Leseprobe Die Liebe ist (k)ein Spiel

Prolog

Vor sechs Jahren …

„Oh hey, Sam. Tut mir leid, ich wollte nicht stören. Ich dachte, Dex wäre vielleicht hier und … tut mir leid.“

Sam richtete sich in seinem Stuhl auf und betrachtete das Mädchen im Türrahmen, das nervös von einem Bein auf das andere trat. Ihre braunen Haare fielen ihr glatt über den Rücken und wippten mit ihren Bewegungen mit.

„Chloe“, sagte er überrascht. „Du hast nicht gestört, alles okay. Ich lerne nur.“

„Du lernst viel, oder?“, fragte sie, die Hände ineinander ringend.

„Ja, ich … lerne viel“, wiederholte er. „Dex ist nicht da. Er hat ein Spiel.“

Sie nickte und zupfte an ihrem Ohrläppchen. „Oh, natürlich. Hätte ich mir denken können, dass mein Bruder wieder mal auf dem Feld brilliert. Na dann …“ Sie deutete ein Lächeln an und wollte wieder gehen.

Ihre Haltung wirkte geknickt und Sam hätte schwören können, dass ihre Augen feucht geglänzt hatten.

„Chloe, warte“, rief er sie zurück. „Ist alles okay mit dir?“

„Was?“ Sie drehte sich noch einmal um und er konnte sie schlucken sehen. „Oh, ja, alles gut, ich …“ Sie holte tief Luft und hob wackelig ihre Mundwinkel an. „Ich bin, na ja schätze ich, einfach etwas einsam. Es ist meine erste Woche hier und ich weiß, Dex geht eigentlich nur noch als Alibi zum College, aber ich dachte, er wäre vielleicht hier und hätte Lust, Abendessen zu gehen oder sonst etwas …“

Sie holte erneut Luft. „Ich kenne noch niemanden wirklich und ich meine … ich war so kurz davor, Mama anzurufen“, sie ließ Zeigefinger und Daumen beinahe aufeinandertreffen, „und sie darum zu bitten, mich sofort wieder abzuholen.“ Nervös lachte sie auf. „Wie peinlich ist das bitte? Ist egal. Ich rede wieder zu viel. Du bist ganz offensichtlich alleine und beschäftigt, also … viel Spaß dir noch. Ich wollte echt nicht stören.“

„Tust du nicht. Wirklich. Ähm …“ Er kratzte sich am Kinn und stieß sich vom Schreibtisch ab. „Dex ist zwar nicht hier, aber wie wäre es, wenn ich dir einfach etwas Gesellschaft leiste?“

Sie verengte die Augen. „Du?“

Die Art und Weise, wie sie das Wort hervorstieß, war fast schon beleidigend.

„Ja, ich. Wieso ist das so komisch?“

Sie hob eine Schulter an. „Na ja, nimm es mir nicht übel, aber ich dachte ehrlich gesagt immer … dass du mich nicht sonderlich magst.“

Verblüfft hob er die Augenbrauen. „Was?“

Dass er sie nicht mochte? Nein. Das war nicht sein Problem. Sein Problem war, dass sie gerade achtzehn geworden war, einen Rock trug, der mehrere Zentimeter über ihrem Knie endete und sie Dexters kleine Schwester war. „Wieso dachtest du, ich mag dich nicht?“

„Du redest nicht mit mir, Sam“, sagte sie lachend und zwei Grübchen schlugen sich in ihre Wangen. „Du wechselst kaum ein Wort mit mir, wenn du uns besuchst und … du bist etwas distanziert, wenn ich das so sagen darf. Außerdem lachst du nie über das, was ich sage.“

Verwirrt runzelte er die Stirn. „Leute, die nicht über das lachen, was du sagst, mögen dich also automatisch nicht?“

„Nun, nein. Aber viele lachen über das, was ich sage und da habe ich angenommen …“ Sie räusperte sich und ihre Wangen verfärbten sich rosa. „Entschuldige. In Ordnung. Du … magst mich also?“

Ja, er mochte sie und es war verdammt bezaubernd, wie ihr Kopf sich immer dunkler verfärbte.

„Klar“, sagte er und stand auf. „Ich wollte sowieso eine Pause machen. Da kann ich auch mit dir essen gehen.“

„Oh, okay …“ Ihr Mund blieb leicht offen stehen.

„Überlegst du gerade, ob du mich magst?“, fragte er amüsiert.

„Äh, nein“, stammelte sie. „Ich mag dich. Wirklich. Danke. Ich hoffe, es ist dir nicht allzu peinlich, mit der kleinen Schwester deines besten Freundes über den Campus zu laufen.“

Ja, es war furchtbar peinlich, mit einem hübschen Mädchen an seiner Seite essen zu gehen. Wie sollte er das ertragen?

„Ich bin hart im Nehmen“, murmelte er und hielt ihr die Tür auf.

Kapitel 1

Heute …

Wer hatte behauptet, dass das Leben kein Ponyhof sei?

Chloe O’Connor hätte gerne die Adresse des Schuldigen, um ihm einen Beschwerdebrief zu schreiben. Denn sie wusste es besser:

Das Leben war ein Ponyhof. Nur hatte jemand vergessen zu erklären, dass man kein Gast dort war, sondern das verdammte Ding leitete! Und die Ponys geklaut worden waren.

Zumindest war das in ihrem Fall so.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie so tief hatte sinken können. Im einen Moment war sie noch zufriedene Studentin gewesen und im Nächsten trug sie ein goldenes Paillettenkleid, das kaum ihren Po verdeckte, und hatte ein toupiertes Haarnest auf dem Kopf, das an Amy Winehouse erinnerte. Möge sie in Frieden ruhen.

Chloe zog einen Block aus ihrer wirklich sehr eleganten Bauchtasche, wich einer männlichen Hand aus, die nach ihrem Hinterteil grabschte, und versuchte nicht daran zu denken, dass dieser Job unter ihrer Würde war.

Das war gar nicht so einfach, denn alles – von dem gedämpften rötlichen Licht bis zu der billigen Popmusik, die durch die Lautsprecher dröhnte – drückte ihr diese Tatsache ins Gesicht. Die quadratischen Tische waren eng aneinandergedrängt, es roch nach billigem Parfüm und Schweiß und die Gäste wirkten genauso schäbig wie der abgewetzte Dielenboden.

Aber was hatte sie schon für eine Wahl? Sie würde ganz sicher nicht für ein weiteres Jahr bei ihrem Bruder wohnen bleiben. Sie hasste es, von Dexter abhängig zu sein, und sie würde jeden würdelosen Job annehmen, wenn das hieß, nicht mehr allzu lange bei ihm wohnen zu müssen.

„Willkommen im Passion Shack, kann ich Ihre Bestellung aufnehmen?“ Sie zwang sich zu einem Lächeln und betrachtete die Gruppe von Frauen vor ihr, die vor ein paar Minuten zur Tür hereingekommen war. Sie hatten allesamt gerötete Gesichter und kicherten über irgendetwas. Vielleicht darüber, dass die Linke von ihnen das Gesicht einer Bulldogge hatte. Wahrscheinlich aber eher über etwas anderes.

„Cocktails für alle!“, kreischte eine kleine Blondine am anderen Ende des Tisches, die eine weiße Federboa um den Hals und ein weißes Netz auf dem Kopf trug. „Ich heirate am Samstag!“

Ja, das interessierte Chloe wirklich nicht.

„Darf ich Ihre Bestellung aufnehmen?“, wiederholte sie hölzern.

„Ich heirate Samstag den besten Mann der Welt“, fuhr die Braut in spe fort und hielt ihre Hand hoch, sodass alle ihren Verlobungsring bewundern konnten. „Ich kann mich wirklich glücklich schätzen, ihn gefunden zu haben! Da draußen gibt es ja so viele Idioten.“

Die drei Dinge, die Chloe gerade am wenigsten interessierten, waren, wer Weltmeister im Pokern war, welche Frisur Beyoncé gerade trug und welchen Grund diese Frauen brauchten, um sich zu betrinken.

