’am. DC Beth Chamberlain hier.“ Beth stellte das Handy auf Lautsprecher, klemmte es unter das Kinn und band ihr dunkles Haar zum Pferdeschwanz zusammen. „Sie hatten versucht, mich zu erreichen.“

Einen Moment lang herrschte Stille. Papier raschelte im Hintergrund. „Ah, ja. Danke für Ihren Rückruf, Beth. Im Westbezirk wurde jemand erschossen. In der Vorstadtsiedlung Collingtree Park. Wir stellen ein Team für die Mordkommission zusammen. Wir brauchen Sie hier, so schnell es geht.“

„Okay, ich kann in knapp fünfundvierzig Minuten bei Ihnen sein“, sagte Beth und tapste zum Kleiderschrank hinüber auf der Suche nach etwas, das halbwegs gebügelt aussah.

„Machen Sie eine halbe Stunde daraus, wenn möglich. Der DCI ist schon am Tatort. Er macht sich gleich auf den Weg zurück.“

Beth legte auf und wechselte zur Radio-App in der Hoffnung, die Nachrichten zu erwischen und warf das Handy auf ihr Bett. Ein Mordfall würde schnell die Aufmerksamkeit der Presse auf sich ziehen, die ersten Meldungen würden interessant sein. Doch statt eines abgehackten Nachrichtensprechers erfüllte die Stimme von Robbie Williams den Raum. Sie griff nach einer taillierten weißen Bluse und einer schwarzen Hose und dachte über die spärlichen Informationen nach, während sie den Bauch einzog, um den Reißverschluss ihrer Hose in Größe vierzig zu schließen.

Northamptonshire war eine weitläufige Grafschaft, die in den 1980ern gewachsen war, um den Londoner Bevölkerungsüberschuss anzulocken und bestand nun aus vielen kleinen Städten, umringt von hügeliger Landschaft und malerischen Dörfern. Cottages aus Sandstein, alte Kirchen und Landhäuser zierten die Gegend und zogen in den Sommermonaten so einige Touristen an, was jedoch nichts im Vergleich zum nahegelegenen Warwickshire oder den Cotswolds war. Im Herzen der Midlands gelegen und nur eine Stunde von London entfernt, war es vor allem für seine Verteilungszentren und Produktionsbetriebe bekannt. Die Kriminalitätsrate war verhältnismäßig niedrig und die Straftaten hauptsächlich gewinnorientiert – Ladendiebstahl, Einbruch, Raub. Morde gab es so gut wie keine und wenn doch, hatten sie meist familiäre Hintergründe oder waren Ergebnis einer Drogenfehde. Schüsse fielen hier selten. Aber es war der Tatort, der sie hellhörig gemacht hatte. Collingtree Park war eine schicke Vorstadtsiedlung, lag nicht weit der Abfahrt fünfzehn der Schnellstraße und zog sich um den nahegelegenen privaten Golfplatz. Sie hatte sich dort vor einigen Jahren Häuser angeguckt, mehr aus einer Laune heraus als in Erwartung, dort ernsthaft etwas zu finden, denn ihr Gehalt bei der Polizei schränkte ihre Suche deutlich ein. Die meisten Anwohner waren Pendler. Die Siedlung bestand hauptsächlich aus Doppelhäusern in Sackgassen oder Wohnstraßen ohne Durchgangsverkehr mit makellosen Gärten und imposanten Auffahrten. Nicht gerade die Gegend, die an Morde vor der Haustür gewohnt war.

Das Radio spielte noch dasselbe Lied, als sie in die Küche kam. Lily saß schon am Tisch und goss sich hochkonzentriert ein Glas Orangensaft ein, wobei die neben ihr zusammengerollte Myrtle, Beths graue Tigerkatze, sie kritisch beäugte.

„Du siehst hübsch aus“, sagte sie, als ihre Tante ihr eine Schüssel Cornflakes hinstellte.

