Kapitel 1
Brüssel
23:00 Uhr, Donnerstag, 15 Juni, 1815
Jedes Beutetier weiß, wie wichtig eine gute Tarnung ist. Olivia Grace, die am Rand des überfüllten Ballsaals saß, wusste das besser als die meisten anderen. Aufmerksam wie eine Gazelle, die sich einem Wasserloch näherte, sah sie sich um.
Olivia konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wasserlöcher. Sie hatte eindeutig zu viele Naturkundejournale gelesen. Nicht, dass es hier keine Raubtiere gegeben hätte. Es war beinahe unmöglich, sie zu übersehen mit ihrem leuchtenden Gefieder, den scharfen Krallen und dem aggressiven Verhalten. Und das waren nur die Mütter.
Olivia hielt sich jedoch gut vor ihren Blicken verborgen. Getarnt in praktischem Grau, hatte sie vor der gemusterten Tapete an der Wand Platz genommen – eine von vielen anderen anonymen Anstandsdamen, die ihre Schützlinge im Auge behielten, während diese tanzten.
Der Ballsaal, eine umgebaute Remise neben dem Haus, das der Duke of Richmond angemietet hatte, war sehr gut besucht. Soldaten in roten Uniformen wirbelten mit lachenden jungen Frauen in weißen Kleidern herum. In Rotbraun oder Aubergine gewandete Witwen, die alles im Blick hatten, zerrissen sich die Mäuler über die Anwesenden. Herren in schwarzer Abendgarderobe standen in Grüppchen am Rande der Tanzfläche und unterhielten sich über die bevorstehende Schlacht. Olivia war sogar die Ehre zuteilgeworden, den Duke of Wellington höchstpersönlich erblicken zu dürfen, als er in den Ballsaal gekommen war. Sein brüllendes Gelächter hatte sogar die Musik des Orchesters übertönt.
Es schien, als wäre ganz London in den vergangenen Monaten nach Brüssel gekommen. Die Soldaten aus guten Familien waren natürlich aufgrund der neu erwachten Stärke Napoleons hier. Olivia war bereits auf die Lennox-Jungs, die Söhne des Dukes of Richmond, sowie den gut aussehenden, jungen Lord Hay in seiner roten Gardistenuniform hingewiesen worden. Der kräftige William Ponsonby trug die grüne Uniform der Dragoner, und der beeindruckende Diccan Hilliard hatte sich, wie es für Diplomaten üblich war, für einen schwarzen Anzug entschieden.
Mit all den heiratsfähigen jungen Männern hier war es absurd anzunehmen, dass die Familien ihre hoffnungsfrohen Töchter zu Hause gelassen hätten.
An diesem Abend hatte Olivias Dienstherrin darauf bestanden, sich selbst um ihre Küken zu kümmern. Olivia blieb also nichts anderes übrig, als vom Rand aus zuzusehen. Und genau das tat sie – sie sog alles in sich auf, die Farben, den Prunk, um ihrer lieben Georgie daheim in England später davon berichten zu können.
»Ach, da ist ja auch Uxbridge, dieser Teufel«, flüsterte die Dame neben ihr und lächelte anzüglich. »Wie er es wagen kann, sich hier blicken zu lassen, nachdem er mit der Schwägerin von Wellington durchgebrannt ist …«
Olivia hatte gehört, dass Uxbridge aus dem Exil zurückbeordert worden war, um die Kavallerie in die bevorstehende Schlacht zu führen. Ihr war außerdem zu Ohren gekommen, dass er ein brillanter Kopf und äußerst charismatisch war. Als sie ihn nun in der Husarenuniform in Blau und Silber sah, mit der pelzbesetzten Überjacke, die über seiner Schulter hing, entschied sie für sich, dass die Berichte über ihn vollkommen unangemessen waren. Dieser Mann war einfach atemberaubend.
Von seinem Anblick gefesselt, verlor sie für einen Moment ihre eigentliche Aufgabe aus den Augen. Sie vergaß, nach Gefahren Ausschau zu halten. Als sie zu erkennen versuchte, welche Hand Uxbridge gerade küsste, schob sich ein goldenes Gewand in ihr Sichtfeld.
»Es stört Sie doch nicht, wenn ich hier Platz nehme, oder?«, erklang eine weibliche Stimme.
Olivia sah auf und erblickte eine der schönsten Frauen, die sie je getroffen hatte. Obwohl sie mit dem Rücken zur Wand saß, musste Olivia sich zusammennehmen, um nicht unwillkürlich über die Schulter zu sehen und nachzuschauen, wen die Dame gemeint haben könnte. Frauen wie diese suchten für gewöhnlich nicht ihre Nähe.
Eine Sekunde lang verspürte sie eine altbekannte Angst. Sie hatte so viele Jahre damit verbracht, nicht aufzufallen und nicht enttarnt zu werden, dass dieser Instinkt sich nur schwer abschalten ließ. Aber diese Dame wirkte nicht empört. Tatsächlich lächelte sie.
»Es ist schon gut«, sagte die Frau mit einem verschwörerischen Schmunzeln. »Entgegen aller anderslautenden Gerüchte beiße ich nur äußerst selten. Genau genommen hält man mich in einigen Kreisen sogar für recht charmant.«
»Ich beiße«, erwiderte Olivia. »Allerdings nur, wenn man mich reizt.«
Sie hätte sich auf die Zunge beißen sollen. Sie wusste es doch besser.
