Zweites Kapitel
„Lord Walgrave?“ Amanda blickte Elf leicht überrascht an. „Er ist in unserem Alter, wohlerzogen, akzeptabel und unverheiratet. Ich kann darin nichts Verruchtes sehen.“
„Er ist aber auch unerträglich und ein erklärter Feind meiner Familie!“ Elf stellte ihr Glas ab. „Komm. An einen Baum gelehnt hier herumzustehen ist absolute Zeitverschwendung.“ Sie zog Amanda zurück in den Strom der Feiernden. „Wenn wir in diese Richtung gehen, finden wir vielleicht wenigstens einen guten Platz, um das Feuerwerk zu sehen.“ Amanda eilte neben ihr her. „Aber ist der Earl nicht der Bruder von Chastity? Das macht ihn doch zu deinem Schwager.“
Elf hätte wissen können, dass die bloße Bewegung Amanda nicht vom Thema abbringen würde. „Das hat keine familiäre Zuneigung ausgelöst, kann ich dir versichern. Wir sind alle höflich zueinander, mehr oder weniger, Cyn und Chastity zuliebe.“
„Mein Gott! Das ist ja wie bei Romeo und Julia!“ Elf blieb abrupt stehen, sodass eine ihnen nachfolgende Gruppe in sie hineinrannte. Als alle sich wieder entwirrt hatten, sagte sie: „Romeo und Julia! Da täuschst du dich. Er verachtet mich. Er schätzt gefügige und liebenswürdige Frauen. Und ich verachte ihn. Er ist ein Lebemann, der es wagt, mir Schicklichkeit zu predigen.“
Amanda zog Elf hinüber zu einer Bank, wo sich ein Pärchen gerade erhob, um in einem der verruchten Seitenwege zu verschwinden, wie Elf bemerkte. Sie ließ sich von ihrer Freundin auf die Bank drücken, denn sie wusste, dass sie jetzt ausgefragt werden würde.
Sie wünschte, sie hätte ihre Zunge im Zaum gehalten. Sie hatte die Sache mit Walgrave eigentlich geheimhalten wollen, aber schließlich stimmte es ja. Sie verachtete ihn wirklich, auch wenn er eisblaue Augen und eine Aura hatte, die – wie sie fürchtete – rein sexueller Natur war. Er ließ ihre Nerven prickeln, wenn sie ihn unter dem Schutz ihrer Brüder provozierte.
Sie dachte viel zu viel an ihn, und manchmal träumte sie sogar von ihm. Warum, das wusste sie nicht. Er lächelte nie, außer zynisch, und schien von einer furchtbar schlechten Laune besessen zu sein. Sie war wütend.
„Predigt dir Schicklichkeit?“, wiederholte Amanda wie ein Spürhund, der die Fährte aufgenommen hatte. „Vielleicht hat er nur Probleme damit, sich in seiner neuen Rolle zurechtzufinden. Bisher war er ein sorgloser junger Mann – eine Art Lebemann, möchte ich wetten, aber keiner von der schlechten Sorte –, und dann ist er plötzlich Earl. Es kann nicht einfach sein, in die Fußstapfen eines Mannes zu treten, der der Unbestechliche genannt wurde.“
„Er gibt sich aber alle Mühe. Versucht, so unerträglich aufgeblasen zu sein wie sein Vater.“
Amanda warf ihr einen Blick zu. „Und das gelingt ihm nicht, nehme ich an. Ich glaube nicht, dass du dich Fantasien über seine Wichtigtuerei ergibst.“ Sie dachte einen Moment lang nach. „Starb nicht der alte Earl in Rothgar Abbey?“
„Ja. Ein Anfall.“
Das stimmte nicht, war aber die offizielle Version. Tatsächlich war der Earl in eine Art Wahn verfallen und hatte versucht, die Mutter des Königs zu töten. Jemand hatte ihn rechtzeitig erschossen. Wahrscheinlich Rothgar. Der neue Lord Walgrave schien offensichtlich Rothgar die Schuld am Tod seines Vaters zu geben und nach Mitteln und Wegen zu suchen, den Mallorens zu schaden.
Natürlich war alles vertuscht worden. Der Versuch, ein Mitglied der königlichen Familie zu töten, war schließlich Hochverrat und hätte Walgraves gesamte Familie ruiniert. Der Titel und Besitz des alten Earls wären konfisziert und seine zwei Söhne und zwei Töchter aus der guten Gesellschaft verstoßen worden.
Amanda klopfte mit ihrem Lorgnon an ihre Lippen. „Du musst eine Menge Gelegenheiten gehabt haben, dem neuen Earl zu begegnen. Die Hochzeit und andere Okkasionen.“
„Ein paar, aber das waren schon zu viele, kann ich dir versichern. Amanda, wenn du ans Verkuppeln denkst, schlag dir das aus dem Kopf. Es gibt wohl kaum zwei verschiedenere Menschen auf dieser Welt.“
Amanda wirkte nicht entmutigt. „Walgrave scheint seine Sache gut zu machen. Stephen sagt, er sei überrascht, wie viel Aufmerksamkeit der Earl den Staatsangelegenheiten widmet und wie umsichtig er sich im Parlament verhält.“ Elf täuschte ein Gähnen vor. „Freut mich für ihn, aber können wir jetzt vielleicht von etwas Interessanterem sprechen?“
„Elf! Du hast zugegeben, dass du von ihm träumst. Er ist ausgesprochen stattlich, fast so wie Bryght.“ Sie starrte in die Ferne und gab einen theatralischen Seufzer von sich. Elf witterte eine Chance, das Thema zu wechseln. „Zuerst Rothgar, jetzt Bryght. Als Nächstes erzählst du mir, dass du heiße Träume von Cyn hast!“
„Nein“, sagte Amanda lachend. „Aus irgendeinem Grund kommt er mir eher vor wie ein Bruder, nachdem wir so viele Sommer gemeinsam im Schlamm beim Stichlingefangen verbracht haben.“
Sie legte einen Arm um Elf. „Vielleicht liegt es auch daran, dass du für mich wie eine Schwester bist und er dein Zwillingsbruder ist.“
Elf erwiderte die Umarmung und hoffte, ihre unkluge Vertraulichkeit würde darüber in Vergessenheit geraten. Aber Amanda vergaß so etwas nicht. „Also“, sagte sie, „warum deine Fantasien nicht Wirklichkeit werden lassen? Wenn dein Bruder Walgraves Schwester heiraten kann, ohne dass der Himmel einstürzt, warum solltest dann nicht auch du ihn heiraten können.“
Elf befreite sich aus der Umarmung. „Du hast Grillen im Kopf. Ich sagte es dir doch schon, wir verabscheuen einander aus tiefster Seele, und er scheint wie besessen davon, Rothgar zu vernichten. In einer solchen Ehe gäbe es keine Gemütlichkeit am Kaminfeuer.“
Amanda grinste. „Aber denk doch ans Bett!“ Elf sprang auf. „Du bist eine verdorbene Frau! Aber ich kann es mir angesichts dieses Hasses auch im Bett nicht sehr angenehm vorstellen.“
Amanda seufzte, als sie sich ebenfalls erhob. „Du hast absolut recht. Trotzdem ist es eine Schande. Er ist genau der Richtige für dich.“
„Ein Verrückter?“ Elf brachte ihre Röcke in Ordnung. „Komm, lass uns zu den Booten zurückgehen. Wenn wir die ganze Nacht Backfischträume austauschen wollen, können wir das genauso gut in aller Gemütlichkeit zu Hause machen.“ Amanda widersprach nicht. „Hab’ ich dir jetzt den Abend verdorben?“
„Nein.“ Elf hängte sich bei ihrer Freundin ein. „Es war nur so eine verrückte Idee. Ich muss über eine bessere Möglichkeit nachdenken, mein Leben zu ändern.“
Auf demselben Weg zurückzugehen bedeutete, gegen den Strom zu schwimmen, da die meisten Leute in Richtung des Platzes strömten, wo bald das Feuerwerk stattfinden würde. Zuerst dachte Elf, das Drängeln der Menge würde sie zurückhalten, aber dann schlang sich ein Arm um ihre Taille und presste sie gegen eine feuchte, wollene Uniform. Sie sah auf und erkannte den reichdekorierten Hauptmann von vorhin. „Monsieur!“
„Immer noch allein, meine Hübsche?“
„Je ne comprends pas.“
Er wechselte in ein unbeholfenes Französisch. „Falls Ihr Eure Leute verloren habt, geleite ich Euch gerne zu ihnen zurück.“
„Ich fürchte, dass Ihr eher eine Entführung als ein Geleit im Sinne habt, Sir.“ Sie versuchte, sich aus seinem Arm zu winden, hatte jedoch gegen seine massige und kräftige Gestalt keine Chance.
Er lachte und zog sie an sich, wobei er ein bisschen fest drückte, sodass sie fürchtete, er würde ihr versehentlich ein paar Rippen brechen. Aber da blitzte ein Funken Gefahr in ihrer Fantasie auf, wie die ersten Lichtblitze des Feuerwerks. Sie lächelte ihn an.
„El… Lisette!“ zischte Amanda und zupfte an ihrem Umhang.