„Dankeschön“, antwortete Beth, hob die Katze vom Tisch und setzte sie auf den Boden. „Ich muss leider los zur Arbeit. Deine Mama bringt dich zum Wettkampf.“ Lily machte ein langes Gesicht. „Aber ich sage ihr, dass sie deinen Wettkampf filmen soll, dann können wir uns das Video hinterher zusammen angucken.“

Ihre Miene erhellte sich bei der Aussicht. „Du kommst aber zur Landesmeisterschaft, oder?“

Beth nahm sie fest in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf. „Das ist doch noch eine Woche hin“, spottete sie. „Natürlich werde ich da sein.“

***

„Cameron Swift. Sechsundvierzig Jahre alt.“ Das Getuschel im Konferenzraum erstarb. Detective Chief Inspector Lee Freeman war nicht besonders groß, gerade einmal einen Meter fünfundsiebzig, mit schütterem rotem Haar und Bierbauch. Er hatte in den Neunzigern als DC in der Mordkommission gearbeitet und während verschiedener Stellen und Beförderungen den Kontakt nicht verloren, und nun war er als DCI zurückgekehrt. Seine Erfahrung und die Tatsache, dass er so gut wie jeden im Team beim Vornamen kannte und sich die Meinungen anderer anhörte, egal, welchen Rang sie hatten, machten ihn zu einem perfekten Vorgesetzten. Vor Kurzem waren Gerüchte umgegangen, dass er sich für eine Beförderung in der benachbarten Dienststelle bewerben wollte und Beth war froh, dass er zumindest für diesen Fall noch da war.

„Wurde um etwa zehn nach sieben heute Morgen vor seinem Haus, Meadowbrook Close 16, in der Siedlung Collingtree Park aus kurzer Entfernung erschossen.“ Freeman tippte zweimal auf das Board neben ihm und sprach weiter. Eine Sammlung vergrößerter Fotos vom Leichnam des Opfers aus verschiedenen Winkeln erschien. Die blutverschmierte Leiche auf dem grauen Asphalt hob sich vom blassen Untergrund ab.

„Die direkten Nachbarn behaupten drei Schüsse gehört zu haben. Einige sagen sie hätten Motorenlärm gehört und einer hat eine grüne Kawasaki gesehen, die kurz darauf aus der Straße kam, aber soweit wir wissen, hat niemand die Tat gesehen.“ Er tippte energisch auf das Whiteboard und das Geräusch hallte durch den Raum. „Den Motorradfahrer ausfindig zu machen hat im Augenblick höchste Priorität.“

„Wissen wir, welche Route die Person zur und aus der Sackgasse genommen hat?“ Alle Augen richteten sich auf Detective Sergeant Nick Geary, der mit unverkennbar nordirischem Akzent sprach und etwas abseits an der Heizung lehnte. Er hatte sein dunkelblaues A4-Notizbuch unter den Arm geklemmt und schob sich mit der freien Hand eine dunkle Locke aus dem Gesicht. „Mit diesem Wissen sollten sich noch weitere Zeugen finden lassen.“

„Das wissen wir noch nicht“, antwortete Freeman. „Es war früh am Sonntagmorgen. Die meisten Leute waren noch im Bett. Wir haben eine Nachbarschaftsbefragung veranlasst und haben die Kollegen gebeten, Material von Überwachungskameras zu sammeln, wenn sie die Siedlung abklappern. Sollte nicht zu kompliziert sein, die Route innerhalb der Siedlung herauszufinden und das sollte uns helfen, einzugrenzen, woher das Motorrad kam und wohin es nach der Tat gefahren ist.“

Freeman wandte sich wieder seinem Team zu. „Momentan haben wir nur einen Zeugen, der den Motorradfahrer beschreiben konnte: Schwarze Lederkluft, durchschnittliche Statur. Bisher hat keiner das Nummernschild gemeldet oder genauere Angaben zum Motorrad oder dem Fahrer gemacht. Aber es ist noch früh. Wir werden einen Zeugenaufruf für die Presse schreiben, mal sehen, was dabei herumkommt.“ Er blickte wieder zum Sergeant und signalisierte ihm, zu übernehmen. „Nick hat die Hintergrundüberprüfung des Opfers gemacht.“

Nick Geary schlenderte nach vorne. Er war größer als Freeman, hatte einen dunklen Teint, eine sportliche Figur und trug den Bart kurz getrimmt. Unter anderen Umständen hätten die beiden Männer so nebeneinanderstehend ein komisches Bild abgegeben. Sie hätten kaum gegensätzlicher aussehen können. Nick schlug sein Notizbuch auf. „Das Opfer war Vermögensverwalter, einer der Partner bei Barclay Swift in Birmingham und Mitglied im Golfclub in der Nähe. Dort hat er gelegentlich sonntags gespielt. Er lebte seit drei Monaten mit seiner polnischen Freundin Monika und ihren zwei Söhnen, Oskar und Jakub, in Collingtree Park. Keine Vorstrafen. Keinerlei aktenkundige Vermerke zum Opfer oder der Familie. Keiner von ihnen ist polizeibekannt.“ Er ließ seine Notizen sinken. „Das ist alles, was wir bisher haben.“