Was sie jedoch interessierte, war ihr Trinkgeld. Also behielt sie ihr Lächeln und fragte minimal verkniffen: „Soll ich in fünf Minuten noch einmal wiederkommen?“

„Nein!“, kreischte die Braut sofort. „Wir dürfen nicht aufhören zu trinken, sonst bemerken wir, dass wir peinlich sind.“

Die Kundin schien doch nicht so dumm zu sein, wie zuerst angenommen. Ein mögliches Resultat von Alkohol schien sie zumindest erfasst zu haben. Dennoch blieb die Frage offen, warum sie an einem Donnerstag ihren Junggesellinnenabschied feierte. Aber vielleicht wollte sie ja nicht mit Kater heiraten müssen.

„Also Mädels, bestellt einfach irgendeinen Cocktail.“

Hektisch schlugen die Frauen die Karten auf und fingen an, Chloe die Namen diverser Getränke entgegenzurufen. Chloe notierte sie, bis nur noch die Braut ihre Bestellung aufgeben musste.

„Ich hätte gerne einen Orgasmus“, sagte sie süffisant grinsend.

„Ja, ich auch“, murmelte Chloe.

„Was?“, fragte die Braut verblüfft.

„Ja, ich auch“, wiederholte Chloe lauter und steckte den Block zurück an seinen angestammten Platz.

„Oh. Dürfen Sie denn während Ihrer Arbeitszeit trinken?“

„Ich wünschte ja.“

Alkohol würde das Ganze vielleicht erträglicher machen. Den Job und den Rest.

Seit vier Wochen lebte sie im selbstauferlegten Zölibat und konnte sich immer noch nicht entscheiden, ob das eine ihrer besten oder dümmsten Ideen gewesen war. Die Männer vermisste sie nicht, die anderen Dinge jedoch schon ein wenig. Aber sie hatte in den letzten drei Jahren einfach mit zu Vielen geschlafen und sich nach Veränderung gesehnt. Sie brauchte ein neues Gleichgewicht. Nein, kein neues – ihr altes. Sie brauchte ihr altes Gleichgewicht zurück.

Keine flüchtigen Beziehungen mehr, keine dummen Entscheidungen.

„Die Cocktails kommen sofort, Ladies“, sagte sie bemüht euphorisch und ging, um die Bestellung weiterzugeben. Sie schob sich durch die eng aneinandergedrängten Tische auf die Bar zu. Kurz bevor sie den Durchgang zur Theke erreicht hatte, fischte wieder eine Hand nach ihrem Hintern.

Sie fuhr herum und fing sie mit ihrer eigenen ab. „Finger weg“, knirschte sie.

„Warum denn? Dein Fummel schreit doch quasi danach“, sagte der Eigentümer der Hand und grinste schmierig.

Chloe stieß seinen Arm weg. „Wenn du schon hörst, wie die Arbeitsuniform mit dir redet, solltest du vielleicht besser aufhören zu trinken.“

Sie ließ ihren Blick über den gedrungenen Mann wandern, dessen dunkle Haare mit einer Unmenge von Gel an seinen Kopf geklatscht worden waren. Widerlich. „Außerdem solltest du auch aufhören, dich am Frisiertisch deiner Mutter zu vergreifen.“

Mit verkniffenem Gesicht lehnte der Gast sich auf seinem Hocker zurück. „Süße, vielleicht passt du besser auf, was du sagst. Du bist die kleine, erbärmliche Kellnerin und ich der Kunde. Der Kunde ist König. Schon mal was von gehört?“

„In den USA wird keine Monarchie anerkannt und wärst du König, würde ich auswandern“, sagte sie ungerührt und verschwand hinterm Tresen. Sie gab die Bestellung durch und tauchte in die Küche ab.

Sie musste einige Minuten durchatmen. Die paar Wochen, die sie bereits hier arbeitete, waren jetzt schon zu viel. Das Trinkgeld war gut – genug betrunkene Idioten, die einen Ein-Dollar-Schein nicht von einem Zwanziger unterscheiden konnten, gab es immer – aber der ganze Rest zerrte an ihren Nerven.

„Na, alles klar bei dir?“, fragte Olivia, eine Hilfskellnerin, die ein paar Jahre jünger war als sie. Sie war so unauffällig, dass Chloe sie zuerst gar nicht bemerkt hatte. Ihr dunkelblondes glattes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, ihr Gesicht umrahmt von kürzeren Strähnen, die möglicherweise mal ein Pony gewesen waren. Olivia war eine dieser Frauen, die unsichtbar werden konnten, wenn sie es darauf anlegten. Sie lief an den Herdplatten vorbei und betrachtete Chloe mit kritisch geneigtem Kopf. „Du siehst aus, als würdest du deinen Kopf gerne in einen der Kochtöpfe stecken.“

„Das hört sich toll an, welcher Topf ist der größte?“, fragte Chloe seufzend und lehnte sich an die Wand hinter sich.
Olivia lachte. „So schlimm?“

Chloe war es lieber, nicht darauf zu antworten. Stattdessen rieb sie sich mit der rechten Hand über ihre Schläfe und lauschte dem Klappern von Metall und den Rufen, die unter den Köchen ausgetauscht wurden.

„Menschen sind eklig“, sagte sie schließlich.

Olivia grinste breit. „Woher kommt denn die Erleuchtung?“

„Nach einem Blick an den Tresen.“

„Ach, ich seh‘ das schon gar nicht mehr. Ich habe mich ohnehin damit abgefunden, dass ich mit Menschen, die älter als sechs sind, eigentlich nichts anfangen kann. Im ersten Jahr an der Schule wird den Kindern beigebracht wie man lügt und betrügt und am gemeinsten beleidigt – und ab dem Punkt geht alles den Bach runter.“

„Wie ich sehe, bist du von unserem Schulsystem überzeugt.“

Die Hilfskellnerin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das liegt nicht am Schulsystem, das liegt an den Lehrern. Und dem Älterwerden. Und der ganzen miesen bösartigen Welt.“

Olivia wurde Chloe mit jedem Wort sympathischer. Sie fand auch, dass es zu wenige gute Lehrer gab. Und sie hatte vor, etwas dagegen zu unternehmen.

„Und ich dachte immer, ich wäre zynisch“, stellte sie fest.

„Es ist kein Zynismus, wenn es wahr ist“, belehrte sie Olivia. „Ich werde nicht umsonst Kindergärtnerin! Die Kinder unter sechs sind noch zu jung, um zu verstehen, dass die Welt sie in wenigen Jahren verschlucken und verbraucht wieder ausspucken wird.“

Chloe starrte ihre Kollegin für einige Momente überrascht an. Dann sagte sie: „Ich mag dich, Olivia. Wir sollten Freunde werden. Wir können uns treffen und über Menschen herziehen und zusammen unsere Köpfe in Töpfe stecken. Das verbindet bestimmt.“ Und wenn Chloe ehrlich war, dann konnte sie eine Freundin wirklich gut gebrauchen.

„Das hört sich wunderbar an!“, stellte ihre neue Freundin enthusiastisch fest und reichte ihr die Hand. „Aber wenn wir jetzt befreundet sind, solltest du mich Liv nennen. Olivia heiße ich nur, wenn meine Schwester auf mich wütend ist.“

„Ältere Geschwister sind hart.“

„Sie ist zwei Jahre jünger als ich“, bemerkte Liv lachend. „Aber sie ist schon Mutter, hat es also raus, Leute herumzukommandieren.“

„Oh.“ Liv war höchstens zweiundzwanzig, zwei Jahre jünger als Chloe, die in etwas mehr als einem Monat fünfundzwanzig werden würde. Ihre Schwester musste dann …

„Sie ist zwanzig“, half Liv ihr schulterzuckend auf die Sprünge. „Das Kind war nicht geplant, aber es ist, wie es ist.“

„Sorry, mein Blick sollte wirklich nicht urteilend sein. Ich habe überhaupt nicht das Recht, irgendwem Vorwürfe für ihr Leben zu machen. Dafür bin ich selbst zu verkorkst.“

„Ich glaube, wir werden uns sehr gut verstehen, Chloe!“

„… all die Kellnerinnen hin!? Die Gäste warten da draußen!“, herrschte plötzlich eine Stimme durch die Schwingtür, die unaufhörlich in Bewegung war. Das war ihr lieblicher Boss. Er war leider älter als sechs.