„Sch, Cousine. Siehst du nicht, dass der Gentleman und ich uns unterhalten?“
Der Hauptmann grinste und zeigte dabei große, aber gesunde Zähne zwischen seinen ziemlich dicken Lippen. „Welch eine Schande, dass ich ohne einen Freund hergekommen bin, Mademoiselle Lisette. Dann wäre Eure Begleiterin sicher nicht so streng, möchte ich wetten.“
Elf beschloss, ihre Rolle zu spielen, und setzte ein affektiertes Lächeln auf. „Da habt Ihr zweifellos recht, Hauptmann. Aber wie Ihr seht, bleibt sie mir auf den Fersen.“ Der Hauptmann drehte sich zu Amanda um und schlang seinen anderen Arm um sie. „Ich bin ein starker Mann“, erklärte er mit einem lauten, dröhnenden Lachen. „Ich werde mit euch beiden fertig, keine Angst!“
„Da bin ich mir ganz sicher, Sir“, säuselte Elf, der diese Schauspielerei anfing, Spaß zu machen. Sie strich über seine behaarte Hand. „Ich mag starke Männer.“ Amandas Augen blitzten dringende Botschaften hinter ihrer Maske hervor, aber Elf lächelte nur. Sie waren beide bewaffnet. Sie würden im Notfall auch mit so einem starken Mann fertig werden, und immerhin war das ein Abenteuer. Und sie wollte nicht ohne ein kleines Abenteuer nach Hause gehen.
Der Hauptmann lotste sie durch die Menge, bahnte ihnen einen Weg und schützte sie vor Zusammenstößen. Er hatte je einen Arm um die beiden gelegt, seine Aufmerksamkeit galt jedoch Elf. Sie empfand die Situation nicht als unangenehm, denn sie betrieben etwas Konversation über die Gärten, das Wetter und seine letzte Stationierung in Holland. Dann, ohne irgendeine Vorwarnung, zog er Elf zu sich heran und küsste sie. Obwohl sie zurückwich und ihren Kopf wegdrehte, fanden seine Lippen ihr Ziel. Heißer Zwiebelatem überfiel sie, und sie kämpfte wütend gegen seinen Griff an. Erschreckenderweise blieb das wirkungslos. Sie hatte sich nie zuvor in der Gewalt eines kräftigen Mannes befunden und kam zu dem Schluss, dass es ihr kein bisschen gefiel. Ihre Gegenwehr zwang ihn, Amanda loszulassen. Zu Elfs Schrecken sah sie, wie ihre Freundin den Dolch zog. Sie wehrte sich noch heftiger, um den Hauptmann vor dieser gefährlichen Attacke zu warnen, aber seine nassen Lippen versiegelten die ihren. Tatsächlich kämpfte er hart, um ihren Mund aufzuzwingen und seine Zunge hineinzustecken. Schauderhaft, aber sie sah ihre Freundin schon wegen Mordes im Kerker sitzen und den unvermeidlichen Skandal!
Brüllend sprang der Hauptmann zurück und gab Elfs Mund frei. Offensichtlich hatte Amanda zugestochen. „Aimée, nein!“, schrie Elf, als sie sah, wie ihre Freundin die Hand nochmals erhob.
Die Leute rundherum waren stehen geblieben und starrten den wütenden Hauptmann und die zwei Frauen an. Bevor sich jemand zum Eingreifen entschließen konnte, warf sich Elf wieder in seine Arme und schimpfte: „Aimée, lass das!“ Amanda steckte den Dolch wieder ein und sah erschöpft, aber auch ein bisschen erschrocken über ihre eigene Courage aus. „Das macht sie nur, weil sie eifersüchtig ist, Monsieur“, sagte Elf besänftigend und mit starkem englischen Akzent, während sie den Schnitt in seinem Ärmel berührte. „Seid Ihr sehr schlimm verletzt?“
Der Hauptmann reckte sich. „Nur ein Flohbiss. Aber ich könnte diese Dame vor Gericht bringen, weil sie meinen Mantel zerrissen hat!“
Er zog ein Taschentuch heraus, und sie half ihm, es um seinen Arm zu binden, um die Blutung zu stillen. Elf konnte nicht anders, als die Gleichgültigkeit zu bewundern, mit der er diese Wunde behandelte, die mindestens zwei bis drei Zentimeter tief sein musste.
„Seid gnädig, Capitaine. Sie ist so leicht erregbar, wisst Ihr.“ Er grinste und zog Amanda wieder an seine Seite. „Na, das klingt vielversprechend, meine hübsche Teufelin.“ Er wandte sich wieder zu Elf. „Was ist mit Euch, meine Kleine? Seid Ihr auch leicht zu erregen?“
Elf begriff, dass sie ihn bei Laune halten musste, bis die Leute um sie herum das Interesse verloren hatten und sie verschwinden konnten. Einen Seufzer unterdrückend schmiegte sie sich an ihn. „Ich weiß nicht, Monsieur. Ich bin in diesen Dingen nicht sehr erfahren.“
Ein heftiges Lachen schüttelte ihn. „Da bin ich genau der Richtige, um Eure Erfahrung zu bereichern. Oh ja, ich werde sie sehr bereichern. Das kann ich versprechen.“ Amanda stupste Elf an und flüsterte: „Nimm dich in acht!“ Elf ignorierte sie und lächelte zu dem Mann auf. „Es scheint, dass Ihr unser beider Erfahrung bereichern müsst, Capitaine.“ Seine großen, dunklen Augen glitzerten, und er leckte sich die feuchten Lippen. „Ich könnte es mit einem Dutzend aufnehmen und hätte noch nicht genug.“
„El… Lisette!“, zischte Amanda. „Er führt uns auf den Druiden-Pfad!“
Elf wünschte, Amanda würde mehr Vertrauen in ihren Instinkt zeigen. Natürlich wusste sie, dass der Hauptmann sie auf einen der schwach beleuchteten Nebenwege führte. Wie sollten sie ihm aber auch inmitten der Menge entkommen? An einem ruhigen, dunklen Plätzchen würde sie den Lüstling schon so benebeln, dass sie flüchten könnten. Unter neckischem Geplänkel ließ sie ihn sie weiter und weiter weg von den hellen Lichtern in das Reich der Schatten und Geheimnisse führen. Als schließlich eine Biegung sie ganz gegen den Südweg abschirmte, entwand sie sich ihm und tat so, als studiere sie ihn voller Bewunderung. „Mon Dieu, Capitaine, Ihr seid ein Bild von einem Mann“, schmachtete sie. „Ihr müsst der größte Mann in Eurem Regiment sein.“
Er ließ von ihr ab und streckte sich. „Einer der größten, jawohl, und der stärkste. Und“, fügte er hinzu und klopfte auf seinen gewölbten Schritt, „überall gut gebaut.“ Er machte einen Schritt, um Elf wieder in den Arm zu nehmen, aber sie entwischte ihm und betrachtete ihn jetzt von hinten. „Solche breiten Schultern. Ein Herkules von einem Mann! Sicherlich könnt Ihr eine Kanone mit einer Hand tragen.“
„Beinah, beinah.“ Er drehte sich zu ihr um, aber sie bewegte sich so, dass sie immer hinter ihm stand und er sich permanent um sich selbst drehte. „He, meine Schöne, bleibt stehen, damit ich Euch auch bewundern kann!“
„Dafür werden wir noch genügend Zeit haben. Zuerst will ich Eure wunderbare Erscheinung betrachten …“ Sie ließ ihn sich noch ein paarmal um sich selbst drehen, dann sagte sie: „Ihr solltet auch meine Cousine küssen, damit sie nicht wieder eifersüchtig wird.“
Sie hatte ihn so schwindlig gemacht, dass er stolperte, als er sich wieder Amanda zuwandte. Sie stieß ihn so fest sie konnte, griff dann nach Amandas Hand und rannte zurück in Richtung der Lichter.
Aber er hielt mehr aus, als sie gedacht hatte, und geriet durch ihren Stoß nur ein wenig ins Schwanken. Amanda zögerte einen Augenblick, bevor sie verstand, und wurde aus Elfs Griff gerissen.
Elf blieb stehen, entschlossen, die Freundin zu retten, doch die riss sich selbst los und lief in die entgegengesetzte Richtung, auf den überfüllten Südweg zu. „Lauf!“, schrie sie und rannte selbst auf den wohlbeleuchteten Teil des Parks zu. Mit einem übermütigen Lachen raffte Elf ihre Röcke und lief den verlassenen Druiden-Pfad hinunter, während sie den Hauptmann hinter sich keuchen hörte.
Laternen waren hier sehr rar und der Weg verschlungen. Elf passierte ein eng umschlungenes Paar auf einer Bank und ein paar raschelnde Büsche.
Nach einigen Augenblicken blieb sie schwer atmend stehen. Teufel noch mal! Die Jahre als feine Dame hatten an ihren Kräften gezehrt.
Dann hörte sie stampfende Schritte. Sie war ihn immer noch nicht los.
Sie tauchte in die Büsche ab, die den Pfad säumten, und versuchte, sich so leise wie möglich einen Weg zu bahnen. Sie hörte Seide reißen und fürchtete um Amandas hübsches Cape.
Wenigstens brauchte sie sich nicht um ihre Freundin zu sorgen, solange diese nicht zurückkam, um ihr zu helfen. Dichtes Gebüsch und dunkle Schatten formten eine unheimliche, fremde Welt, aber sie passierte auch ein paar Lichtungen. Ob von der Natur oder von Menschenhand angelegt, erfüllten sie ihren Zweck. Sie stolperte beinah über ein Paar in flagranti. Ihre instinktive Entschuldigung wurde von dem aufspringenden Mann mit einem Fluch erwidert. Sie konnte ein Kichern kaum unterdrücken und eilte weiter.
Sobald sie sich außer Hörweite dieser beiden befand, blieb sie stehen, um zu horchen.
In der Ferne krachten Feuerwerkskörper. Der verschmähte Liebhaber brüllte immer noch ihren Namen. Aber jetzt mischten sich andere Stimmen ein, die ihn aufforderten, den Mund zu halten und zu verschwinden. Das Unterholz schien von Liebespaaren nur so zu wimmeln!
Der Hauptmann hatte nun offensichtlich ihre Spur verloren. Ihr Plan hatte also funktioniert.
