Leseprobe Die Rückkehr der wahren Lady

Kapitel 1

Es lebte einst eine Meerjungfrau, die war sehr vorwitzig. Ihr Name war Clio …

Aus: Die vorwitzige Meerjungfrau

September 1747

London, England

Mary Whitsun mochte keine gut aussehenden Männer. Sie wusste, das war ein unchristliches Vorurteil, aber dennoch lehnte sie diese Männer ab und misstraute ihnen. Ihrer Erfahrung nach – die zugegebenermaßen nicht sehr groß war, da sie noch nicht einmal einundzwanzig Jahre zählte – wussten attraktive Männer sehr wohl, wie gut sie aussahen. Sie waren affektiert und wollten ständig flirten, auch wenn ein Mädchen überhaupt nicht dazu aufgelegt war. Und wenn man nicht auf ihre albernen Annäherungsversuche einging, wurden sie oft böse.

Und das galt nur für gut aussehende Männer im Allgemeinen. Ein attraktiver Aristokrat, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, eine Frau wie Mary zu umgarnen, war noch wesentlich schlimmer.

Denn adlige Gentlemen waren es nicht gewöhnt, ein Nein zu hören, und schon gar nicht, wenn es von einem Dienstmädchen kam.

Daher ärgerte sich Mary nicht wenig, als sie bemerkte, dass ein geradezu schrecklich attraktiver Aristokrat sie in ihrem bevorzugten Bücherladen beobachtete.

Hol sie alle der Geier.

Es war ihr einziger freier Tag in der Woche, und sie wollte ihn damit zubringen, bei Adams und Sons in den Büchern zu stöbern und danach einen kleinen Imbiss in einer nahe gelegenen Teestube einzunehmen. Sie hatte nicht seit Wochen ihr Geld für diesen Tag gespart, um ihn sich von irgendeinem verzogenen Wüstling verderben zu lassen.

In der Hoffnung, dass auch für diesen Kerl „aus den Augen, aus dem Sinn“ galt, versteckte sich Mary hinter einem der Regale. Sie zog Die Historien von Herodot heraus und tat so, als lese sie in dem kleinen Büchlein. Dabei ließ sie die Ladentür nicht aus den Augen. Vielleicht würde er ja gleich gehen, und dann konnte sie wieder –

„Was machst du denn hier, Süße?“

Die tiefe, sanfte Männerstimme flüsterte ihr von hinten direkt ins Ohr, und Mary konnte sich gerade noch beherrschen, um nicht aufzuschreien und den armen Herodot von sich zu schleudern.

Sie drehte sich langsam um und bedachte den adligen Schönling mit ihrem strafendsten Blick. Es war ein Blick, bei dem kleine Kinder auf der Stelle ihre Spielsachen wegräumten und ins Bett gingen, doch leider schien er auf männliche Wesen, die älter als zwei waren, keine Wirkung zu haben.

Das Wesen, das vor ihr stand, war mindestens achtundzwanzig und grinste sie nur an. „Geht’s um irgendeine Wette?“

Sein Lächeln ließ den hübschen Aristokraten noch besser aussehen. Außerdem besaß er ein Paar tiefblaue Augen, die durch seinen dunkelblauen Rock, die schwarze Weste und das schneeweiße Halstuch wunderbar zur Geltung kamen. Dazu pechschwarzes langes Haar, das im Nacken zusammengefasst war, ein kantiges Kinn und einen breiten, sinnlichen Mund. Und wenn der Mann lächelte, kamen auch noch seine weißen, ebenmäßigen Zähne und Grübchen an seinen Mundwinkeln zum Vorschein.

Typisch.

Mary stellte den Herodot entschlossen zurück ins Regal und schickte sich an, den Laden zu verlassen.

„Warte doch!“

Es bestand für Mary kein Grund, auf seinen Befehl hin stehenzubleiben und ihn anzusehen, und doch tat sie wie unter einem Zwang genau das.

Der gut aussehende Aristokrat grinste nun nicht mehr, sondern wirkte leicht verblüfft. Zweifellos war er nicht daran gewöhnt, dass ein Dienstmädchen ihn einfach stehenließ.

„Das ist aber ein komisches Spiel“, sagte er.