Die Dame schien das nicht zu stören. Die Seide ihres Kleides raschelte, als sie zu Olivias Linken Platz nahm. »Nun, dann sollten wir mal schauen, wen wir dazu bringen können, Sie zu reizen«, erklärte sie. »Dieser Ball könnte ein bisschen Aufregung und Spannung vertragen – Jane Lennox, die Wellington so offensichtlich schöne Augen macht, reicht einfach nicht.«
Olivia musste lachen. »Die Herren in Rot könnten das möglicherweise anders sehen.«
Ihre Gefährtin sah sich mit einem beinahe schon grotesk mit Juwelen verzierten Opernglas im Saal um. »Es ist mir bisher nie aufgefallen, aber dies hier ist der perfekte Platz, um alles im Blick zu haben, oder?«
»Allerdings.«
»Ich wünschte, ich hätte schon hier gesessen, als die Highlander ihren Tanz aufgeführt haben. Ich nehme nicht an, dass Sie einen Blick darauf erhaschen konnten, was die Männer unter ihren Kilts tragen?«
»Leider nein. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte.«
Olivia fragte sich, warum diese schöne Rose sich unter die Mauerblümchen mischte – zumal einige der fraglichen Blümchen daran offenbar Anstoß genommen hatten. Ein paar von ihnen waren aufgestanden und gegangen. Olivia hatte sogar mitbekommen, wie jemand »Dirne« geflüstert hatte. Wieder musste sie den alten Drang unterdrücken, sich zu verstecken, doch die Aufmerksamkeit galt eindeutig dem Neuankömmling.
Was die zierliche Schönheit betraf, schien sie alldem keine Beachtung zu schenken. Diese Venus sah nicht älter aus als Olivia mit ihren vierundzwanzig Jahren. Sie hatte eine Haut wie eine Porzellanpuppe und dichtes dunkelbraunes Haar, in das Diamanten eingeflochten waren. Ihr herzförmiges Gesicht hätte unschuldig wirken können, wenn da nicht diese leicht amüsiert wirkenden, grünen Katzenaugen gewesen wären. Ihr Kleid war von einem Künstler gefertigt worden. Lagen von goldenem Stoff waren so drapiert, dass es aussah, als würde er wie Wasser von dem fast schon unziemlichen Korsett fließen, das den Blick auf den mit Juwelen behängten Hals und den weißen Busen freigab.
»Mir ist aufgefallen, wie Sie die anderen Gäste beobachten«, sagte die Schönheit und wedelte sich mit einem Fächer bedächtig kühle Luft zu. »Und ich bin gespannt zu hören, was Sie denken.«
»Denken?«, versetzte Olivia unwillkürlich. »Ich denke nichts. Begleitdamen werden nicht gut genug bezahlt, um auch noch zu denken.«
Die Dame lachte entzückt auf. »Wenn Sie nur das tun, wofür die Bezahlung reicht, meine Liebe, bezweifele ich, dass Sie weiter kommen als bis zum vorderen Salon im Haus Ihrer Dienstherrin.«
»Bis zum hinteren Salon, um genau zu sein. Der befindet sich näher an den Unterkünften für die Bediensteten.«
Olivia wusste nur zu gut, dass ihr Verhalten leichtsinnig war. Es lag immer noch im Bereich des Möglichen, dass sie entdeckt wurde. Sollte irgendjemand sie wiedererkennen, war sie verloren. Aber es fühlte sich so gut an zu lächeln.
Ihre neue Bekanntschaft lachte. »Ich wusste, dass ich Sie mögen würde. Wer darf sich über Ihre Begleitung freuen, wenn ich fragen darf?«
»Mrs Bottomly und ihre drei Töchter.« Olivia wies auf eine Gruppe auf der Tanzfläche. »Sie glauben, dass es ein … Abenteuer sein könnte, diese Saison in Brüssel zu verbringen.«
Die Schönheit wandte den Kopf, um die kleine, dünne Dame in Erbsengrün zu betrachten, die mit Pfauenfedern geschmückt war. Mrs Bottomly schlug gerade lachend dem steif wirkenden Mr Hilliard mit dem Fächer auf den Arm, während drei jüngere Ausgaben von ihr dabei zusahen.
»Sie meinen diese Horde von unterernährten Krähen, die gerade an meinem armen Diccan herumpicken? Grundgütiger, wie ist es ihr gelungen, überhaupt an eine Einladung zu kommen?«
»Tja«, sagte Olivia, »dazu bedurfte es nur eines zeitlich abgepassten Spaziergangs an der Allee Verde, eines noch besser abgepassten umgeknickten Knöchels, der dazu führte, dass die Duchess of Richmond Mrs Bottomly in ihrer Kutsche mitnehmen musste, und schließlich Mrs Bottomlys hartnäckiger Bestürzung hinsichtlich der Art, wie die Einladungen zum heutigen Ereignis vergeben wurden.«
Ihre neue Bekannte schüttelte verblüfft den Kopf. »Warum hat diese Person ihre Zeit mit diesem Ball verschwendet? Wir sollten sie Wellington vorstellen, damit sie ihm helfen kann, Napoleon in die Flucht zu schlagen.«
Mit einem ironischen Blick betrachtete Olivia ihre Dienstherrin. »Dafür müsste man ihr im Gegenzug drei geeignete, heiratsfähige Offiziere zur Verfügung stellen.«
Just in dem Moment stieß Mrs Bottomly ein schrilles Kichern aus, unter dem Mr Hilliards Trommelfelle sicherlich litten. Olivias Begleiterin zuckte zusammen. »Das möchte ich nicht auf mein Gewissen laden. Ich fürchte, Wellington wird sich auf seinen eigenen Verstand verlassen müssen.«
»Das ist wohl wahr.«
»Aber was ist mit Ihnen?«, wollte die Schönheit von Olivia wissen. »Sicher haben Sie auch etwas Besseres verdient, als für eine anmaßende Neureiche zu arbeiten, oder?«
Olivia lächelte. »Mir ist bewusst geworden, dass das Leben sich nur selten danach richtet, was wir verdienen.«
Für einen winzigen Moment wurde die Miene ihrer Begleiterin seltsam nachdenklich. Dann hellte sie sich wieder auf. »Etwas Gutes hatte das alles allerdings«, sagte sie und klopfte mit ihrem Fächer auf Olivias Arm. »Wenn diese entsetzliche Frau wie alle anderen im Angesicht der bevorstehenden Schlacht ebenfalls aus Brüssel verschwunden wäre, hätte ich Sie niemals kennengelernt.«
»Das stimmt. Denn ganz sicher wären wir uns in London nicht über den Weg gelaufen. Nicht einmal Mrs Bottomly hätte es gewagt, solch exquisite Kreise anzustreben.«
Die Dame wandte sich Olivia zu und sah sie mit leuchtenden Augen an. »Und woher wissen Sie das?«
Olivias Lächeln war ruhig. »Ihre Edelsteine sind echt.«
Ihre neue Freundin stieß ein überraschend lautes Lachen aus, das die anderen Gäste in der Nähe dazu brachte, zu ihr zu blicken. Olivia bemerkte die Aufmerksamkeit und zog instinktiv den Kopf ein.