Freeman dankte ihm und wandte sich wieder seinem Team zu. „Okay, Leute. Zu den Prioritäten. Ich möchte ein Team, das zum Golfplatz fährt. Er trug Golfkleidung. Der Kofferraum seines Autos stand offen und darin lag eine Golftasche. Wir müssen herausfinden, wo er heute Golf spielen wollte und mit wem.“

„Sein Handy wurde am Tatort gefunden. Wir gehen die Anrufe durch, sprechen mit seinen Freunden, seiner Familie und finden heraus, mit wem er Kontakt hatte, privat sowie geschäftlich.“ Er drehte sich zu Geary um. „Sehen Sie zu, dass wir die Telefonverbindungen im Schnellverfahren bekommen, ja? Ich will, dass wir uns so schnell wie möglich ein Bild seiner letzten zwei Wochen machen können.“

„Außerdem müssen wir seinen Geschäftspartner befragen. Ich will wissen, woran er zuletzt gearbeitet und ob er jemanden verärgert hat.“

„Ein Team der Spurensicherung wurde schon hinbeordert, um die Gegend zu durchkämmen und nach den fehlenden Kugeln und Hülsen zu suchen. Der Pathologe vermutet, dass drei Schüsse abgegeben wurden, zwei in die Brust, einer in den Kopf.“ Er zeigte auf die Einschussstellen auf den Fotos neben ihm. „Nur zwei Wunden, aus denen die Kugeln wieder ausgetreten sind, heißt also eine Kugel steckt noch im Körper. Wir hatten Glück, dass PC Grover als erster am Tatort war. Für diejenigen unter euch, die ihn nicht kennen, er hat mal im bewaffneten Dienst gearbeitet. Er vermutet, dass die Waffe eine Neun-Millimeter-Pistole war. Eine Hülse wurde in der Nähe gefunden. Wir müssen die anderen finden, damit die Ballistik sie untersuchen kann.“

Seufzend fuhr er fort: „Ich habe keine Zweifel daran, dass der Angriff geplant war. Der Täter wusste, wo sein Opfer wohnt und ist dort hingefahren. Bewaffnet und mit der Absicht, ihn zu konfrontieren. Vielleicht wusste er sogar, dass er vorhatte, heute Morgen Golf zu spielen.“

„Es sieht nach professioneller Arbeit aus, nicht wahr?“, warf Geary ein. „Zwei Schüsse in die Brust, einer in den Kopf. Der Täter muss ein ziemlich guter Schütze gewesen sein, um mit einer Handfeuerwaffe so zielsicher zu treffen, selbst aus kurzer Entfernung. Besonders bei einem beweglichen Ziel.“

Einen Moment lang erfüllte Stille den Raum. „Was mich irritiert, ist der Ort“, meinte Freeman. „Wenn es ein Attentat war und jemand sich die Mühe gemacht hat, ihn zu beobachten, hätte man leicht einen weniger auffälligen Ort wählen können. Ihn an einem Sonntagmorgen, wenn die meisten Leute zu Hause sind, vor seinem Haus in einem Vorort umzubringen, ist riskant. Also gut, ich danke Ihnen allen. Inspector Aston ist noch krankgeschrieben, Sergeant Geary wird also die Teams zusammenstellen und die Aufgaben verteilen. Um sechzehn Uhr treffen wir uns für die nächste Einsatzbesprechung wieder hier.“

Beth machte sich noch einige Notizen, wartete darauf, dass der Raum sich leerte und ging dann nach vorne zum Board, um sich die Fotos genauer anzusehen. Der Leichnam lag auf dem Rücken, den Kopf nach rechts verdreht, knapp einen Meter von der Bordsteinkante entfernt. Sie wischte weiter zu den Fotos, die aufgenommen wurden, nachdem der Körper bewegt wurde. In der blutigen Masse konnte sie die Schusswunde am Kopf ausmachen, wo zuvor ein Auge gewesen war.

