Kapitel 1
Lindy
Ich bin Linda Villas, auch Lindy genannt; Lindy gefällt mir. Fast alle meine Freunde – als ob ich noch welche hätte – nennen mich Lindy. Ich komme aus Charlottesville, Virginia. Und ich will meinen Mann umbringen.
Die Welt hat einiges an Durchgedrehten zu bieten und ich bin wahrscheinlich eine der schlimmsten. Eigentlich weiß ich das mit Sicherheit. Dazu bräuchte ich keine Diagnose, doch ich habe trotzdem eine. Vor einem Jahr kam bei mir der Zeitpunkt, an dem die Psyche kippte. Das scheint vielen labilen Leuten so zu ergehen – so erklärte man mir das zumindest in der Klinik. Ich hoffe mal, dass dem so war, denn ich meine, zuvor stabil gewesen zu sein. Wer weiß. Niemand ist immer stabil; da muss einen nur mal etwas aus der Bahn werfen.
Mein deutlicher Südstaaten-Akzent fällt in Amerika kaum auf, doch den Briten gefällt er und dadurch beschert er mir unerwünschte Aufmerksamkeit. Gerade sitze ich in einem Pub und nippe an einem Glas Wein. Mein zweites mittlerweile, während ich auf Mia warte.
Sie ist spät dran, was ihr gar nicht ähnlich sieht. Auf ihre Pünktlichkeit ist eigentlich Verlass, was man bei mir nicht behaupten kann. Wir wohnen gar nicht so weit voneinander entfernt, allerdings weiß sie das nicht. Davor wohnten wir in einem anderen Haus, bis wir es verkaufen mussten.
Mia verhält sich immer höflich und freundlich, obwohl ich bezweifle, dass sie mich bei unseren Begegnungen wiedererkennt. Eigentlich überraschend – ich mag zwar nicht so schön sein wie sie, aber ihr hätte durchaus auffallen können, dass bei mir genau das Gegenteil der Fall ist. Ich glaube nicht, dass Mia gemeine Gedanken über andere Leute hegt. Irgendetwas an ihr sagt mir, dass sie nicht fies ist. Frag jetzt nicht, warum ich so auf sie fixiert bin, so ist es einfach. Sie fasziniert mich und was soll ich sagen, ich habe die Angewohnheit, sie zu beobachten.
Ich lebe inzwischen seit dreißig Jahren in Großbritannien. Während eines Urlaubs lernte ich hier einen Briten kennen und zog prompt frisch verliebt nach England. Jep, mich hatte es komplett erwischt. Ich sah die Welt durch meine rosarote Brille. Wie es Verliebten eben so ergeht – man dreht ein bisschen durch. Damals war in meiner Welt einfach alles komplett in Ordnung, als wollte mir das Universum gerade sämtliche Träume erfüllen. Was konnte schon schiefgehen, wenn doch alles so gut lief? Oder?
Als ich meinen Mann kennenlernte, freute ich mich, als hätte ich den Heiligen Gral gefunden. Niemand war je zuvor so verliebt wie ich, Lindy Villas, dachte ich damals. Wie ich wohl auf die Information reagiert hätte, dass sich der Mann meiner Träume als Mann meiner Albträume entpuppen würde? Für Frank hätte ich damals mein Leben gegeben. Schließlich hatte ich meine bessere Hälfte kennengelernt. Meinen Seelenverwandten. Ich denke, im Laufe des Lebens lässt sich jeder mal von der Liebe mitreißen. Wir beide verhielten uns arrogant, was unsere Liebe anging. Belächelten streitende Paare. Paare, die gemeinsam in Restaurants, Cafés oder auf Parkbänken saßen und einander nichts zu sagen hatten. Wir bemitleideten die armen Schlucker, die von der Kraft wahrer Liebe nichts ahnten.
Wenn eine solche Liebe schließlich einfällt wie ein Kartenhaus? Tja, dann fällt man tief. Der Fall ist allerdings nicht das Problem, sondern die Landung. Wenn man plötzlich zu Boden kracht. Mit dem Kopf voran auf Beton aufschlägt. So fühlt es sich an, wenn das eigene Leben plötzlich aus den Fugen gerät. Wenn einem unerwartet ein Stein im Weg liegt, der plötzlich zur gigantischen Felswand wird.
Meine Kinder sind bereits erwachsen – fünfundzwanzig und zwanzig Jahre alt. Ich war noch sehr jung, als ich meine Babys zur Welt brachte. All die Freude, all die Liebe. Ich konnte an nichts anderes denken, als ich herausfand, dass ich schwanger war. Es schien mir unglaublich und überwältigend, dass in mir ein Leben heranwuchs. Die Entwicklung der beiden erfüllte mich in jeder Etappe. Ich wollte, dass sie nie erwachsen werden. Manche können ja kaum erwarten, dass ihre Kinder irgendwann groß sind. Selbstständig. Ich nicht. Mir gefiel ihre Abhängigkeit von mir. Ich liebte das Gefühl. Ich war ihr Ein und Alles und sie meines. Das sind sie immer noch. Ich bin so gern eine Mum. Am glücklichsten war ich, als ich meine Kinder großzog. Die Bindung einer Mutter zu ihren Kindern ist unzerbrechlich – greifbar wie eine unsichtbare Nabelschnur, die nie reißt. Die Zeit und Raum durchspannt und dich immer wieder zurückzieht.
Ich trinke einen Schluck Wein und denke an Mia. Sie hat zwei Kinder im gleichen Alter. Heutzutage kann man problemlos Informationen über eine Person herausfinden. Erstaunlicherweise ist es kinderleicht. Weniger lästig als erwartet. Ich habe keine Freunde mehr – ich glaube, das erwähnte ich bereits –, nicht mehr seit dem Vorfall. Mich stört es nicht, keine Freunde zu haben. Manchmal ist es sogar besser. Nicht so stressig. Mia ist eine Frau, die ich mehr oder weniger kennengelernt habe. Genauer gesagt arrangierte ich eine Art Meet Cute. Allerdings bin ich nicht verliebt, sondern besessen.
Wir sind im Moment nicht direkt befreundet. Aber bald werden wir es sein. Davon muss ich sie nur noch überzeugen. Das ist ein Bauchgefühl. Manche glauben ja nicht an so etwas. Da zählte ich früher auch dazu. Ich hätte auf meines hören sollen, aber das tat ich natürlich nicht. Im Nachhinein ist man immer klüger. Im Nachhinein. Im Nachhinein. Mein Gott, wie viel besser ginge es uns allen, wären wir uns gewisser Konsequenzen bereits im Vorhinein bewusst. Zum Beispiel säße ich nicht hier, um mir wie ein armer einsamer Schlucker die Kante zu geben. Während meine Gedanken um Mia kreisen. Und ich meinen Mann umbringen will. Wir alle haben eben Entscheidungen zu treffen. Und genau das habe ich getan.
Ich hätte an jenem Abend auf mein Bauchgefühl hören sollen. Ich hätte auf mein Gefühl vertrauen sollen. Doch dummerweise meinte ich damals überzureagieren. Ich wollte keine Diskussion. Ich wollte keinen Streit. Ich hätte auf MICH vertrauen sollen. Jetzt bleiben mir nur noch Albträume.
Nach dem Vorfall war ich katatonisch. Ich verbrachte einige Zeit in einer dieser charmanten Kliniken, in der man behandelt wird, als wäre man aus Glas. Man gab mir fantastische Pillen, die die Albträume bannten, und verfrachtete mich in ein trostloses Zimmer mit anderen instabilen Leuten.
Lange Zeit schwieg ich. Vier Monate lang sprach ich kein einziges Wort. Es war ein friedliches Dasein. Dann nahm man mir die guten Pillen weg, eine nach der anderen, was mich wütend, aggressiv und paranoid stimmte. Denn ohne die Pillen kamen die schrecklichen Albträume zurück.
Frank wollte mich nach Hause holen. Er erzählte den netten Ärzten, dass er sich um mich kümmern würde, doch ich wollte nicht mit Frank zusammenleben. Nicht mehr. Allerdings bat niemand sonst an, sich um mich zu kümmern. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Wer würde mich schon in den eigenen vier Wänden haben wollen? Offiziell habe ich jetzt also eine psychische Krankheit, die unter Angststörungen fällt.
Wusstest du, dass Angstzustände ganz unterschiedlich aussehen können? Ich nicht. Ich wusste nicht einmal, dass ich Angstzustände hatte, bis man mir das mitteilte. „Mrs. Villas, Sie leiden an einer posttraumatischen Angststörung. Vielen Betroffenen lässt sich äußerlich nicht anmerken, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wie bei einem Eisberg: Oberflächlich betrachtet ist alles wunderbar, aber darunter haben sie zu kämpfen.“ Er war wortgewandt, mein Arzt.
Zuvor hatte ich nie unter Angstzuständen gelitten. Nicht vor jenem Tag. Jenem. Tag. Jenem verdammt beschissenen Tag.
Ich räuspere mich, um den Klos in meinem Hals loszuwerden, und schnäuze mir die Nase. Weißt du, vom Typ her war das Glas bei mir früher immer halb voll. Jetzt bin ich halb leer. In der Spiegelwand hinter der Bar erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild. Mir kommt der Gedanke, dass ich mich die meiste Zeit über mit all den unreinen Gedanken in meinem Kopf einschließe. Ich frage mich, ob jemand sie lesen kann. Irrational, ich weiß. Ich kann es einfach nicht lassen. Ich versuche dagegen anzukämpfen und mich immer weiter voranzutreiben. Mich durch das klamme Miasma zu kämpfen, das ich mittlerweile mein Leben nenne.
Frank erkennt, wenn ich in schlechter Verfassung bin, und meidet mich dann. Normalerweise meide ich ihn dann auch, denn in solchen Zeiten leben all die Albträume, Visionen und Erinnerungen auf und damit kann ich nicht umgehen. Ich spüre, wenn es wieder so weit ist. Wenn es mich überkommt. Mir den Brustkorb zusammenpresst wie ein Akkordeon. Mir jeglichen Atem raubt, bis meine Lunge und mein Herz platt gedrückt sind. Der Schmerz in meiner Brust lähmt mich, doch nichts ist schlimmer als die Visionen. Vor den eigenen Gedanken gibt es kein Entkommen. Sie lauern dir überall auf.
Bekannte von Frank und mir meiden uns mittlerweile. Ich ertappe sie dabei, wie sie mich auf der Straße oder in Geschäften anstarren und jedes Mal kommt Hass in mir auf. Auf ihre elendig traurigen Gesichter. Gesichter, die ich am liebsten durch den Papierschredder jagen würde. Ich habe diese Blicke schon zu oft gesehen. Ich hasse ihr Mitleid, mir dreht sich da der Magen um.
Es waren nicht die Angstzustände, die mich so weit getrieben haben, Frank umbringen zu wollen. Sondern er selbst. „Es tut mir leid, Lindy. Es tut mir so leid. Ich hätte auf dich hören sollen. Ich leide auch darunter.“ Franks Worte nagen an mir wie ein fleischfressender Virus. Ich drehe mein Handy um und sehe nach der Uhrzeit. Mia ist heute absurd spät dran, komplett untypisch für sie. Mich überkommt der unsinnige Drang, bei dem Fitnessstudio, in dem sie arbeitet, anzurufen und nachzufragen, ob sie bereits gegangen ist. Ich entscheide mich dagegen. Vielleicht kommt sie heute Abend nicht. Ich werfe erneut einen Blick in den Spiegel und erspähe Mias Freundinnen. Trinkend. Lachend. Mia muss allerdings auf dem Weg hierher sein, denn alle scheinen auf sie zu warten.