Dann wurde er still, und sie begann erneut, sich zu fürchten. Sie hatte ihn zum Narren gehalten, und er wirkte nicht wie jemand, dem das nichts ausmachen würde. Außerdem schien er nicht ganz dumm. Sie nahm an, dass er ebenfalls stehen geblieben war und wie ein guter Jäger horchend darauf wartete, dass sie sich durch irgendein Geräusch verriet. Sie begann, sich möglichst leise von dort zu entfernen, wo sie ihn zum letzten Mal gehört hatte, auf der Hut vor weiteren verborgenen Paaren. Manchmal konnte sie sich zwischen Büschen oder Baumstämmen hindurchzwängen, aber an anderen Stellen zwang das dichte Gestrüpp sie zu Umwegen. Bald hatte sie sich hoffnungslos verirrt.
Sie blieb in der völligen Dunkelheit eines dichten Eibengehölzes stehen, um nachzudenken. Das Feuerwerk war zu Ende, und kein Geräusch war zu hören.
Amanda war in Sicherheit, dachte sie, solange sie sich nicht wieder in das Wegegewirr stürzte, um nach ihr zu suchen. Tatsächlich konnte sie nichts anderes für ihre Freundin tun, als so schnell wie möglich auf den Südweg zurückzukehren. Um das ungefährdet in die Tat umzusetzen, musste sie wohl oder übel die Wege meiden. Das hieß, sich querfeldein durch die Büsche schlagen, bis sie Musik hörte. Es machte ihr Angst, dass sie sie jetzt nicht hören konnte, denn das bedeutete, dass sie sich weit vom Zentrum der Gärten entfernt haben musste. Sie konnte nicht einmal irgendwelche stöhnenden Liebespaare hören. Sie fühlte sich ganz allein inmitten der Natur. Dieser dunklen, schweigenden, ominösen Natur … Dann überlegte sie sich, dass sie eigentlich gar nicht fern der Wege bleiben musste, solange sie aufmerksam war und darauf gefasst, wieder ins Gebüsch abzutauchen, sobald sie den Hauptmann sah.
Oh, ihr armer Umhang. Was für ein Bild würde sie abgeben, wenn sie schließlich wieder ins Licht trat! Da kam ihr eine Idee. Möglichst geräuschlos nahm sie das üppige Kleidungsstück ab und drehte es herum, mit der dunklen Innenseite nach außen. So würde sie es nicht nur vor Beschädigung schützen, sondern auch weniger auffallen als mit dem leuchtenden Rot. Und wenn sie schließlich wiederauftauchte, konnte sie es erneut wenden und einigermaßen ordentlich aussehen.
Danach setzte sie ihren Weg fort. Doch schon bald vernahm sie Schritte auf dem nahe gelegenen Pfad. „Das sollte genügen“, hörte sie die leise und sanfte Stimme eines Mannes.
Gott, musste sie jetzt vielleicht eine schmutzige Verführungsszene mit anhören?
„Es ist ruhig genug“, erwiderte eine andere leise männliche Stimme. „Also, was wollt Ihr?“
Trotz ihres behüteten Lebenswandels wusste Elf über vieles Bescheid und befürchtete schon, Ohrenzeuge einer homosexuellen Begegnung zu werden. Die folgenden Worte zerstreuten diese Befürchtung jedoch sofort. „Euer Engagement für die Sache ist infrage gestellt worden, Mylord. Es herrschen erhebliche Zweifel.“
„Bei wem?“
Elf schien plötzlich, dass sie diese Stimme mit dem leicht schleppenden Tonfall kannte. Doch sie war sich nicht ganz sicher.
„Bei denen, die mehr zu verlieren haben als Ihr.“
„Ich bezweifle, dass irgendjemand von ihnen mehr zu verlieren hat als ich.“
„Ja, aber das ist vielleicht der Grund für ihr Misstrauen.“ Die Stimme offenbarte einen schottischen Akzent und verlor deutlich an Respekt. „Was würdet Ihr gewinnen, wenn wir siegten, Mylord?“
„Dass die Gerechtigkeit siegt“, erwiderte der Lord hörbar verärgert. „Die Rückführung der Stuarts auf ihren rechtmäßigen Thron.“
Bei diesen Worten hatte Elf das Gefühl, jemand würde ihr Eiswasser über den Rücken gießen.
Verrat.
Sie sprachen von Hochverrat!
Aber diese Jakobiten-Sache war doch schon vor siebzehn Jahren von den 45ern niedergeschlagen worden. Und die Köpfe der letzten Lords, die sich dafür stark gemacht hatten, verrotteten immer noch in Temple Bar. Elf hatte von Beginn an wie erstarrt dagestanden, aber jetzt versuchte sie sogar, ihren Atem zu bremsen. Liebestolle Hauptmänner waren eine Kleinigkeit im Vergleich zu Verschwörern. Wenn diese Männer sie hier fänden, würden sie ihr die Kehle durchschneiden.
Zentimeter für Zentimeter und bei jedem Rascheln ihrer Kleider erstarrend, zog sie den Dolch aus ihrem Mieder. Auch wenn es nur ein kleines Ding war, mit einer Klinge, die nicht länger war als eine Hand, war es doch besser als gar nichts. „Ich bezweifle, dass Ideale Euch bewegen, Mylord“, sagte der Schotte. „Vielleicht erhofft Ihr Euch eine Machtposition unter dem neuen Regime. Aber Ihr müsst bedenken, dass es da viele andere mit Ansprüchen gibt, Ansprüchen, die zum Teil schon seit Generationen bestehen.“
„Meine Familie hat auch einen Anspruch.“ Konnte er ein schottischer Lord sein? Es gab nur wenige Engländer, die die Stuarts unterstützt hatten, und manche Schotten hatten keinen Akzent.
Der Lord ergriff wieder das Wort, diesmal mit hörbarer Verachtung. „Wenn Ihr meine Hilfe nicht wollt, sagt es nur. Ich werde sie Euch nicht aufdrängen. Aber wie Ihr ohne mich in die Nähe des Königs gelangen wollt, kann ich mir nicht vorstellen.“
„Ihr wisst zu viel, als dass man Euch so gehen lassen könnte, Mylord.“
Eine neue Drohung hing in der Luft, und Elfs Herz raste. Mord? Konnte sie wirklich hier stehen und nichts tun, selbst wenn es sich um Verräter handelte?
Der Lord scherte sich jedoch offensichtlich nicht um die Gefahr. „Droh mir nicht, Murray. Ich habe eine genaue Beschreibung des Plans für den Fall meines plötzlichen Todes hinterlegt. Außerdem bin ich sehr wohl in der Lage, auf mich selbst aufzupassen.“ Elf hörte das tödliche Sausen eines gezogenen Schwerts.
Die lange Stille, die folgte, hätte Elf glauben machen können, sie sei allein, aber die beiden konnten ja nicht völlig geräuschlos verschwunden sein.
„Gemach, Mylord“, sagte der Schotte schließlich, mit leichter Nervosität in der Stimme. „Wir brauchen keine Schwerter. Es ist nur so, dass bei uns allen die Nerven blank liegen, je näher der Zeitpunkt rückt. Schließlich könntet Ihr auch ein Mann des Königs sein, ein Agent provocateur.“ Der Lord lachte. „Absurd. Da bist du eher einer. Natürlich würde ein Mann diese Rolle für Geld übernehmen, aber das Einzige, woran es mir nicht mangelt, ist Geld. Sind wir jetzt fertig hier?“
Der Lord hatte offensichtlich die Kontrolle über die Situation wiedergewonnen, denn die Stimme des Schotten hatte einen unterwürfigen Ton, als er sagte: „Jawohl, Mylord.“
„Dann ersucht mich nicht mehr um derartige Treffen. Wir müssen uns nur noch kurze Zeit gedulden, und Begegnungen wie diese sind gefährlich und unerquicklich.“
„Jawohl, da habt Ihr zweifellos recht, Mylord.“ Dann zeigten endlich knirschende Schritte Elf an, dass sie fortgingen.
Sie holte tief Luft und begann zu zittern. Herr im Himmel, was sollte sie nur machen? Jemand plante, dem König etwas Schreckliches anzutun, dem zweifellos eine bewaffnete Invasion folgen sollte! Sie musste das verhindern.
Während ihr Herz raste, warf sie sich vor, dass eine echte Abenteurernatur eine Möglichkeit gefunden hätte, hinüberzuspähen und den englischen Lord zu identifizieren. Sie dagegen hatte wie ein erschrockenes Kaninchen einfach bewegungslos dagestanden. Jetzt, mit der noch frischen Erinnerung, versuchte sie einen Namen oder ein Gesicht mit der Stimme zu verbinden. Aber obwohl sie ihr bekannt vorkam, fiel ihr niemand ein.
Er hatte sehr leise gesprochen, aber irgendetwas in seiner Stimme war ihr vertraut gewesen. Ein junger Mann. Sie konnte fast seine stolze Statur sehen, den arroganten Blick …
Nein, es fiel ihr einfach nicht ein.
Vielleicht würde es ihr in den Sinn kommen, wenn sie aufhörte, darüber nachzudenken, oder wenn sie ihm bei nächster Gelegenheit begegnete. Jetzt musste sie von hier weg, Amanda finden und sicher nach Hause kommen.
Sie würde sofort nach Malloren House fahren und mit Rothgar sprechen.
Da erst erinnerte sie sich, dass er nicht da war. Keiner ihrer Brüder war greifbar. Das Fehlen ihrer Beschützer wurde jetzt zu einem echten Problem.