Sie ging dichter heran, legte den Kopf schief und zwang sich, die Fotos aus forensischer Sicht genauer zu betrachten. Eines der Bilder war von etwas weiter weg aufgenommen. Ein hängender Blumentopf mit bunten Petunien und die Rotklinkerfront des Hauses waren im Hintergrund zu sehen. Beides strahlte eine Art Heimeligkeit aus, die ihr einen Stich versetzte. In den neun Jahren bei der Polizei hatte sie viele schockierende Dinge gesehen: von Messern zerfetztes Fleisch, Schnittwunden, abgetrennte Gliedmaßen bei Verkehrsunfällen, krankenhausreif geprügelte Opfer, deren Gesichter gar nicht mehr wiederzuerkennen waren. Einige ihrer Kollegen konnten alle Gefühle diesbezüglich abschalten, mit den Jahren hatten sie sich an die brutalen Auswirkungen der Gewalt gewöhnt, doch Beth hatte das nie ganz gemeistert.

„Alles in Ordnung?“ Beth drehte sich um und sah, dass Freeman sie beobachtete. Er hatte sich aus den Klauen der anderen Detectives befreit, die nach der Besprechung zu ihm gekommen und jetzt in eine Unterhaltung vertieft waren.

„War das sein Auto?“ Beth zeigte auf den Mercedes im Hintergrund eines Fotos.

„Ja. Sieht aus, als wäre er auf dem Weg dorthin überrascht worden.“

„Er ist also an seinem Auto vorbeigegangen, die Auffahrt hinunter und ist dort auf seinen Mörder getroffen?“

„Davon gehen wir im Moment aus.“

Beth kaute auf ihrer Lippe herum und dachte nach. Warum zum Ende der Auffahrt laufen und dort jemanden treffen? Warum soll derjenige nicht zur Tür kommen? Außer natürlich, man kannte die Person oder wartete auf sie. „Hat ihn vor der Tat jemand angerufen oder ihm geschrieben?“, fragte sie.

Freeman runzelte die Stirn. „Die letzte SMS war an seinen Partner. Seitdem nichts mehr. Wieso fragen Sie?“

Beth wollte gerade ansetzen, als die Tür des Konferenzraumes so schwungvoll aufgestoßen wurde, dass sie von der Wand abprallte. Alle Augen richteten sich auf Elsie Neale, die Pressesprecherin, die mit ernster Miene nach vorne marschierte und sich den Schal zurechtrückte, offenbar bereit für die bevorstehende Pressekonferenz. Ihr folgte Superintendent Rose Hinchin. Sie blieben neben DS Geary stehen und sprachen leise, gerade so außer Hörweite für Beth. Ihre Miene verdüsterte sich und Superintendent Hinchin rief nach Freeman.

Freeman hielt die Hand zur Bestätigung hoch, zögerte einen Moment lang und wandte sich rasch zu Beth. „Kommen Sie in fünf Minuten in mein Büro. Wir müssen etwas besprechen, bevor Sie sich den anderen anschließen.“

3

Monika saß am Küchentisch und knüllte ein Taschentuch immer wieder in den Händen, bis es ihr durch die Finger glitt und zu Boden fiel. Gedankenverloren rückte sie Jakub, ihr neun Monate altes Baby, auf ihrem Schoß in eine bequemere Position. Seit sie heute Morgen ins Haus zurückbegleitet worden war und sie Jakub aus dem Kinderbett geholt hatte, klammerte er sich unentwegt an sie, selbst wenn sie zur Toilette ging. Nun war er endlich erschöpft eingeschlafen und für eine Weile ruhig.

„Sind Sie sicher, dass wir niemanden für Sie anrufen können, der zu Ihnen kommt?“, fragte der Detective.

Sie sah zu dem Mann mit dem graumelierten Haar und der Schmachtlocke, die ihm ins Gesicht fiel, hinauf und schüttelte den Kopf. Wie hieß er noch gleich? Sie war sich sicher, dass er sich vorgestellt hatte, als er heute Morgen angekommen war und sie von Camerons leblosem Körper weggezogen hatte, um die Sanitäter durchzulassen. Dann hatte er ihren zitternden Körper ins Haus gesteuert. Doch sie konnte sich partout nicht an seinen Namen erinnern. Die Tasse Tee, die er ihr gemacht hatte, stand zwischen ihnen auf dem Tisch und ein dunkler, zäher Film hatte sich auf der Oberfläche gebildet.