Frank und ich leben in Chelford, einem kleinen Dorf in Cheshire etwa dreißig Kilometer südlich von Manchester. Zunächst wohnten wir noch in einem charmanten Häuschen, das die Briten hier als „bijou Cottage“ bezeichnen. Es war klein und kompakt und mehr konnten wir uns damals nicht leisten. Das Häuschen lag am Dorfrand und bot uns einen Garten, der gerade für ein paar Blumentöpfe und die Mülltonnen reichte. Wir waren verliebt und wen zur Hölle interessiert das alles schon, wenn man verliebt ist. Bei unserem Einzug sprudelten wir nur so vor Enthusiasmus und freuten uns auf den Beginn unseres neuen gemeinsamen Lebens. Sobald wir die Tür öffneten, holte uns schlagartig die Realität ein.
Wir stürmten ins Haus und hielten erstarrt inne. Es lag am Geruch. Das Haus wirkte im ausgeräumten Zustand komplett anders als noch in unserer Erinnerung. Es war kleiner. Deutlich kleiner. Wir starrten die Wände an, an denen nur noch die hässlichen Umrisse der Bilder zurückblieben, die zuvor dort gehangen hatten. Wir mussten feststellen, dass die gelben Wände, die bei unserer Besichtigung noch so einen warmen und gemütlichen Eindruck hinterlassen hatten, durch Nikotin zustande gekommen waren. Es stank. Der Vanilleduft aus meiner Erinnerung musste wohl von Raumsprays und Duftkerzen gekommen sein. Bei der Besichtigung hatte es noch nach Kochen, Backen und frischem Kaffee gerochen. Im Nachhinein realisierte ich, dass der Eindruck kreiert worden war, um den fiesen, übelkeitserregenden Geruch von altem Tabak zu überdecken.
Wir lachten und stampften die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer warf Frank seinen Mantel auf den hässlichen, bunten Teppich und wir hatten schnellen, leidenschaftlichen Sex. Im Laufe der Einzugszeit trieben wir es in jedem Zimmer, selbst in der Küche. Es war weder bequem noch angenehm auf so engem Raum, aber wir waren jung und das alles war Teil eines einzigen großen Abenteuers. Alles war damals ein einziges großes Abenteuer.
Auch die Schlafzimmer waren klein. Kein Platz für ein großes Doppelbett oder Schränke. Die Treppe war schmal gebaut, mit zu enger Kurve. Es war uns egal. Überall hatten wir Sex. Wer brauchte schon ein Kingsize-Bett? Wir wollte einander nah sein. Zusammen sein. Einander so oft wie möglich in den Armen liegen. Das pfirsichfarbene Badezimmer musste grundsaniert werden, aber das wussten wir bereits im Vorhinein. Wen kümmerte das schon? Uns nicht. Jeden Tag badeten wir gemeinsam. Wir waren verliebt und für verliebte Paare gehört das eben dazu. Eine Dusche gab es nicht. Na und? Das Cottage war alt und Frank musste sich bücken, um durch die niedrig gebauten Holztüren zu kommen. „Wie konnten wir das übersehen?“, fragte er mit einem verrückten Grinsen im Gesicht, als er sich gerade mal wieder den Kopf gestoßen hatte.
„Keine Ahnung. Es ist quasi ein komplett anderes Haus.“ Das Geländer wackelte. In die schäbige Küche passte immer nur einer von uns. Eine hervorragende Ausrede, nicht zu kochen. Wir gingen sowieso oft essen, wie das bei jungen Paaren eben so üblich ist. Jung und verliebt meint man, alles überwinden zu können. Nichts ist zu schwierig. „Probleme gibt es nicht, nur Lösungen“, lautete damals unser Motto.
Im Laufe der Jahre bauten wir unser kleines Juwel in ein geräumigeres Familienhaus um. Wir gestalteten eine große Wohnküche. Wir bauten hinter dem Haus einen Wintergarten an und Frank verwandelte unseren Garten in eine farbenfrohe Ruheoase. Mittlerweile haben wir unser charmantes Cottage verkauft. Wir mussten umziehen. Jetzt leben wir hinter Mias Haus. Ich wohne gern in ihrer Nähe. Ihr Mann heißt Ricky. Erwähnte ich das bereits?
Wenn die Liebe einen schon zu verrückten und dummen Aktionen treibt, was passiert dann erst, wenn die Liebe schwindet? Wird man noch verrückter, noch dümmer?
„Barkeeper, noch ein Glas Wein, bitte.“
Der Pub liegt gegenüber dem Fitnessstudio. Ich habe bereits ein paar Mal hier gegessen, wenn ich nicht nach Hause gehen wollte. Der Pub fungiert als Gastro-Kneipe und ich muss zugeben, dass das Essen nicht schlecht ist. Meistens beobachte ich die Leute um mich herum, während ich Fish and Chips mit Erbsenpüree esse, eines meiner britischen Lieblingsgerichte.
Der Pub wurde erst kürzlich zu einer freundlichen, modernen Kneipe umgebaut. The Dirty Fox. Der Name gefällt mir. Er passt zu den meisten Stammgästen, die direkt nach der Arbeit hier auflaufen. Gegen 18 Uhr tummelt sich regelmäßig eine Schar Männer mittleren Alters an der Bar. Silberfüchse, die junge Singles und frisch geschiedene oder verwitwete Frauen im Auge haben. Ich zähle da nicht dazu, nur mal so zur Info. Wahrscheinlich wartet bei etwa der Hälfte der Silberfüchse bereits eine Frau zu Hause. Miese Schweine.
Mia arbeitet als Personal Trainerin im Fitnessstudio. Ihr echter Name: Michelle Hicks. Ricky ist immer sehr aufmerksam. Ihr Ehemann ist vom alten Schlag; er holt sie immer ab, wenn sie abends ausgeht. Sie ist wohl zu kostbar, um eine Taxifahrt zu riskieren – man weiß ja nie, was da heutzutage alles passieren kann. Sie kommt aus gutem Hause. Ihre unkomplizierten, wohlhabenden Eltern leben am Rande von Knutsford in einem großen viktorianischen Haus. Mia hat zwei Schwestern, die beide ihr Leben auf Facebook dokumentieren. Ich muss wohl kaum auslegen, wie unterschiedlich Mia und ich uns sind. Doch uns verbindet etwas, das kann ich spüren.
Ich bin erst seit kurzem auf Mia fixiert. Sie eilte mir auf einem Supermarktparkplatz zur Hilfe. Meine Tragetasche riss und all meine Einkäufe verteilten sich am Boden. Sie half mir beim Aufsammeln. Etwas an ihrer eleganten Weiblichkeit fiel mir an jenem Tag ins Auge.
Danach lief ich ihr immer wieder an verschiedenen Orten über den Weg. Im Café, in der Apotheke. In dem Park, in dem sie mit ihren Hunden spazieren geht und ich mit den Dämonen in meinem Kopf. Ich fragte mich bereits ein paar Mal, ob das Universum versucht, uns zueinander zu führen. Wenn man solche Ideen erst einmal zulässt, können dabei gefährliche Gedanken zutage kommen. Wir unterhielten uns bei diesen Begegnungen nie, sondern winkten einander lediglich lächelnd zu. Dann begann ich, überall in der Stadt nach ihr Ausschau zu halten. Ihr zu folgen. Sie zu stalken.
Zu dem Zeitpunkt hätte ich aufhören sollen. Ich hätte wissen müssen, dass das ein gefährliches Unterfangen ist. Vielleicht hätte ich besser erkennen sollen, was mit mir und meinem vernebelten Hirn vorgeht. Hätte, hätte, Fahrradkette. Außerdem will ich nicht zu tief in meine Gedanken eintauchen. Da drin ist es zu hässlich.
Ich bedanke mich beim Barkeeper und lächle, als er mir nach einer Ewigkeit endlich ein Glas mittelschweren Chablis reicht. Der Typ verbringt zu viel Zeit am Handy. Wahrscheinlich auf Tinder. Ich trinke nur Chablis. Ich weiß, das ist hochnäsig, aber wen interessiert das schon. Es ist so ziemlich das Einzige, was ich mir noch gönne, und es hilft. Während die kühle Flüssigkeit mir die Kehle hinabwandert, bin ich mit meinem scheußlichen Charakter konfrontiert.
Der Barkeeper lächelt zurück, doch wäre Mia hier, würde er in ihrer Nähe herumlungern und versuchen, mit ihr zu flirten. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie er Mia hinterherhechelt wie ein läufiger Hund.
„Nicht viel los hier heute Abend, hm?“, bemerke ich, um zu sehen, ob er mit mir flirtet.
„Ein typischer Montagabend“, antwortet er, ohne von seinem Handy aufzusehen. Damit hatte ich gerechnet, doch versuchen wollte ich es trotzdem. Aus Eitelkeit, nehme ich an. Davon habe ich nicht mehr viel. Gelegentlich überkommt sie mich, wie ein wiederkehrender Ausschlag.
Ich interagiere nicht gern mit anderen Leuten oder der Welt im Allgemeinen. Früher war ich nicht so. Jetzt schon. Einsamkeit verursacht ein besonderes Leid. Einen quälen die eigenen Gedanken. Ohne Ablenkung krachen sie ineinander wie bei einer Massenkarambolage auf der Autobahn. Immer und immer wieder. Die Risse in meinem Leben gehen tief. Meist ergibt sich der Umgang damit ganz natürlich. Doch an anderen Tagen scheint es, als tue sich der Boden unter meinen Füßen auf und ich kämpfe dagegen an, in eine riesige klaffende Schlucht gerissen zu werden.
Ich bin erschöpft. Erledigt. Müde stütze ich meinen Ellbogen auf den Tresen und lege den Kopf in die Hand. Ich nehme das Geschnattere von Mias wartenden Freundinnen kaum wahr. Der Wein hüllt mich in eine bequeme Watteschicht ein.
Erneut werfe ich einen Blick auf mein Handy, um nach der Uhrzeit zu sehen. Bis Mia ankommt, bin ich wahrscheinlich betrunken; mittlerweile ist sie bereits fünfundvierzig Minuten zu spät. Ich weiß, dass ich zu viel trinke. Mir doch egal, was du davon hältst. Es hilft mir. Ständig wird mir erzählt, das stimme nicht. Von denen, die meinen, mir helfen zu können. LOL, würden meine Mädchen dazu sagen.
Eine Frau am anderen Ende der Bar lächelt mich an. Ich erwidere ihr Lächeln nicht. Warum lächelt sie? Ich kenne sie gar nicht. Dann erkenne ich ihren mitleidigen Blick und wende mich mit Tränen in den Augen ab. Der Kloß in meinem Hals droht, mich zu ersticken. Ich blinzle mehrmals und warte darauf, dass die Anspannung nachlässt. Dann stürze ich die Hälfte meines Glases in einem Zug runter.
Frank wird mich nicht abholen, ich werde ein Taxi nehmen müssen. Mia ist montags immer spätestens um 19:30 Uhr hier. Der Barkeeper schiebt mir eine Schale mit gesalzenen Erdnüssen zu, die mit einem Klirren gegen mein Weinglas stößt. Ja, Schlaumeier, die Masche kenn ich. Ich soll den Kram essen, damit ich dann noch ein Glas deines sündhaft teuren Chablis bestelle. Sehe ich aus wie zwanzig? Und überhaupt: Niemand, der halbwegs bei Verstand ist, isst in einer Bar Erdnüsse, oder? Mir graut es beim Gedanken an all die ungewaschenen Finger, die bereits in die Schüssel gegriffen haben. Diese Typen. All die Kerle, die sich nach dem Pinkeln nicht die Hände waschen. Ich schiebe die Schüssel auf der Theke von mir weg. Mias Freundinnen werden immer lauter und betrunkener.