„Ich glaube, es wird nach uns verlangt“, seufzte Chloe und stieß sich von der Wand ab.

Sie mochte diesen Job nicht.

Sie mochte ihre Wohnsituation nicht.

Sie mochte ihre vergangenen Entscheidungen nicht.

Zusammengefasst: Es fiel ihr gerade sehr schwer, ihr Leben zu mögen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie sich gerade selbst leiden konnte.

„Das wird schon“, meinte Liv und klopfte ihr auf die Schulter. „Das Leben ist ein Abenteuer.“

Ja, genau das war das Motto, nach dem Chloe die letzten Jahre gelebt hatte. Glücklich gemacht hatte sie das auch nicht. Aber vielleicht war sie einfach auf der Suche nach den falschen Abenteuern gewesen.

Sie stieß die Tür auf und nahm das Tablett mit den Cocktails für die Mädchengruppe entgegen, das ihr ein Barmann in die Hand drückte. Sie hielt es über den Kopf und schlängelte sich durch das bunte Treiben, als erneut eine Hand auf ihrem Po landete und zudrückte.

Erschrocken zuckte sie zusammen, das Tablett fiel aus ihrer Hand und die bunten, klebrigen Flüssigkeiten ergossen sich über ihren Kopf, ihr Dekolleté und so ziemlich jede andere Körperstelle. Hustend und sich schüttelnd wandte sie sich um.

Ihre Haut brannte, doch das kam nicht vom Alkohol. Das war die Wut, die wie Lava durch ihre Adern schwappte.

Der schmierige Typ von gerade grinste sie an. Er war von seinem Barhocker aufgestanden und zwinkerte ihr zu. „Die Farben stehen dir, Schätzchen.“

Chloes Hände zitterten und sie ballte sie zu Fäusten. Die gesamte Bar schien sie anzustarren, doch das war ihr egal.

Sie war es so leid!

So leid, das Gefühl zu haben, nicht Herrin über ihr eigenes Leben zu sein! Sich vom Schicksal oder anderen Menschen herumschubsen zu lassen!

„Du wirst dich bei mir entschuldigen“, sagte sie langsam, sich zur Ruhe zwingend.

„Entschuldigen? Aber was kann ich dafür, dass du gestolpert bist?“

Ihre Fingernägel gruben sich in ihre Handballen.

„Du wirst dich entschuldigen und mir dann mein Kleid bezahlen.“ Ihre Stimme bebte und dank ihrer High Heels überragte sie den Mann um mehrere Zentimeter.

Der Gast wechselte einen hämischen Blick mit seinen betrunkenen Freunden, die sich vor Lachen krümmten.

„Süße, ich habe nichts getan, wofür ich mich entschuldigen müsste.“

„Deine letzte Chance“, sagte Chloe kalt. „Entschuldige dich.“

„Oder was?“, feixte ihr Gegenüber.

„Oder ich werde dich vor allen Leuten niederstrecken.“

Der Mann lachte noch lauter und sie presste die Zähne aufeinander. Sie hasste es, dass sie immer von allen unterschätzt wurde!

„Also? Entschuldigst du dich jetzt?“, fragte sie ungeduldig, die Augen verengt.

„Einen Scheiß werde …“

Bevor er zu Ende sprechen konnte, packte Chloe seinen Arm, drehte ihn mit Gewalt auf seinen Rücken und zog ihm gleichzeitig mit ihrem Fuß die Beine weg. Der Mann schrie auf und krachte vorwärts auf die klebrigen Holzdielen.

„Bist du wahnsinnig!?“, brüllte er sie an und drehte sich auf den Rücken.

„Darüber wird noch debattiert“, bemerkte sie trocken.

Liv trat neben sie und legte ihr einen Arm um die Schulter.

„Du bist meine Heldin!“, flüsterte sie.

Das bewahrte Chloe leider auch nicht davor, vom Fleck weg gefeuert zu werden.

 

Zwanzig Minuten später saß sie in ihrem Wagen, die Stirn auf das kalte Lenkrad gelegt.

Wieder einmal hatte sie unüberlegt gehandelt. Wieder hatte sie nicht daran gedacht, was für Konsequenzen ihr Handeln haben könnte. Warum nur war ihr Herz immer so viel schneller als ihr Kopf?

Da musste doch Doping im Spiel sein!

Sie bereute es nicht, den Typen niedergeschlagen zu haben – sie bereute es eher, es nicht direkt beim ersten Vorfall getan zu haben. Aber sie hätte es ja zumindest wie einen Unfall aussehen lassen können.

Wie konnte sie immer wieder die gleichen, dummen Fehler begehen? Sie hatte das Gefühl, sich nicht mehr auf sich selbst verlassen zu können. Sich selbst nicht mehr zuzutrauen, die richtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt zu treffen.

Denn letztendlich lag doch sowieso nichts in ihrer Hand. Das Leben machte doch ohnehin, was es wollte – ohne dass ihre Entscheidungen oder Handlungen einen großen Einfluss darauf hätten.

Verdammt.

Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und richtete sich in ihrem Sitz auf. Das war früher anders gewesen. Vor dem Tod ihrer Eltern, vor … allem. Sie hatte genau gewusst, was sie vom Leben wollte. Nichts hatte sie aufhalten können. Und jetzt?

Wütend umklammerte sie das Lenkrad und schob den ersten Gang rein. Scheiß drauf. Sie würde nicht aufgeben. Sie konnte dorthin zurück. Sie würde zu diesem Punkt zurückfinden.

Sie fuhr vom Parkplatz und schließlich auf den Highway, Richtung Philadelphia City, wo Dex sein Penthouse hatte, in dem sie zurzeit wohnte. Der Himmel war bereits schwarz und mit Wolken verhangen und es war kalt geworden. Der Herbst verabschiedete sich so langsam und hieß den Winter willkommen. Und wer hatte heute Morgen gedacht, sie bräuchte nur eine Jeansjacke?

Richtig. Ihr langsamer Kopf, der absolut von nichts eine Ahnung hatte.

Sie sollte einfach immer das Gegenteil von dem tun, was ihre innere Stimme ihr vorschlug. Damit wäre sie am Ende wahrscheinlich besser bedient.

Meine Güte, was für ein Tag! Sie wollte sich nur noch auf die Couch lümmeln und Kakao trinken. Kakao mit Rum. Einer Menge Rum. Sie würde …

Der Motor stotterte.

Nein.

Chloe fuhr langsamer, während die Kupplung unter ihrem Fuß vibrierte.

Nein!

Weißer Rauch stieg aus der Motorhaube und hastig fuhr sie auf den Seitenstreifen.

Nein! Nein, nein, nein!

Der Rauch wurde dichter und nahm ihr jetzt komplett die Sicht. Fluchend stieß sie ihre Tür auf und betrachtete das qualmende Auto. Scheiße!

Sie war unten angekommen.

Sie hatte keinen Job, ihre echten Freunde hatte sie über den Tod ihrer Eltern verloren, ihre falschen Freunde wollte sie gar nicht mehr haben und alle um sie herum hielten sie für eine Witzfigur. Sie hatte zwar ein Dach über dem Kopf, allerdings nur, weil sie das Glück hatte, mit einem reichen Bruder gesegnet zu sein und jetzt hatte ihr einziger Vertrauter den Geist aufgegeben.

Bunny. Ihr treues Auto, das ihr schon so einen guten Dienst damit erwiesen hatte, Dexter auf die Palme zu bringen.

Wie schlimm sollte es bitte noch werden!?

Es fing an zu regnen.

Chloe legte den Kopf in den Nacken und eine Hand über die Augen.

Sie hasste ihr Leben.

***

Sam Parker liebte sein Leben.

