Leseprobe Die Morde von Wickenham

1. Kapitel

Georgia Marsh schloss die Haustür und warf einen verstohlenen Blick in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Gut – er war aufgestanden, und sie hörte das gewohnte Quietschen seines Rollstuhls. Er saß jedoch nicht am Computer – das war weniger gut. Sie trat leise ein, weil sie wissen wollte, was sie erwartete. Jetzt, da sie Nachbarn waren und nicht mehr im selben Haushalt wohnten, war es leichter einzuschätzen. Er saß noch am Frühstückstisch (mit ein paar Stapeln von Büchern und Papieren, die er offenbar ungeduldig beiseitegeschoben hatte) und beugte sich über einen aufgeschlagenen Daily Telegraph. Er musste gemerkt haben, dass sie hinter ihm stand. „Georgia!“, schrie er triumphierend. „Marsh & Daughter sind wieder im Geschäft!“ Sie schleuderte ihren Mantel von sich und eilte zu ihm, auf das Schlimmste gefasst. „Wir waren nie aus dem Geschäft, Peter!“ Bei der Arbeit war er immer „Peter“ für sie. Die Rolle des Vaters wurde an der Bürotür abgegeben, weil sie beide es so wollten. Es machte das Zusammensein außerhalb der Arbeitszeit erträglicher, wenn sie bei ihren Wortgefechten Distanz wahrten – jedenfalls theoretisch. Das System funktionierte, mehr oder weniger zumindest. Ihre Bemerkung traf zu. Es gab immer einen Artikel zu schreiben, etwas Interessantes zu erforschen, ein Buch, das zu Ende gelesen oder korrigiert werden musste, oder ein Anruf bei Detective Inspector Mike Gilroy (der Ärmste!). Ohne eine Miene zu verziehen, hatte sie einmal vorgeschlagen, dass Peters ehemalige Polizeidienststelle am Stour in Kent ihm einen Router für zu Hause zur Verfügung stellen sollte, damit seine Leitung sicher war. Der Detective Inspector hatte säuerlich, und ohne den Hauch eines Lächelns, abgelehnt. Aus Peters leicht altmodischer Sicht gab es kein Ablaufdatum für ausstehende, wohlverdiente Gefallen. Es war schließlich erst neun Jahre her, dass er in den Ruhestand gegangen war. Eine Schießerei, seit der er gelähmt war, hatte ihn dazu gezwungen. „Was für einen Braten riechst du jetzt wieder?“ Sie schaute ihm neugierig über die Schulter, aber keine auffällige Schlagzeile sprang ihr ins Auge. „Fee fi fo fum!“ Offensichtlich hatte etwas sein Interesse geweckt. Er tippte mit dem Finger auf einen vierzeiligen Absatz unter der Rubrik „In Kürze“. „Erinnerst du dich noch an Wickenham? In den North Downs, irgendwo in Richtung Gravesend. Ich habe doch gesagt, dass es ein trostloses Dorf war, nicht wahr?“

„Das sagt mir nichts. Oder doch.“ Eine verschwommene Erinnerung tauchte auf. „Das ist aber ewig her!“

„Ewig? Bestimmt, denn diese zwei Beine waren damals noch in Betrieb“, erwiderte Peter ohne Bitterkeit. „Aber du musst dich doch erinnern! Ich hatte einen Fall in Dartford und du bist gekommen, weil du mich aus irgendeinem Grund sehen wolltest. Wir haben in Wickenham Tee getrunken.“ Die Erinnerung wurde langsam wach. „Ein Dorf, das versucht, kein verschlafener Vorort von London zu sein“, fiel ihr ein. „Oh, und ein lustiges altes Café, in dem es Tee mit Sahne und altbackenen Kuchen gab. Und was ist nun mit Wickenham?“ Zu ihrem Ärger verdeckte Peter den wichtigen Abschnitt mit der Faust. „Skelett in Kalkhöhle entdeckt.“