Ihre Begleitung straffte plötzlich die Schultern und richtete sich auf. »Grace!«, rief sie und gab ein Zeichen mit ihrem Fächer. »Hier!«
Olivia sah, wie eine hochgewachsene, beinahe farblose, rothaarige Frau sich umdrehte und lächelte. Sie trug dasselbe nützliche Grau wie Olivia, auch wenn der Stoff ihres Kleides besser war. Wahrscheinlich war es ein feiner, weicher hellgrauer Seidenstoff, der die junge Frau jedoch noch blasser wirken ließ.
Langsam kam sie auf sie zu, und Olivia fiel auf, dass die Frau stark humpelte. Sie hat bestimmt mit einem fürchterlichen Trampel getanzt, dachte Olivia und wollte aufstehen, um ihr ihren Stuhl anzubieten.
Ihre Begleiterin hielt sie am Arm zurück. »Grace, meine Liebe«, flötete sie, die Hand noch immer auf Olivias Arm. »Was haben Sie gehört?«
Die große Rothaarige blieb direkt vor ihnen stehen und machte einen eleganten Knicks. »Gerüchte gehen um, Durchlaucht. Die Kämpfe bei Quatre Bras, südlich von uns, haben begonnen.«
Euer Durchlaucht? Um Gottes willen, schoss es Olivia durch den Kopf, und sie fühlte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Was hatte sie getan?
Unauffällig suchte sie den Saal nach Mrs Bottomly und ihren Töchtern ab, doch mit einem Mal kam es ihr so vor, als stünden sämtliche Anwesende im Weg. Viele der Offiziere liefen verunsichert durch die Menge. Junge Mädchen rangen die Hände und sprachen mit schriller, besorgter Stimme. Wellington selbst unterhielt sich mit dem Duke of Richmond, und beide wirkten beunruhigt. Es hatte also begonnen. Die große Schlacht, die sie seit Wochen erwarteten, hatte angefangen. Olivia fühlte sich schlecht, denn sie war insgeheim erleichtert: nun wäre sie wieder unsichtbar.
»Also gut«, sagte die Duchess und erhob sich. »Es scheint, als wäre die Zeit der Oberflächlichkeiten vorbei. Noblesse oblige. Ehe wir gehen, Grace, sollten Sie meine neue Freundin kennenlernen.«
Olivia stand auf und war überrascht, als sie bemerkte, dass die Duchess ihr nur bis zur Schulter reichte. Und Olivia war nur durchschnittlich groß.
»Es tut mir leid, dass wir keine Zeit hatten, um noch mehr Beobachtungen miteinander zu teilen«, sagte die zierliche Schönheit mit einem schelmischen Lächeln. »Ich denke, wir hätten diesen Haufen ganz schön durcheinanderwirbeln können.«
Olivia machte einen Knicks. »Es war mir ein Vergnügen, Durchlaucht.«
Die Duchess hob belustigt eine Augenbraue. »Mir auch, mir auch. Obwohl Sie morgen früh dafür berüchtigt sein werden, mit mir geredet zu haben. >Ach, du meine Güte<, werden sie empört flüstern. »Haben Sie von der netten Gesellschaftsdame gehört, dieser Miss …«< Die kleine Duchess wirkte mit einem Mal sehr verdutzt. »Großer Gott, ich kann Sie ja überhaupt nicht vorstellen.«
Olivia erstarrte. Hatte sie sie doch noch erkannt?