Sie rechnete, wie lange es dauern würde, einem von ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen, während sie sich durch das Gebüsch auf den nahen Weg schob. Als sie aus den Sträuchern hervortrat, sah sie einen Mann in den nahen Schatten, der ganz in Gedanken versunken war. Er war stämmig, in Zivil gekleidet, mit blondem Haar unter einem Dreispitz. Sie erstarrte und versuchte dann, sich wieder in ihr Versteck zurückzuziehen. Aber es war zu spät. Er blickte auf und entdeckte sie.
Sie hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen, aber da er nur eine kleine Maske trug, hätte sie ihn leicht wiedererkannt. Und das wusste er.
Panik trat an die Stelle von Überraschung. Er stürzte auf sie zu und packte ihren Arm. Elf rammte den Dolch bis auf den Knochen in sein Handgelenk. Als er aufheulte, rannte sie um ihr Leben und betete, dass sie die richtige Richtung gewählt hatte.
Der Mann hatte versucht, seinen Schmerzensschrei zu unterdrücken, und jetzt war nur noch das Geräusch seiner Füße zu hören, die sie wie eine drohende Trommel hinter sich vernahm. Oder vielleicht trommelte auch nur der rasende Puls in ihren Ohren …
Atemlos in den verschlungenen Wegen verloren, dachte Elf kurz daran, sich wieder in die Büsche zu schlagen. Aber ihr Verfolger war ihr schon zu nah auf den Fersen. Was sie brauchte, waren Leute. Irgendwelche Leute.
Sie hätte sich auf ein Pärchen mitten im Liebesakt geworfen, nur um Schutz zu finden.
Mit Freuden wäre sie jetzt ihrem Hauptmann begegnet. An einer Kreuzung aus drei Wegen blieb sie stehen, schnappte nach Luft und lauschte auf irgendwelche Geräusche. Sie hörte schwach das Orchester, aber es waren weit und breit keine Leute zu sehen.
Ein schneller Blick über die Schulter zeigte ihr, dass der Mann sie fast erreicht hatte, also nahm sie ihre Beine wieder in die Hand und rannte auf die Musik zu. Nach einer Biegung sah sie Lichter!
Vor ihr glitzerte der Südweg wie das Paradies, aber ihr Verfolger keuchte nur wenige Zentimeter hinter ihr. Eine Hand griff nach ihrem Umhang.
Sie wand sich aus ihm heraus und stürzte weiter, ihr Herz schlug zum Zerspringen, mit einer Hand hielt sie den Dolch umklammert.
Wenn sie stehen blieb, würde das ihren Tod bedeuten. Näher als die Lichter war eine Gestalt, die sich zu ihnen umdrehte, eine dunkle Silhouette vor dem Schein der entfernten Laternen.
Ein hochgewachsener Mann in dunklen Kleidern.
Es war ihr egal, wer er war. „Helfen Sie mir!“, schrie sie und warf sich an seine Brust.
Instinktiv schlang er seine Arme um sie und schwankte unter ihrem Schwung.
Im letzten Moment erkannte sie ihn voller Erleichterung trotz der eng anliegenden schwarzen Maske. „Gott sei Dank!“, keuchte sie.
Sie hatte sich in die Arme ihres Schwagers, des Earl of Walgrave geworfen. Sie war in Sicherheit. Sie war in Sicherheit …
An seiner starken Brust zusammengesunken, rang sie nach Luft.
„Sie hat alles gehört“, keuchte die schottische Stimme hinter ihr. „Sie muss sterben.“
Drittes Kapitel
Elf erstarrte vor Schreck, immerhin erkannte sie jetzt die vertraute Stimme. Sie hatte sich in die Arme ihres Schwagers, Lord Walgrave, geworfen, aber der war zum Verräter geworden. Es gab keinen Sinn. Es ergab überhaupt keinen Sinn.
Wozu brauchte einer der mächtigsten und reichsten Männer des Königreichs die Stuarts und Rebellen? Aber dann erinnerte sie sich, dass sein Vater während der Invasion von 1745 mit den Jakobiten sympathisiert hatte. Dieser Unsinn hatte Rothgar Macht über den alten Earl gegeben, was den alten Mann schließlich in den Wahnsinn getrieben hatte. Ihr atemloser Verstand kämpfte um eine neue Strategie. Sie bezweifelte, dass Walgrave sie erkennen würde. Würde er mit ansehen, wie eine unbekannte Frau ermordet wurde? Würde es ihr helfen, sich zu erkennen zu geben? Er hasste die Mallorens.
Sie packte ihren Dolch fester, auch wenn sie nicht glaubte, sich damit zweier starker Männer erwehren zu können. Endlich begann Walgrave zu reden. „Sterben?“, sagte er leichthin und schlang die Arme noch fester um sie. „Sapperlot, dieses hübsche Vögelchen besitzt nicht den Verstand, mehr zu begreifen als ihre Frisur. Außer Sie zwingen ihrem Hirn etwas auf.“
„Ihr kennt sie, Mylord?“
Elf riskierte einen Blick und sah, dass der Schotte den langen, bedrohlichen Dolch noch immer in der Hand hielt.
Walgrave seufzte wie unter einer schweren Last. „Sie ist meine derzeitige Mätresse und schrecklich eifersüchtig.“ Elfs Kinn wurde nicht gerade sanft hochgehoben. „Ich werde dich dafür bestrafen, Kätzchen. Es geht wirklich nicht, dass du mir nachspionierst und dich in meine Angelegenheiten einmischst.“
Ein Zittern durchfuhr sie, als sie echten Zorn in seinen Augen blitzen sah. Offensichtlich war es aber keine mörderische Wut, also musste sie sein Spiel mitspielen. „Es tut mir so leid, Monsieur“, säuselte sie und hatte keine Schwierigkeiten, Nervosität in ihre Stimme zu legen. Sie fuhr auf Französisch fort: „Ich war mir ganz sicher, dass Ihr mit ihr herkommen würdet.“
Gewandt antwortete er ihr in derselben Sprache: „Selbst wenn ich mich entscheiden sollte, mit anderen Frauen zu verkehren, hast du kein Recht, mir nachzuspionieren oder dich einzumischen, oder?“ Er unterstrich seine Worte mit einem wirklich schmerzhaften Kneifen, sodass sie aufschrie. „Nein, Mylord!“
„Siehst du“, sagte er auf Englisch zu dem anderen, „sie stellt keine Gefahr dar.“
Der Dolch des Schotten blinkte. „Bei allem nötigen Respekt, Mylord, sie könnte auch durch gedankenloses Geschwätz Schaden anrichten.“
„Ihr Englisch ist dazu nicht gut genug, aber ich gedenke sowieso, sie unter Verschluss zu halten. Mach dir keine Sorgen. Sie wird mit niemand darüber reden.“ Mit diesem Satz und ohne die blinkende Klinge zu beachten, stieß sie der Earl in Richtung des erleuchteten Südwegs. Auch wenn Elfs Herzschlag sich langsam normalisierte, zitterten ihre Knie immer noch. Es fiel ihr nicht schwer, sich noch mal an Walgrave zu schmiegen und zu flüstern: „Merci, Monsieur!“
„Bedanke dich nicht zu früh“, riet er ihr auf Französisch. Er hatte zwar nicht ihre perfekte Aussprache, aber sein Französisch war trotzdem ausgezeichnet. „Mein schottischer Freund wird uns sicherlich folgen, und ich meine, was ich sagte. Du bist meine Gefangene.“
„Eure Gefangene? Das könnt Ihr nicht tun!“
„Was sollte mich daran hindern? Wer auch immer du bist, kleines Biest, du bist deinen Aufpassern entwischt und hast dich in ein gewagtes Abenteuer gestürzt. Was bedeutet, dass ich dich leicht verschwinden lassen kann. Steck dieses Spielzeug weg“, fügte er mit Blick auf ihren Dolch hinzu. „Es wird dir nichts nützen.“
Elf schob den Dolch zurück in ihr Mieder und murmelte: „Immerhin hat er mich vor diesem Mann gerettet.“ Ihre Nerven begannen, sich zu beruhigen. Ein bisschen wenigstens.
Sie waren immer noch gespannt wie die Saiten einer Harfe, aber die Kräfte kehrten in ihre Glieder zurück, und sie konnte wieder klar denken. Walgrave hatte sie nicht erkannt.
Das war nicht überraschend, denn schließlich war sie maskiert. Die größte Gefahr war ihre Stimme, denn sie waren sich oft genug begegnet. Aber wenn sie nur Französisch sprachen, würde das vielleicht als Tarnung genügen. Als sie sich wieder unter die feiernde Menge mischten, betete sie, dass es funktionieren würde. Denn bei seinem Hass auf die Mallorens würde er sie sonst vielleicht in die Gewalt dieses mordlustigen Schotten zurückstoßen. Außerdem durfte er, falls es ihr gelang zu fliehen, nie erfahren, wen er gerettet hatte, besonders wenn er in eine Verschwörung verwickelt war.
Hochverrat!
Gott, aber es ergab überhaupt keinen Sinn. Sie hatte ihn für einen Lebemann gehalten, einen gefühllosen Menschen und einen bösartigen Feind. Sie hätte ihn nie für verrückt gehalten. Sie würde später darüber nachdenken. Zunächst musste sie ihn täuschen, bis sie fliehen konnte. Sie hoffte, dass er immer noch Lebemann genug war, um sich von einer koketten Französin bezirzen zu lassen.
„Bitte, lassen Sie mich nach Hause gehen, Mylord. Seien Sie nicht grausam!“
„Grausam? Glaub mir, Kindchen, ich bin ein ehrenhafter, perfekter Ritter. Es geht mir wider die Natur, also stellt mich nicht infrage.“
„Oh, das tue ich nicht, Mylord. Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen, Mylord! Sie waren wundervoll!“ Je dümmer sie wirkte, desto weniger verdächtig wäre sie. Sie erinnerte sich an Amanda und ließ den Blick über die Menge schweifen. Dieses Unternehmen war Elfs Idee gewesen, und sie musste sicher sein, dass ihre Freundin unbehelligt nach Hause kam. Elf konnte aber nirgends ein silberblaues Cape entdecken. Walgrave bahnte ihnen den Weg zum Ausgang, wie Moses das Rote Meer geteilt hatte. Obwohl er inkognito und in schlichtes Schwarz gekleidet war, schien irgendetwas in seinem Auftreten gewöhnliche Sterbliche zur Seite treten zu lassen.