„Ist das alles?“ Die Kalkhöhlen im Norden von Kent stellten bekanntermaßen eine große Gefahr für neugierige Jungen und arglose Spaziergänger dar, die durch die Wälder streiften. Sie waren tief und senkrecht, und oft führten alte Gänge zu den Tunneln, die sich unter ihnen erstreckten. Die Höhlen waren eine Versuchung für Abenteuerlustige, vor allem, weil ihr Alter unbekannt war. Waren es Minen aus grauer Vorzeit, Verstecke oder Anlagen für Kalkbrennereien aus dem neunzehnten Jahrhundert? Was auch immer – Peters Aufregung schien ihr unbegründet. „Komm schon, Georgia“, sagte er ungeduldig. „Es sieht dir gar nicht ähnlich, so kurzsichtig zu sein. Woher sollen wir wissen, ob das alles ist? Es könnten die sterblichen Überreste eines angelsächsischen Königs sein oder die des verschollenen Earl of Lucan! Es könnte die größte Herausforderung sein, vor der wir je standen! Du weißt doch noch, was ich damals gesagt habe – dass in Wickenham offene Fragen in der Luft liegen!“

„Hast du das gesagt?“ Sie runzelte die Stirn und ärgerte sich, dass sie sich immer noch nicht erinnerte. Schließlich war der gemeinsame „Riecher“ die Grundlage für ihre Zusammenarbeit. Sie war vor allem für die Recherche zuständig und er für das Schreiben; Telefonate und alles, was mit dem Internet zu tun hatte, teilten sie unter sich auf. Peter hatte ein rollstuhlgerechtes Auto, aber seine Streifzüge in die Außenwelt waren – wenn es um die Arbeit ging – sorgfältig inszenierte Auftritte, in denen er die Rolle des an den Rollstuhl gefesselten Autors meisterhaft spielte. „Du, Georgia, bist meine Augen und meine Beine“, erklärte er erhaben – wenn er nicht doch beschloss, selber mitzumischen. Alles in allem waren Marsh & Daughter ein gutes Team. Das Wichtigste war, dass sie und ihr Vater den gleichen Instinkt für unerledigte Dinge hatten; manchmal schlummerten diese in der Geschichte, meistens jedoch in der Atmosphäre eines Ortes. Das fesselte sie beide. Sie war sich nie ganz sicher, ob dieses Gespür angeboren war, oder ob es sich im Laufe der Jahre erst entwickelt hatte. Vielleicht beides. In seiner früheren Laufbahn hatte Peter sich immer für eine bestimmte Sorte von Fällen interessiert, von denen Gilroy, damals noch Detective Sergeant, gesagt hatte, sie seien „ihm auf den Leib geschneidert“. Und immer hatte die Lösung darin gelegen, der Vergangenheit nach zu lauschen. „Fingerabdrücke auf der Zeit“, so nannten Peter und sie die Spuren der Vergangenheit. Nichts Handfestes, nichts Greifbares, nur die Spuren, die traumatische Ereignisse am Ort des Geschehens hinterließen; vor allem dann, wenn sie nicht abgeschlossen waren. Schließlich, so Peters Ausführung, galten Geister als eine Art Fingerabdruck auf der Zeit, denn sie suchten die Orte heim, an denen sie gelebt hatten. Es war ein Widerspruch und höchst unlogisch, dass Peter, der für die Vorstellung sichtbarer Geister nur Spott übrighatte, ebenso wie sie felsenfest an die Fingerabdruck-Theorie glaubte. Es war genau so, als ob man ein Haus oder eine Kneipe zum ersten Mal betrat und sofort eine frohe oder traurige Atmosphäre wahrnahm. Der Eindruck konnte aus der Gegenwart oder der Vergangenheit stammen, aber er war da. Georgia war anfangs skeptisch gewesen, aber dann hatte sie Montségur im Südwesten Frankreichs besucht, den Schauplatz des Massakers an den Katharern im dreizehnten Jahrhundert. Das hatte sie überzeugt. Selbst das Kommen und Gehen tausender Touristen und Pilger hatte die Atmosphäre der Tragödie nicht ausgelöscht. Wickenham war nicht unbedingt Montségur, aber Kent war eine interessante Gegend. Die allzu offensichtlichen Zeichen der Moderne – der Schnellzug über den Ärmelkanal, Autobahnen et cetera – hatten Wunden geschlagen und verbargen die schlummernde Vergangenheit, die sich dann und wann bemerkbar machte und sich der Welt in Erinnerung brachte. Die kürzliche Entdeckung des Ringlemere Cup, eines goldenen Bechers aus der Bronzezeit, war ein Beispiel dafür. Ihr eigenes Dorf, Haden Shaw, lag nicht weit von Canterbury entfernt und befand sich, ebenso wie Wickenham, in den North Downs in Kent. In diesem Dorf war die Vergangenheit allgegenwärtig. Umso ärgerlicher war es, dass sie sich nicht besser an Wickenham erinnern konnte. „Also, wessen Skelett ist es? Ist das das Geheimnis?“