»Ich kenne Ihren Namen nicht«, fuhr die Duchess lachend fort. »Ich sollte anfangen. Es ist traurig, aber wahr: Ich bin Dolores Catherine Anne Hilliard Seaton, verwitwete Duchess of Murther.« Vornehm wedelte sie mit der Hand. »Sie dürfen mit dem gebotenen Ernst reagieren.«
Während sie einen sehr tiefen Knicks machte, fragte Olivia sich, wie jemand so jung Witwe sein konnte. »Mrs Olivia Grace, Euer Durchlaucht.«
»Grundgütiger, ich bin laut meinem englischen Titel eine Grace, Sie heißen Grace, und Grace heißt ebenfalls so.« Sie tätschelte den Arm der großen jungen Frau. »Stellen Sie sich, um die Ironie der ganzen Situation komplett zu machen, auch noch vor, meine Liebe.«
Mit einem Lächeln, bei dem ihr längliches Gesicht viel weicher wirkte, deutete die rothaarige junge Frau eine Verbeugung an. »Miss Grace Fairchild, Ma’am.«
»Grace ist die Tochter des hochdekorierten Generals der Gardisten dort hinten. Der Mann mit dem prächtigen weißen Schnurrbart«, erklärte die Duchess. »General Sir Hillary Fairchild. Grace ist eine der unzähmbaren Frauen, die ihr Leben beim Militär verbringen. Sie weiß mehr darüber, Nahrung aufzutreiben oder aus einem alten Kuhstall eine Truppenunterkunft zu machen, als ich über die Themen aus Debrett's.«
Olivia machte ebenfalls einen Knicks. Sie mochte diese unkomplizierte junge Frau, die die freundlichsten grauen Augen hatte, die sie je gesehen hatte. »Es ist mir ein Vergnügen, Miss Fairchild.«
»Bitte«, entgegnete die Frau, »nennen Sie mich Grace.«
»Und ich bin Kate«, sagte die Duchess. »Lady Kate, wenn die Vertrautheit für Sie nicht akzeptabel ist. Nennen Sie mich nur nicht Duchess oder Mylady oder Durchlaucht« sie warf Grace Fairchild einen bedeutungsvollen Blick zu »das macht es einfacher. Und unter Freunden sollte das erlaubt sein. Und wir sind doch Freundinnen, oder?«
Olivia hütete sich davor, ihr zuzustimmen. »Es wäre mir eine große Freude«, erwiderte sie. »Bitte, nennen Sie mich Olivia.«
»Sehen wir Sie heute Abend bei Madame de Rebaucour, Olivia?«, fragte Grace Fairchild. »Sie organisiert die Frauen der Stadt, damit sie sich auf die Versorgung der Verletzten vorbereiten können.«
»Da soll noch mal einer sagen, dass ich nur vollkommen nutzlose Fähigkeiten besitze«, trumpfte Lady Kate auf. »Ich bin inzwischen regelrecht erpicht darauf, Mullbinden zu wickeln.«
»Wenn meine Arbeitgeberin mir freigibt, können Sie sicher sein, dass ich dort bin«, sagte Olivia und sah sich in der Menge nach der Dame um.
Lady Kate warf ihr ein böses Lächeln zu. »Oh, ich kann Ihnen versichern, dass sie Ihnen freigeben wird. Sagen Sie ihr einfach, dass Sie eine Duchess begleiten.« Sie warf sich den leichten Schal um die Schultern und machte sich zum Gehen bereit. »Wir sollten alle helfen – Heldinnen, die wir sind.«
»Und dabei diese schönen weißen Hände beschmutzen?«, erklang mit einem Mal die Stimme eines Mannes hinter Olivia.
Olivia erstarrte. Der Schrecken jagte über ihre Haut wie Eisregen.
»Da das die einzigen Hände sind, die ich besitze«, erklärte Lady Kate vergnügt, »denke ich, dass sie sich daran werden gewöhnen müssen.«
Olivia konnte sich nicht rühren. Die Geräusche hallten plötzlich seltsam wider, und alle Bewegungen schienen langsamer abzulaufen. Lady Kate blickte an ihr vorbei zu der Stelle, an der der Mann, der gesprochen hatte, wahrscheinlich stand. Olivia wusste, dass sie sich umdrehen sollte.
Er war es nicht. Das konnte nicht sein. Sie war ihm entkommen. Sie hatte sich so gut vor ihm versteckt, dass sie sogar die Erinnerung an ihn tief weggeschlossen hatte.
»Eine Generation von jungen vortrefflichen Männern würde trauern, wenn Sie auch nur einen Kratzer davontragen würden«, wandte er sich mit seiner charmanten, jungenhaften Stimme an die Duchess.
Noch immer hinter ihr, noch immer nicht zu sehen. Noch immer möglicherweise jemand, der einfach nur erschreckend ähnlich klang. Olivia wollte so gern ihre Augen schließen, als könnte sie sich ihn so vom Leibe halten. Wenn ich ihn nicht sehe, ist er auch nicht da.
Sie wusste es besser. Selbst wenn sie die Wahrheit nicht anerkennen wollte, erkannte ihr Körper ihn wieder. Ihr Herz schlug schneller. Ihre Handflächen wurden feucht. Sie hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen.
Und es gab keine Chance zu flüchten. Also tat sie, was in die Ecke getriebene Tiere taten. Sie drehte sich um und blickte der Gefahr ins Angesicht.
Und dort stand er. Einer der schönsten Männer, die Gott je erschaffen hatte. Ein echter Aristokrat mit den butterblonden Haaren, den klaren blauen Augen und der für die Familie Armiston so typischen geraden Nase. Er maß über einen Meter achtzig. Sein schwarzer Mantel und die austerngraue Kniebundhose waren nur ein bisschen übertrieben. Er trug eine silberweiße Weste mit Uhrentaschen dazu. An seinem Finger glitzerte ein Rubinring. Er schenkte der Duchess ein schelmisches Lächeln, das sie zu entzücken schien.
Olivia war früher der Meinung gewesen, dass sein gutes Aussehen eine freundliche Seele widerspiegelte. Doch diesen Fehler würde sie kein zweites Mal machen.
»Mein lieber Gervaise.« Lady Kate lachte ihm zu. »Wie rücksichtsvoll von Ihnen, an Ihrer Illusion festzuhalten, dass ich eine zerbrechliche Blume wäre.«
Sein Lächeln war entwaffnend, sein Lachen klang wie Musik. »Damit haben Sie mir einen gehörigen Dämpfer verpasst. Vermutlich werden Sie meinen zutiefst empfundenen Wunsch ignorieren, Ihr Aussehen bewahren zu wollen, und wo werden Sie sein, wenn Sie das nicht mehr haben?«
Wieder lachte Lady Kate und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Sie übertreiben so, dass es schon unglaubwürdig wirkt, Gervaise. Sie wissen genau, dass ich damit zufrieden bin, einfach nur ein bisschen skandalös zu sein. Ich überlasse es Ihnen, die Fackel der natürlichen Perfektion hochzuhalten.«
Gervaise beugte sich über Lady Kates Hand, aber plötzlich sah er nicht mehr sie an. Er hatte Olivia erblickt.