„Für mich ist es überhaupt kein Spiel“, entgegnete sie. „Guten Tag.“

„Aber nun warte doch mal!“, rief er noch einmal und legte sogar eine Hand auf ihren Arm.

Mary erstarrte. „Lassen Sie mich los, Sir.“

„Wenn ich gewusst hätte, dass du Bücher liebst, hätte ich dich hierher begleitet“, sagte er langsam und sah sie merkwürdig fragend an. Dann senkte er den Blick auf ihr graues Wollkleid und die weiße Schürze. „Warum du allerdings dieses Kostüm gewählt hast, verstehe ich nicht. Es ist doch ganz schön unansehnlich, oder?“

Mary sah ihn verwirrt an. Es war zwar noch reichlich früh am Tag, um betrunken zu sein, aber bei schönen, männlichen Aristokraten konnte man ja nie wissen. Sie waren oft eine ziemlich liederliche Bande. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auf Bemerkungen über meine Person verzichten würden, und ich brauche ganz gewiss niemanden, der mich zum Buchladen begleitet, Sir. Und jetzt lassen Sie mich gehen.“

Stattdessen ergriff er auch noch ihren anderen Arm und drehte sie zu sich herum. Dann musterte er sie mit gesenktem Kopf und zusammengezogenen Brauen über seinen erstaunlich blauen Augen. „Joanna?“

„Jetzt reicht’s aber“, sagte Mary mit Nachdruck. „Sie hatten Ihren Spaß auf meine Kosten, Sir, aber jetzt wird die Sache langsam langweilig. Lassen Sie mich gehen, sonst sehe ich mich gezwungen, meine Herrschaft davon zu unterrichten. Es sind –“

„Sie sind nicht Lady Joanna“, unterbrach er sie. Offensichtlich hatte er kein Wort von dem mitbekommen, was sie gesagt hatte.

„Entschuldigen Sie, dass ich frage, aber sind Sie als Säugling auf den Kopf gefallen?“, fragte Mary mit zuckersüßer Stimme. „Denn das würde erklären, warum Sie nicht in der Lage sind, einem einfachen Gespräch zu folgen.“

Er grinste. „Nein, Sie sind ganz entschieden nicht Lady Joanna, stimmt’s, Süße? Dafür sind Sie viel zu frech.“

„Ich“, bemerkte Mary zutiefst erbost, „bin nicht Ihre Süße.“

„Das werden wir noch sehen“, murmelte er zu Marys Schrecken. „Wie heißen Sie?“

Sie starrte ihn schweigend an. Vielleicht konnte sie ihn auf diese Weise abwimmeln.

„Bockig“, sagte er leise, wie zu sich selbst. „Ausgesprochen bockig, aber die Augen machen es mehr als wett. Und der Witz. Mein Gott, das ist einfach unglaublich …“

Sie verengte die Augen und öffnete den Mund, um ihm Kontra zu geben, doch er kam ihr zuvor.

„Darf ich mich vorstellen. Ich bin Henry Collins, Viscount Blackwell.“

Er verneigte sich mit großer Geste vor ihr, als sei sie eine Lady.

Als er wieder aufrecht stand, war Marys Gesicht feuerrot. Aus diesem Grund hasste sie vom Schicksal begünstigte Adlige so sehr: Sie dachten sich nichts dabei, ihren Scherz mit armen Mädchen zu treiben.

„Sind Sie jetzt fertig, Mylord?“, fragte sie mit eisiger Stimme.

„Nein, ich fürchte nicht“, erwiderte er reumütig. „Aber ich nehme an, ich darf Sie nicht zu Ihrer … äh … Arbeitsstelle begleiten?“

Sie hob ungläubig die Brauen.

„Nein, natürlich nicht“, murmelte er. „Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie sehr, sehr misstrauisch sind?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Ich kann Sie einfach nicht gehen lassen, ohne herauszufinden, wie Sie heißen und wo Sie wohnen.“

Mary seufzte entnervt. „Warum sollte ich Ihnen das verraten?“

„Weil ich fast sicher bin, dass wir dazu bestimmt sind, ein Brautpaar zu werden“, sagte er und zeigte schon wieder diese vermaledeiten Grübchen.

***

Henry konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als das kleine Dienstmädchen ihn mit einem so empörten Blick bedachte, wie ihn eine Duchess nicht besser hingekriegt hätte.

Oder eben die lang verschollene Tochter eines Earls.