„Nicht unbedingt. Wahrscheinlich sogar nicht“, sagte er selbstzufrieden. „Erinnerst du dich an den Fall Ada Proctor? Der ist mir in den Sinn gekommen, als wir dort waren, und deine Mutter hat es nachgeschlagen, als wir wieder zu Hause waren.“ Immer hieß es „deine Mutter“, nie Elena. Das war seine Art, sie seelisch auf Abstand zu halten. Dass ihre Mutter den Fall nachgeschlagen hatte, erklärte wahrscheinlich, warum Georgia die Erinnerung daran verdrängt hatte. Es waren die alptraumhaften Jahre gewesen, die jetzt in ein fernes Land zu gehören schienen – verbotenes Gelände, welches sie und Peter nicht mehr betraten, auch wenn es noch tief in ihrem Inneren begraben lag. Es galt die stillschweigende Übereinkunft, dass dies der Ansporn für die Arbeit von Marsh & Daughter war. Elena Marsh hieß jetzt Elena Pardoe und lebte mit Ehemann Nr. 2 in Frankreich. „Ja“, sagte Georgia laut. „Das dachte ich mir.“

„Die Tochter eines Arztes.“ Sie kramte in ihrem Gedächtnis. „Sie wurde an einem Freitagmorgen in aller Frühe erwürgt auf einem Feld aufgefunden. Es war in den 1930er Jahren oder so.“

„1929, um genau zu sein.“

„Sie wurde sexuell missbraucht.“

„Falsch. Oder jedenfalls nicht bewiesen. Einige Kleidungsstücke fehlten, andere waren zerrissen und verrutscht, und es gab reichlich Anzeichen für einen heftigen Kampf. Vielleicht war es ein sexueller Übergriff, aber die Rechtsmedizin konnte nur Erwürgen nachweisen.“

„Aber darum“, Georgias Interesse war geweckt, „argumentierte der Ankläger, das sei nicht wichtig. Sie war eine Frau reiferen Alters, kräftig und stark genug, um das eigentliche Vorhaben ihres Angreifers abzuwehren. Sie muss ihn abgeschüttelt haben und er packte sie von hinten, um sie am Schreien zu hindern.“ „Das dürfte auf einem einsamen Feld mitten in der Nacht wohl kaum eine Rolle gespielt haben. Ich weiß noch, dass das mein erster Gedanke war, als ich über den Fall gelesen habe. Ich habe es irgendwo hier.“ Peter nahm seine langstielige „Buchzange“, die immer griffbereit lag, zog ein Buch aus dem Regal und fing es mit der freien Hand auf. Dank langjähriger Übung war er sehr geschickt darin. „John Mitchison, Village Murders, 1972. Es ist der einzige veröffentlichte Bericht, soviel ich weiß, und er ist mir in Erinnerung geblieben. Denk nach, Georgia. Welche Frage drängt sich auf?“

„Was wollte sie mitten in der Nacht auf dem Feld mit jemandem, dem sie nicht hundertprozentig vertraute? Hieß es nicht, ihr Angreifer sei ein dünner Bursche gewesen und nur von mittelgroßer Statur?“

„Ja. Der junge Davy Todd. Ah, Margaret“, er wandte sich an seine Betreuerin, die auch seine Haushälterin war. „Da kommen Kaffee und Kuchen, um mich wiederherzustellen!“