Wo war Amanda?
Sie musste wissen, dass ihre Freundin in Sicherheit war. Sie musste auch sichergehen, dass sie nicht Alarm schlug. Elf hoffte, im Morgengrauen zu Hause zu sein, sodass niemand ihre verrückte Eskapade bemerken würde, aber wenn Amanda nach Hause eilen und Alarm schlagen würde, wären sie in großen Schwierigkeiten.
Elf begann zu verzweifeln, aber als sie sich dem Fluss näherten, musste sogar Walgrave sein Feldherrentempo verlangsamen. Elf konnte sich genauer umsehen und entdeckte schließlich eine Lady in einem blauen Umhang, die auf einer Bank unter einem Baum stand und mit verzweifeltem Ausdruck die Menge absuchte. Amanda hatte sogar ihre Maske abgenommen und sah äußerst panisch aus.
Elf heftete ihren Blick auf sie, als ob sie so Amandas Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte. Zweimal glitt der Blick der Freundin über sie hinweg. Dann erinnerte sich Elf, dass Amanda nach einem leuchtenden Rot Ausschau halten würde und sie immer noch die schwarze Innenseite des Capes nach außen trug. Schnell schlug sie es zurück und gab die rote Seide frei. Amandas Augen strichen wieder über sie, kamen zurück und blieben schließlich auf ihr ruhen.
Mit einem strahlenden Lächeln der Erleichterung winkte Amanda und sprang von der Bank herunter. Elf seufzte ärgerlich. Amanda konnte sich in Gefahr bringen, besonders weil Walgrave sie so erkennen musste.
Einen Moment lang überlegte sie, ob sie sich das zunutze machen könnte, um zu entkommen. Er würde sicher nicht versuchen, sie beide gefangen zu halten. Aber dann erinnerte sie sich wieder an den Schotten.
Sie konnte Amanda nicht unmaskiert in eine derartige Gefahr bringen!
Mit dem Blick auf die Menge vor ihnen gerichtet, stieß Walgrave sie vorwärts, während sie unverwandt in die Richtung sah, aus der Amanda kommen musste. Sobald ihre Freundin sich durch die Menge geschoben hatte, hob sie abwehrend die Hand. Amanda blieb mit fragendem Gesichtsausdruck stehen. Elf machte eine verscheuchende Handbewegung und hoffte, dass Amanda sie als ‚Geh nach Hause!‘ verstehen würde. Am äußersten Ende der Vauxhall Lane wurde Walgrave nochmals aufgehalten. Er murmelte einen Fluch, seine Aufmerksamkeit auf die Leute vor ihnen gerichtet, die den Durchgang versperrten.
Elf drehte den Kopf und sagte wortlos: „Geh nach Hause. Ich bin in Sicherheit.“
Amanda runzelte die Stirn und deutete auf Amandas Begleiter. Dann öffnete sie voller Erstaunen den Mund. Einen Augenblick später riss sie auch die Augen in überraschter Begeisterung auf.
Walgrave bahnte sich einen Weg durch die Menge und schob sie auf die Vauxhall Lane. Um Himmels willen! Amanda glaubte, sie sei freiwillig auf dem Weg zu einer leidenschaftlichen Nacht mit dem Mann ihrer Träume. Als sie auf den Vauxhall-Kai zusteuerten, sah Elf die gute Seite dieser lächerlichen Situation. Amanda würde es zwar nicht gutheißen, aber sie würde auch nicht Alarm schlagen und so riskieren, Elfs Ruf für immer zu ruinieren. Und Amanda würde in Sicherheit sein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ein Mietsboot fand, das sie zum Kai nahe der Warwick Street brachte. Ein Diener war angewiesen worden, den ganzen Abend dort zu warten, um die Damen nach Hause zu begleiten. Natürlich würde dort jetzt nur eine Lady auftauchen, aber Amanda würde sich eine plausible Erklärung dafür einfallen lassen.
Jetzt musste Elf sich auf ihre eigene Sicherheit und diese seltsame Verschwörung konzentrieren.
Sie brauchte ihre Brüder, aber es konnte Tage dauern, bis einer von ihnen hier eintraf. Sie hatte keine Ahnung, wann die Sache stattfinden sollte. Walgrave hatte angedeutet, dass sie nur für ein paar Tage seine Gefangene sein würde. Der Schotte hatte gesagt, der Zeitpunkt sei nahe.
Sie konnte also nicht bloß einfach auf ihre Brüder warten. Sie musste selbst etwas unternehmen. Neben ihrer Sorge und Angst verspürte sie zugegebenermaßen auch den Kitzel des Abenteuers.
Wenigstens war sie endlich auch einmal selbst herausgefordert, und ihr Malloren-Herz jubilierte. Endlich verstand sie, warum sich ihr Zwillingsbruder ein schwieriges und gefährliches Leben ausgesucht hatte. Wahrscheinlich wegen dieses Prickelns im Blut. Also, was sollte sie tun?
Während sie Walgrave erlaubte, sie hinunter zu den Booten zu führen, dachte sie über ihre Optionen nach. Sie würde nach ihren Brüdern schicken, aber in der Zwischenzeit musste sie handeln.
Elf machte im Geiste eine Liste der Dinge, die zu tun waren, gerade so, als ob sie ein großes gesellschaftliches Ereignis planen würde.
Als Erstes musste sie Walgrave entkommen, ohne dass er erfuhr, wen er in seiner Gewalt gehabt hatte. Zweitens musste sie so viel wie möglich über diese Verschwörung erfahren.
Sie fragte sich, ob sie diese beiden Punkte tauschen sollte. Wenn sie bei Walgrave blieb, konnte sie vielleicht mehr über den Plan herausfinden. Aber nein. Sie bezweifelte, dass der Earl Pläne für ihre gemeinsam zu verbringende Zeit hatte, die eine Erörterung seiner politischen Anschauungen einschloss. Drittens? Die Verräter dingfest machen und ihrer gerechten Strafe zuführen. Ohne dass Walgrave auf dem Schafott endete. Sie erinnerte sich, dass sie erst gestern Chastity versprochen hatte, solches Unheil zu verhindern, und wäre beinah in hysterisches Gelächter ausgebrochen.
Die Strafe für Hochverrat war Tod durch den Strang, Strecken und Vierteilen, auch wenn die Jakobiten damals enthauptet worden waren. Sie schielte zu dem Mann neben ihr hinauf eine scharf geschnittene, arrogante Erscheinung, braunes, lockiges Haar, das von einer schwarzen Schleife zusammengehalten wurde.
Sollte dieser hübsche Kopf wirklich von einem Beil abgetrennt auf einer Speerspitze über einer öffentlichen Durchfahrt verrotten?
Sie konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Und er wäre auch nicht der einzige Leidtragende. Ein Verräter wurde automatisch geächtet, was bedeutete, dass sein Titel annulliert und sein gesamter Besitz eingezogen würde. Chastity würde von der Schande getroffen, ebenso Cyn. Ein Hochverräter als Schwager würde seine Karriere bei der Armee definitiv ruinieren!
Die Gefahren und weitverzweigten Folgen der Situation ließen Elfs Zuversicht in ihre Fähigkeit, mit der Sache fertig zu werden, schwinden. Sie hatte absolut-keine Idee, was sie tun sollte. Sie wünschte aus ganzem Herzen, Rothgar wäre bei ihr. Schwach würde sie alle Verantwortung in seine fähigen Hände legen und sich lieber wieder der Planung großer gesellschaftlicher Ereignisse widmen.
Aber sie war jetzt die Einzige hier, die tun konnte, was getan werden musste. Also musste sie es tun. Und das Erste, was sie tun musste, war fliehen.
Sie spürte, wie sich der Arm des Earls entspannte. Sie nutzte ihre Chance und wand sich aus seinem Griff. Er reagierte jedoch sofort und riss sie mit solcher Gewalt an sich, dass sie um ihre Rippen fürchtete.
„Wenn du mir Schwierigkeiten machst“, sagte er mit gesenkter Stimme, „werde ich dir noch viel mehr wehtun.“ Schaudernd gestand Elf sich ein, dass er es ernst meinte. Selbst wenn er ein verrücktes junges Mädchen gerettet hatte, war er bereit, im Notfall auch Gewalt anzuwenden. Sie wünschte, sie hätte ihn besser gekannt, um sein Verhalten besser einschätzen zu können. Vor Cyns Beziehung zu Chastity waren sich die Wares und Mallorens selten begegnet. Lord Thornhill – wie Walgrave damals noch hieß – hatte selbstverständlich nicht dieselben Orte aufgesucht wie eine Dame. Er hatte schließlich den Ruf, ein liederlicher Müßiggänger zu sein.
Dieser Eindruck hatte sich auch bei näherem Kennenlernen nicht gewandelt. Elf hielt ihn für jähzornig, arrogant und rücksichtslos gegenüber den Menschen, die seinen Weg kreuzten. Da sie selbst aus einer Familie mit engem Zusammenhalt stammte, war sie schockiert darüber gewesen, wie wenig ihn das Wohlbefinden seiner Schwestern kümmerte. Rothgar hatte ihn gezwungen, zuzugeben, dass sie alle Opfer des ruchlosen Ehrgeizes ihres Vaters gewesen waren, aber Walgrave war dafür nicht besonders dankbar. Nach dem Tod seines Vaters schien er seine Ansichten geändert zu haben, aber er war noch kälter geworden und legte eine düstere Bosheit allem gegenüber an den Tag, was mit den Mallorens zusammenhing. Weiß Gott, warum.