Das Gesicht der jungen Frau kam ihm sehr vertraut vor: große kaffeebraune Augen, dichtes mahagonifarbenes Haar, und das Gesicht ein so vollkommenes Oval, wie man es von mittelalterlichen Madonnen kannte. Sie sah tatsächlich genauso aus wie seine Verlobte Lady Joanna.

Aber damit endete die Ähnlichkeit auch schon.

Er war mit Joana aufgewachsen und hatte sie fast als seine Schwester betrachtet. Sie war etwas naiv, lieb und manchmal ein wenig irritierend. Doch er hatte sich seit langem an den Gedanken sie zu heiraten gewöhnt.

Diese Frau dagegen hatte seine Aufmerksamkeit erregt und fesselte ihn nach wie vor. Sie war kurz angebunden und scharfzüngig, und ihn beschlich das Gefühl, dass sie alles an ihm ablehnte – bis hin zu seinen Strümpfen.

Eigentlich hätte ihn ihre schroffe Art abstoßen müssen, doch stattdessen fand er sie faszinierend.

Henry war es nicht gewöhnt, dass eine Frau ihn so offensichtlich ablehnte. Die meisten hatten eher die bestürzende Neigung, ihm zu Füßen zu liegen. Es war so selbstverständlich für ihn, von den Damen angehimmelt zu werden, dass es ihm besonders befremdlich erschien, wenn eine ihn mit gerunzelter Stirn und grimmiger Miene anblickte.

Es war wirklich eine interessante Abwechslung.

„Es ist nämlich so –“, begann er, nur um von einem ungehobelten Tölpel unterbrochen zu werden.

„Da bist du ja, Blackwell“, bemerkte der Tölpel, besser bekannt als John Seymour, dritter Spross des Barons Bramston. „Ich kann’s kaum glauben, dass du mich in einen Buchladen geschleppt hast. Hier ist alles voller Staub, und der alte Knabe hinter dem Ladentisch sieht aus, als sei er schon tot. Lass uns gehen –“ Seymour verstummte abrupt, wahrscheinlich, weil das Dienstmädchen sich umgedreht hatte, als sie seine Stimme hörte, und er ihr Gesicht sehen konnte.

Er starrte.

Runzelte die Stirn.

Und sagte: „Sie sind nicht Lady Joanna.“

Henry war ein wenig enttäuscht, denn er hätte sein neues Reitpferd darauf verwettet, dass Seymour genauso auf die unglaubliche Ähnlichkeit hereinfallen würde wie er selbst.

Zum ersten Mal glättete sich die Stirn des Mädchens, und sie brachte beinahe ein Lächeln zustande – und das ausgerechnet bei Seymour. „Nein, die bin ich nicht, Sir.“

„Aber Sie sehen ihr so ähnlich, dass Sie ihre Schwester sein könnten“, fuhr Seymour fort.

„Genau“, bemerkte Henry. „Der Albright-Zwilling.“

„Ich dachte, das Mädchen sei tot“, entgegnete Seymour zweifelnd.

Mary schnaubte nur und wandte sich zum Gehen, doch Henry vertrat ihr den Weg, während er weiter mit Seymour redete. „Ihre Leiche wurde nie gefunden. Und das Kindermädchen war völlig außer sich.“

Seymour wandte sich ihm zu. „Du glaubst doch nicht wirklich …“

„Sieh sie doch an.“

Seymour betrachtete das Mädchen eingehend, und seine leicht vorquellenden hellbraunen Augen wurden ganz weit. „Großer Gott!“

„Erlauben Sie?“ Das Mädchen versuchte, um Henry herumzugehen.

Er spitzte bedauernd die Lippen und entgegnete ernst: „Ich fürchte nein, mein Schatz.“

„Ich bin nicht Ihr –“

„Aber genau darum geht es ja“, unterbrach sie Henry. „Sie könnten durchaus mein Schatz sein. Würden Sie mir denn verraten, wer Ihre Eltern sind? Falls Sie irgendwo auf dem Land geboren sind und sieben Geschwister haben, die Ihnen alle ähnlich sehen, dann haben wir uns eben geirrt, und ich werde mich bei Ihnen entschuldigen und Sie in Ruhe lassen.“

Sie blickte ihn an, und genau in diesem Moment wusste er Bescheid – weil sie zögerte. „Ich … ich weiß nicht, wo ich geboren bin“, sagte sie und hob ein wenig das Kinn. „Ich wurde im Heim für ausgesetzte Säuglinge und Findelkinder in St. Giles aufgezogen. Dort lag ich als Baby auf der Türschwelle – am Pfingstsonntag.“

„In welchem Jahr?“, erkundigte sich Henry und blickte ihr in die braunen Augen, in die ein leicht furchtsamer Ausdruck getreten war. Er fand das bedauerlich – sie war so ein stolzes kleines Ding – aber er musste es nun einmal wissen.