„Tut mir leid, ich bin nicht früher losgekommen.“ Mia schreitet durch die Tür des Pubs wie eine Königin. Sie zieht sämtliche Aufmerksamkeit im Raum auf sich und der Barkeeper richtet sich auf, als hätte er plötzlich einen Stock im Arsch. Mia hat nur Augen für ihre Freundinnen.
Aus irgendeinem Grund wirkt sie immer leicht nervös auf mich, aber ich kann nicht genau sagen, weshalb. Ab und an frage ich mich, ob in ihrem scheinbar perfekten Leben womöglich etwas nicht stimmt.
„Der Kurs ging heute später los, weil eine Frau vom Fahrrad gestürzt ist. Wir mussten einen Krankenwagen rufen und dann sorgte sich die Frau um ihre Kinder und den Babysitter, also habe ich für sie daheim angerufen.“ Mia redet schnell und laut und sieht auf ihr Handy, während sie auf ihre Freundinnen zugeht.
Die Musikschleife, die aus der Anlage ertönt, beginnt von vorne – schon wieder Ed Sheeran. Ich seufze. „Hey!“, rufe ich dem Barkeeper zu, der gerade auf Mia fixiert ist. Verärgert wirft er mir einen Blick zu. „Hast du außer dem Typen nichts anderes zu spielen?“ Ich zeige auf den Lautsprecher über unseren Köpfen. „Oder soll das heute Abend eine Hommage sein? Ich habe den sentimentalen Scheiß satt.“ Er zuckt mit den Schultern und wendet sich von mir ab.
„O Gott, Mia, ist sie denn so schnell gefahren?“, fragt eine von Mias Freundinnen. Wie ich hier so mit meinem Chablis an der Bar sitze, sehe ich Beine vor Augen, die strampeln, als hingen sie an einem Motor.
Mia lacht und der Laut plätschert lieblich wie kleine Wellen auf einem Teich. „Sie war noch nicht einmal losgefahren. Die Arme ist auf ihrer rechten Hand gelandet. Die Sanitäter meinten, sie habe sich das Handgelenk gebrochen.“ Sie nimmt eine leere Weinflasche in die Hand und schüttelt sie. „Ich habe wohl einiges aufzuholen.“ Sie sieht auf ihrem Handy auf die Uhr, sendet eine kurze Nachricht und lässt das Handy stirnrunzelnd in ihre Handtasche gleiten. Dann zieht sie es sofort wieder hervor und liest die Nachricht erneut durch. Was könnte in Mias Welt schieflaufen, dass sie so die Stirn runzeln muss?
„Hey, lass uns noch mal zwei Flaschen bestellen“, schlägt eine Freundin vor.
Ich suche Blickkontakt mit dem Barkeeper und winke ihn zu mir, bevor er die anderen bedienen kann, doch plötzlich steht Mia neben mir und seine Aufmerksamkeit gilt alleine ihr: „Hey, was kann ich Ihnen bringen?“ Sein schleimiger Tonfall lässt mich das Gesicht verziehen. Hält er sich für Joey aus Friends? Am liebsten würde ich anmerken, dass ich ihn zuerst hergerufen habe, aber was bringt das schon. Gerade bin ich komplett unsichtbar. Ich trinke meinen Wein und beobachte das Schauspiel über den Rand meines Glases hinweg. Mia wirkt nervös und sieht immer wieder auf ihr Handy. Sie hat nicht bemerkt, dass ich leicht angetrunken auf dem Barstuhl neben ihr hocke. Muss an meiner neuen Frisur liegen. Ich erinnere mich noch an Zeiten, als ich so gut aussah wie sie. Business-Anzug, schicke Frisur und Make-up. Diese Frau kenne ich längst nicht mehr. Ich kann sie mir kaum noch vorstellen.
Mia erwidert das Lächeln des Barkeepers und hebt die Haare in ihrem Nacken, als wolle sie sich abkühlen. Wenn ich das versuche, kommt es einfach nicht so gut rüber. Sie trägt immer noch ihre Sportkleidung und sieht fantastisch aus. „Zwei Flaschen Rotwein, bitte.“ Sie deutet auf den Tisch mit ihren Freundinnen. „Kannst du das auf unsere Rechnung setzen?“ Ihre Stimme ist sinnlich. Rauchig. Dem Barkeeper verschlägt es einen Moment die Sprache.
Dann blinzelt er und präsentiert mit einem Lächeln seine weißen Zahnkronen. Er richtet sich auf und drückt die Brust heraus. Was für ein Pfau. Er stellt zwei Flaschen Rotwein auf ein Tablett. „Ich bringe sie euch an den Tisch.“
Ich versuche, seine Aufmerksamkeit zu erregen, doch es ist aussichtslos. „Entschuldigung“, melde ich mich zu Wort und streiche mir dabei die Haare aus dem Nacken wie Mia. Er ignoriert mich ein zweites Mal. Ich seufze und trinke einen Schluck. Was soll’s?
„Wollt ihr Ladies etwas essen?“, fragt er und verschlingt Mia dabei nahezu mit seinen Augen. „Ihr Ladies“ schließt mich natürlich nicht mit ein. Er meint, ob Mia etwas essen will. Ich verspüre den Drang, seine Zunge zurück in den Mund zu pressen, bevor er damit noch Mias Weinflaschen vom Tablett schiebt.
Mia nimmt ihm das Tablett aus der Hand. „Ich komme zurecht, danke. Die Dame dort möchte bedient werden.“ Sie deutet mit dem Kopf in meine Richtung und scheint sich daran erinnern zu versuchen, woher sie mich kennt. Der Barkeeper sieht mich an, als sähe er mich gerade zum ersten Mal. Arsch. Ich mühe mich, meine Augenbraue hochzuziehen wie Spock.
Mia schenke ich ein dankbares Lächeln. „Wie geht es dir?“, frage ich in der Hoffnung, dass sie sich vielleicht an mich erinnert.
Plötzlich scheint ihr ein Licht aufzugehen. „Tut mir leid, ich habe dich nicht erkannt. Sind deine Haare anders als sonst?“
Ich streiche sie glatt, als wäre mir die Veränderung entfallen. „Oh, ja. Ich habe sie schneiden lassen. Ich dachte, das steht mir vielleicht besser.“ Erneut verdrehe ich die Augen. Ich weiß nicht, warum ich das nicht lassen kann, so langsam bekomme ich davon Kopfschmerzen. Es liegt wohl daran, dass ich ein wenig betrunken bin. Ich sollte aufhören zu trinken, bevor ich noch etwas Unpassendes sage. Obwohl mir das eigentlich auch relativ egal wäre.
„Klasse“, erwidert sie mit verwirrtem Blick. „Wie geht es dir? Die Frisur steht dir übrigens.“ Letzteres fügt sie hinzu, als wüsste sie, dass sie das jetzt sagen sollte.
„Gut. Danke.“ Ich zucke in einer bescheidenen Geste mit den Schultern. Ich weiß, dass meine Frisur schrecklich aussieht. Sie will nur nett sein. Ich fahre mir erneut über die Haare. „Und dir?“
„Äh, ja, gut, danke.“ Sie atmet tief durch und wirft einen Blick hinüber zu ihren Freundinnen. Ich sehe, wie sie uns beobachten. Ich bin nicht wie sie alle. Nicht die typische „Mia-Freundin“, könnte man sagen. Ich bin nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt. „Ok, na dann, pass auf dich auf.“
Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, was das eigentlich heißen soll. Wobei soll ich auf mich aufpassen? Wenn ich die Straße überquere? Beim Bügeln? Beim Autofahren?
Ich muss diese Gelegenheit nutzen. Muss sie ergreifen. Das ist meine Chance, diesen Moment einzufangen und ihn in eine Freundschaft zu verwandeln. Mein Herz macht plötzlich einen Satz. Es ist so weit. Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe. Ich brauche kurz, um mich zu sammeln und einen nicht-durchgeknallten Satz zu formulieren.
Sie kommt mir zuvor. „Warst du nicht mal in meinem Spinning-Kurs?“ Sie schenkt mir ein aufrichtiges Lächeln und ich spüre die Wärme, die sie mir gegenüber ausstrahlt. Sie weiß, dass das stimmt. „Ich glaube schon. Tut mir leid, dass ich dich nicht erkannt habe. Deine Frisur. Die hat mich einen Moment lang verwirrt.“ Sie hasst meine Haare eindeutig. Ich wusste, dass es wohl eine Fehlentscheidung war.
„Oh, stimmt. Ich bin ein paar Mal hingegangen.“ Ich verhaspele mich. „Das soll mir wohl guttun, hat man mir gesagt.“ Ich verdrehe die Augen – schon wieder –, als ich „man“ sage. Mia wird natürlich keine Ahnung haben, wer damit gemeint sein soll. Für Mia klinge ich einfach nur verrückt. Ich sehe es ihrem Blick an.
„Ok“, antwortet sie und überlegt sichtlich, von wem ich da rede. „Das ist gut. Na ja, ich muss dann mal wieder. Schön, dich zu sehen.“ Sie geht zurück zu ihren Freundinnen und ich verfluche mich selbst dafür, die Chance verpasst zu haben. Ich glaube, mit meiner neuen Frisur habe ich sie verschreckt.
Mia lädt ihre Mädels einmal im Monat zum Lunch in ihr Zuhause ein, welches, wie bereits erwähnt, bei mir in der Nähe liegt. Mit ihrer Gaggia-Espressomaschine macht sie Latte Macchiato und bietet allen außerdem Kräutertees, gesunde Kekse und selbst gebackenes Früchtebrot an. An dem Tag steht ihre Tür offen und die meisten im Dorf wissen Bescheid. In ihrer ländlich eingerichteten Küche kommen jedes Mal mindestens acht Leute zusammen. Das Ganze findet immer in Rickys Präsenz statt. Er weicht Mia nie lange von der Seite.
Die Küche ist übrigens wunderschön, als wäre sie einer Zeitschrift entsprungen. Ein Küchentisch aus Kiefernholz, ein türkisfarbenes Samtsofa, bequeme Beistellstühle und zwei extrem gut erzogene Golden Retriever namens Stan und Ollie. Ein paar Akzentwände sind türkisfarben gestrichen und die Sofakissen wurden farblich passend ausgewählt. Einmal schaute ich auch vorbei, um ihr Haus von innen zu sehen, aber ich blieb nicht lange. Ich wollte nicht, dass mir irgendjemand Fragen stellt. Ich hielt mich bedeckt. Das kann ich gut. Ich hatte mich für den Anlass herausgeputzt und sogar ein wenig geschminkt. Ich sah mir bei der Gelegenheit das ganze Haus an. Stöberte herum. Ich schlich mich sogar ins Obergeschoss und probierte ihr Parfüm aus. Sah mir ihren Kleiderschrank und ihre Schubladen an. Legte mich auf ihr Bett und breitete meine Arme auf der grauen Seidenbettwäsche aus. Mia besitzt schöne Kleider und kostbare Parfüms und Lotionen. Ihr Haus ist groß. Teuer. Geschmackvoll. Pompös. Nach kurzer Zeit ging ich wieder nach Hause. Ich fand es allerdings etwas seltsam von Ricky, dass er ständig an Mia klebte. Er war mir unheimlich.
Heute habe ich frei, weshalb ich hier im Pub sitze, teuren Wein trinke und Mia stalke. Ich bin Haushälterin im Dahlia Hotel, ein paar Kilometer von zu Hause entfernt. Eine Art Zwischenlösung. Nicht ideal, aber erst mal ganz in Ordnung. Ein unscheinbarer Job, der meinen Bedürfnissen entspricht, verstehst du? Offiziell habe ich nicht frei. Ich habe mich krankgemeldet. Ich konnte mich nicht aufraffen, zur Arbeit zu gehen. Heute Morgen beim Aufwachen dachte ich mir nur: „Heute ist ein beschissener Tag. Es regnet. Es ist bewölkt. Es ist kalt.“ Solche Tage gibt es bei mir ständig, unabhängig vom Wetter.