Er konnte sicher nicht behaupten, seinen machtgierigen Vater geliebt zu haben, und selbst wenn, warum gab er Rothgar die Schuld am Tod des vierten Earls? Selbst wenn Rothgar den Abzug gedrückt hatte, dann nur, weil er es tun musste. Was auch immer die Wahrheit war, Walgrave schien sich große Mühe zu geben, in jeder Hinsicht in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, auch was die Feindschaft mit den Mallorens betraf.
Es war, wie sie ja auch Amanda gesagt hatte, absolut verrückt, eine körperliche Zuneigung zu diesem Mann zu verspüren. Aber selbst jetzt, im wahrsten Sinne des Wortes eine Gefangene in seinen unfreundlichen Armen, konnte sie diese erotische Kraft spüren. Sie fühlte sie tief in ihrem Inneren, wo sich ein lüsterner Teil ihres Selbst hoffnungsvoll regte. Oh du närrisches Geschöpf, schimpfte sie sich selbst. Hör auf damit!
Als Elf gegen die Stufen gestoßen wurde, blickte sie sich um, um zu sehen, ob Amanda ihnen folgte. Was sie stattdessen sah, waren drei finstere Gestalten dicht hinter ihnen. Sie trugen alle dunkle Umhänge, Dreispitze und Masken. Trotz der Masken sahen sie kein bisschen vergnügt aus. Sie sahen aus wie Mörder.
„Ja“, sagte Walgrave immer noch auf Französisch. „Bei mir bist du wirklich sicherer. Die würden dir ohne zu zögern deinen hübschen Hals durchschneiden.“
Und das waren seine Verbündeten? Wie konnte er nur so dumm sein?
„Aber hab’ keine Angst“, fügte er voller Wärme hinzu, „wenn du tust, was ich dir sage, wird dir garantiert nichts geschehen.“
Boote kamen und brachten immer noch Gäste an Land, aber es standen auch schon viele da und warteten auf eine Rückfahrgelegenheit. Elf dachte darüber nach, die Bootsmänner für ihre Flucht zu benutzen. Doch da trat ein Bediensteter mit gepuderter Perücke aus einer Gruppe wartender Diener und pfiff auf einer silbernen Pfeife. Sofort glitt eine Barke mit sechs kräftigen Ruderern heran.
Elf sah es mit Schrecken. Das waren die Männer des Earls in seiner Livree. Sie hätte es wissen müssen, denn auch Rothgar besaß so ein Boot.
In der Bootsmitte war ein Bereich mit grünen Samtvorhängen, bestickt mit dem Wappen des Earls, abgeteilt und wurde von den Laternen beleuchtet. Er schob sie hinein, nahm dann neben ihr Platz und zog die Vorhänge zu, während das Boot in die Mitte des Flusses glitt.
Hier wäre genug Raum für acht Menschen gewesen. Elf saß auf der einen Seite, während der Earl sich auf der anderen rekelte. Sie fühlte sich immer noch in der Falle, auch wenn sie jetzt allein mit ihm war. Sie machte sich keine Illusionen darüber, sich gegen ihn zur Wehr setzen zu können. Er war doppelt so breit wie sie, und sie wusste, dass er allerlei Sport betrieb, auch den neuartigen Faustkampf.
„Was werdet Ihr jetzt mit mir tun, Mylord?“, fragte sie und hatte keine Probleme, nervös zu klingen.
„Eine interessante Frage.“ Er nahm seine Maske ab und warf sie auf ein Kissen. Auch wenn es nur ein Streifen schwarzer Seide war, sah er ohne ein bisschen weniger bedrohlich aus.
Das bedeutete aber nicht, dass Elf die Gefahr unterschätzte.
„Nimm deine Maske ab“, sagte er und studierte sie auf höchst beunruhigende Weise. Hatte er sie etwa erkannt?
Elf hielt sich die Hände ans Gesicht, als wolle sie ihre Maske abnehmen, doch in Wirklichkeit versuchte sie nur Mund und Kinn zu verbergen. „Oh nein, Mylord!“
„Warum nicht?“
„Ich schäme mich, Mylord. In Wahrheit bin ich ein braves Mädchen. Ich bin nur in eine dumme Geschichte geraten …“
„Glaubst du, dass du es eine Woche mit der Maske aushalten wirst?“ Eine Spur von Amüsement huschte um seine Augen und ließ ihn noch fremder wirken … Dann drangen seine Worte bis zu ihr durch. „Eine Woche!“
„Ich kann dich nicht aus den Augen lassen, bis gewisse Dinge erledigt sind.“
Verrat, erinnerte sie sich. Wie konnte er nur so etwas tun? „Und“, fügte er hinzu, „wenn du an Flucht denkst, so vergiss die anderen Männer nicht, sie werden dich jagen und töten. Es mag seltsam klingen, aber bei mir bist du viel sicherer.“ Elf sah weg, mehr besorgt als ängstlich. Amanda würde heute Nacht nichts unternehmen, aber wenn Elf morgen nicht zurückkäme, würde sie das Militär alarmieren! Also musste sie Walgrave heute Nacht entfliehen. Sie teilte die Vorhänge und schaute auf das dunkle Wasser, die flackernden Lichter der anderen Boote und die Lichter der Werften und Gebäude am Ufer. Hier war keine Flucht möglich, und die Mörder konnten ihnen immer noch auf der Spur sein.
„Ich bin mir sicher, dass sie noch da sind“, sagte er träge. „Also, die Maske.“
Elf drehte sich zu ihm um. „Lasst sie mich noch ein Weilchen tragen, Mylord. Bitte, ich habe solche Angst.“ Er schüttelte den Kopf. „Du bist ein verrücktes Ding. Wie alt bist du überhaupt?“
„Zwanzig“, log sie.
„Alt genug auf jeden Fall. Nenn mir deinen Namen. Ich bin mir sicher, dass er falsch ist, aber irgendwie muss ich dich ja nennen.“
„Lisette. Und er stimmt.“
Nicht sehr überzeugt sagte er: „Na gut, das wird genügen.“ Er streckte eine Hand nach ihr aus.
Elf reagierte instinktiv, wie sie jedem Gentleman gegenüber reagiert hätte. Sie legte ihre Hand in die seine. Aber anstatt sie zu küssen, packte er sie und zog sie auf seinen Schoß. Mit einem Schreckensschrei stieß sie ihn vor die Brust, um ihn auf Distanz zu halten, aber mit einer einzigen Bewegung zog er sie an sich heran und hielt sie gegen seinen Körper gepresst. „Wir haben eine Reise vor uns, Lisette, und ich möchte unterhalten werden.“
Dieser Schuft! Als Lady Elfled Malloren wollte sie ihm ins Gesicht schlagen, aber sie musste die Rolle der naiven Lisette spielen. Vor allem weil auf diese geringe Entfernung die Gefahr der Entdeckung noch größer war. Sie wandte ihr Gesicht ab. „Wohin bringt Ihr mich, Mylord?“
„In mein Haus.“
Das lag nah am Fluss und hatte einen eigenen Steg. Elf begann zu fürchten, dass es ihm gelingen würde, sie tatsächlich gefangen zu halten. Sie kam nicht von diesem Boot herunter, ohne in der Themse zu ertrinken. An seinem Privatsteg mit wartenden Dienern und sechs kräftigen Ruderern konnte sie wohl auch kaum entkommen. Und einmal im Haus konnte er sie einsperren.
Sie dachte an eine Möglichkeit, ihre Position zu verbessern. Wenn er glaubte, dass ihr die Aufmerksamkeit eines adeligen Verführers schmeichelte, und er ganz verrückt vor Lust wäre, würde seine Wachsamkeit vielleicht nachlassen. Konnte sie es wagen?
Nach einem Moment kühlen Nachdenkens beschloss Elf, dass sie konnte. Die Sicherheit der Nation lag offensichtlich in ihren Händen.
Sie drehte sich wieder zu ihm um und entspannte sich. „Ich war noch nie im Haus eines Lords.“
Um ihren Kopf gesenkt halten zu können, markierte sie die Schüchterne und spielte mit den geschnitzten Knöpfen seines Mantels. Er war ebenfalls schwarz, denn in diesen Tagen trug er immer tiefe Trauer – einen einfachen schwarzen Gehrock und Breeches. Ihre Finger strichen über Wolle feinster Qualität. Selbst für einen Verräter war Lord Walgrave gut gekleidet. „Noch nie im Haus eines Lords?“ Er klang schon viel weniger wachsam. Einen Arm hielt er fest um sie gelegt, aber mit der anderen Hand strich er ihren Hals hinauf. „Dann wird das ein Abenteuer für dich sein, meine Liebe.“ Seine neckende Berührung ließ ihr Schauer über den Rücken laufen. „Du kannst die Diener herumkommandieren, in Milch baden und von goldenen Tellern essen. Wenn du nett zu mir bist, versteht sich.“ Da sah die Sache ja schon ganz anders aus. Aber sie nahm an, dass die meisten Frauen schon schwach wurden, wenn so ein hübscher junger Aristokrat nur mit dem kleinen Finger winkte. Oder sie damit berührte. Seine Hand berührte eine Stelle genau hinter ihrem Ohr, was ein so prickelndes Gefühl in ihr hervorrief, dass sie schauderte.
„Oh, Mylord, ich bin ein anständiges Mädchen“, protestierte sie wieder, ohne viel Hoffnung, ihn zu überzeugen. Würde ein ‚anständiges Mädchen‘ seine Berührungen abstoßend finden?
Wohl kaum.