„Nein, hier kommen Kaffee und ein Apfel, um Sie wiederherzustellen“, teilte sie ihm kurzangebunden mit. Margaret war der vernünftigste Mensch, dem Georgia je begegnet war. Das musste sie auch sein, um mit Peters Launen fertig zu werden. Sie war die Sprechstundenhilfe des Dorfarztes gewesen, bis sie sich mit seinem Computer verkracht hatte. Zum Glück für die Marshs war das gleichzeitig mit Elenas Abschied passiert. Sechs Stunden am Tag hielt sie Peters Leben in Ordnung. Mehr oder weniger jedenfalls. „Man sollte meinen, dass ich als Krüppel etwas bekommen sollte, das ich mag!“, beklagte sich Peter bitter. „Sagen Sie sich einfach, dass Sie Äpfel mögen.“ Margaret war offenbar nicht zu Verhandlungen bereit und hatte ihre Hartnäckigkeit zu einer schönen Kunst entwickelt. Nachdem das Ritual beendet war und Margaret siegreich den Rückzug angetreten hatte, wandte sich Peter wieder an Georgia. „Davy Todd war der junge Gärtner der Proctors. Es lagen nur Indizien gegen ihn vor, aber die waren schwerwiegend, und Dr. Proctor bezeugte widerwillig, dass Ada immer sehr vertraulich mit Davy umgegangen sei. Er wurde verhaftet, man machte ihm den Prozess und befand ihn für schuldig. Im April 1930 wurde er wegen Mordes gehängt. 1929 war er zwanzig Jahre alt. Und sie war siebenunddreißig.“ Nur drei Jahre älter als ich, dachte Georgia sofort. „Irgendwelche Zweifel am Urteil, Peter?“

„Dafür, liebe Georgia, habe ich meine Tochter. Mir kommt dieser Mord sehr seltsam vor, vor allem, da er an Allerheiligen passiert ist – kaum die Jahreszeit für Knutschereien unter freiem Himmel. Also ist es deine Aufgabe, herauszufinden, ob Ada Proctor und Davy Todd bis heute ihre Fingerabdrücke im Dorf hinterlassen haben.“

„Wir wissen nicht, ob es überhaupt jemand tut“, rief sie ihm ins Gedächtnis. „Es ist Jahre her, dass wir da waren! Was auch immer du damals gespürt hast – es ist vielleicht schon seit einer Ewigkeit verschwunden.“

„Na und? Wenn Anne Boleyns Geist hinter dem Kamin hervor käme, würdest du auch nicht sagen: ‚Verschwinde, du kommst Jahrhunderte zu spät, du bist nicht mehr interessant!‘, oder?“

„Ich weiß nicht, was ich sagen würde“, antwortete Georgia ehrlich. „Vielleicht würde ich um mein Leben rennen – oder vielleicht würde ich sie fragen, ob sie weiß, dass ihre Tochter, Good Queen Bess, ein Medienstar des einundzwanzigsten Jahrhunderts geworden ist. Gestern Abend kam wieder eine Dokumentation im Fernsehen. Hast du sie gesehen?“

„Bleib beim Thema – Wickenham.“ Peter tippte auf die Zeitung. „Hier sind Marsh & Daughter gefragt!“

„Spar dir die Floskeln“, sagte sie höflich. „Du bist heute Morgen ungewohnt schlechter Laune, Georgia. Wo ist deine Spürnase für Geheimnisse, Entdeckungen, Abenteuer?“

„Die schläft noch auf meinem Kissen“, erwiderte sie. „Ich hatte eine etwas unruhige Nacht. Jemand hat um drei Uhr morgens in voller Lautstärke den Emperor gehört. Für dich ist es kein Problem, da das Haus an einer Straßenecke steht, es stört niemanden außer mir.“ Es war die übliche Neckerei. Sie wussten beide, warum er es tat.