Mein Chef, Jack Torres, wollte, dass ich heute komme, um den Klempner zu beaufsichtigen. Jack spricht nicht gut Englisch. Sein starker Akzent ist schwer zu verstehen und sanitäre Probleme lösen, ist nicht seine Stärke. Meine allerdings auch nicht. Bei uns sind ständig Toiletten verstopft, weil irgendwelche Idioten Windeln herunterspülen. Was für hirnlose Vollpfosten werfen bitte Windeln in die Toilette? Jedenfalls hatte ich keine Lust. Das Hotel gehört ihm. Soll er sich doch selbst darum kümmern. Er hat mich heute mehrfach angerufen, aber seit ich mich heute Morgen telefonisch krankgemeldet habe, ignoriere ich seine Anrufe.
Jack und ich kommen gut miteinander aus, meistens jedenfalls. Er kommt aus Kuba. Er erinnert an einen Drogenboss mit seinem buschigen schwarzen Schnurrbart, stark vernarbtem Gesicht, seiner kugelrunden Taille und dem schwarzen Haar, das ihm bis in den Nacken geht. Ich stelle mir vor, wie er stürzt. Er käme nicht mehr hoch, wie eine Schildkröte. Ich kann ihn nicht leiden, aber gut, ich kann auch die meisten anderen Menschen nicht leiden.
Im College studierte ich Spanisch und Französisch. Ich hatte mich auf Fremdsprachen spezialisiert. Jack braucht mich also. Manchmal nutzt er sein unzulängliches, gebrochenes Englisch als Vorwand, um mich zu Dingen zu zwingen, die eigentlich nicht in meiner Stellenbeschreibung stehen. Hin und wieder würde mich das nicht stören, aber er treibt es zu weit.
„Komm schon, Lindy, du und dein Mann könnt hier umsonst essen, wenn du das für mich machst.“
„Statt mich dafür zu bezahlen, meinst du?“
Jack hat ein sehr eigenes Achselzucken, bei dem sein Hals zwischen seinen Schultern verschwindet. „Lindy, so denke ich nicht. Das weißt du. Kommt doch zum Abendessen? Ich bringe Kerzen und mache die Sitzecke gemütlich für euch. Was meinst du?“
„Ich meine, dass ich lieber bezahlt werde.“
„Typisch Amerikaner. Ihr denkt alle nur an Geld.“ Er wirft verärgert die Hände hoch.
„Weil wir es zum Leben brauchen.“
Jack hat fünf Kinder in die Welt gesetzt. Sie sehen alle aus wie Mini-Jacks, nur ohne den Schnurrbart. Seine Frau sieht durchgehend genervt aus. Sie lächelt nie und trägt eine 50er-Jahre Frisur. Ich gebe mir bei ihr erst gar nicht die Mühe, denn sie scheint ihren verkniffenen Gesichtsausdruck mit Stolz zu tragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die beiden Sex haben. Nicht ansatzweise. Auch nicht, dass sie es je hatten. Offensichtlich hatten sie wohl irgendwann Sex, die fünf hässlichen Blagen beweisen es. Ehrlich gesagt gebe ich mir mit keinem Mühe. Ich will einfach nur meine Arbeit machen und nach Hause gehen. Ich klinge zickig. So kann ich manchmal sein. Das steht mir zu. Das Leben ist beschissen und beschissener als mit meinem Schicksal geht es nicht.
Jack ist manchmal ein bisschen übergriffig. Steht mir unnötig nahe und berührt „versehentlich“ meine Brüste. Dann lacht er und streicht sich über den hässlichen, buschigen, schwarzen Schnurrbart wie Hercule Poirot.
„Ich könnte dich wegen sexueller Belästigung anzeigen, du Perversling.“
„Ja, könntest du, aber das wirst du nicht. Du brauchst diesen Job“, erwidert er dann mit starkem Akzent.
Schade.
Mia lacht über eine Aussage von einer ihrer Freundinnen. Ich wende mich dem Grüppchen zu, um sie zu beobachten.
Mia flirtet nicht absichtlich; sie ist einfach so. Es passiert bei ihr so unterbewusst wie atmen. Sie lächelt den Barkeeper an, der plötzlich wie von Zauberhand an ihrem Tisch erschienen ist.
Mia ist eine atemberaubende Frau. Sie hat einen aschgrauen Bob mit Pony, trägt dicke, künstliche Wimpern und ihre Haut ist so rein, dass sie selbst dann fantastisch aussieht, wenn sie beim Spinning-Kurs ins Schwitzen kommt. Ich habe mir die Haare ähnlich schneiden lassen; etwas abgeändert, damit sie nicht denkt, ich imitiere sie. Ohne Pony und länger als ihre. Aber trotzdem noch ein Bob. Während Mias Haar ihr in einem schönen Schnitt sanft ums Gesicht fällt, sieht meines aus, als hätte ein blinder Alkoholiker sich der Schere bedient.
Der Barkeeper zieht für sie den Stuhl zurück und sorgt dafür, dass sie sich wohl fühlt. Alle anderen sind auf sich allein gestellt. Mia lächelt mich von ihrem Platz aus an. Mir wird bewusst, dass ich sie anstarre.
Für Mia bin ich einer dieser unsichtbaren Personen. Sie besucht mit ihrem Mann Ricky ab und an das Hotel. Dicky Ricky nenne ich ihn. Sie ist viel zu gut für ihn und er vergöttert sie. So scheint es zumindest. Er ist so arrogant. Ich verstehe überhaupt nicht, was sie an ihm findet. Ich habe den starken Verdacht, dass bei Dicky Ricky der Schein trügt.
Die Ehe der beiden fasziniert mich. Mia ist ruhig und elegant. Er ist schmeichlerisch und ich traue ihm nicht ganz. Dafür gibt es keinen bestimmten Grund. Es scheint mir, als wäre er auf Geld aus. Die beiden gehen an Date-Abenden zusammen aus. Würg, daten, wenn man bereits verheiratet ist. Wer zur Hölle geht bitte auf Dates mit seinem Ehepartner!
Die beiden sitzen immer in der Sitzecke des Hotelrestaurants. Dort sollen auch Frank und ich sitzen, wenn Jack uns zu dem kostenlosen Abendessen einlädt, das nie stattfinden wird. Gemütlich und abgeschottet. Viele Paare suchen sich diesen Platz aus, wenn sie reservieren. Einmal erlebte ich, dass ein Mann mit der Hand unter den Tisch wanderte und seine Freundin befriedigte. Das schockierte mich. Einerseits, weil die beiden sich trauten, es in der Öffentlichkeit zu treiben, und andererseits, weil es mich anmachte. Ich denke an Frank und verschlucke mich an meinem Wein.
Wenn Mia und Ricky im Hotel essen – einer der Gründe, warum ich mich dort beworben hatte –, ist sie dem Personal gegenüber immer freundlich und charmant. Er sagt kaum etwas. Bei ihrem letzten Besuch, nach dem Vorfall mit der Einkaufstasche am Supermarktparkplatz, sorgte ich dafür, dass ich in der Nähe war, als sie auf Toilette ging. Ricky weicht ihr selten von der Seite. Wir unterhielten uns am Waschbecken und ich versuchte es mit Small Talk. Wie das eben so üblich ist. „Was für ein schönes Kleid. Sie sehen umwerfend aus; es muss ein besonderer Anlass sein“, bemerkte ich. Ich glaube, ich trug ein bisschen zu dick auf und verschreckte sie. Es stimmte aber, sie trug ein schönes Designerkleid. Und ich tendiere dazu, zu dick aufzutragen.
Sie versteifte sich zunächst und antwortete nicht. Dann bemerkte sie meine Arbeitskleidung und entspannte sich sichtlich. Wahrscheinlich meinte sie, ich würde sie anbaggern. Vielleicht hatte sie damit sogar recht. Wer weiß, was in meinem wirren Hirn so vor sich geht? Ich hatte noch nie Sex mit einer Frau, aber sollte es mal so weit kommen, wäre Mia meine erste Wahl. „Wir gehen regelmäßig auf Dates“, erklärte sie, während sie ihren Lippenstift auftrug. Er färbte ihre Lippen in einem satten Rot. Ich stellte mir ihre Lippen überall auf Dicky Rickys Körper vor. Um seinen Schwanz. Ich wette, die beiden haben schmutzigen Sex, und davon jede Menge. „Uns gefällt es hier sehr gut. Wir wohnen nicht allzu weit weg, also kann Ricky einen Drink oder zwei riskieren.“
Aha, er fährt also betrunken Auto. Noch so ein egoistischer Vollidiot. Eine Welle an Wut überkam mich. Was für ein Arsch. Allerdings nicht weiter überraschend. Ich stellte mir vor, wie er nach ein paar Gläsern zu viel die Autoschlüssel hervorzieht und sich denkt: „Ich bin Ricky Hicks, was soll schon passieren?“ Mir sträubten sich die Haare im Nacken und ich wechselte schnell das Thema. Zu meiner Überraschung wartete Ricky bereits auf Mia, als ich mit ihr aus der Damentoilette kam. Sie wurde rot. Dann wandte sie sich von mir ab, hakte sich bei Ricky unter und ging zurück an ihren Tisch, wo sie verliebt und aneinander gekuschelt beisammen saßen.
Jetzt bestelle ich also etwas zu essen und beobachte Mia im Spiegel hinter dem Whisky und den unzähligen Gin-Flaschen. Ein so beliebter Drink heutzutage. Frank und ich tranken damals Gin. Gin war unser Ding. Bombay Sapphire mochten wir am liebsten. Ein Gin Tonic nach der Arbeit war eben genau das Richtige. Nach ein paar weiteren dann noch etwas zu essen und dann ging es nach Hause. Der Barkeeper ist damit beschäftigt, Mia zu beobachten. Sie geht sichtlich genervt an ihr Handy. Wahrscheinlich erzählt Ricky ihr gerade, wie sehr er sie verehrt. Sie hört das vermutlich bereits zum tausendsten Mal. Ich nehme an, es kann einen langweilen, wenn man das ständig gesagt bekommt. Alles lieber in Maßen.
Wir sind beide ungefähr im gleichen Alter. Ende vierzig. Mit Ende vierzig hat man immer noch die Denkweise eines Dreißigjährigen, nur dass man mittlerweile weiß, wie beschissen die Welt ist.
Ich bin nicht ansatzweise wie Mia. Die Wechseljahre setzen mir ganz schön zu. Mein Haar dünnt aus. Ich nehme Gewicht zu, das ich nicht mehr loswerde. Mir doch egal. Dank meiner Entscheidung zu einer strengen Diät habe ich elenden Hunger. Meine Kleidung ist mir zu eng. Also gebe ich mir keine Mühe. Wozu? Das denke ich mir eigentlich bei einigen Dingen. Ein weiterer Ed Sheeran-Song ertönt und ich schüttle den Kopf.