Wenn man seine Familiensituation mal außen vor ließ, ging es ihm verdammt gut.

Er hatte einen Job, den er liebte, er hatte treue Freunde – nun gut, einen treuen Freund – eine bezaubernde Ballerina als Freundin und er hatte Geld. Eine Menge davon.

Vielleicht war es falsch, dass Sam etwas materialistisch veranlagt war, aber ihn interessierte es nicht wirklich, was andere als falsch und richtig ansahen. Denn die Menschen hatten da eine verquere Ansicht auf diese beiden Punkte. Geld und Status waren wichtig und jeder, der ihm was anderes erzählen wollte, log.

Er war PR-Manager der Delphies, der ortsansässigen Baseballmannschaft, und ganz allgemein mochte er die Aufgaben, die er zu erledigen hatte. Er arbeitete hart und er arbeitete lange – und auch hier war ihm egal, was die Leute davon hielten.

Er rückte liebend gern den Spielern die Köpfe zurecht, schrieb enthusiastisch Pressemitteilungen oder beaufsichtigte penibel genau Werbekampagnen. Er war jeder Aufgabe gewachsen.

 

„Emma, ich bin dem wirklich nicht gewachsen.“

„Ich habe nicht einmal mit meiner Präsentation angefangen!“

Das wusste er und er war jetzt schon gelangweilt. „Triff du einfach alle Entscheidungen. Ich vertraue deinem Urteilsvermögen da vollkommen.“

„Aber … das geht nicht.“ Die kleine Blondine ihm gegenüber hatte die Arme verschränkt und schüttelte entschlossen den Kopf. „Du hast mir den Auftrag gegeben und du musst mit mir zusammenarbeiten! Es ist deine Feier!“

„Es ist nicht meine Feier. Es ist die der Mannschaft. Die der gesamten Organisation.“

„Aber es liegt in deiner Verantwortung!“

Da hatte sie leider recht.

Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. „Betrachte die Verantwortung hiermit als an dich abgegeben.“

Entgeistert sah sie ihn an. „Du kannst doch nicht einfach die Verantwortung auf mich abwälzen!“

Sam seufzte schwer. Er mochte Verantwortung. Sie war seine Leidenschaft. Er genoss es, für alles und jeden verantwortlich zu sein. Solange es wichtig war! Herzlich gerne konnte man ihm die Verantwortung für den Weltfrieden übertragen, wenn er dafür nie wieder über diese bescheuerte Party reden musste.

„Sam. Ich nehme das, was ich tue, sehr ernst. Und du wirst mir genau zuhören und dann sagen, wie dir meine Ideen gefallen.“

Emmas Blick war eisern.

Luke, ihr Freund und Pitcher der Delphies, hatte ihn vorgewarnt. Er hatte gemeint, dass Emma sehr ‚eifrig‘ werden konnte, wenn es um ihren Job ging. Er hatte aber nicht erwähnt, dass sie sich dabei wie ein Pitbull verhielt.

„Schön“, sagte er erschöpft. Es war bereits nach zehn und eigentlich war er seit einer halben Stunde verabredet. Aber Emma hatte darauf bestanden, sich noch heute zu treffen, damit sie mit ihren Vorbereitungen beginnen konnte. „Dann erzähl mir, was deine Pläne sind.“

„Sehr gerne. Danke für dein Interesse.“ Auf einmal strahlte sie. „Also, zu allererst: Ich hatte mir überlegt, dass wir ein Thema festlegen sollten.“

„Es ist eine Weihnachtsfeier. Das Thema ist Weihnachten. Was gibt es da zu überlegen?“

„Wieso bist du so fantasielos, Sam?“, schalt ihn Emma und stützte kopfschüttelnd ihre Ellenbogen auf den Schreibtisch. „Ich dachte, man könnte ja eine Art Kostümfest veranstalten.“

Einer der säuberlich aufgereihten Papierstapel am Rand des Tisches begann bedrohlich zu wackeln, als Emma ihren Arm ausstreckte und mit den Fingern auf die Platte trommelte. Sam packte ihn und verstaute ihn ordentlich in einer der Schubladen. Es gab wenig, was er mehr verabscheute als Partys zu organisieren. Doch Chaos war eines dieser Dinge.

„Kostümfest?“, wiederholte er verdrießlich ihre Worte. „Was für ein Kostümfest? Sollen sich alle als Weihnachtselfen verkleiden?“

„Du kannst sehr gerne als Weihnachtself gehen“, meinte Emma grinsend. „Ich dachte jedoch eher an ein Zwanziger-Jahre-Motto. Du weißt schon: schicke Kleider im Charleston-Stil, alte Musik wie aus dem Grammofon, Hosenträger. Vielleicht Billardtische …“

Ja, von ihrer Vorliebe gegenüber Billard hatte er schon gehört. Aber … eine Mottoparty? Bei der man sich verkleiden musste? Bei der er sich verkleiden müsste?

Sam konnte sich zehn Dinge ausmalen, die er lieber tun würde. Angefangen damit, sich seine Beine wachsen zu lassen, bis hin dazu, sich von einem Pferd gegen die Stirn treten zu lassen.

„Wieso müssen wir ein Motto haben?“, hakte er nach.

Emma hob verwirrt die Augenbrauen. „Weil es Spaß macht?“

„Sagt wer?“

„Ich!“

Großer Gott, er hatte dafür heute wirklich keinen Nerv. Er war seit über zwölf Stunden im Büro und wollte Sadie nicht noch länger warten lassen. Gleichwohl sie immer äußerst verständnisvoll war. Das war eine ihrer besten Eigenschaften. Sie klammerte nicht und machte ihm nie Vorwürfe dafür, dass er zu viel arbeitete.

„Emma“, sagte er gedehnt und lehnte sich vor, „bei allem Respekt für deine Kreativität: Warum kann es nicht eine ganz normale Abendveranstaltung werden, bei der Mistelzweige an der Decke hängen und Eierpunsch ausgeschenkt wird?“

„Weil das langweilig ist.“

„Ja, genau. Langweilig ist das, wonach ich suche!“

„Dann hättest du mich wirklich nicht einstellen dürfen“, sagte sie bedauernd. „Aber jetzt hast du den Vertrag schon unterschrieben, was bedeutet: Eine Zwanziger-Jahre-Motto Party wird es sein. Keine Sorge, das Budget wird natürlich nicht überschritten.“

Ungläubig sah er sie an. „Was ist daraus geworden, dass ich dir meine Meinung sagen soll?“

Sie stand von ihrem Stuhl auf. „Da wusste ich ja noch nicht, dass du so ein Spielverderber bist! Das Motto ist also entschieden. Für den Rest werde ich mich mit dir in Verbindung setzen.“

Sie reichte ihm eine Hand über den Tisch, die er etwas verdattert ergriff. Plötzlich bekam er eine ganz neue Art von Respekt vor Luke.

„Schön mit dir zusammenzuarbeiten, Sam“, sagte sie lächelnd und ging zur Tür, die sich in genau dem Moment öffnete, in dem sie hinaustreten wollte. „Oh, hey Dex“, begrüßte sie Sams besten Freund. „Wusstest du, dass Sam absolut fantasielos und langweilig ist?“

„Ja. Steht glaube ich sogar im jährlichen Newsletter der Delphies.“

„Den habe ich wohl nicht ordentlich genug gelesen. Werde ich nachholen. Wiedersehen, Jungs! Ich wette, ihr seht mit Hosenträgern toll aus. Danke für alles, Sam.“

Danke für was!?

Er hatte überhaupt nichts getan. Sie hatte ihn einfach … überfahren.

„Hosenträger?“, fragte Dex interessiert und sah ihr nach.