***

Ada Proctor hatte sich in den zwei Wochen seit ihrem ersten Gespräch über den Fall hartnäckig geweigert, aus ihren Gedanken zu verschwinden. Aber sie waren kaum weitergekommen. Bevor Ada in ihr Leben getreten war, hatten sie an einem interessanten Fall in East Anglia gearbeitet – auch ein Skelett, also warum ging ihr ausgerechnet der Mord an Ada nicht aus dem Kopf? Wahrscheinlich lag es daran, dass sie kaum Fortschritte machten, redete Georgia sich ein. Aber Peter hatte ihr nur einen Blick zugeworfen, als sie das gesagt hatte, und sie wusste, warum. Sie erinnerten sich, dass sie an dem Tag, als sie sich in Wickenham getroffen hatten, nicht allein gewesen waren. Nicht nur Elenas Anwesenheit hatte sie Wickenham in den Schleier des Vergessens hüllen lassen. Zac war auch dabei gewesen. Kein Wunder, dass sie ihr Bestes getan hatte, um diesen Tag zu verdrängen – ebenso wie ihre kurze (aber aufregende, das musste sie ihm zugestehen) Ehe. Nur konnte sie es leider nicht völlig aus ihrem Gedächtnis streichen, weil Zac seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis immer mal wieder auftauchte wie ein funkelnder neuer Penny – meistens ohne einen einzigen davon in der Tasche. Einen unfähigeren Kriminellen als Zac Taylor konnte sie sich nicht vorstellen, aber leider hatte er sie trotzdem drei Jahre lang zum Narren gehalten. Es war dumm von Ada Proctor gewesen, Davy Todd zu ermutigen, aber Georgia saß selbst im Glashaus und konnte nicht mit Steinen werfen. Marsh & Daughter konnten zurzeit mit gar nichts werfen, weil ihnen Informationen fehlten. In der Lokalpresse fand sie ab dem Tag seiner Hinrichtung nichts mehr über Davy Todd. In den 1930er Jahren hatte es noch keinen öffentlichen Druck gegeben, zweifelhafte Urteile nachhaltiger zu untersuchen. Allerdings sprach nichts von dem, was Georgia bisher gelesen hatte, dafür, dass es sich um ein solches handelte. Es hatte nicht einmal eine Revision gegeben. Die größte Enttäuschung war die Durchforstung der Webseite des National Archive / Public Record Office gewesen. Es gab kaum Informationen über den Prozess. „Keine Revision und natürlich auch kein Protokoll“, hatte Peter düster berichtet. Die stenografierten Mitschriften waren 1912 abgeschafft worden, und der Fall war eindeutig nicht von großem öffentlichen Interesse gewesen; das Treasury Solicitor’s Department und der Director of Public Prosecutions hatten nicht alle Unterlagen aufbewahrt. „Der arme alte Davy war kein bedeutender, polarisierender Aufklärer wie ein Roger Casement, der wegen Hochverrats angeklagt war“, fuhr Peter fort. „Es gibt eine Liste bei den eidesstattlichen Aussagen und eine in den Anklageschriften, aber ich glaube nicht, dass wir daraus etwas erfahren würden, das wir nicht schon wissen. Nur Vorladungen von Geschworenen, Anklagen, Haftentlassungen und so weiter sowie die Ergebnisse des ursprünglichen Prozesses und der Berufungen. Wenn wir Glück haben, sind die Untersuchungsergebnisse des Rechtsmediziners da.“

„Sind Listen von Beweisstücken dabei?“

„Ja, du kannst nach Kew fahren und nachsehen. Ich konnte im Bericht in der Times nichts Dramatisches finden, dem man nachgehen müsste.“ Das war der einzige Lichtblick, denn in Ada Proctors Zeit waren die Presseberichte über Gerichtsverhandlungen viel ausführlicher gewesen als heute, und vor ein paar Jahren hatte Peter ein Vermögen ausgegeben – für den Mikrofiche-Katalog der Times der ersten neunzig Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und die auf CD aufgezeichneten aktuelleren Belege. Davy Todd war am ersten November 1929 verhaftet worden, die Obduktion hatte am Montag, dem vierten, stattgefunden und das Begräbnis am nächsten Tag. Drei Tage später hatte man ihn vor dem Old Bailey angeklagt und ihm Anfang Februar den Prozess gemacht. Nach heutigen Maßstäben war alles sehr schnell gegangen, aber für damalige Verhältnisse war es völlig normal gewesen. Der Prozess hatte nur zwei Tage gedauert, aber in der Times standen ein paar Absätze mit wörtlich zitierten Aussagen. „Hier“, Peter fuchtelte mit einer Seite aus einer Zeitung, „ist die Stimme von Davy Todd. Der Reporter der Times wollte oder konnte den Dialekt von Kent nicht für seine Leser wiedergeben.“