Mia treibt regelmäßig Sport. Ich nicht. Ich bin oft deprimiert und habe dann keine Lust, mich aufzuraffen. Ich muss mir alles aufschreiben, sonst vergesse ich es. Manchmal unterhalte ich mich mit jemandem, einem Hotelgast, und verliere einfach so den Faden. Oder vergesse ein gängiges Wort. Ich gehe ins Obergeschoss, um etwas zu holen, und vergesse, wonach ich suche. Ohne Liste einkaufen gehen? Katastrophe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mia mit solchen Problemen zu kämpfen hat. Sie sieht nicht danach aus. Ich könnte Hormone nehmen. Mir wurde gesagt, dass mir das helfen könnte. Das will ich nicht. Ich sehe den Sinn dahinter nicht. Ich will keine Hilfe, weißt du. Mein Arzt stellt immer zu viele Fragen, die ich nicht beantworten will. Also schweige ich und daraus schließt er dann, dass ich depressiv bin. „Tja, Herr Doktor, damit könnten Sie recht haben, aber wundert es wen?“ Idiot. Sie alle sind Idioten. Ich bin am Verbluten und sie meinen, mich mit ihren Ratschlägen verarzten zu können: „Es wird alles besser, wenn Sie darüber reden, Mrs. Villas. Vielleicht sollten Sie mit einem Therapeuten sprechen, Mrs. Villas? Therapie kann sehr hilfreich sein, Mrs. Villas. Wenn Sie darüber reden, werden Sie es besser akzeptieren können, Mrs. Villas.“ Klappe, Herr Doktor, Mrs. Villas will es nicht akzeptieren. Hart, ich weiß, aber so sehe ich das eben.
Ich rufe den Barkeeper her. Wenn ich nicht bald etwas esse, kippe ich um. „Entschuldigung, Barkeeper?“ Bereits seit er zurück an der Bar steht, poliert er durchgehend dasselbe Glas. „Barkeeper? Hallo?“ Wie in Trance steht er da, sein Blick auf Mia gerichtet, und hört mich nicht rufen. Ich könnte vor seinen Augen in Flammen aufgehen und er würde es nicht merken. „HEY!“, brülle ich. Endlich bemerkt er mich. „Ich will mein Essen und zwar pronto.“
Er schlendert in die Küche. Ihn interessiert kein bisschen, ob mein Essen fertig ist oder nicht. Seine Aufmerksamkeit gilt ganz und allein Mia. Als er zurück an die Bar kommt, kann ich mir einen Kommentar nicht verkneifen: „Hey, Casanova, sie ist eine Nummer zu groß für dich und könnte deine Mutter sein. Reiß dich zusammen.“ Das scheint den jungen Hecht zu treffen. Er verzieht schockiert das Gesicht. Was denn? Hat noch nie jemand so mit ihm gesprochen? Gott, wahrscheinlich nicht. Die Jugend von heute ist so sensibel. Meine Güte.
„Sonst noch was?“
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Oh, jetzt wird er aber frech. Was würde er mir denn gern anbieten? Eine Schelle?
„Nein, danke.“ Er verschwindet in der Küche.
„Hi, danke dafür.“
Ich drehe mich um. Mia steht lächelnd neben mir. Peinlich berührt rutsche ich auf meinem Sitz hin und her. Das hatte sie nicht hören sollen. „Tut mir leid, ich habe einen Bärenhunger und der Typ ist gerade gar nicht bei der Sache.“
„Du bist Amerikanerin, oder? Südstaaten?“
Am liebsten will ich wie üblich einen Seufzer von mir geben. Mein Akzent ist so unverkennbar, wie könnte er auch nur irgendjemandem entgehen? Ich hätte erwartet, dass sie ihn bereits bei unserer ersten Begegnung auf dem Supermarktparkplatz bemerkt. Die Frage nervt mich normalerweise tierisch und ich antworte meist: „Nein, ich bin Engländerin, ich schaue nur viele amerikanische Filme.“ Oder: „Ach echt? Ich habe einen Akzent?“ Nichts davon entgegne ich Mia.
„Ja. Hundert Prozent Ami. Wir sind ein wenig vorlaut und aufdringlich. Du fandest das sicher zu direkt von mir.“
„Kein bisschen. Ich wünschte, ich hätte dich als Bodyguard.“ Sie läuft rot an und wendet ihren Blick von mir ab.
„Du brauchst einen Bodyguard? Wieso das?“
Sie wechselt das Thema. „Du arbeitest in dem Hotel, oder? Dem Dahlia? Jetzt kommt es mir wieder. Wir haben uns auf der Damentoilette unterhalten. Dir hat mein Kleid gefallen.“
Mia achtet auf ihre Ernährung. Sie isst nie Desserts. Keine Schokolade. Trinkt immer Skinny Latte mit Mandelmilch. Auf Kuhmilch bin ich hochallergisch, also trinke ich auch Mandelmilch. Ein weiteres Zeichen dafür, dass wir dazu bestimmt sind, Freundinnen zu sein. Und sie verlässt nie ungeschminkt das Haus. Sie lässt sich die Nägel bei Heavenly Nails machen. Zur Massage geht sie in den Schönheitssalon Gorgeous Beauty in Holmes Chapel. Jeden Montag geht sie mit ihren Freundinnen aus und immer holt Ricky sie ab. Ich spüre, dass sie gerade etwas nervös ist. Während wir uns weiter unterhalten, gewinne ich den Eindruck, dass sie mich etwas fragen will, sich aber nicht traut.
Ich glaube, wir werden bald beste Freundinnen sein. Ich klinge creepy, ich weiß. Na und? Vielleicht bin ich das eben.
Kapitel 2
Mia
Ricky hat auf dem Dachboden persönliche Briefe entdeckt, die ich noch vor Sallys Geburt geschrieben habe. Wir waren am Ausmisten und ich hatte vergessen, dass die Briefe dort lagen. Ich wusste nicht einmal, dass es sie noch gibt. Sonst hätte ich sie verbrannt. Das Problem ist, dass Ricky mich jetzt mit ihnen erpresst.
Granny hat mir in ihrem Testament eine beträchtliche Summe Geld hinterlassen. Sie wies mich auch an, weder Ricky noch sonst irgendjemandem davon zu erzählen. Sie hat Ricky wohl nie getraut. Jetzt zwingt er mich, das Konto auf ihn umzuschreiben. Verlogener Mistkerl. Ich denke lieber nicht darüber nach; das öffnet nur alte Wunden. Bei der Vorstellung, diesen Tag noch einmal durchleben zu müssen, dreht sich mir der Magen um und eine lähmende Angst überkommt mich.
Die Sache ist die: Ich weiß, dass Ricky eine Affäre hat. Er ahnt nicht, dass ich Bescheid weiß, weil er mich für zu dumm hält, das – oder überhaupt irgendetwas – zu kapieren. Ricky sieht mich als Hausfrau mit kleinem Nebenjob, die den Lebensstil genießt, den er mir ermöglicht. Ich wünschte, ich könnte ihn darauf ansprechen. Ich kann ihm nicht nachspionieren, weil er mich durchgehend überwacht. Außerdem habe ich Angst, ihn zu provozieren und ihm einen Grund zu geben, seine Drohungen zu verwirklichen. Man kennt uns hier. Wenn ich anfange, Fragen zu stellen oder das Haus zu verlassen, ohne ihn vorher darüber zu informieren, wird er mich zwangsläufig erwischen. Und das will ich nicht. Er kann richtig bösartig sein. Ich blinzle Tränen zurück. Ich weiß nicht, wie es so weit kam oder wie aus mir so eine schwache Frau werden konnte.
Seit ich von der Affäre weiß, bin ich jeder Frau gegenüber misstrauisch. Wenn mich eine Fremde anlächelt, hinterfrage ich, warum. Wenn ich an ihr vorbeigehe und ihr Blick mir folgt, frage ich mich, ob sie die andere ist. Ich betrachte die Frauen um mich herum – in meinem Spinning-Kurs, im Pub – und frage mich: Ist sie das? Oder sie? Oder sie? Was für eine Frau hat er sich ausgesucht? Eine, die mir ähnelt? Oder das komplette Gegenteil von mir ist? Jünger? Älter? Im gleichen Alter? Sie ist sicherlich wohlhabend, wenn nicht sogar reich. Ricky würde niemanden vögeln, der seinem eigenen, ach so erhobenen Status unterliegt. Was für eine Frau hat bitte in einem kleinen, familiären Dorf wie unserem eine Affäre mit einem verheirateten Mann? Womöglich lebt sie gar nicht in der Gegend. Er könnte sie von der Arbeit kennen. Ich habe damit angefangen, ihn im Morgenfernsehen genau unter die Lupe zu nehmen. Wirkt seine Interaktion mit einer der Frauen zu vertraut? Flirtet er ungewöhnlich viel?
Sally, unsere Älteste, zog vor zwei Jahren aus. Sie wohnt jetzt mit ihrem Freund in einer dieser schicken modernen Wohnungen im Zentrum von Manchester. Sie ist selbstständig und schreibt Artikel für die Zeitschrift Good Housekeeping. Zwei Tage pro Woche pendelt Sally nach London, den Rest der Woche kann sie von zu Hause aus arbeiten. Ich bin froh, dass sie in der Nähe wohnt; zu beiden meiner Töchter habe ich ein enges Verhältnis. Allerdings nicht so eng, dass ich ihnen erzählen würde, was ihr Vater so treibt. Ich weiß auch nicht, wieso. Ich versuche, die Fassung zu bewahren – das ist das Einzige, womit ich ihn wirklich nerve. Die Tatsache, dass ich nicht um Gnade flehe. Mein schöner Seidenschal verdeckt die Abdrücke seiner Finger. Sie beginnen zu verblassen, doch mein Hals schmerzt immer noch.
Annie, unsere Jüngste, zog letztes Jahr aus, allerdings nicht so weit weg wie Sally. Annie wohnt gemeinsam mit einer Freundin in einem Haus in Northwich. Sie arbeitet als Zahnarzthelferin in einer ästhetischen Praxis namens Bright Smile.
Ricky kommt früher nach Hause. Ich höre das Schnurren des Motors, als er die Auffahrt hochfährt. Ich ziehe meine Strickjacke an und bedecke den Verband an meinem Handgelenk mit dem Ärmel. Er wird nicht gern daran erinnert, was er getan hat.
„HEY!“, brüllt er auf seinem Weg die Treppe hinauf. Ich beobachte ihn von der Türschwelle aus und mache mich gefasst. „Du bist ja angezogen. Ich habe Magen-Darm und mir kommt gerade alles wieder hoch. Ich dachte, ich komme mal nach Hause.“ Du dachtest wohl eher, du schaust mal, was ich so treibe.
In sachlichem Tonfall rate ich ihm, 48 Stunden lang nichts zu essen und nur Wasser zu trinken. So sehr ich mich auch mühe, gelingt es mir nicht, dabei ansatzweise liebevoll zu klingen. Als er sich bitterlich über Magenkrämpfe beschwert, schicke ich ihn ins Bett und verspreche, ihm etwas Wasser und Zwieback zu bringen. Ich weiß nicht, ob ich ihm abkaufe, dass er krank ist. Er führt irgendetwas im Schilde.
„Du gehst nicht zur Arbeit, oder?“, seufzt er.
„Doch. Wieso?“ Mein Handy vibriert in meiner Tasche, aber ich traue mich nicht nachzusehen.
„Ich bin krank. Jemand muss mir Getränke bringen. Dafür sorgen, dass ich genug trinke.“
„Ich hole dir, was du brauchst, bevor ich zur Arbeit gehe. Ich kann meinen Kurs nicht so kurzfristig absagen und alle im Stich lassen. Das wäre den anderen gegenüber nicht fair.“
„Aber mich kannst du im Stich lassen. Allein zurücklassen, obwohl ich krank bin. Ich bin dein Mann. Wer steht bei dir an erster Stelle, sie oder ich?“ Ricky presst die Lippen zusammen und starrt mich mit finsterem Blick an.
Mein Herz schlägt plötzlich wie wild. Ich weiß, dass er etwas im Schilde führt. Meine Hand zittert ein wenig, als ich ihm das Glas Wasser reiche. Hör auf. Hör auf. Lass ihn nicht sehen, dass er an dich rankommt.