Wahrscheinlich war sie die Einzige, die die Überraschung in seinen Augen bemerkte, die er schnell wieder verbarg. Das kurze Aufflackern von Triumph. Sie wollte in Lachen ausbrechen. Da hatte sie sich vor den schnell verurteilenden Damen verstecken wollen, obwohl im Saal längst eine gefährliche Giftschlange gelauert hatte.
»Es scheint, als wäre ich zur rechten Zeit gekommen«, sagte er, richtete sich mit einem Lächeln auf und zupfte seine Manschetten zurecht. »So schnell, wie sich der Saal leert, hätte ich Sie beinahe verpasst. Ich kenne Miss Fairchild, Kate, doch wer ist das?«
»Begrüßen Sie Mrs Olivia Grace, Gervaise«, sagte Lady Kate. »Olivia, das ist Mr Gervaise Armiston. Er will mich zur Tür begleiten, damit ich unsere mutigen Soldaten verabschieden kann. Ich selbst habe keine mutigen Soldaten. Nur Gervaise.«
Gervaise lachte freundlich und streckte den Arm aus. »Auch ich lebe, um zu dienen«, widersprach er. »Allerdings diene ich nur Ihnen.« Er verneigte sich kurz vor Olivia und nickte. »Mrs Grace.«
Olivia schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter. »Mr Armiston.«
Lady Kate legte ihre schlanke blasse Hand auf seinen Ärmel. »Ausgezeichnet. Lassen Sie uns gehen und unsere Soldaten daran erinnern, wofür sie kämpfen. Grace, Olivia … wir sehen uns morgen.«
Die Duchess hatte sich kaum umgedreht, als Olivias Beine unter ihr nachgaben und sie auf den nächsten Stuhl sackte.
»Olivia«, fragte Grace Fairchild besorgt, »geht es Ihnen gut?«
Olivia blickte auf und bemühte sich, ihre Übelkeit zu unterdrücken. Mit einem Mal zerriss militärisches Trommeln von der Straße her die Stille der Nacht. Trompeten ertönten, und die Duchess von Richmond eilte durch den Ballsaal und drängte die Männer, erst dann zu gehen, wenn das Dinner serviert worden war.
»Nur noch eine Stunde!«, flehte sie.
Offiziere stellten sich an der Tür auf, um einen Abschiedskuss von der reizenden Duchess of Murther zu bekommen. Einige Mädchen weinten, während die anderen mit den übrigen Herren zum Dinner gingen. Und in der Ecke, in der die Anstandsdamen saßen, brach für Olivia die Welt zusammen.
Ihre Hände hörten nicht auf zu zittern. Sie musste Georgie warnen. Sie musste sie alle warnen.
Aber sie konnte es nicht. Jeder Kontakt zu ihnen würde Gervaise nur wieder auf ihre Spur führen, und das wäre folgenschwer.
So war es schon ein Mal gewesen.
Oh, Jamie.
Grace berührte sie an der Schulter. »Olivia?«
Olivia zuckte zusammen. »Oh …«, sagte sie. Sie zwang sich zu einem Lächeln, während sie sich unsicher erhob. »Mir geht es gut. Ich denke, es ist Zeit, nach Hause zu gehen.«
»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht? Sie sind blass.«
»Das liegt nur an den schlimmen Neuigkeiten.« Olivia nahm ihren Umhang und mied Graces prüfenden Blick. Mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen drehte sie sich um. »Ich wünschte, ich wäre etwas mehr wie Lady Kate. Sehen Sie doch nur, wie sie die Männer zum Lachen bringt.«
Grace warf einen Blick zur Duchess, die sich gerade auf die Zehenspitzen stellte, um einen Jungen in grüner Grenadiersuniform zu küssen, der prompt errötete. »Lady Kate ist wirklich unglaublich, nicht wahr?«
»Sie ist eine Schande«, zischte eine der Frauen in ihrer Nähe.
Einige andere Damen nickten beifällig.
»Glashaus«, sagte eine majestätisch anmutende, ältere Dame am Ende der Reihe.
Alle Blicke wandten sich ihr zu, doch die Frau ignorierte sie. Ihre Tasche und ihren Umhang in der Hand, erhob sie sich hoheitsvoll. Sie war eine hochgewachsene Frau mit einer außerordentlichen Haltung und einem stolzen Gesicht, das von dichtem schneeweißem Haar umrahmt wurde. Sie hatte erst zwei Schritte gemacht, ehe sie aus Versehen mit dem Fuß hängen blieb und beinahe gestürzt wäre. Olivia machte einen Satz nach vorn, um ihr zu Hilfe zu kommen, aber Grace war schon da.
»Meine liebe Lady Bea«, sagte sie und stützte die elegante Dame. »Passen Sie auf.«
Die alte Dame tätschelte Graces Wange. »Ach, der letzte Samariter, mein Kind, der letzte Samariter.«
»Eigentlich heißt es >barmherzig<, Lady Bea.«
»In der Tat«, stimmte die Dame zu. Grace lächelte, als wüsste sie, was die Frau meinte, und geleitete sie weiter.
»Lady Kates Gesellschafterin«, vertraute Grace Olivia an, als sie vorbeigingen.
»Mrs Grace!«, kreischte Mrs Bottomly und stürmte auf Olivia zu wie ein besonders dürrer Elefant mit seinen Kälbchen im Schlepptau. »Wir gehen.«
Mit wippenden Pfauenfedern führte Mrs Bottomly ihre hoffnungsvollen Töchter zur Tür. Olivia blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen. Lady Kate winkte ihr zu, als sie vorbeikam, und umarmte dann einen stämmigen Dragoner. Olivia bemerkte, dass Gervaise nicht mehr bei der Duchess war, und ahnte instinktiv, wo er steckte. Fast hätte sie sich umgedreht, um in der relativen Sicherheit des Ballsaals zu bleiben.