„Lies es mir vor“, bat Georgia. Dialekte aus Vergangenheit und Gegenwart gehörten zu Peters Spezialitäten, und er machte sie liebend gern nach. Das war seine Gelegenheit und er ergriff sie beim Schopf. „Es ist aus seinem Kreuzverhör“, fing Peter an. „Frage: ,In dieser Nacht wollten Sie sich mit Miss Proctor treffen, nicht wahr?ʻ ,Nein, erst in der nächsten Nachtʻ, sagt Davy. ,Wir wollten eigentlich schon, es war ja Allerheiligen, sehen Sie, aber sie wollte nach London, und wusste noch nicht, wann sie wiederkommen würde. Also verabredeten wir uns für den nächsten Abend, und ich bin stattdessen zu meiner Mary gegangen. Ich war froh darüber. Dann habe ich an dem Abend gesehen, wie Miss Proctor in die Felder ging; ich war überrascht, das habe ich auch zu Mary gesagt, jawohl. Jawohl.ʻ Georgia überlief es kalt. Peter war gut – zu gut. Es konnte ein Problem darstellen, nach Jahrzehnten die so perfekt nachgeahmten Worte von Davy Todd zu hören. Ohne weitere Hintergrundinformation war die Gefahr der Voreingenommenheit einfach zu groß. Peter war sich dessen ebenso bewusst wie sie, denn er sagte: „Für den Moment ist es genug, nur noch einen Auszug. Hier steht er wirklich unter Druck, würde ich sagen. Frage: ,Sie mochten Miss Proctor, nicht wahr?ʻ Antwort: ,Jawohl.ʻ Dann hakte der Staatsanwalt nach: ,Sie mochten sie sehr, nicht wahr? Sie wollten sie berühren, sie küssen.ʻ Antwort: ,Nein, das habe ich mich nicht getraut. Sie war die Tochter vom Doktor.ʻ Frage: ,Nicht getraut? Also wollten Sie sie anfassen.ʻ Antwort: ,Das wollte ich nie. Niemals nicht.ʻ

„Was ist mit Ada?“, brachte Georgia hervor. „Sie kann sich nicht mehr äußern.“

„Du wirst schon etwas finden“, sagte Peter leichthin, „wenn du nach Wickenham fährst.“ Wenn, nicht falls – das fiel ihr auf. Wickenham war die nächste Hürde, der sie sich also stellen musste; am besten ohne Zacs Schatten, der neben ihr herlief. Sie musste objektiv sein. Im Augenblick war Peter viel überzeugter als sie, dass entweder der Fall Proctor, oder eben das gefundene Skelett, eine gründliche Untersuchung von Marsh & Daughter verdiente. Bisher hatte sie nicht viel über Adas Leben herausgefunden – nur eine Todesanzeige von Dr. Edward Proctor aus Wickenham aus dem Jahr 1935. Und Peter war nach etwas Stöbern im Internet darauf gestoßen, dass Winifred Proctor, wahrscheinlich seine Frau, etwa zehn Jahre früher gestorben war. Man konnte also davon ausgehen, dass Ada in der elterlichen Praxis sowie bei der Arzneiausgabe geholfen und zudem ihrem Vater den Haushalt geführt hatte – Letzteres war eine unvermeidliche Rolle und als solche alltäglich für so viele Frauen, die nach dem furchtbaren Blutbad des Ersten Weltkriegs keinen Ehemann gefunden hatten. Ihr Gesicht – eine Kopie aus einem Zeitungsbericht, die an Peters Computer lehnte – starrte ihnen entgegen, so trotzig und geheimnisvoll, wie es unter einem Glockenhut eben ging. „Stell sie dir ohne den Hut vor – was siehst du dann?“, fragte Peter. „Eine Frau, die einen Abschluss in Oxford gemacht hätte, wenn sie dreißig Jahre später geboren wäre“, erwiderte Georgia prompt. Das Gesicht war ihrem eigenen nicht unähnlich – lang und recht schmal. Aber Ada hatte glattes, kurzes Haar gehabt und sie selbst trug einen Pferdeschwanz, deshalb hinkte der Vergleich ein wenig. „Ja. Meinst du, dass sie leidenschaftlich war?“