„Mia, ich denke, du solltest vielleicht kündigen und zu Hause bleiben. Das Geld brauchen wir schließlich nicht und allmählich kommt der Haushalt zu kurz.“
Standhaft starre ich ihn an. Damit habe ich nicht gerechnet. „Wie bitte? Ich soll meine Kurse aufgeben? Warum? Es betrifft dich nicht. Und überhaupt, wir haben eine Putzfrau, Ricky.“
„Es gefällt mir eben nicht“, schimpft er. „Es wäre vielleicht gut, wenn du deine Kündigung heute einreichst, während ich krankgeschrieben bin.“ Er zieht sich um und schlüpft in Kleidung, die er als seine „Loungewear“ bezeichnet; wir anderen bezeichnen sie als Jogginghose und bequemes Oberteil. Was für ein Idiot. „Ruf doch an und sag Bescheid. Im Haushalt bekommst du auch die nötige Bewegung. Außerdem habe ich der Putzfrau gekündigt, habe ich dir das nicht gesagt?“ Ich antworte nicht. „Sie kommt nicht mehr. Ich habe ihr eh nie getraut.“
„Ricky! Nein.“
„Oh, sei nicht immer so überempfindlich. Ich will nicht, dass du arbeiten gehst. Punkt. Ruf doch jetzt gleich an.“
„Ich kündige definitiv nicht am Telefon“, widerspreche ich aufgebracht. So viel zum Thema Ruhe bewahren. Genau das will er: ich soll ausrasten, damit er eine gute Ausrede hat, mir wehzutun. Ganz im Wissen, dass ich aufhören sollte, mache ich weiter. „Du hast also beschlossen, dass ich nicht mehr arbeiten gehe. Einfach so. Marion arbeitet schon seit Jahren für uns, mit ihr ist alles in Ordnung. Ich kann meinen Job nicht aufgeben. Allein die Arbeit hält mich bei Verstand.“
„Fühlst du dich gegenüber unserem Zuhause denn nicht verpflichtet? Untergrabe nicht ständig meine Autorität.“ Ich soll seine Autorität untergraben? „Es sind doch bloß Spinning-Kurse. Das ist kein ernstzunehmender Job wie meiner. Als die Mädchen noch klein waren, hast du auch nicht gearbeitet. Außerdem gefällt mir nicht, wenn Leute wissen, dass du arbeitest. Es ist erniedrigend, als könnte ich dich nicht versorgen. Nein, du kündigst besser heute noch. Dir wird jetzt sowieso die Zeit fehlen. Jetzt, wo du dich ganz alleine um den Haushalt kümmerst.“ Ich muss an meine Schwester Beth denken. Das wird ihr gar nicht gefallen und sie wird Ricky zur Rede stellen wollen. „Beth wird eine kleine Hürde darstellen, weil sie so emanzipiert ist. Sie mag mich nicht, also wird sie denken, dass ich dich unter Druck setze. Davon musst du sie abbringen. Ich will nicht, dass sie schlecht über mich redet, Mia. Verstanden? Du weißt doch, wie sie ist. Also erklärst du ihr, dass es deine Idee war. Ja, so machen wir das am besten. Dann besteht kein Grund für sie, schlecht über mich zu reden.“
Meint er, dass ich meine Meinung ändere, wenn er mich in meinem eigenen Haus einsperrt? Ich weiß, dass er das vorhat. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen. „Beth wird mir nicht abkaufen, dass ich gern den ganzen Tag zu Hause rumsitze. Was kümmert es dich überhaupt, was sie denkt? Du kannst sie nicht leiden.“ Beth hat Ricky noch nie gemocht oder getraut. Sie wird das keine Sekunde glauben. Sie ist der Überzeugung, dass Ricky mich wegen meines Geldes und des Ansehens meiner Familie geheiratet hat. Er erwähnt seinen Schwiegervater ständig namentlich in Gesprächen.
„Du wirst nicht rumsitzen, sondern putzen und lecker kochen, bis ich nach Hause komme. Wie eine anständige Ehefrau.“ Mir läuft bei seinen Worten ein Schauer über den Rücken. Ich sitze in der Falle. „Mich hat immer gestört, dass Marion für uns kocht. Früher hast du das gemacht.“ Als die Mädchen klein waren, habe ich für uns gekocht, aber das ist schon lange her. Als ich schließlich wieder arbeiten ging, schlug unsere Putzfrau Marion vor, dass sie das Kochen übernimmt. An ihrem Essen gibt es nichts auszusetzen; sie ist eine fantastische Köchin. Ich bin unabhängig und liebe meine Arbeit. Das gebe ich nicht auf.
„Und wenn ich das nicht will?“ Im Gedanken an seine Handgreiflichkeit in letzter Zeit trete ich einen Schritt zurück.
„Sei nicht albern, Mia.“ Er mustert mich mit hämischem Blick. „Du hast mich zu respektieren“, verkündet er nachdrücklich und beobachtet mich dabei, wie ich langsam in Richtung Schlafzimmertür zurückweiche. „Wenn wir schon bei diesem heiklen Thema sind: du solltest montags nicht mehr zum Pub gehen. Das müssen wir eine Weile aussetzen und mal abwarten, wie du daheim zurechtkommst. Du wirst erschöpft sein, wenn du dich den ganzen Tag um den Haushalt kümmerst. Da wirst du abends definitiv nicht ausgehen wollen.“
Mir schnürt sich die trockene Kehle zu. „Ich gehe jetzt ins Fitnessstudio, um den Kurs zu leiten.“ Ich wende mich ab, um zu gehen. Ich bin die Diskussion leid. Er wird mich nicht in meinem Zuhause einsperren. Das lasse ich nicht zu.
„Den erbärmlichen Job kannst du dir in Zukunft auch schenken.“
„Mein Job ist nicht erbärmlich.“
„Es ist ja wohl kein richtiger Job, oder? Mein Job ist ein richtiger Job. Im Gegensatz zu dir werde ich anständig bezahlt. Mit deinem Gehalt können wir nicht einmal die Hälfte unserer Rechnungen bezahlen. Meinst du, du könntest ohne mich finanziell überleben?“ Er lacht. „Aber klar, du hast ja noch Mom und Dad, stimmt’s? Die geben dir, was immer du brauchst. Ist es das? Glaubst du, du brauchst mich nicht mehr? Willst du deshalb arbeiten? Um von mir loszukommen?“
„Oh, hör doch auf“, antworte ich ruhig. „Du willst mich nur auf die Palme bringen, damit du einen Vorwand hast, mir wehzutun.“
„Nein, Mia“, widerspricht er in eiskaltem Tonfall, bevor er sich aufrichtet, bis er an der Bettkante sitzt. Er wirft mir einen bösartigen Blick zu. Dann steht er auf, geht auf mich zu und packt mich am Handgelenk. Ich bin nicht schnell genug und zucke zusammen, als er fester zudrückt und mich dabei genau an der bereits verletzten Stelle trifft. „Ich glaube, du hörst mir nicht zu. Denk daran, was ich weiß. Ich kann dich vernichten.“ Er zieht mich ruckartig an sich, bis die Distanz zwischen uns so klein ist, dass ich seinen Atem auf der Wange spüre. Mein Handgelenk pocht.
„Ich werde nicht im Fitnessstudio anrufen“, erkläre ich.
Erneut verdreht er mir das Handgelenk und mir steigen Tränen in die Augen. „Doch, das wirst du. Wo ist dein Handy?“ Ich befreie meinen Arm und stolpere rückwärts.
„Ricky, das ist absurd. Ich lasse die Leute nicht im Stich. Das ist unprofessionell. Du meinst doch nicht ernsthaft, dass du mich hier einsperren kannst?“ Ricky jagt mir gerade wirklich Angst ein. Er verhält sich schon länger gemein, aber diese neue Phase ist anders. Das hier ist böse und kalkuliert. Ich will hier weg. Sein Blick macht mich nervös. Langsam weiche ich zurück.
„Ruf an, Mia.“ Ricky schüttelt den Kopf, als wäre ich ein dummes Kind. „Offensichtlich muss ich strenger mit dir sein, weil du es immer noch nicht kapierst, hm? So schwer ist das nicht, oder? Wenn du das Konto auf mich umschreibst, können wir das alles richten. Hast du Grund dazu, mir zu misstrauen, … Schatz?“
„Das ist nicht fair, Ricky. Das Geld gehört uns nicht.“
„Was denkst du, dass ich damit vorhabe? Du weißt doch, wie sehr ich dich und die Mädchen liebe. Ich will nur sicherstellen, dass alles reibungslos abläuft, sollte dir je etwas Schlimmes zustoßen.“
Bei der Aussage kneife ich die Augen zusammen. „Was denn zum Beispiel? Ich bin kerngesund.“
„Noch. Aber wer weiß, was die Zukunft bringen wird. Warum sollten wir uns das Leben schwer machen? Nehmen wir mal an, du liegst nach einem Unfall im Koma und wirst künstlich beatmet. Oder du bist verschwunden, vielleicht von einem Boot gefallen oder hast dich beim Wandern verlaufen und bist unauffindbar. Wir hätten keinen Zugriff auf dein Konto oder deine privaten Dokumente. Wir müssten sieben Jahre warten, bis man dich rechtlich tot erklärt. Denk mal an all die Probleme, die das für deine Familie mit sich ziehen würde. Wenn du mich liebst – wenn du uns liebst –, würdest du uns das nicht antun.“
„Ich liebe die Mädchen sehr wohl. Ich meine, ich liebe meine Familie. Ich verstehe, was du meinst, aber, Ricky, ich gehe nicht segeln oder wandern. Das wird so nichts.“
„Lass uns doch in den Urlaub fahren. Nur wir beide. Was meinst du? Es wäre doch schön, miteinander Zeit zu verbringen. Wir könnten in Griechenland einen Segeltrip unternehmen.“
Mein Herz wird schwer. Er will mich unter Druck setzen. Er würde nicht so weit gehen, einen Unfall zu inszenieren. Oder? Das wäre zu riskant. Er ist nicht risikofreudig. Ricky hat es gern unkompliziert im Leben. „Ich gebe meinen Job nicht auf und wir fahren nicht in den Urlaub.“
Ricky lächelt vielsagend. „Du wirkst etwas angespannt, Schatz. Oh! Wie makaber von mir. Erst spreche ich hier davon, wie du über Bord gehst und im Meer verschwindest, und dann schlage ich einen Segelurlaub vor. Das war unbedacht. Ich hoffe, du hast da jetzt nichts hineininterpretiert. Mia, gib mir bitte dein Handy.“ Er streckt den Arm aus und zieht mir das Handy aus der Tasche. „Das nehme ich dir lieber mal eine Weile ab. Es erleichtert dir die Übergangszeit zu Hause, wenn du keinen Kontakt zu deinen Freundinnen hast. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke, ist es wohl auch besser, wenn du in den nächsten Wochen daheimbleibst. Ich bringe dir alles, was du brauchst. Sich an Veränderungen zu gewöhnen, ist nicht leicht. Ich sage deinen monatlichen Kaffeetreff ab. Überlass das mir. Wenn ich das mache, ist es nicht so unangenehm und du musst keine schwierigen Fragen beantworten.“
Während ich an der Tür stehe und mir überlege, was ich tun soll, höre ich unten Männerstimmen. Ricky kann mich hier nicht einsperren. Er hat zwar mein Handy, aber es gibt immer noch das Festnetztelefon. Ich werde meine Schwester anrufen und sie bitten vorbeizukommen. Ich mache mir mittlerweile richtig Sorgen. Neugierig, was unten vor sich geht, drehe ich mich um und verlasse ohne ein weiteres Wort den Raum.
Im Erdgeschoss sehe ich Handwerker ein- und ausgehen. „Was machen Sie hier?“, frage ich einen von ihnen. Wie zum Teufel sind sie ins Haus gekommen?