Natürlich erwartete er sie. Olivia hatte erst ein paar Schritte in die laue Nacht gemacht, als er aus der Menge trat.
»Ich habe dich vermisst, Livvie«, sagte er und streckte den Arm aus. »Wir werden uns sehen, nicht wahr?«
Keine Bitte. Ein Befehl, der in freundliche Worte gepackt war. Olivia konnte nichts gegen das Frösteln oder das Zittern tun, die sie erfassten.
Doch sie konnte sich behaupten. Sie konnte ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Die Tage der gesenkten Blicke und der bloßen Hoffnung auf ein Entkommen waren lange vorbei. »Nun … nein, Gervaise«, entgegnete sie genauso liebenswürdig, »das werden wir nicht.«
Und bevor er etwas erwidern konnte, lief sie die Stufen hinunter und in die Nacht hinaus.
Kapitel 2
Samstag, 17.Juni, 1815
Sie waren fort.
Olivia stand im Foyer ihrer kleinen Pension und starrte auf den abgenutzten Handkoffer auf dem Boden vor ihren Füßen. Sie war gerade vom Stadttor in Namur wiedergekommen, wo sie den Tag damit verbracht hatte, sich um die Verwundeten zu kümmern, die seit der Nacht zuvor eingetroffen waren. Vor Erschöpfung fühlte sie sich benommen und stand einfach in ihrem verschmutzten, nassen Kleid da und fragte sich, was dieser traurige einsame Koffer bedeutete.
Am Morgen noch hatte Mrs Bottomly sie wie am Tag zuvor verabschiedet, bevor sie ins Sanitätszelt gegangen war. »Nein, nein, meine Liebe«, hatte die kleine Frau, ein Bissen von ihrem Muffin im Mund, gesagt. »Sie müssen diesen armen Männern helfen. Wir sollten etwas tun, bis wir die Rückreise nach Hause organisiert haben. Obwohl ich fürchte, dass es zu spät sein könnte, um zu fahren.«
Es war tatsächlich zu spät, aber offensichtlich nur für Olivia. Über ihrem Kopf grollte der Donner, und Regen rann die Fensterscheiben herunter. Vor zwanzig Minuten hatte der Himmel die Schleusen geöffnet und alle gezwungen hineinzugehen. Olivia war gelaufen, um schnell zu ihrer Unterkunft zu kommen. Nein, nicht ihre Unterkunft. Nicht mehr. Madame La Suire, die Vermieterin, hatte keinen Zweifel daran gelassen, als sie ihr knapp erklärt hatte, dass die englische Madame und ihre dummen Töchter keine Stunde, nachdem Olivia am Morgen aufgebrochen war, fortgegangen seien. Wenn Olivia bleiben wolle, müsse sie die Kosten für das Zimmer selbst bezahlen, hatte sie gesagt.
Fort. Während sie auf dem Kopfsteinpflaster gekniet und den verwundeten Soldaten Wasser eingeflößt hatte, war ihre Arbeitgeberin ohne sie nach Hause geflüchtet. Das ergab keinen Sinn.
»Hat Mrs Bottomly irgendetwas für mich hinterlassen, Madame?«, fragte Olivia, als die gedrungene Frau eine abgenutzte kleine Hutschachtel neben den Handkoffer stellte. »Einen Brief? Einen Pompadour?«
Die Damenhandtasche, die sie bei Mrs Bottomly zurückgelassen hatte, wo sie in Sicherheit war. Wo sie sie nicht bei den Verwundeten und Sterbenden verlieren konnte, die auf den Straßen lagen, zwischen den Zivilisten, die dort herumtrampelten und zwischen Aufregung und blinder Panik schwankten. In der Handtasche befand sich jeder Penny, den sie in den vergangenen Monaten verdient hatte, das ganze Geld, das sie Georgie schicken wollte.
»Sie hat nichts gesagt«, entgegnete die Madame. »Sie hat auch nichts hinterlassen. Ich habe alles hier abgestellt. Eine Handtasche war nicht dabei. Sie ist mit dem gut aussehenden englischen Lord gegangen.« Sie warf einen ernsten Blick auf ihren ehemaligen Pensionsgast und hob einen Finger. »Und versuchen Sie nicht, mir etwas zu unterstellen ich habe niemandem etwas gestohlen.«
Olivia schien nicht richtig denken zu können. Noch immer hatte sie an den Händen das Blut des jungen Dragoners, der sein Leben auf der Straße, knappe sechs Meter vom Stadttor entfernt, ausgehaucht hatte. Wenige Momente, bevor er gestorben war, hatte sie ihn erreicht. Er hatte gestöhnt und gefleht und war so jung gewesen – einer von Hunderten anderer, die sich von Quatre Bras zurückgeschleppt hatten.
Sie hatte ihn in den Armen gehalten, als sein Blut auf die Pflastersteine geströmt war, und sie hatte gesehen, wie das Licht aus seinen Augen gewichen war. Schließlich hatte sie seine Lider zugedrückt. Braune Augen. Waren sie nicht braun gewesen? So behutsam, wie es ging, hatte sie ihn hingelegt und war aus dem Regen geflüchtet. Und jetzt hatte sie keinen Ort mehr, an den sie gehen konnte, und das war alles, an das sie im Augenblick denken konnte.
Madame hatte sich umgedreht und wollte Olivia im Foyer stehen lassen, als sie innehielt. »Der gut aussehende englische Lord hatte allerdings eine Nachricht.«
Olivia zuckte zusammen. Es gelang ihr, sich auf die griesgrämig dreinblickende Frau zu konzentrieren. Ein Blitz erhellte das Zimmer mit seinem bläulichen Schein und stahl ihr für einen Moment die Sicht.