„Schwer zu sagen.“ Georgia runzelte die Stirn. Auf der grauen, verschwommenen Kopie, die noch dazu von einem schlechten Original stammte, kam die Persönlichkeit nicht zur Geltung. „Ich würde sagen, ja, aber damit meine ich nicht zwingend in sexueller Hinsicht. Sie wirkt wie eine Frau mit festen Überzeugungen.“

„Das könnte wichtig sein, Georgia. Nichts von dem, was wir bisher gelesen haben, erklärt, was sie so spät am Abend in Crown Lea vorhatte – außer, sich mit Davy Todd zu treffen. Ihr Vater sagte aus, er habe sie um halb zehn im Haus gesehen, als er sich zur Nachtruhe begab – ist das nicht ein wunderbarer Ausdruck, Georgia? Ich glaube, ich werde das ab jetzt auch sagen – und sie wurde zwischen neun und elf Uhr getötet, das ist ein ziemlich langer Zeitraum. Nehmen wir an, dass es mehr oder weniger korrekt ist, vor allem, da ihre Leiche früh am nächsten Morgen gefunden wurde, nicht allzu lange nach der Tat. Wurde sie direkt am Fundort erwürgt? Das wissen wir nicht. Es steht in keinem Bericht. Oder wurde sie dorthin geschleift? Und das Wichtigste: Wenn sie sich in jener Nacht nicht mit Davy Todd treffen wollte, mit wem dann? Sie sieht aus wie eine vernünftige Frau, das heißt, wer auch immer es war – entweder wollte sie Sex mit ihm oder sie vermutete in keinster Weise, dass er etwas in der Richtung vorhatte. Und sogar Davy gibt zu, dass sie verabredet waren.“

„Das bringt uns wieder an den Anfang. Wenn sie in den jungen Gärtner vernarrt gewesen wäre, hätte sie einen gastlicheren Treffpunkt wählen können als ein Feld mitten in der Nacht.“ Wieder Schachmatt. Eine Liebesnacht auf einem matschigen Feld Ende Oktober? Selbst wenn Ada wirklich etwas von Davy gewollt hätte, so hätte sie sicher einen gemütlicheren Ort gefunden. „Die Verteidigung sagte, er sei bis etwa halb zwölf bei seiner Freundin Mary Elgin gewesen“, sagte Peter, „und sie bestätigte die Aussage unter Eid, auch wenn ihr natürlich niemand glaubte. Sie sagte, ihr Vater sei nach Hause gekommen und habe sie und Davy zusammen ertappt, aber der stritt dies entschieden ab. Deshalb war klar – jedenfalls für die Geschworenen –, dass sie log, um Davy zu schützen. Aber hier ist ein interessanter Punkt. Zwei Zeugen sagten aus, sie hätten Davy in einem ausgesprochen derangierten Zustand nach Hause gehen sehen – mit blutverschmiertem Gesicht – und das war gegen viertel vor zwölf, nach dem Ende des Balls. Das sprach für seine Version, aber da Marys Vater es leugnete, ging man davon aus, dass Davy spät nach Hause kam, weil er Ada ermordet hatte. Wenn wir davon ausgehen, dass Ada gegen elf Uhr schon tot war, was hat Davy dann in diesen fünfundvierzig Minuten gemacht?“

„Vielleicht war er in Panik?“, schlug Georgia vor. „Warum ist er dann nicht weggelaufen? Oder gleich nach Hause gegangen?“