„Ihr Mann hat uns einen Schlüssel gegeben. Wir bauen neue Schlösser an den Türen und Fenstern ein. Sie müssen vergessen haben, dass wir kommen. Kann jedem mal passieren. Eine Tasse Tee wäre klasse, wenn es keine Umstände macht?“
Ricky taucht hinter mir auf. „Ich dachte, du wärst krank“, bemerke ich.
„Mir geht es wieder besser.“ Er streckt die Hand aus und der Mann lässt einen Schlüsselbund in Rickys Hand fallen. „Danke.“
„Mit allen Türen und Fenstern im Erdgeschoss sind wir durch. Wir kümmern uns jetzt dann mal ums Obergeschoß, wenn das in Ordnung ist, und dann sind wir auch schon wieder weg“, erklärt der Handwerker, bevor er sich sein Werkzeug schnappt und zur Treppe geht. „Zwei Stück Zucker für mich, keinen für meinen Kollegen Stu. Danke schön.“
„Ricky, was geht hier vor sich?“
„In letzter Zeit wurde in der Gegend oft eingebrochen, darum dachte ich mir, dass wir uns besser absichern müssen. Mir geht es jetzt übrigens viel besser und ich habe Hunger. Solltest du nicht in der Küche sein und mir etwas zum Mittagessen kochen? Oh, und Mia, vergiss den Tee nicht. Sie machen ihre Arbeit immer besser, wenn man sie mit Tee und Keksen versorgt.“
„Mach das doch selber“, erwidere ich und versuche, die Haustür zu öffnen. Abgesperrt. „Sperr die Tür auf, Ricky, und gib mir die Schlüssel. Ich lasse unterwegs welche nachmachen.“
Er steckt die Schlüssel ein. „Die brauchst du nicht. Und jetzt geh und mach mir was zu essen. Oder soll ich Sally anrufen?“ Wir starren einander an. Ich versuche abschätzen, ob er Sally wirklich anrufen und ihr erzählen würde, was er aus meinen Briefen erfahren hat. Das kann ich nicht riskieren.
Ich koche schnell etwas für Ricky und bin mir dabei bewusst, dass ich von einer Kamera beobachtet werde. Ricky wird meine Aktivitäten über seine App verfolgen. Wir leben in einem Smart Home, das er über Apps auf seinem Handy steuert. Sowohl draußen als auch drinnen sind Kameras angebracht. Dank Kameras an der Tür wissen wir immer, wer gerade klingelt. Drinnen steuert die App unsere Beleuchtung. Die Heizung auch. Wir bitten einfach Alexa, sich drum zu kümmern. In unserem Haus gibt es alle möglichen Gadgets. Ich sehne mich nach einem altmodischen Haus, in dem man Geräte einsteckt und anschaltet. Ich stelle zwei Tassen bereit, mache den Tee und bringe ihn zu den beiden Handwerkern. Die Kekse lasse ich sein.
Das Festnetztelefon steht ungerührt auf der Fensterbank. Ich sollte Beth anrufen. Aber was soll ich ihr sagen? Mein Mann wurde zum Psychopathen und hat mich daheim eingesperrt, um sich mein Geld unter den Nagel zu reißen?
Ich könnte Sally bitten vorbeizukommen, wenn Ricky auf der Arbeit ist, und es ihr selbst erzählen. Ihre Nummer weiß ich allerdings nicht. Sie ist auf meinem Handy eingespeichert. Ich kenne von niemandem außer Beth die Nummer auswendig. Früher kannte ich die meiner Mädchen, aber sie haben beide seit kurzem eine neue. Ich könnte bei Good Housekeeping in London anrufen, die Lage schildern und sie überreden, mir Sallys Nummer zu geben. Doch darauf werden sie sich nicht einlassen. Sie werden versprechen, meine Tochter anzurufen und sie zu bitten, sich bei mir zu melden. Das bringt nichts. Jetzt hab ich’s, ich schreibe ihr einen Brief! Wie in alten Zeiten. Ich schreibe ihr, dass ich sie treffen muss, um etwas Heikles zu besprechen und dass sie es ihrem Dad gegenüber nicht erwähnen soll. Doch Sally hängt sehr an Ricky. Sie würde ihn bloß anrufen und fragen, warum ich ihr schreibe.
Mit zitternden Hände stelle ich sein Essen auf den Tisch. Wie weit wird er gehen?
Ricky arbeitet beim Fernsehen. Er moderiert das regionale Frühstücksfernsehen. Er arbeitet in Media City in Manchester und liebt seinen Job. Alle lieben Ricky. Jeder soll Ricky lieben, weil er im Fernsehen ist. Auf Twitter hat er über eine Million Follower. Er interagiert nie mit ihnen, sondern postet lediglich Alltagsbilder von sich.
„Alles in Ordnung, Mia? Du wirkst nervös.“ Ich schrecke auf. Ricky steht plötzlich an der Küchentür. „Hattest du Spaß in der Küche? Du wirktest gedankenverloren. Hoffentlich hast du nicht vor, mich zu verärgern. Du weißt ja, ich muss Sally nur anrufen und ihr erzählen, dass sie nicht mein ist, sondern der Bastard ihres Großonkels. Die Büchse der Pandora wird euch alle zerstören. Ich sehe es schon vor mir. Ich erkläre ihr, dass ich es gerade erst erfahren habe. Dann erzähle ich ihr, dass sie nicht mehr meine Tochter ist und ich sie enterbe. Sie wird am Boden zerstört sein, meinst du nicht?“
Ich starre ihn an. „Warum? Warum solltest du so unfassbar grausam sein? Wenn sie herausfinden muss, dass sie nicht von dir ist, würde sie das schon genug verletzen, aber so etwas Gemeines zu ihr zu sagen …“
„Schreib mir nicht vor, was ich meiner Tochter zu sagen habe!“, unterbricht er mich.
„Du siehst sie also immer noch als deine Tochter!“
„Das reicht!“, schreit er und die Handwerker im Obergeschoss verstummen einen Moment lang.
„Du liebst sie. Warum solltest du deine Tochter verletzen wollen?“
Er lacht trocken. „Genau das ist der Punkt, nicht wahr, Mia? Sie ist nicht meine Tochter.“
„Du bist ihr Vater. Du hast sie großgezogen. Du kannst sie jetzt nicht verstoßen! Was bist du für ein Monster?“
„Das wirst du wohl jetzt herausfinden. Aber, Mia, ich erkläre dir das doch ständig. Es muss nicht so weit kommen, wenn du endlich zur Vernunft kommst und das Konto auf mich umschreibst.“
Tränen strömen mir über die Wangen. Meine Wut auf Ricky wächst immer weiter an und ich unterdrücke ein Schluchzen. Dank ihm sitze ich in der Falle. Es ist nur Geld. Das ist mir klar. Aber es ist eben nicht mein Geld. Es gehört den Kindern, weil es ihnen von meiner lieben Großmutter hinterlassen wurde. Er hat kein Recht darauf, es mit seiner schicken Dame auf den Kopf zu hauen. Es ist eben doch nicht nur Geld.
Ich erkläre ihm, dass er spinnt. Das gefällt ihm nicht. Er verpasst mir eine und wirft mich mit ein paar gut platzierten Schlägen zu Boden. Er trifft mich genau dort, wo es niemand sehen wird. Mit einem „Bis später“ macht er sich an den Kühlschrank und leert alles in ein paar Müllsäcke aus. „Oh, übrigens: Ich rationiere dein Essen. Heute Morgen, bevor du aufgestanden bist, habe ich die Speisekammer und die Schränke ausgeräumt. Ich halte das für das Beste und mir war klar, dass du nur einen Aufstand darum machst. Bald, Mia, wirst du mir geben, was ich will.“
Am Anfang war Ricky noch wunderbar. Liebevoll. Wertschätzend. Genau, was ein Mädchen sich von einem Freund wünscht. Er verzauberte meine Eltern und all meine Freundinnen. Das tut er noch heute. Der Außenwelt gegenüber der perfekte Ehemann. Auf der Arbeit himmeln ihn alle an. Seine Fans verehren ihn. Die Nachbarn können gar nicht genug von ihm bekommen. Er ist „Mister Popular“ höchstpersönlich. Als er seine Affäre begann, veränderte er sich. Er wurde gemein. Sarkastisch. Früher schlug er mich nie.
Ich lernte Ricky bei der Tatton Flower Show kennen. Er war beruflich dort und vertrat einen kleinen Fernsehsender. Er sehnte sich danach, berühmt zu werden, und so machte er schnell und rücksichtslos Karriere und wurde immer erfolgreicher. Kein Konkurrent kam gegen seinen Charme und sein gutes Aussehen an. Ricky begeistert das Publikum wie ein gut geschulter Schauspieler. Wäre er Schauspieler, stünden bei ihm Reihen an Auszeichnungen auf dem Regal. Seine Rollen spielt er großartig: Der fürsorgliche Ehemann. Der herzliche Vater. Der liebevolle Sohn. Das absolute Arschloch.
Ich ging an jenem Tag mit meinen Eltern zu der Blumenschau. Ricky tauchte plötzlich neben mir auf und sprach mich an: „Du würdest dich gut an meiner Seite machen, meine Süße.“ Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Mir war bewusst, dass es eine reine Anmache war – kitschig und selbstgefällig –, doch ich fühlte mich auch geschmeichelt.
Er begann ein angeregtes Gespräch über Gartenarbeit mit meinem Dad. Es war eine der seltenen, glühend heißen und ununterbrochen sonnigen Wochen, die wir in Großbritannien ab und an erleben. Es war ein wunderschöner Tag. Unser Trip nach Tatton war komplett spontan. Ich hatte uns in meinem neuen Softtop-Cabrio hingefahren.
Ricky hatte es meinen Eltern angetan. Sie luden ihn direkt zum Abendessen ein, bei dem er Dads prächtigen Garten bestaunen sollte. Wir lebten damals in einem edlen viktorianischen Herrenhaus in Plumley. Ich führte ein privilegiertes Leben. Meine Eltern liebten und umsorgten mich und das tun sie noch heute. Doch sie stehen in Rickys Bann.
Meine Beziehung mit Ricky war zu Beginn eine wundervolle Erfahrung. Ich entwickelte immer stärkere Gefühle für einen Mann, der alles für mich tun wollte. Für unser erstes Date fuhren wir nach Edinburgh und übernachteten in einem wunderschönen Hotel in der Nähe des Schlosses. Er war aufmerksam, beschützerisch und sanft. Er erzählte mir von all den wundersamen Orten, die er bereits gesehen hatte, und von lustigen Begebenheiten am Set. Ich verliebte mich Hals über Kopf. Ich liebte ihn so sehr, dass ich alles für ihn getan hätte.
Wir verlobten uns direkt an jenem Wochenende und heirateten innerhalb eines Jahres.
Wenn ich mit meinen Freundinnen ausgehe und sie über ihre Männer und ihre Ehen plaudern, schweige ich. Ricky möchte nicht, dass ich über unser Privatleben spreche. Ab und an muss ich allerdings etwas verraten, denn es würde auffallen, wenn ich immer nur von ihm schwärmen würde. Viel erzähle ich nicht, meistens Triviales.
Ich kann nicht glauben, dass er sämtliches Essen aus dem Haus geschafft hat. Ich knalle die Tür zur Vorratskammer zu und öffne sie dann direkt wieder, als könnten die Vorräte dadurch auf magische Weise wieder auftauchen. Nein. Immer noch leer. Wer auch immer diese Frau ist, sie hat ihn wirklich im Griff.