»Ein englischer Lord?«, wiederholte Olivia. Bei den Worten beschlich eine böse Vorahnung sie und drängte ihre Verwirrung beiseite. »Was für ein englischer Lord?«
Donner grollte. Olivia stand tropfnass auf den Fliesen und erwartete das Unausweichliche.
Die Frau lächelte wie ein kleines Mädchen. »Der nette Mann, der die Abfahrt der Bottomlys organisiert hat. Er meinte, Sie sollten hier auf ihn warten. Er kommt zurück.«
In Brüssel gab es nur einen gut aussehenden Engländer, der Olivia kannte.
Plötzlich ergab alles einen Sinn. Olivia beachtete Madame La Suire, die sich zum Gehen gewandt hatte, nicht länger, machte auf dem Absatz kehrt und schnappte sich ihren Handkoffer und die Hutschachtel. Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie den Regen, der vor dem Fenster wie ein Vorhang fiel. Der Donner grummelte, und die Bäume bogen sich im Wind. Blitze zuckten am Himmel.
Sie konnte nicht in den Sturm hinaus. Es würde nur ein paar Sekunden dauern, ehe sie bis auf die Knochen durchnässt wäre. Und doch blieb ihr nichts anderes übrig. Die Madame war bereits in die Küche verschwunden, und sonst war niemand da, den sie um Hilfe hätte bitten können. Außerdem waren die Männer, um die sie sich gekümmert hatte, noch immer da draußen und lagen hilflos in diesem Wolkenbruch. Sie musste zurück und ihnen helfen.
Sie balancierte gerade ihre Habseligkeiten auf einem Arm und wollte mit der anderen Hand die Tür öffnen, als diese aufgestoßen wurde. Bevor Olivia etwas tun konnte, kam Gervaise herein.
Er war vollkommen nass. Sein Regenschirm war im Wind umgeklappt. Dennoch wirkte er perfekt, makellos. Der Regen glitzerte in seinem Haar. Und er lächelte.
Olivia verabscheute dieses Lächeln, denn sie war offenbar die Einzige, die hinter diese Maske sehen konnte.
»Ausgezeichnet«, sagte er fröhlich, als er die Tür hinter sich schloss und seinen Regenschirm an die Wand lehnte. »Du hast auf mich gewartet.«
Olivia rang das Entsetzen nieder, das sie bei diesen Worten durchströmte. »Das habe ich nicht. Ich war auf dem Weg ins Lazarett.«
Gervaise warf einen wohlüberlegten Blick aus dem Fenster. »Bei dem Wetter? Das glaube ich nicht.«
»Selbst wenn das Jüngste Gericht bevorstände, würde ich jetzt verschwinden. Geh mir aus dem Weg, Gervaise.«
Stattdessen kam er ihr näher, bis Olivia den Tabak riechen konnte, den er benutzte, und sein Eau de Cologne, das so erdig-holzig duftete. Bei den unterschiedlichen Düften drehte sich ihr der Magen um.
Sie hätte es wissen müssen. In dem Moment, als sie ihn erkannt hatte, hätte sie es wissen und weglaufen müssen.
Er ließ seinen Blick über den Ausschnitt ihres Kleides gleiten. »Trägst du es noch immer, Livvie?«
Es kostete sie all ihre Kraft, die Hand zu heben und schützend auf ihre Brust zu legen, wo das Medaillon unter ihrem Kleid versteckt war.
Er lächelte. »Hilft es wirklich?«
Panik erfasste sie, ein heißer Drang zu fliehen, bei dem ihr der Schweiß ausbrach. Bitte, lieber Gott – mach, dass er es nicht herausfindet.
»Das ist das Mindeste, was ich tun kann«, flüsterte sie.
Er nickte. »Er war ein hübscher Junge. Es ist so traurig, dass du ihn nicht beschützen konntest.«
Eine weitere versteckte Drohung. Ein Bezug auf das, was er getan hatte. Was er wieder tun würde, sollte es nötig werden.
»Das ist noch eine Sache, die ich an dir liebe, Livvie«, sagte er, als würde er es tatsächlich so meinen. »Deine fürsorglichen Instinkte. Ich hätte helfen können, weißt du? Meinst du nicht, dass ich es jetzt auch könnte?«
Sie dachte, er würde sie zerstören, wie er es schon einmal getan hatte.
Er hob die Hand und strich mit einem Finger über ihre Wange. »Du bist so tapfer, Livvie«, sagte er. Seine Stimme klang sanft und vertrauenerweckend. »Ich muss zugeben, dass ich beeindruckt bin. So weit zu gehen, die Begleitdame einer der widerlichsten Neureichen zu werden, die ich je kennenlernen musste.« Er warf ihr ein bösartiges Lächeln zu. »Sie war aux anges, im siebten Himmel, als ich ihr zufällig im Parc Royale begegnete und anbot, ihr bei der Flucht aus der Stadt zu helfen. Sie war so dankbar, dass sie nicht auf die Idee kam, darüber nachzudenken, warum ich behauptete, dich nicht mitnehmen zu können.«
Olivia zitterte, und das machte sie wütend. Bewusst trat sie einen Schritt zurück. »Hast du meinen Pompadour?«
»Ich dachte, wenn du Geld hättest, wärst du vielleicht versucht, eine falsche Entscheidung zu treffen. Ich bin deine einzige Chance, Livvie. Dieses Mal ist es nicht so wie sonst, wenn du deine Stellung verloren hast, weil du bloßgestellt worden bist. Dieses Mal bist du Hunderte von Meilen von zu Hause entfernt und hast keine Möglichkeit zurückzugelangen. Und selbst wenn du zurückkehren könntest, würdest du niemanden finden, der dir hilft. Ganz sicher nicht deine Familie. Und was deine Freunde hier betrifft – sie werden sich von dir abwenden, wenn sie erfahren, wer du wirklich bist.«
Sie wusste, dass er sie zum Weinen bringen wollte. Zum Flehen. Sie hielt still.