„Vielleicht hat er gehofft, dass ihn niemand sehen würde?“

„Schwaches Argument. Und außerdem hat eine Zeugin, das Dienstmädchen der Proctors, ausgesagt, Ada sei an dem Abend aufgeregt gewesen, da sie später jemanden treffen wollte. Es war ein großes Geheimnis, und ihr Vater sollte es auf keinen Fall erfahren. Hätte Ada es überhaupt jemandem erzählt, wenn sie mit Davy verabredet gewesen wäre? Ich bezweifle es. Sicher nicht ihrem Dienstmädchen. Andererseits hat ein anderer Zeuge ausgesagt, Ada sei eine unbescholtene Frau gewesen, die nie spät mit jemandem ausgegangen wäre, den sie nicht kannte und dem sie nicht vertraute – und Davy Todd vertraute sie, wie ihr Vater bestätigt hat.“ In diesem Moment wurden sie vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Peter meldete sich ungeduldig und dann änderte sich seine Stimme plötzlich. Er schlug seinen Schnurr-Ton an. „Wie schön, von dir zu hören, Mike.“ Er lauschte aufmerksam, dann schnurrte er ein liebenswürdiges Dankeschön. „Hat Mike geknurrt, gestöhnt oder gegrinst?“, fragte Georgia. Detective Inspector Mike Gilroys Grinsen war über das Telefon wahrnehmbar, aber es kam selten vor, auch wenn sie den Verdacht hatte, dass es sich in seinem Inneren öfter ausbreitete, als er sich nach außen hin anmerken ließ. Sie fragte sich, ob seine Frau Helen einen anderen Mike sah. Sie hatte die beiden nur wenige Male zusammen erlebt, und nichts hatte dafürgesprochen. Aber manchmal malte sie sich aus, dass Mike sich einen Papierhut aufsetzte und bei albernen Weihnachtsspielen mitmachte. „Ich verstehe nicht, warum du die fixe Idee hast, ich sei Mike lästig. Er war nur zu gern bereit, die Dienststelle in Darenth für mich zu kontaktieren.“

„Okay, also, was gibt es Neues über das Skelett in der Kalkhöhle?“

„Es wurde gefunden, als ein paar Kinder hinuntergeklettert sind. Was natürlich strengstens verboten ist. Die Kalkhöhle war eingestürzt; ein Teil war zwar unversehrt geblieben, aber im Boden war ein glockenförmiges Loch aufgebrochen. Das Skelett lag unter einem Haufen Geröll, der sich im Lauf der Jahre angesammelt hatte. Der Rechtsmediziner hat eine forensische Untersuchung in Auftrag gegeben, und bisher weiß man, dass es ein erwachsener Mann zwischen dreißig und vierzig war. Es hat dort schon einige Zeit gelegen und hatte Knochenbrüche, die von einem Sturz herrührten. Weißt du, Georgia, mein Riecher sagt mir, dass diese menschlichen Knochen der rote Faden sind, dem wir folgen sollten.“

„Gibt es irgendwelche Hinweise auf die Identität?“ Sie war noch nicht bereit, seine Begeisterung zu teilen. „Ein paar Fetzen Kleidung und einige andere Sachen, die noch untersucht werden müssen, und die vielleicht damit zu tun haben, vielleicht aber auch nicht. Noch nichts Aufregendes, aber du kannst wetten, dass das noch kommt. Machen wir uns an die Arbeit, auch wenn das Skelett noch keinen Namen hat.“ Nur eine Leiche, dachte Georgia. Und auch, wenn man sie endlich gefunden hat, wird sie wohl nicht einmal identifiziert, auch wenn Peter noch so zuversichtlich ist. Selbst, wenn das Labor brauchbare DNA in den Knochen fand, würde es in der nationalen DNA-Datenbank wohl keinen Treffer geben. Verrückterweise überzeugte genau dieses sie davon, dass Wickenham ein Projekt für die Marshs war, obwohl der Fall Ada Proctor sie viel mehr interessierte als dieses namenlose Skelett. Sie wusste, dass das auch Peter antrieb – und damit waren die Würfel gefallen. „Siehst du Stoff für ein neues Buch darin“, fragte sie unumwunden, „oder zumindest für einen Artikel?“ Peter hatte soeben ihr neues gemeinsames Manuskript über einen Mordfall aus den 1940er Jahren eingereicht, und er hasste es, kein Projekt zu haben. „Natürlich. Aber Wickenham selbst ruft nach uns, mein Schatz“, sagte er tugendhaft. „Etwas dort muss zur Ruhe gebracht werden.“