Kapitel 3
Lindy
Ich soll heute länger bleiben, weil die Abwaschhilfe nicht aufgetaucht ist. Ich schreibe eine Standardnachricht, um eine Vertretung zu finden, und schicke sie an all meine Kollegen. Jack meinte, dass ich einspringen muss, wenn sich niemand anderes findet. Das kann er vergessen. In meinem Vertrag steht nichts davon, dass ich den Abwasch machen soll, und er hat genug Kinder, die ihm aushelfen können. Zum Glück schreibt Samuel, dass er einspringt.
Kurz nach 18 Uhr steige ich in meinen zehn Jahre alten Fiesta und wickle meinen abgetragenen Mantel eng um mich, um mich zu aufzuwärmen. Die Heizung funktioniert nicht und wenn es richtig kalt wird, beschlagen die Scheiben und ich muss mit offenen Fenstern fahren.
Auf der Fahrt durch unsere Siedlung komme ich an Mias Haus vorbei und sehe, dass alle Lichter an sind. Zurzeit sind die Tage so kurz. Die Temperatur ist seit heute Mittag deutlich gesunken. Ich habe überall Gänsehaut und zittere.
Dicky Rickys 6er-BMW steht stolz neben Mias BMW Geländewagen in ihrer Schottereinfahrt. Rückwärts parke ich in der Einfahrt des leer stehenden Hauses gegenüber und stelle den Motor ab. Ich kuschle mich tief in meinen Mantel. Ideal ist es nicht, aber für eine halbe Stunde oder so lässt es sich aushalten.
Ich komme schon seit einer Weile immer wieder hierher. Von hier aus kann ich die beiden gut beobachten. Ehrlich gesagt wundert mich, dass noch nie jemand an meine Scheibe geklopft hat, um zu fragen, was zur Hölle ich hier eigentlich mache.
Mia wohnt in einem der imposanteren Häuser dieser exklusiven Siedlung. Sie und Ricky ziehen die Vorhänge nicht zu. Ich frage mich oft, warum. Im Schlafzimmer steht Mia in ein Handtuch gewickelt. Sie dreht sich um, als jemand das Zimmer betritt. Ich zittere beim Gedanken daran, nur in ein Handtuch gehüllt zu sein, und hole mein kleines Fernglas aus dem Handschuhfach, um genauer hinzusehen. Meine Hände sind steif von der Kälte.
Über dem Bett haben die beiden einen großen, tief hängenden Kronleuchter. Ich frage mich, ob sie das Licht beim Sex an oder aus haben? Sie friert, ich kann sie zittern sehen. Da drinnen ist es doch sicher nicht kalt, oder? Sie muss die Heizung aufdrehen oder sich warm anziehen, sonst erkältet sie sich noch. Ricky betritt den Raum, nackt, mit einem Handtuch in der Hand. Er redet mit ihr und reibt ihr die Schultern. Ich wünschte, ich könnte hören, was die beiden da sagen. Vielleicht könnte ich bei einem von Mias Kaffeetreffs irgendein Mikrofon im Haus anbringen. Das wäre nicht schwierig. Ich kenne mich in ihrem Haus aus. Ich habe es bereits gründlich erforscht. Zu gründlich? Vielleicht.
Er streichelt ihr über das glänzende Haar. Sie sehen so verliebt aus, wie sie da beisammenstehen. Ich wette, er sagt ihr gerade, wie schön sie ist. O Gott, sie hat ihr Handtuch fallen lassen. Ah, sie teast ihn. Er betrachtet ihren Körper. Ich habe in diesem Haus Dinge beobachtet, von denen sicher niemand sonst weiß. Was für einen Sex die beiden haben! Er nimmt sie gern gegen die Wand oder über das Sofa gebeugt.
Frank starrt mich nie so begierig an, nicht mehr. Nicht, dass ich ihm die Gelegenheit dazu geben würde. Ich weiß nicht, wann er mich das letzte Mal nackt gesehen hat. Früher sah Frank mich an, wie Ricky Mia ansieht. Er erwähnte immer wieder, dass ich einen tollen Körper habe. Er machte damals Fotos von mir. Ich sehe sie mir nie an. Das war eine andere Lindy, eine Lindy aus einer Zeit, die weit zurückliegt. Bevor sich mein Leben veränderte.
Eine Frau in dicker grauer Pufferjacke spaziert mit ihrer Bulldogge vorbei. Ich muss lächeln. Auch für Hund und Herrchen gilt wohl „gleich und gleich gesellt sich gern“. Sie beachtet mich nicht. Ich senke mein Fernglas und rutsche an meinem Sitz hinab. Der Hund verrichtet sein Geschäft in Mias Vorgarten. Die Frau zückt eine kleine schwarze Tüte und hebt den Kot auf. Dann spazieren die beiden weiter.
Ich weiß alles über Mia. Ich weiß, wann Ricky zur Arbeit geht, wann Mia ins Fitnessstudio fährt und wann sie tagsüber zu Hause vorbeischaut. Üblicherweise holt sie sich gegen 11 Uhr Kaffee bei Costa. Sie duscht, bevor Ricky nach Hause kommt. Ich sehe sie ab und an bei Waitrose. Im Gegensatz zu mir kann sie es sich leisten, dort einzukaufen. Sie kauft Bio-Produkte, denn auch das kann sie sich leisten. Doch ab und an beobachte ich auch, wie sie den Sandwichkäse kauft, der bei Kindern so beliebt ist. Sie kauft Kakao von Galaxy. Und Schoko-Erdnüsse. Ich vermute, dass sie heimlich gern knabbert.
Ricky habe ich heute Morgen im Fernsehen gesehen. Er ist so attraktiv. So lebhaft und fröhlich. Ricky sieht immer schick und zufrieden aus. Man merkt ihm an, dass er seinen Job liebt. Warum auch nicht, es ist ein toller Job. Wer hätte da keinen Spaß dran? Die beiden führen die perfekte Ehe. Sie sind in der Gemeinde beliebt. Sie setzen sich für gute Zwecke ein. Sie sind perfekt. So perfekt, dass sie nicht so ganz real sind. Kann irgendetwas so verdammt perfekt sein?
Frank arbeitet nicht. Nicht mehr. Früher schon. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt macht er nichts mehr. Überhaupt nichts. Er bleibt den ganzen Tag daheim und verlässt das Haus nicht. Hilft mir nicht. Weigert sich, sich selbst zu helfen. Frank war früher mal gut aussehend. Nicht so gut aussehend wie Ricky, aber er war groß und schlank und hatte schöne Hände. Ich habe seine Hände geliebt, seine langen, schlanken Finger. Früher beobachtete ich immer gern, wie er sie über meinen Körper wandern ließ. Er hatte immer einen Schnurrbart. Generell mag ich keine Bärte, aber Franks Schnurrbart gefiel mir. Jetzt kaut er immer an seinen Nägeln. Seine Hände sind hässlich. Er hat zugenommen. Sein Cholesterinspiegel ist zu hoch. Seine Haare sind zu lang und er muss etwas gegen seine Nasenhaare unternehmen. Wahrscheinlich denkst du dir gerade, dass ich ihm helfen sollte. Aber du kennst nicht die ganze Wahrheit.
Als wir einander kennenlernten, waren wir Überflieger. Ehrgeizig. Wir lernten uns in dem Architekturbüro kennen, für das wir beide arbeiteten. Daheim in den USA hatte ich mich am College auf Fremdsprachen spezialisiert. Doch als ich nach Großbritannien kam, absolvierte ich einen Schnellkurs in Architektur. Das Unternehmen hatte ein charmantes Büro bei Spring Gardens im Stadtzentrum von Manchester, ein brandneues Gebäude im postmodernen Stil. Wir gingen damals jeden Tag gemeinsam Mittagessen und dann nach der Arbeit noch etwas trinken, bevor wir nach Hause fuhren. Ständig fanden irgendwelche Partys statt und wir gingen zu den meisten. In der Welt der Architektur genossen wir beide ein hohes Ansehen und sicherten uns die meisten Aufträge, für die wir uns bewarben. Man kannte uns als das Traumpaar. Wir gründeten unser eigenes Unternehmen – LF Architects. Das Geschäft lief gut, wir stellten fünfundzwanzig Angestellte ein und genossen unseren Erfolg. Nachdem wir geheiratet und die Kinder bekommen hatten, ging ich wieder in Teilzeit arbeiten. Unser Leben war ein Traum. So oft gratulierten wir einander. Schwärmten gemeinsam von unserem Glück. Wir hielten uns für unantastbar. Wir hatten eine endlose Glückssträhne. Doch irgendwann reißt jede Glückssträhne, nicht wahr? Unsere tat das jedenfalls von einem Tag auf den anderen.
Mias Kinder kommen etwa einmal im Monat zu Besuch. Sie hat zwei Töchter, Annie und Sally. Die beiden sehen sich ähnlich – sie sehen aus wie Mia mit Rickys Größe. Ich weiß nicht, wo genau sie wohnen, aber es kann nicht weit weg sein, denn dafür kommen sie zu oft. Heute hat Mia gekocht und Annie und Sally sitzen im Esszimmer am Tisch. Mit meinem Fernglas sehe ich deutlich, wie sie alle lachen, essen und sich verhalten, wie es sich eben für eine normale Familie gehört. Ich glaube, zur Hauptspeise gibt es Braten. Ich beobachte, wie Mia ihn auf den Tisch stellt. Das Essen sieht köstlich aus und ich würde mich gern dazugesellen. Ich stelle mir vor, wie ich selbstbewusst auf die Haustür zugehe und sie alle frage: „Hey, das sieht klasse aus, darf ich mich euch anschließen?“ Ich kichere. Ich sehe ihre Gesichter vor Augen.
Letztens im Pub, als Casanova Mia schöne Augen gemacht hat, wollte mich ein Kerl abschleppen. Das überrascht dich jetzt sicher. Mich erst. Klar hatte ich mich an dem Abend ausnahmsweise mal etwas schick gemacht. Nicht allzu sehr, zugegebenermaßen, aber ich hatte mir zumindest Mühe gegeben. Mia hätte nicht mit mir gesprochen, hätte ich so ausgesehen wie jetzt gerade. Ich rieche am Kragen meines Mantels und rümpfe die Nase. Ich glaube, das ist mir zum ersten Mal seit Ewigkeiten passiert. Der Kerl war übergewichtig, aber gut gekleidet und trug einen maßgeschneiderten Anzug. Er sah schick aus – ein bisschen wie Frank früher. Schöne Hände. Gute Frisur und eindeutig wohlhabend. Ich hatte ihn mit großen Scheinen bezahlen sehen. Warum zur Hölle er mich anbaggern wollte, ist mir immer noch ein Rätsel. Ich war schroff, unhöflich und generell uncharmant, doch er blieb auf leicht aggressive Weise hartnäckig, wie es Männer so oft tun, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen. Er glotzte mir durchgehend auf die Brüste. Überrascht dich das? Ich habe wohl vergessen zu erwähnen, dass ich salopp gesagt ganz schön Holz vor der Hütte habe.
Ich erwog durchaus, ihn in den Hinterhof des Pubs zu führen und dort zu vögeln. „Hey, Kumpel“, hätte ich ihm zugerufen, „du hast offensichtlich eine Latte. Na, willst du auf eine Runde mit mir in den Hinterhof?“ Männer gefällt Dirty Talk. Seltsame Wesen, oder? „Nur wenn du mich jetzt schon anfasst und mir dann einen bläst“, hätte er mir geantwortet. Beim Griff in seine Hose hätte ich seine Gesichtszüge beobachtet. Draußen hätte ich meinen Slip ausgezogen und den Kerl geritten. Umgeben von beißenden Gerüchen aus der Küche hätte er mich immer wieder stöhnend gegen die kalte Backsteinwand gedrückt. Er wäre gekommen. Ich nicht. Manchmal verspüre ich einen wahnsinnigen Drang nach Leichtsinn. Nicht an jenem Abend.