„Frag nicht.“

„Okay, da werde ich wohl deinem Urteil vertrauen müssen.“ Dex lehnte sich an den Türrahmen. „Wieso wundert es mich eigentlich nicht, dass ich dich hier noch antreffe?“

„Ich weiß nicht“, sagte Sam und schaltete den Computer aus. „Vielleicht, weil du einfach ein sehr unreflektierter Mensch bist.“

Dexter schnaubte. „Du arbeitest zu viel.“

Immer dieselbe Leier. „Natürlich arbeite ich zu viel! Im Vergleich zu dir arbeitet jeder zu viel. Sogar ein kleines Mädchen, das sonntags Limonade an Nachbarn verkauft, tut mehr als du. Die Frage ist, was du hier machst.“ Er stand auf und lockerte seinen Krawattenknoten. „Die Saison ist vorbei. Das große Faulenzen hat begonnen.“

„Ja, ich weiß. Aber ich treffe mich gleich mit Kaylie. Sie wollte ein Restaurant ausprobieren, das hier um die Ecke liegt.“

„Und da bist du vorbeigekommen, um mir vorher Hallo zu sagen, ein paar Blumen vorbeizubringen und mir einen Kuss zu geben?“, fragte Sam, den Blick auf den Strauß in Dex‘ Händen gerichtet.

Sein Freund zog eine Grimasse. „Ich lasse deine Klugscheißerei mal unkommentiert, weil ich dich ehrlich gesagt um einen Gefallen bitten wollte.“

„Tatsächlich? Ich dachte, die Zeiten, in denen ich deine Hausaufgaben für dich erledige, sind vorbei.“

Sam und Dexter kannten sich seit dem College. Er hatte sich den Allerwertesten aufgerissen und sich angewöhnt, mit nur fünf Stunden Schlaf die Nacht zurechtzukommen, während Dexter die Kurse hatte schleifen lassen, Baseball und mit Frauen gespielt hatte. Als Dexter schließlich beinahe sein Stipendium verloren hatte, hatte Sam ihm ausgeholfen und als Sam Probleme gehabt hatte, hatte Dexter den Gefallen erwidert. Er war der älteste Freund, den Sam hatte. Was vor allem daran lag, dass er grundsätzlich nichts mehr mit den Leuten zu tun haben wollte, die ihn gekannt hatten, bevor er sein eigenes Geld verdient hatte. Er wollte niemanden haben, der ihn an das Leben davor erinnerte. Dafür hatte er schon seine Familie und die war wahrlich genug. Eigentlich sogar zu viel.

Und zurzeit hasste sie ihn.

Zu Recht.

Aber damit kam er sehr gut klar. Es war ihm sogar lieber.

„Es geht um Chloe.“

Sam schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Was?“

„Bei dem Gefallen, um den ich dich bitten wollte, geht es um Chloe.“

„Oh.“ Er drückte automatisch den Rücken durch.

Chloe.

Dex‘ Schwester war eine Hausnummer für sich. Ihr Name löste gemischte Gefühle in ihm aus. Schuld, Nervosität und vollkommene Verwirrung waren hier vorrangig.

„Was ist mit ihr?“ Er versuchte seine Stimme so beiläufig wie möglich klingen zu lassen, was er ausgesprochen gut beherrschte. Das hatte er die letzten Jahre über perfektioniert.

„Ihr Auto hat den Geist aufgegeben und sie erreicht kein Taxi und hat mich gefragt, ob ich sie abholen kann …“

„Und was hat das mit mir zu tun?“

„Na ja, ich treffe mich gleich mit Kaylie und sie geht nicht ans Telefon. Ich will sie nicht versetzen, du weißt, dass sie da etwas empfindlich ist und ich war gerade in der Gegend und dachte …“ Sam seufzte und kratzte sich am Kopf. „Alter, ich weiß, du und meine Schwester hattet schon immer ein Problem, aber ich will nicht, dass sie allzu lang alleine am Highway steht. Es regnet, es ist kalt und dunkel. Also, wenn du nichts vorhast, könntest du sie vielleicht kurz einsammeln?“

Sam fand Dexters Wortwahl sehr passend.

Chloe und er hatten schon immer ein Problem. Ja, so könnte man es ausdrücken. Sie würde entzückt sein, ihn zu sehen. Er war sowas wie ihr Lieblingsmensch.

Dennoch sagte er sofort: „Klar, kein Ding. Ich hol‘ sie ab.“

Dex ließ erleichtert die Schultern sinken. „Danke. Du bist hier ja sowieso fertig und hast nichts mehr vor, oder?“

„Nein, alles gut.“

Er würde Sadie absagen. Er schuldete Dex so unglaublich viel, dass es eine Selbstverständlichkeit war, dass er ihm einen Gefallen tat.

Auch wenn dieser Gefallen ihn womöglich umbringen könnte. Und das war nicht in übertragenem Sinne zu verstehen. Chloe hatte einen wirklich fiesen rechten Haken und war zurzeit nicht besonders gut auf ihn zu sprechen.

Ach, was redete er da? Sie war eigentlich noch nie besonders gut auf ihn zu sprechen gewesen.

Und so oft er Dex auch erzählt haben mochte, er wisse nicht, wieso dies so war … er hatte eine ungefähre Vorstellung von den möglichen Gründen. Einer davon könnte sein, dass er ein Arsch war. Ein anderer, dass Chloe dies wusste.

Sam hielt sich an den meisten Tagen für einen mehr als anständigen Kerl, aber es gab da einige Dinge, auf die er nicht stolz war.

Sie verließen zusammen das Büro und schlenderten zum Parkplatz.

„Danke, Strüh!“, sagte Dex und klopfte ihm auf die Schulter. „Wirklich, ich schulde dir was.“

Dex schuldete ihm überhaupt nichts. Würde ihm nie etwas schulden.

„Kein Ding. Solange du aufhörst, mich Strüh zu nennen.“

Sein Freund grinste und schüttelte den Kopf. „Kann ich leider nicht!“

Sam seufzte genervt. Das Wort hatte Dex von seiner Freundin. Kaylie wollte „Strüh“ in den allgemeinen Sprachgebrauch einführen und hatte Dexter dazu angestachelt, sie dabei zu unterstützen. Was er nach Herzenslust tat.

„Pantoffelheld“, hustete Sam hinter vorgehaltener Hand.

„Stolzer Pantoffelheld, mit einer Menge Sex“, grinste Dex.

„Liebling, ich weiß, du liebst mich, aber wir müssen wirklich nicht alle Informationen teilen“, sagte Sam trocken und tätschelte ihm die Schulter.

Dex lachte. „Ich schick` dir Chloes Standort, damit du weißt, wo du hin musst.“ Er hob noch einmal die Hand zum Abschied und sie gingen getrennte Wege.

Sam holte sein Handy hervor und drückte die Kurzwahl. Sadie hob nach dem dritten Klingeln ab. „Hey Sadie, hier ist Sam. Ich schaffe es heute nicht.“

„In Ordnung. Wir sehen uns dann nächste Woche?“

„Gerne. Ich schicke dir meinen Zeitplan.“

„Gut. Schönen Abend noch.“

Sie legten auf.

Es war das perfekte Telefonat gewesen. Effizient, kurz, auf den Punkt und ohne weitere Nachfragen darüber, warum er es nicht schaffte.

Sadie war genau die richtige Frau für ihn. Er mochte sie, respektierte sie und sie forderte nichts von ihm. Sie fand genauso wie er, dass sie ein gutes Paar abgaben und Liebe nun wirklich nicht nötig war, um ein erfolgreiches Leben zu führen.

Liebe war unordentlich. Liebe war verwirrend, irrational, dreckig.

Unterm Strich: Nach dem zu urteilen, was er beobachtet hatte, machte Liebe die Leute dumm, nicht zu vergessen schwach. Nein, Liebe war nichts für ihn. Auf Chaos konnte er verzichten.

Kapitel 2

Chloe war Verfechterin der Chaos-Theorie.

Also, nicht die Chaos-Theorie von diesen mathematischen Physikern, die auf Grundlagen der nichtliberalen Dynamotechnik … nee, Moment. War es die nichtkurvige Diddylle? Nein. Nichtlineare Dynamik! Das war es.

Na ja, jedenfalls nicht die. Von dieser Theorie hatte sie bewiesenermaßen keine Ahnung.