Die Schritte auf dem Fußboden über ihnen unterbrachen seine Worte. Ermittler in weißen Schutzanzügen waren in Scharen aufgetaucht, noch bevor der Krankenwagen losgefahren war, und durchsuchten nun die Räume, gingen ihre Habseligkeiten durch. Der Detective ihr gegenüber hatte gesagt, dass sie nach Hinweisen suchten, nach irgendeinem Anhaltspunkt, wer das getan haben könnte und wieso. „Ein notwendiger Teil der Ermittlungen“, hatte er ihr versichert und die Familie gebeten, sich solange mit ihm in die Küche zu setzen. Das Geräusch eines Stuhls, der über das Parkett schrappte, ließ sie zusammenzucken. Der Raum über ihnen schien nun im Fokus zu stehen: Camerons Arbeitszimmer. Als wäre der Schmerz, den leblosen Körper ihres Partners im Arm zu halten, nicht schlimm genug gewesen, musste sie jetzt die Demütigung erdulden, Fremde durch ihre Schubladen wühlen zu lassen und ihnen gestatten, ihr persönliches Hab und Gut durchzugehen. Ein Polizist war hereingekommen, um den Mülleimer zu holen, damit sein Inhalt überprüft werden konnte.

Monika strich Oskar, ihrem ältesten Sohn, der auf dem Stuhl neben ihr saß, über den Arm. Sein Blick war auf den Tisch gerichtet, der Bildschirm der Konsole in seiner Hand war aus. Eine Erinnerung: Camerons Lächeln, als er Oskar aufzieht und ihm sagt, dass er der Mann im Hause sei, wenn er auf Dienstreisen ist. Mit zwölf Jahren hatte Oskar über diese schrägen Sticheleien nur gelacht. Nun sah er aus, als müsse er irgendwie einen Felsbrocken auf den Schultern balancieren, offensichtlich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, seine Mutter zu beschützen, für die Familie zu sorgen und der Unsicherheit, nicht recht zu wissen, was er sagen oder tun sollte. Das Ergebnis daraus war eine beklemmende Stille.

Der Kloß in Monikas Hals wurde immer größer. Cameron war frühmorgens aufgestanden, um eine Runde Golf zu spielen, was er immer tat, wenn er sonntags zu Hause war. Sie hatte gespürt, wie er sich an ihr vorbeigeschoben hatte, als er aus dem Bett geschlüpft war, doch sie hatte so getan, als schliefe sie, als er leise durch das Zimmer schlich und hatte sich in die warme Decke gekuschelt, während er sich anzog. Jeden Moment würde das Baby wach werden und dann würde der Tag auch für sie beginnen. Was immer es kostete, an einem Sonntag ein bisschen später in den Tag zu starten und ein paar Minuten mehr im Bett zu haben, war ihr lieb.

Bevor er auf Zehenspitzen zum Frühstücken nach unten ging, hatte er ihr einen Abschiedskuss auf die Nase gehaucht und sein warmer Atem hatte auf ihrer Haut gekitzelt. Trotzdem hatte sie die Augen nicht geöffnet. Nun kribbelte eine einsame Träne in ihrem Augenwinkel. Sie hatte ihn am Morgen nicht gesehen, bis … Monika schloss die Augen und blendete das Bild aus. Camerons verdrehter Körper auf dem Asphalt, die Haare glitschig vom Blut. Das letzte Mal, dass sie ihn richtig gesehen hatte, war, als sie ihm am Abend zuvor Gute Nacht gesagt hatte und ihn unten sein geliebtes Game of Thrones zu Ende hatte sehen lassen, bevor er ins Bett ging. Er hatte zu ihr aufgesehen und mit einem Funkeln in den Augen und leichten Grübchen gesagt, dass sie wach bleiben solle. Doch kaum unter die Decke geschlüpft, war sie auch schon eingeschlafen.

Der Detective stellte immer weiter Fragen. „Wissen Sie von irgendwem, der Cameron schaden wollte? Hatte er irgendwelche Feinde?“ Sie schüttelte beide Male den Kopf. Die Worte gingen ineinander über, dass seine Stimme mit der Zeit zu einem leisen Murmeln im Hintergrund wurde.