Sie schluckte. „Siebzehnhundertsechsundzwanzig.“

Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. „Das war das Jahr, als die Albright–Zwillinge, Töchter von William Albright, dem Earl of Angrove, von ihrem wahnsinnigen Kindermädchen entführt wurden. Zwei Wochen später fand man die jüngere der Schwestern, Joanna, unversehrt auf. Doch die ältere, Cecilia, wurde nie wieder gesehen.“

Ihre hübschen rosaroten Lippen ein wenig geöffnet, starrte Mary ihn an.

Dann blinzelte sie ein paarmal, und ihre Augen verengten sich vor Argwohn. „Sie können doch nicht von mir erwarten, dass ich diese lächerliche Geschichte glaube, Mylord.“

„Sie ist aber allgemein bekannt“, antwortete Seymour beinahe entschuldigend. „War damals ein großer Skandal. Es klingt wie der reinste Blödsinn, Miss, aber Sie sehen Lady Joanna wirklich sehr ähnlich. Würden Sie uns wohl Ihren Namen verraten?“

Sie schürzte ihre vollen Lippen, doch dann antwortete sie: „Mein Name ist Mary Whitsun. Ich bin ein Kindermädchen. Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Ich möchte den Rest meines freien Tages ungestört verbringen.“

Mit einer Verbeugung trat Henry zurück. „Gewiss. Aber würden Sie mir auch noch sagen, wo Sie wohnen? Ich möchte Ihnen gerne morgen Nachmittag einen Besuch abstatten, wenn Sie nichts dagegen haben.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Pflegen Ihre Dienstboten in Ihrem Haus Besuch zu empfangen?“, fragte sie höhnisch.

Er grinste. „Es handelt sich hier um einen besonderen Fall. Da können wir Ihre Herrschaft bestimmt überreden, eine Ausnahme zu machen.“

„Also, ich möchte Ihnen nicht sagen, wo ich wohne. Guten Tag, Mylord.“ Damit drehte sie sich um und verließ das Geschäft.

Henry sah ihr nach, dann schickte er sich an, ihr zu folgen.

„Was –?“, begann Seymour, doch sein Freund beachtete ihn nicht. Als er auf die Straße trat, sah er Marys zierliche Gestalt in der Menge verschwinden.

Vor dem Laden lungerten drei etwa zwölfjährige Jungen herum.

„Wollt ihr euch ein bisschen Geld verdienen?“, fragte er sie.

Die Jungen blickten ihn eifrig an.

Rasch erklärte Henry ihnen, worum es ihm ging, und gab jedem eine Münze mit dem Versprechen, ihnen bei Erfolg noch mehr zu zahlen.

Die drei rannten los und schlängelten sich durch das Gewühl der Passanten.

Seymour trat neben seinen Freund und fragte: „Was sollte das alles?“

„Sie traute mir nicht, aber ich kann sie nicht einfach so gehen lassen“, erklärte Henry.

Noch immer stand er da und blickte in die Richtung, in die das Mädchen verschwunden war. Am liebsten wäre er ihr selbst gefolgt, aber wäre dumm gewesen, denn schließlich hatte er schon die drei Bengel auf ihre Spur gesetzt.

Außerdem kannte er das Mädchen ja gar nicht, und eigentlich hätte er es abstoßend finden müssen, dass womöglich eine Beziehung zwischen ihm und einer Dienstbotin bestand. Doch er wollte unbedingt mehr über sie erfahren.

Er blickte seinen Freund an. „Eigentlich wollte ich heute Nachmittag zu der Pferdeauktion, aber ich glaube, wir sollten lieber Lady Joanna und der Countess of Angrove einen Besuch abstatten, meinst du nicht auch?“