Sie war Verfechterin ihrer eigenen Chaos-Theorie:

Ordnung ist bescheuert, Chaos macht mehr Spaß.

Keine Wissenschaft, aber doch fundamental richtig, fand sie. Es war ganz simpel: Menschen verschwendeten viel zu viel Zeit damit aufzuräumen und Dinge zu ordnen. Dabei gab es so viel Wichtigeres. Das Leben war zu kurz – ein Fluch und ein Segen zugleich – und das musste man ausnutzen.

Als sie jedoch vollkommen durchnässt vor ihrem qualmenden Auto auf der Straße stand, die Cocktailsäfte aus ihrem Kleid zu einem einzigen, unförmigen Fleck zerliefen und ihr die klebrigen Haare ins Gesicht klatschten, fragte sie sich, ob ihr so ein ganz klein wenig Ordnung – nur hier und da – nicht vielleicht guttun würde. Ein Plan wäre auch manchmal ganz nett.

Sie lehnte sich gegen das Auto, ließ die Regentropfen auf ihr Gesicht hinabprasseln und sah schließlich den Highway hinunter. Dex hatte ihr gesagt, dass so schnell wie möglich jemand kommen würde.

Sie hatte es merkwürdig gefunden, dass er auffällig unspezifisch gewesen war, sich aber keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Als sie jetzt jedoch Scheinwerfer näherkommen sah und ein schwarzer BMW hinter ihrem Auto zum Stehen kam, war sofort klar, warum Dexter diesen Jemand nicht weiter ausgeführt hatte.

Sam stieg aus dem Auto.

Seine braunen Haare waren kurzgeschnitten, die grauen Augen durchdringend. Er trug einen schwarzen Mantel, dessen Kragen er gegen den Regen aufgeschlagen hatte, und ließ seinen Blick über ihren Anblick wandern.

Sofort zog sie die Jeansjacke enger um ihre Schultern.

Sam Parker.

Gott, dieser Mann, er … warum?

Von allen Menschen, die Dexter hätte schicken können, hatte er ihn gewählt? Wer wollte sie heute bestrafen?

Sie wollte ja niemandem eine Schuld zuweisen, warf jedoch trotzdem einen kurzen Blick in den Himmel.

„Ich dachte, du wärst Kellnerin und keine Zirkusdompteurin“, stellte Sam fest, die Augen auf den Saum des goldenen Paillettenkleides gerichtet.

„Du hast eben eine schlechte Menschenkenntnis. Nicht so wie ich. Ich dachte nämlich du bist ein Blödmann – und liege bis heute immer noch richtig.“

Sams Miene blieb nichtssagend. Er war so glatt, dass es sie wunderte, dass die Regentropfen nicht einfach an ihm abperlten.

Sie betrachte ihn und fragte sich, ob er sich in den letzten Jahren großartig verändert hatte.

„Warum starrst du mich an?“

Sam war noch nie Fan von Mystik gewesen.

„Ich bin nur fasziniert. Ich hätte fast damit gerechnet, dass die Regentropfen einfach so auf deiner Haut gefrieren. Aber du musst die Kälte irgendwie in deinem Herzen festhalten können“, überlegte sie gespielt nachdenklich.

Er hob eine Augenbraue. „Bist du dann fertig damit, mich zu beleidigen?“

„Gib mir fünf Minuten, mir fällt bestimmt noch was ein.“

Sam seufzte. „Dex meinte, du könntest Hilfe gebrauchen?“

Er war der letzte Mann, vor dem sie das zugeben wollte, aber dennoch nickte sie.

Ihr war kalt. Sie war bis auf die Unterwäsche durchnässt und sie wollte einfach nur noch nach Hause.

„Ja, Bunny hat den Geist aufgegeben.“

„Bunny?“

„Ja, mein Auto.“

Es wurmte sie, dass er den Regen so viel würdevoller ertrug als sie! Die Tropfen durchnässten seinen Mantel, liefen in seinen Kragen und er stand einfach ungerührt da und sah sie an. Im Vergleich zu ihm zitterte sie, versuchte krampfhaft, den Saum ihres Kleides an ihren Oberschenkeln nach unten zu ziehen und roch nach Alkohol, der ihr aus den Haaren den Hals hinabglitt.

„Dein Auto heißt Bunny?“, fragte er mit gerunzelter Stirn, während er aus seinem Mantel schlüpfte und auf sie zukam. „Mir war nicht bewusst, dass du jetzt auch Ford entmannst. Ich dachte, das tust du nur mit deinen Eroberungen.“

Er reichte ihr seinen Mantel.

„Was soll ich damit? Ihm auch einen Namen geben? Wie wäre es mit Tortilla? Oder Doodle? Ich finde, er sieht aus wie ein Doodle.

„Zieh ihn an, Chloe“, sagte Sam. „Dir ist kalt.“

„Mir ist nicht kalt.“

„Du zitterst.“

„Ja, das ist, weil ich so aufgeregt bin, dich zu sehen.“

Kopfschüttelnd starrte Sam sie an.

Dank ihrer Schuhe war sie auf Augenhöhe mit ihm. Chloe würde es nie laut aussprechen, aber genau das war der Grund, warum sie High Heels überhaupt trug: um mit anderen Menschen auf Augenhöhe zu sein. Um ernst genommen zu werden. Vielleicht auch, um sich selbst ernst zu nehmen. Auch das hatte sie in den letzten drei Jahren verlernt.

Als Chloe nichts weiter sagte, legte ihr Sam ohne Worte den Mantel um die Schultern, öffnete die Fahrertür, betätigte einen Knopf und ließ so die Motorhaube aufklappen, unter der es aufgehört hatte zu rauchen.

Chloe hatte nicht einmal von der Existenz dieses Knopfes gewusst.

„Wann hast du das letzte Mal Öl gewechselt?“, fragte er, schob sich die Ärmel seines hellblauen Hemdes hoch und blickte auf den Motor.

„Öl gewechselt?“

So etwas tat man? Sie hatte geglaubt, dass das nur ein Märchen der KFZ-Mechaniker war, damit sie mehr Geld verdienten.

Chloe war wirklich nicht dumm. Es hatte sogar eine Zeit gegeben, in der sie als äußerst intelligent gegolten hatte, aber jetzt gerade … jetzt gerade fühlte sie sich mehr als dämlich.

„Der Motor ist im Eimer.“

„Wow, danke Sam. So weit war ich noch gar nicht gekommen.“

„Willst du den Wagen abschleppen lassen? Denn ganz ehrlich, ich würde ihn einfach hier verrecken lassen. Dieses Auto hat eigentlich keine vier Räder verdient.“

„Er wird abgeschleppt“, knurrte sie. Er war das Einzige, was wirklich ihr gehörte. Was sie von ihrem eigenen Geld gekauft hatte. „Ich habe den Abschleppdienst schon gerufen, aber sie haben irgendwelche Probleme. Ich soll den Schlüssel einfach auf das Vorderrad legen. Sie meinten, das Auto würde schon keiner klauen.“

Einer von Sams Mundwinkeln zuckte, als er von dem Motor abließ und die Haube wieder schloss. „Nein. Sicher nicht. Auch nicht für Geld.“

„Lass mein Auto in Ruhe!“, fuhr sie ihn an. „Es ist nicht seine Schuld. Nur weil du ein Snob und Autorassist bist, heißt das nicht, dass es weniger wert ist!“

Sam hob die Hände. „Tut mir leid, ich wollte Bunny wirklich nicht zu nahe treten. Es sieht auch so aus, als wäre sie schon oft genug getreten worden. Fahren wir?“

Chloe presste die Lippen aufeinander, die Arme eng um ihren Körper gezogen. Sie wollte wirklich nicht zu Sam ins Auto steigen.

„Ich glaube, ich warte doch auf den Abschleppdienst.“
„Sei nicht albern. Das könnte Ewigkeiten dauern.“

Ja, aber jetzt gerade zog sie eine Ewigkeit im strömenden Regen der Ewigkeit in Sams Auto vor. Sie blieb, wo sie war.