„Jungfrau?“, fragte er ohne Umschweife.
Sie nickte und war jetzt wirklich verlegen.
„Ich werde vorsichtig sein. Es wird nicht zu unangenehm sein, und nach dem ersten Mal wird es immer leichter. Und jetzt“, er unterbrach sein Streicheln und hob ihr Kinn, „sag mir ehrlich, ob du eine Familie hast, die einen Aufstand machen wird.“
Wenn du wüsstest! Elf hoffte, dass er nicht in ihren Augen lesen konnte.
„Wegen meiner Abwesenheit, Mylord? Ich bin aus Frankreich zu Besuch hier und wohne bei meiner englischen Cousine. Einer verheirateten Dame.“ Sie nutzte die Gelegenheit, um ihren Kopf wieder zu senken. „Ich denke nicht, dass sie jetzt schon Alarm schlagen wird …“
„Wie außerordentlich nett von ihr.“ Seine Stimme hatte einen zynischen, wissenden Unterton. „Und was passiert, wenn du in ein, zwei Tagen noch nicht wieder auftauchst?“ Sie fuhr eine Borte an seiner Jacke entlang. „Wenn ich bei einem feinen Lord bin …“
„Wären sie nicht zu traurig. Gut.“ Seine Finger wanderten wieder zu ihrem Haar hinauf, aber diesmal, um ihr Gesicht zu ihm zu drehen. „Ich hasse Szenen, Lisette. Damit das klar ist. Ich habe nicht die Absicht, dich zu heiraten. Solltest du ein Kind bekommen, werde ich dafür aufkommen, dich aber nicht heiraten. Ich bin nicht einmal an einer dauerhaften Mätresse interessiert. Wenn ich deiner überdrüssig bin, wirst du eine großzügige Abfindung bekommen, aber ich erwarte, dass du gehst, ohne eine Szene zu machen.“
Elf schloss die Augen. Sie hoffte, dass er das als Schock interpretierte, denn sie musste ihren puren Zorn verbergen. Welche Arroganz! Und wie erbärmlich, dass täglich unzählige Frauen solche Bedingungen akzeptierten. „In Ordnung?“, fragte er.
Es interessierte ihn nicht wirklich, was sie noch wütender machte. ‚Lisette‘ war eine von vielen hundert Frauen. Sie war nur zufällig gerade verfügbar.
Elf sagte sich selbst, dass die Tatsache, dass Lisette Lady Elfled Malloren war, nichts damit zu tun hatte. Aber Lady Elf war es absolut nicht gewohnt, behandelt zu werden wie jemand, der gerade zufällig zur Verfügung stand.
Sie konzentrierte sich darauf, überwältigt und verwirrt auszusehen, und öffnete die Augen wieder. „Natürlich würdet Ihr mich nie heiraten, Mylord. Das würde ich nie erwarten! Aber es ist ein schrecklicher Gedanke, meine Unschuld preiszugeben …“
„Zu verkaufen“, verbesserte er. „Fünfhundert Guineen, wenn wir uns trennen. Genug, um einen zukünftigen Ehemann über kleine Details hinwegzutrösten.“
Elf war an Reichtum und Macht gewöhnt und hatte schon befürchtet, selbst arrogant geworden zu sein. Ihre Brüder waren sicher auch eines so kalten Fleischhandels fähig. Weil sie die Sache jedoch aus weiblicher Sicht betrachtete, war sie schockiert.
„In Ordnung?“, fragte er wieder. „Ich werde dich nicht vergewaltigen, aber wenn ich eine Woche lang auf dich aufpassen muss, werden ein paar erotische Experimente helfen, uns die Zeit zu vertreiben.“
Sie erinnerte sich selbst daran, dass das ihre Flucht erleichtern würde, und schmiegte sich enger an ihn. „Wenn Ihr versprecht, nett zu mir zu sein, Mylord“, flüsterte sie. „Braves Mädchen.“ Seine Hand streichelte wieder beruhigend ihren Hals, so wie man ein Kätzchen streichelte. „Du wirst nicht glauben, wie nett ich sein kann, Lisette. Jetzt lass mich ein bisschen mehr von dir sehen.“
Er löste die Bänder, die ihr Cape zusammenhielten, und schlug es zurück. Dann betrachtete er ihre Robe. „Meine liebe Lisette, du brauchst Unterricht, was Geschmack angeht.“
Elf stieß ihn zurück. „Wie könnt Ihr es wagen?“
„Hab ich dich endlich beleidigt, ja?“, sagte er lachend. „Meine Liebe, das ist die erschreckendste Kombination, die ich je gesehen habe.“
Jetzt hätte Elf ihn am liebsten geschlagen, aber so ein Verhalten hätte sie verraten. „Das sind meine Lieblingskleidungsstücke“, sagte sie mit schmollendem Gesicht. „Dann danken wir Gott, dass ich nicht vorhabe, dich bei Hof einzuführen.“ Er berührte ihren Schmollmund. „Zieh dich ruhig an wie ein Regenbogen, Püppchen. Ich kauf’ dir auch etwas zum Anziehen, wenn du möchtest. Aber meist werde ich dich nackt haben wollen …“ Dann bog er ihren Hals zurück und strich mit seinen Lippen über die ihren. Trotz ihrer Wut konnte Elf sich ihm an diesem Punkt noch nicht verweigern, und so ließ sie sich von ihm aus ihrer Verärgerung locken.
Er kannte alle Tricks, dieser Lord Walgrave, und wie er ihr gesagt hatte, konnte er sehr nett sein. Er zwang ihr keinen Kuss auf, sondern spielte mit ihren Lippen, während er ihren Körper streichelte, bis sie sich entspannte und ihn unbewusst erwiderte.
Elf war bisher ein- oder zweimal geküsst worden, aber – als Lady Elfled – noch nie mit so viel Raffinesse. Selbst ihre größten Verehrer waren immer auf der Hut vor Rothgar gewesen. Walgrave wusste nicht, dass er auf der Hut sein musste. Er fühlte sich in diesem Moment kein bisschen bedroht, sondern völlig entspannt.
Nachdem er ihren ersten Widerstand besänftigt hatte, festigte er seinen Griff und brachte seine Zunge ins Spiel. Elf kämpfte einen Moment lang, entspannte sich dann aber. Sie wurde von einem Meister dieses Fachs geküsst und konnte es ebenso gut genießen.
Sie führte ihre Hände seine Schultern hinauf bis zu seinem Hals, während er mit ihrem Mund spielte. Sie wusste nicht, was er empfand, aber für sie war es fast genauso angenehm, seine Haut zu berühren wie selbst berührt zu werden. Sie genoss seine Haut unter ihren Fingerspitzen, seine Zunge in ihrem Mund und seinen Körper ganz nah an ihrem. Die Lust steigerte sich schneller, als sie es je für möglich gehalten hatte …
Dann spürte sie, wie er seine Hand zwischen sie schob, um ihre Brüste zu streicheln. Selbst durch den Stoff ihres Mieders und Unterhemds beängstigte diese Berührung sie. Er öffnete die Haken auf der Vorderseite ihres Kleides und schob es auseinander, sodass nur noch ihr spitzenbesetztes Mieder und der scharlachrote Satinunterrock sie bedeckten. Sie befreite ihren Mund, um zu protestieren, aber er legte einen Finger auf ihre Lippen und machte ‚Schhhh‘. Zu ihrer eigenen Überraschung gehorchte sie. Seine Augen waren schuld daran, diese leuchtend blauen – fast königsblauen – Augen, die sie anlächelten. Sie hatte immer schon gewusst, dass sie gefährlich waren, und sie hatte sie noch nie zuvor lächeln sehen. Er sollte öfter lächeln.
Und jetzt umgab sie beide diese Aura erotischer Energie, die sie immer schon wahrgenommen hatte. Sie war selbst bei einem zufälligen Kontakt sehr stark gewesen. Jetzt war sie davon überwältigt, sie ließ sie schwach werden wie ein Fieber. War es der Geruch?
Nein. Ein schwaches Aroma umgab ihn – ein Moschusduft und ein leichter eigener Duft. Aber die Aura konnte von nichts anderem wahrgenommen werden als dem Teil einer Frau, der dazu geschaffen war, sich mit einem Mann zu vereinigen. Seine Hände waren auf ihren Rücken geglitten. Die Berührung ihrer Rippen und ihres Rückgrats sandte Schauer durch ihren Körper. Mit ein paar geübten Handgriffen lockerte er ihr Mieder so, dass er es von ihren Brüsten lösen und eine Brustspitze berühren konnte.
Er war definitiv auf unerforschtes Gelände vorgedrungen. Sie wusste, dass sie protestieren, kämpfen sollte, aber es fühlte sich einfach so wunderbar an!
Und würde das jemals wieder geschehen? Endlich war sie Elfled Malloren entkommen, die jederzeit mit Respekt behandelt werden musste. Hier war sie einfach nur eine Frau, die von einem Mann befriedigt wurde. Und was für ein Mann … Sie entspannte sich in seinem Arm und lächelte. Er lächelte zurück und hatte dabei so wenig mit ihrem brummigen, misstrauischen Schwager gemein, dass sie fast geglaubt hätte, auch er hätte sich verwandelt. Verwandelt in den Mann ihrer Träume. „Gefällt es dir, Schätzchen? Und da gibt es noch viel mehr zu entdecken.“ Er hob ihre Brustspitzen über das steife Mieder und senkte seinen Kopf.
Bei der ersten Berührung seiner Zunge schnappte Elf nach Luft. Als seine Zähne sie berührten, schrie sie auf und packte seine Haare, um ihn zu bremsen.