Die Ereignisse des Morgens gingen ihr wieder und wieder durch den Kopf. Sie war gerade aus der Dusche gestiegen, als ein lautes Krachen die Luft zerrissen hatte. Vor ein paar Monaten hatten sie in Birmingham gelebt, wo merkwürdige Geräusche, Verkehrslärm und fehlzündende LKWs Normalität waren. Doch hier, wo das unterbrochene Dröhnen der Müllabfuhr, die am Abholtag die Straße hinaufkam, ihr so laut wie eine Kirchenglocke vorkam, klang es ungewöhnlich. Irgendwie falsch. Als sie sich abgetrocknet hatte und zum Schlafzimmerfenster gegangen war, war die Straße voller Anwohner des Meadowbrook Close. Hände über den Mund geschlagen, sahen sie einander schockiert an.

Die offenstehende Kofferraumklappe von Camerons Wagen hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie hatte die Stufen kaum unter den Füßen gespürt, als sie die Treppe hinunterlief, die Haustür aufriss und dabei das Band ihres Bademantels festzurrte. Das nasse Haar klebte ihr an den Schultern, als sie um den Mercedes herum zu der Menschenansammlung eilte. Der Schotter bohrte sich in ihre nackten Fußsohlen.

Sie blickte an den verwischten Farbflecken vorbei, die die Straße versperrten und renkte sich den Hals aus, die Straße nach Camerons vertrautem Golfpulli absuchend. Er hatte das Haus erst vor Minuten verlassen. Konnte noch nicht weit sein.

Ein blutiges Rinnsal war zwischen den Schuhen der Menschenmenge hindurchgesickert.

Köpfe drehten sich. Stimmen vermischten sich. Menschen wichen zu beiden Seiten zurück und gaben den Blick auf den blutüberströmten Körper auf dem Asphalt frei.

Sie schloss die Augen und versuchte die Erinnerung zu verdrängen. Im Fernsehen kamen immer Ärzte und verabreichten Beruhigungsmittel, wenn Menschen ihre Geliebten verloren. Hier und jetzt hätte sie alles für eine Pille gegeben, die die Welt ausschaltete und sie von dem Schmerz und Kummer befreite, der in ihr tobte. Doch das war keine Option. Sie hatte eine Familie, um die sie sich kümmern musste: ein Baby, das sie nicht aus den Augen ließ und einen Zwölfjährigen, der nicht von ihrer Seite wich. Und niemanden in der Nähe, der ihr helfen konnte. Nein, sie musste den Schmerz ertragen, der nun ins Unermessliche anwuchs, sie zu erdrücken schien, ihr die Luft abschnürte.

„Haben Sie Familie in der Nähe?“ Der Detective legte den Kopf leicht schief. „Können Sie uns von Camerons Freunden oder Geschäftspartnern erzählen?“

Sein Stift kratzte auf dem Papier, während er sprach. Sie wünschte, er würde mit den Fragen zum Ende kommen, ihr Haus verlassen und seine Kollegen allesamt mitnehmen.

Camerons lebloser Körper ging ihr immer wieder durch den Kopf. Wie hatte das passieren können? Direkt vor ihrer Haustür an einem Sonntagmorgen. Wie konnte jemand Cameron das antun? Ihnen allen?

Jakub zappelte auf ihrem Schoß. Zum Glück hatte sie die Jungen vor dem Anblick von Camerons blutüberströmtem Leichnam schützen können, doch der Ausdruck auf Oskars Gesicht, als sie ihn geweckt hatte und ihm erklärt hatte, dass sein Stiefvater tot war, hatte sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Zumindest hatte ihr Jüngster keinen Schimmer, dass sein Vater fort war. Noch nicht.

Die Türklingel riss sie aus dem tiefen Gedankenwirrwarr. Der Detective verließ die Küche und zog die Tür hinter sich zu. Lärm. Fremde klapperten draußen herum, ständig kamen und gingen sie und flüsterten miteinander. Ihre Gedanken wurden von Bewegungen und Schritten über ihr unterbrochen. Sie wollte sie nicht hier haben. Im Moment wollte sie bloß ihre Familie nehmen und in ihre Trauerblase verschwinden. Allein.