Ihr Gegenüber atmete einmal tief durch, trat wieder vor sie und rieb sich mit der flachen Hand über den Nacken.

„Chloe …“

Er sollte das lassen. Ihren Namen zu nennen. Mit genau dieser Stimme und diesem Wort hatte er die Rede eingeleitet, mit der er ihr das Herz gebrochen hatte. Es mochte sechs Jahre her sein, aber … der Rest war es nicht.

„Ich weiß, wir sind nicht die größten Fans voneinander …“
„Ach ich weiß nicht, Sam.“ Sie verengte die Augen. „Es gab da einige Momente, in denen ich schon dachte, dass du Fan von mir wärst.“

Seine Schultern versteiften sich. „Chloe. Wir sind beide erwachsen. Wir sollten doch rational mit unserer Situation umgehen können.“

Sie wippte auf ihre Fersen zurück. „Mhm, interessant. Welche Situation ist das genau?“

„Du weißt, was ich meine.“

„Ich denke, ich weiß es. Aber um vollkommen rational damit umgehen zu können, solltest du es mir vielleicht besser aufschreiben. Oder buchstabieren. Nur, um wirklich hundertprozentig sicher zu sein.“

Sam seufzte. Es war kein schweres Seufzen, nicht besonders emotional. Einfach nur nichtssagend. „Steig einfach ein.“

„Ich weiß nicht, ich würde gerne noch weitere Dinge über unsere Situation erfahren…“

„Steig ein, Chloe! Ich möchte nicht unnötig länger im Regen stehen“, sagte er, öffnete die Fahrertür und ließ sich hinters Lenkrad sinken.

Großartig.

Unentschlossen blieb sie für einige Sekunden stehen, während Sam den Motor startete. Doch was blieb ihr für eine Wahl? Selbst mit Sams Mantel fror sie noch.

Sie schob ihre Hände in die weichen Ärmel – der Mantel roch nach ihm und das allein war eigentlich schon Grund genug, ihn sofort wieder auszuziehen – zog hastig ihre Handtasche von Bunnys Rücksitz, positionierte die Autoschlüssel auf ihrem Vorderrad und lief schließlich um den Wagen herum, um auf den Beifahrersitz zu sinken.

Sie schloss seinen Mantel, damit er ihre viel zu nackten Beine verdeckte und schnallte sich an.

„Freust du dich, dass du mich retten konntest?“, murmelte sie und presste ihre Finger fest ineinander. „Darin bist du doch so ausgezeichnet.“

„Du bist keine Jungfrau in Nöten, Chloe.“

„Nein, richtig. Die Jungfräulichkeit hast du mir ja genommen, oder?“

Er schnaubte, sah sie jedoch nicht an. „Du bist ganz schön melodramatisch, hat dir das schon einmal jemand gesagt?“

„Ja, danke. Das Kompliment bekomme ich dauernd.“

„Gern geschehen. Jederzeit wieder.“

Er fuhr an und fädelte sich in den spärlichen Verkehr ein.

Sie schluckte und sah aus dem Fenster.

Man konnte Sam nicht provozieren. Das war es, was sie am meisten störte, denn somit nahm er ihr ihre Geheimwaffe! Sie konnte jeden auf die Palme bringen, wusste einfach, welche Knöpfe gedrückt werden mussten. Aber nicht bei Sam. Sam zeigte nie eine Regung. Das war schon immer so gewesen. Er antwortete schlagfertig, ließ sie auflaufen – aber zeigte nie, dass ihre Worte irgendeinen Effekt auf ihn hatten. Er blieb kühl. Als würde er einfach nichts fühlen. Vielleicht tat er das ja auch nicht.

Durch ihren Atem beschlug die Windschutzscheibe und sie ließ sich tiefer in den Sitz zurücksinken.

Das würde eine tolle Fahrt werden …

Sie hatte schon immer mit dem Mann, mit dem sie nicht einmal, auch nicht zweimal, sondern gleich dreimal geschlafen hatte ohne dazuzulernen, in einen engen Raum gepresst werden wollen.

Heute wurden ihr einfach alle Wünsche erfüllt!

 ***

Diese Frau machte ihn wahnsinnig!

Sam hatte Mühe damit, das Lenkrad nicht mit seinen Fingern zu zerquetschen. Niemand konnte Knöpfe drücken wie Chloe O’Connor. Warum konnte sie das Geschehene nicht einfach ruhen lassen? Er kam sich auch so schon schäbig genug vor.

Da half es ihm auch nicht, dass sie aussah wie das reinste nervliche Wrack. Und das meinte er durchaus negativ.

Ihre Schminke war verlaufen und irgendein rosa Zeug tropfte aus ihren Haaren, die zu einem unordentlichen Nest auf ihrem Kopf zusammengefasst waren.

Chloe war das reinste Chaos. Sie war es schon immer gewesen. Vor drei Jahren hätte er noch gesagt, dass das einfach ihre Art und nichts Schlimmes war. Aber heute?

Heute, als er sie am Straßenrand hatte stehen sehen, hatte sie einfach nur unglaublich verloren gewirkt.

Er kannte sie seit mehr als sieben Jahren, seit Dex ihn einmal mit nach Hause genommen hatte, und so wie heute Abend hatte er sie noch nie gesehen. Chloe war schon immer das pure Leben gewesen und – wem machte er etwas vor – das war es, was ihn seit dem ersten Moment, an dem er sie gesehen hatte, zu ihr hinzog. Ihre Ausstrahlung war magnetisch. Aber seit der Sache auf dem College … seitdem schienen sie unfähig dazu, eine vernünftige Unterhaltung zu führen.

Chloes Spezialität war es, andere Leute anzustacheln. Das Leben leichtzunehmen. Dem, was sie tat, nicht allzu viel Bedeutung beizumessen. Sie lebte locker und leicht und das war schön für sie, aber einfach nicht mit seiner Persönlichkeit zu vereinbaren.

Leider interessierte das diese wenig, sobald Chloe einmal nackt war.

Und wenn Dexter das je herausfand, wäre er ein toter Mann.

„Also Sam, willst du Smalltalk führen oder sollen wir das Auto lieber noch eine Weile mit unangenehmer Stille füllen?“

Als ob sie dazu in der Lage wäre, Stille zu ertragen.

„Schön, führen wir Smalltalk.“

Er konnte sie aus seinen Augenwinkeln nicken sehen, während weiter schwere Tropfen gegen die Windschutzscheibe klatschten und darauf warteten, vom Scheibenwischer weggeschoben zu werden.

„Furchtbares Wetter, oder?“

„Unglaublich furchtbar.“

Stille.

„Wie feierst du dieses Jahr Weihnachten?“

„Gar nicht.“

„Gar nicht?“, wiederholte sie verwirrt seine Worte.

„Gar nicht“, sagte er.

„Gehst du nicht zu deiner Familie?“

„Nein.“

„Aber wohnt sie nicht in New York?“

„Ja.“

„New York City ist nicht weit weg.“

„Ich weiß.“

„Und du gehst trotzdem nicht?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Ich tue es einfach nicht.“

Chloe seufzte. „Du bist sehr schlecht im Smalltalk.“

„Das wusstest du doch bereits.“

„Ja, stimmt“, meinte sie schulterzuckend. „Meine Schuld, dass ich damit angefangen habe. Ich habe Smalltalk mit Dirtytalk verwechselt. In einem von beiden bist du nämlich wirklich talentiert.“

Sie tat es schon wieder. Sie wollte ihn aus der Reserve locken und verdammt noch mal, wenn er nicht jedes Mal kurz davor wäre, sie mit Erfolg zu belohnen!

Doch er schwieg. Er hatte sich nicht jahrelang antrainiert, die Kontrolle zu bewahren, nur um sie sich von Chloe jetzt nehmen zu lassen.

„Okay, darüber willst du also auch nicht reden“, sagte sie gespielt enttäuscht, als er weiterhin schwieg. „Wie geht es der Balletttänzerin?“

„Eifersüchtig?“, fragte er interessiert.