Dann saugte er an ihrer Brustwarze, und sie flüsterte: „Einfach himmlisch!“, und zog ihn näher zu sich heran. „Ah“, murmelte er sanft in ihren Busen. „Du erkennst den Himmel wieder, ja, meine Kleine?“ Dann bewegte er sich ein wenig, um ihre andere Brust zu liebkosen. Elf bemerkte, dass sie sich so stark in sein seidiges Haar vergrub, dass es aus der Schleife herausrutschte. Also lockerte sie den Griff ihrer Hände, wurde sich aber eines pulsierenden Verlangens zwischen ihren Beinen bewusst, das sie nur zu gut verstand.
Doch niemals zuvor hatte sie ein so heißes Verlangen wie dieses verspürt. Sie wollte, brauchte einen Mann auf eine Weise, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Oh, sie hatte offensichtlich schon eine Menge verpasst! Ein schnurrendes Geräusch verwirrte sie, besonders als sie bemerkte, dass es aus ihrer eigenen Kehle kam. Das brachte sie schockartig zurück in die Wirklichkeit. Sie lief Gefahr, in die Falle zu tappen, die sie für ihn vorgesehen hatte. Bald würde sie so verwirrt sein, dass sie vergäße, überhaupt fliehen zu wollen!
Flucht, erinnerte sie ihren benebelten Verstand.
Das bedeutete, dass sie ihn kopflos machen musste.
Wie das anzustellen sei, dazu hatte sie nicht die Spur einer Idee. Ein lüsterner Teil ihres Selbst flüsterte ihr ein, sie könnte sich doch auch von ihm kopflos machen lassen und dann sehen, was weiter passierte.
Während er noch an ihrer einen Brust saugte, berührte er die andere mit sanfter Hand. Oh ja, dachte Elf und begann wieder zu schnurren, sie konnte sich einfach alles von ihm zeigen lassen. Schließlich hatte sie das kennenlernen wollen, und Walgrave hatte dafür offensichtlich nützliche Talente. Dann wurde ihr Verstand wieder klarer. Sie konnte nicht mit ihm Liebe machen und dabei die Maske aufbehalten, aber ihre Identität preiszugeben wäre verhängnisvoll gewesen. Abgesehen von dem Skandal und seiner Einstellung zu den Mallorens wollte sie nicht, dass ein Verräter wusste, dass Elfled Malloren sein Geheimnis kannte. Verräter. Hochverrat. Denk nach, Elf!
Also tat Elf, was in ihren Kräften stand, um seine zarten Aufmerksamkeiten zu ignorieren und nicht den Verstand zu verlieren. Sie suchte nach einer Möglichkeit, den Spieß umzudrehen. Als wohlerzogene Lady unter dem Schutz von vier Brüdern mangelte es ihr zwar an Erfahrung, aber mit vier Brüdern aufgewachsen – darunter ein freizügiger Zwilling war sie dennoch nicht gänzlich unwissend. Sie hatte immerhin eine theoretische Ahnung, wie sie als Nächstes vorzugehen hatte. Hatte sie den Mut dazu? Natürlich hatte sie den. Schließlich war sie eine Malloren.
Sich vorsichtig bewegend, legte sie eine Hand auf seine Brust. Während er sie dann mit seiner Zunge und geschickten Händen beinah zum Wahnsinn trieb, ließ sie die Hand seinen Bauch hinuntergleiten, bis sie auf die kompakte Form stieß, die sie gesucht hatte.
Eine feste Form, das wusste sie, bedeutete, dass er mindestens schon halb so weit war.
Gott! Er musste schon fast ganz so weit sein.
Er hob den Kopf und sah sie an, Belustigung im Blick. „Ich dachte, du wärst ein unschuldiges kleines Küken.“
„Oh, das bin ich, Mylord! Aber nicht ganz unwissend …“ Sie hatte keine Ahnung, was als Nächstes zu tun war, also kitzelte sie ihn mit einem Fingernagel.
Er lachte. „Deine Gefangenhaltung und Erziehung versprechen, unterhaltsam zu werden, Lisette.“ Aber er schob ihre Hand weg und setzte sich auf. „Wir müssen das aber leider auf später verschieben. Wir sind da.“
Mit der ruhigen Präzision einer geübten Zofe schob er ihre Brüste wieder ins Mieder zurück und befestigte die Spitzen. Dann schloss er ihr Kleid, ordnete ihren Umhang und zog sie auf die Füße.
Elf ließ sich wie eine Puppe behandeln, erstaunt, als sie bemerkte, dass das Boot den Steg erreicht hatte und am Ufer festgemacht worden war, ohne dass sie auch nur das geringste davon bemerkt hätte. Kopflos, in der Tat!
Sie schauderte, ihre Nerven waren gespannt vor Erregung und Angst. Sie musste um einiges vorsichtiger sein, wenn sie auch nur eine Chance zur Flucht wahrnehmen wollte. Er kletterte von Bord und half ihr die gut beleuchteten Stufen zu Walgrave House hinauf. Als sie auf der Suche nach den Mördern zurückschaute, sah sie nur die flackernden Lichter weiterer Boote. Es gab keine Möglichkeit, herauszufinden, ob sie noch da waren.
Sie blickte um sich, in der schwachen Hoffnung, einen Fluchtweg zu entdecken. Aber die mannshohen Mauern der Gärten von Walgrave House umgaben sie, und vor ihnen lag das pompöse Haus selbst. In manchen Fenstern leuchtete ein freundliches Licht, aber ihr erschien es wie ein perfektes Gefängnis. Sei keine Närrin, ermahnte sie sich selbst, während sie neben Walgrave den Weg entlangging, Fackelträger vor und hinter ihnen. Chastity war aus einem echten Gefängnis geflohen und Bryghts Portia aus einem Fenster im ersten Stock geklettert! Es gab immer einen Weg. Wenn sie nur erst allein war.
Sie warf einen schnellen Blick auf ihren Wächter. Er lächelte sie auf eine Weise an, die ihr zu verstehen gab, dass er nicht vorhatte, sie allein zu lassen.
Oh Gott. Vielleicht wäre es das Beste, einfach um Hilfe zu schreien.
Aber inzwischen waren sie schon ins Haus gelangt, und sie bezweifelte, dass seine Dienerschaft ihr zu Hilfe eilen würde.
Draußen auf dem Fluss versorgte Michael Murray seine bandagierte Hand und beobachtete, wie Walgrave und seine Mätresse auf die große Villa zugingen. Als sie außer Sicht waren, befahl er seinen Bootsleuten, sie nach Whitehall Stairs zu bringen. Seine drei Gefährten entspannten sich, weil sie wussten, dass in der nächsten Zeit keine Gewaltanwendung nötig sein würde. Murray konnte sich nicht erinnern, jemals entspannt gewesen zu sein, und jetzt legte sich die Spannung wie ein Schraubstock um seine Schultern und seinen Nacken. Der Earl hatte so weit Wort gehalten; er hielt die Dirne fest. Trotzdem kam es ihm nicht richtig vor. Er fühlte sich gar nicht wohl dabei. Ein französisches Flittchen. Murray selbst sprach ausgezeichnet Französisch, und es waren immer Franzosen in der Stadt, aber trotzdem kam ihm das verdächtig vor. Und sie hatte sich auch gar nicht wie eine hart gesottene Hure benommen. Nicht einmal wie eine durchschnittliche Mätresse. Eine Frau verhielt sich einem Liebhaber gegenüber irgendwie anders.
Er rieb seine Wunde und erinnerte sich, wie sie keine Sekunde gezögert hatte, auf ihn einzustechen. Wohl kaum das Verhalten einer koketten Dirne, als die der Earl sie ausgegeben hatte. Sein Instinkt sagte ihm, dass da etwas faul war, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt, das konnte er nicht zulassen. Alles wäre einfacher gewesen, wenn dieses Frauenzimmer tot im Gebüsch von Vauxhall liegen geblieben wäre. Viel einfacher. Er hätte den Earl gern tot an ihrer Seite gesehen, aber er brauchte seine Hilfe.
Und ein toter oder auch nur verschwundener Earl hätte für Aufsehen gesorgt.
Murray wog den Nutzen des Earls gegen die Gefahr, die er darstellte, ab. Als das Boot den Steg von Whitehall erreichte, war er erleichtert zu dem Schluss gekommen, dass der Nutzen das Risiko überwog.
Im Moment jedenfalls.
Sobald das Spielzeug allerdings in seiner Hand war … Er bezahlte das Boot und ging nach Whitehall hinauf, während er über die Möglichkeiten nachdachte, dieses Risiko zu verringern.
„Kenny“, sagte er, „du und Mack, Ihr geht das Haus des Earls beobachten. Ich will sehen, ob er dieses rotgekleidete Weibsbild am Morgen laufenlässt.“
„Warum können wir dann nicht morgen früh hingehen?“, maulte Mack gähnend. „Ich bin müde.“
„Weil die Sache heute Nacht ein Trick gewesen sein könnte, was heißt, dass er sie fortschicken wird, sobald er glaubt, dass wir weg sind.“
„Die?“ Mack kicherte. „Sie hatte vielversprechende Beine, und wir wissen doch alle, dass der Earl of Walgrave solchen Beinen bis nach oben nachgeht. Die wird heute Nacht nirgends hingehen.“
„Wir können nicht riskieren, dass du dich irrst.“ Murray versuchte, die Abscheu in seiner Stimme zu unterdrücken. Seine Männer gingen zu Huren. Und sogar sein geliebter Anführer, Prinz Charles Edward Stuart, lebte unkeusch. Michael Murray selbst würde sich nie so beflecken, aber er wusste, dass die anderen über seine Prüderie lachen würden. Das würde seiner Autorität schaden.
Mack grollte, aber er akzeptierte den Befehl. „Also, was sollen wir tun, wenn er sie laufenlässt? Ihr folgen?“ „Natürlich nicht. Tötet sie.“