„Um ihren Geisteszustand besorgt.“

„Du hast da was falsch verstanden, Chloe. Die Frauen sind verrückt nach mir. Nicht von mir.“

Sie schnaubte laut. „Nein, ich glaube, du hast etwas falsch verstanden. Das Nach ist zeitlich zu sehen. Nachdem sie mit dir zusammen waren, sind sie verrückt.“

„Ich habe schon immer geahnt, dass zu viele Orgasmen dem weiblichen Gehirn schaden.“

Chloe gab einen unterdrückten Laut von sich und wenn er sich nicht irrte, dann versuchte sie gerade nicht zu lachen.

„Ich glaube, die Arroganz der Baseballspieler färbt allmählich auf dich ab, Sam“, sagte sie nach einer Weile.

„Denkst du, ja?“, fragte er und warf ihr einen Seitenblick zu, während er vom Highway fuhr. „Du musst ja wissen, ob es Arroganz oder die Wahrheit ist. Wie du die letzte Viertelstunde nicht müde wurdest mich zu erinnern, weißt du ja, wie gut ich bin.“

„Ganz ehrlich, Sam?“, meinte sie verkniffen. „Ich wollte eigentlich nur wissen, ob du dich überhaupt noch daran erinnerst.“

Ob er sich … war sie komplett übergeschnappt? Wie sollte er das vergessen?

„Natürlich erinnere ich mich“, sagte er düster. „Und du warst es, die sagte, sie wolle nicht darüber sprechen!“

„Was? Wann soll das gewesen sein?“

„Bei dem einen Mal, Chloe“, presste er zwischen den Zähnen hervor.

„Von welchem Mal sprichst du hier? Von der Sache im College, wo du mich einfach hast sitzen lassen, von der Sache vor zwei Jahren oder von dem … anderen Mal?“

Dieses Gespräch ging in die vollkommen falsche Richtung!

„Ich habe dich nicht einfach sitzen lassen.“ Er gab sich Mühe, seine Stimme weiter ruhig zu halten.

„Hast du, Sam!“

Ja, verdammt. Okay! Das hatte er. Aber was hätte er anderes tun sollen?

„Und es ist auch egal. Es ist Ewigkeiten her. Also, wovon sprichst du?“

„Ich spreche von letztem Jahr, Chloe. Von dem Mal, wo du gesagt hast, dass wir nicht drüber reden sollten!“

„Ich habe nie gesagt, dass ich nicht darüber sprechen will!“, fuhr sie ihn ungläubig an. „Ich sagte: ‚Ich gehe davon aus, dass du wieder nicht darüber sprechen willst.‘ Das ist ein Unterschied.“

„Also hättest du dich gerne darüber ausgetauscht?“, fragte er trocken. „Denn Chloe: Tu dir keinen Zwang an. Jetzt haben wir Zeit. Warum hattest du letztes Jahr das Gefühl, du müsstest mich mit einem besonderen ‚Hallo‘ begrüßen?“

„Halt die Klappe, Sam“, knurrte sie.

Er schnaubte. Sie musste sich schon entscheiden. Entweder sollte er mehr reden oder weniger. Beides konnte er nicht.

„Warum warst du heute überhaupt schon so früh fertig mit der Arbeit?“, fragte er, als wieder ein Stück goldenes Kleid unter seinem dunklen Mantel hervorblitzte. „Hattest du nicht die Nachtschicht?“

„Woher weißt du, dass ich Nachtschicht hatte?“

Shit. Er musste aufpassen, was er sagte. Er war vielleicht manchmal etwas zu aufmerksam, wenn Dex über sie redete. „Ich weiß es einfach.“

„Mhm.“

„Also?“

„Was glaubst du? Ich wurde gefeuert, Sam.“

„Weswegen?“

„Ich wurde begrabscht und habe es mir nicht gefallen lassen.“

Sie waren bei dem Hochhaus angekommen, von dem Dexter die oberen zwei Etagen bewohnte, und Sam drückte möglicherweise etwas zu fest auf die Bremse.

Der Gurt schnitt in seine Schulter und ruckartig wandte er seinen Kopf zu ihr. „Du wurdest was?“

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Keine große Sache. Ich habe es da ohnehin nicht sonderlich gemocht.“ Sie nagte an ihrer Unterlippe.

„Chloe! Das ist eine große Sache.“ Seine Handknöchel traten weiß hervor. „Du wurdest gefeuert, weil du … Gott, welcher schmierige Typ-“

„Sam, ist egal“, sagte sie ernst, die Augen groß. „Und wehe, du sagst es Dexter! Ich wurde schon oft gefeuert. Was soll’s. Der Grund ist letztendlich nicht wichtig. Dann suche ich mir eben einen neuen Job. Ist mir wirklich egal.“

Sie log. Es war ihr nicht egal. Ihre Hände hatten sich auf ihrem Schoß verkrampft. Aber er würde einen Teufel tun und sie trösten. Dinge schienen einen unvorhersehbaren Lauf zu nehmen, wenn er anfing Chloe aufzuheitern. Damit hatte er bereits Erfahrung. Denn Trost ging meistens mit Körperkontakt einher und Körperkontakt schien bei ihnen zwangsläufig zu noch sehr viel mehr Kontakt zu führen.

Sam war stolz auf seine Beherrschung. Sie war es, die ihn ausmachte. Aber bei Chloe? Sobald er die Finger auf sie legte, segelte jede Beherrschung aus dem Fenster. Er wusste nicht, was es war. Vielleicht einfach Körperchemie, aber die Schwester seines besten Freundes konnte mit nur einem Blick Dinge mit ihm anstellen, zu denen nackte Frauen mit talentierten Händen nicht fähig waren.

Was der Grund dafür war, dass er immer einen weiten Bogen um sie machte. Er hatte sein ganzes Leben darauf hingearbeitet, dort zu sein, wo er jetzt war. Er hatte eine Freundin, die perfekt zu ihm passte. Und Chloe … Chloe war dazu geboren, Dinge durcheinanderzubringen.

Gott, jemand hatte sie angefasst und sie war … verdammt. Es war nicht seine Aufgabe, sich darüber aufzuregen. Nicht seine Aufgabe, dem Kerl eine verpassen zu wollen. Daran sollte er sich erinnern.

Er konnte ihren Blick auf sich spüren, während er aus dem Fenster sah, seinen Atem regulierend.

„Sam schweigt“, murmelte sie. „Ein allseits beliebter Klassiker, erhältlich in der Buchhandlung Ihrer Wahl!“

„Du hast gesagt, ich soll die Klappe halten.“

„Ja, du hast recht. Die Wonne mit dir zu reden, kann man nur für sehr kurze Zeiträume ertragen. Sonst ist das Glücksgefühl zu groß.“

Sie schulterte die Handtasche und schnallte sich ab.

„Weißt du was, Chloe“, sagte er ruhig. „Du stellst dich immer als Opfer dar, aber du bist wirklich nicht unschuldig an der Situation.“

Und das war die Wahrheit. So sehr er auch Mist gebaut hatte – Chloe war Teil davon gewesen.

Sie sah ihn nicht an. Sie starrte nach draußen. Der Regen trommelte unaufhörlich auf das Autodach und er konnte sehen, wie sie ihre Lippen zu einer dünnen weißen Linie zusammenpresste. Sie war wütend. Auf ihn.

Nun, das war nichts Neues.

„Gute Nacht, Sam“, sagte sie und schälte sich aus seinem Mantel. Ihre Stimme zitterte ein wenig. „Danke dafür, dass du mir geholfen hast. Auf dass wir das jeden Abend wiederholen!“

Ehrliche Dankbarkeit hörte sich anders an, aber er nahm, was er kriegen konnte.

„Gute Nacht, Chloe“, sagte er – warum fühlte er sich, als hätte ihn ein Auto überfahren? „Gern geschehen.“

„Ich glaube dir kein Wort“, murmelte sie und stieg aus.

„Ich dir auch nicht.“

„Dann bist du also dazu in der Lage, Sarkasmus zu erkennen?“, stellte sie gespielt verblüfft fest und drückte die Tür ins Schloss.