»Du weißt, dass ich dich liebe, Livvie«, sagte er und ging auf sie zu. »Ist es manchmal nicht besser, sich einfach zu fügen?«
Ihr Herz hämmerte; er musste es hören. »Nicht dir. Dir niemals. Jetzt geh mir aus dem Weg, bevor ich dich schlage.«
»Und was dann, meine Liebe? Suchst du dir eine andere Stellung? Lieferst du dich der Gnade einer der anderen krähengesichtigen Damen aus, mit denen ich dich vergangenen Abend zusammensitzen sah? Wahrscheinlich werden sie dich höchstpersönlich auf die Straße jagen. Du, meine Liebe, bist eine verdorbene Frau – das ist inzwischen überall bekannt.« Sie erschrak, als sie bemerkte, dass seine Miene traurig wurde. Er wirkte so aufrichtig. »Ich biete dir so viel mehr. Das habe ich immer getan.«
»Und ich habe immer abgelehnt. Ich habe meine Meinung nicht geändert.«
»Nein, Liv«, entgegnete er, »du hast nicht immer abgelehnt.«
Sie musste schlucken, um die bittere Galle zurückzudrängen, die ihr die Kehle hinaufkroch.
Dann seufzte er. Seufzte. »Ach, Livvie, wann siehst du endlich ein, dass ich niemals aufgebe?«
Sie nahm wahr, wie liebevoll er erschien. Und sie wusste, dass er nach außen hin vielleicht besorgt wirken mochte, aber dass es in ihm ganz anders aussah. Innerlich stellte er sie sich anders vor: entblößt, hilflos, vollkommen in seiner Gewalt. Er hegte keinen Zweifel an seinem Recht, sie besitzen zu können.
Nein. Sie würde es nicht zulassen. Auf keinen Fall. Nicht mit diesem Mann, der ihr Leben zerstört hat, als wäre es ein Spiel. Drei Jahre lang war sie in Sicherheit gewesen. Und sie würde wieder in Sicherheit sein.
Wenn es ihr doch nur gelänge, an ihm vorbei zur Tür zu kommen.
Er ahnte, was sie vorhatte. Noch bevor sie sich rühren konnte, packte er sie an den Armen. Olivia widersetzte sich ihm. Plötzlich war sie in Panik. Sie konnte nicht zulassen, dass er das hier tat. Nach allem, was er ihr angetan hatte, konnte sie sich ihm nicht fügen. Nach allem, was er Georgie und Jamie angetan hatte.
»Lass mich los!«
»Sonst passiert was?«, fragte er und beugte sich vor. »Wirst du schreien?«
Sie öffnete den Mund, um genau das zu tun, als die Tür wieder aufflog, ihn traf und gegen Olivia stieß. Er versuchte, sein Gleichgewicht zu halten, und zog sie an sich. Kurz entschlossen rammte sie ihm das Knie zwischen die Beine.
Gervaise heulte auf und sackte in sich zusammen. Mit einem Schritt zurück ergriff Olivia ihr Gepäck noch ein bisschen fester und wollte zur Tür laufen. Doch schon wieder war der Weg versperrt. Lady Kate stand im Türrahmen.
Olivia blieb stehen. Einen Moment lang glaubte sie, eine Erscheinung zu haben. Sie blinzelte und rechnete damit, dass die Duchess sich in Luft auflösen würde. Was für einen Grund sollte Lady Kate haben hierherzukommen?
Die Duchess eilte wie zum Morgenappell herein und schloss die Tür hinter sich. Olivia machte den Mund auf, aber sie brachte kein Wort über die Lippen.
»Ach, Gervaise«, säuselte Lady Kate, als sie sah, wie er sich auf dem Boden wand und die Hände zwischen seine Beine presste. »Und ich war der Meinung, Sie wären der wortgewandteste Mann der ganzen feinen Gesellschaft. Wenn das schon das Beste ist, was Sie zu bieten haben, sollten Sie vielleicht noch einmal ein bisschen Nachhilfe nehmen.«
»Es war … ein Missverständnis«, stöhnte er und blieb zusammengerollt auf dem Boden liegen.
Sie lächelte strahlend. »Etwas anderes hätte ich niemals angenommen.«
Dann richtete sie sich auf, um Olivia zu betrachten, die ihre kläglichen Habseligkeiten an ihre Brust gedrückt hielt. »Ist es nicht reizend, dass wir ihnen gegenüber tatsächlich einen gewissen Vorteil haben?«, fragte sie mit einem verschwörerischen Lächeln. »Ich freue mich, dass Sie sich nicht zu fein sind, diesen Vorteil auszunutzen.«
»Durchlaucht…«
»Olivia, haben wir nicht gerade Seite an Seite am Operationstisch gestanden? Können Sie mich nicht Kate nennen?«
Olivia kam sich langsam und begriffsstutzig vor; sie wusste nicht, was sie entgegnen sollte. Sie wusste nur, dass sie verschwinden musste. Gervaise wand sich noch immer zu ihren Füßen, aber er würde sich schnell wieder erholen. Und hier stand die Duchess wie der sprichwörtliche Engel und sah selbst in ihrem blauen Wollkleid noch immer gepflegt und ordentlich aus, auch wenn sie den ganzen Tag über zwischen Verwundeten verbracht und anschließend durch ein überraschendes Gewitter gelaufen war.
Olivia fühlte sich so überwältigt, dass sie fürchtete, loslachen zu müssen wie eine Verrückte. Konnte sie es wagen, die Duchess um Hilfe zu bitten? Konnte sie diese reizende Frau in Gefahr bringen?
»Es tut mir leid«, sagte sie und war sich bewusst, wie panisch sie klang. »Könnten Sie … ich meine, nun ja, ich muss so bald wie möglich fort. Meine Arbeitgeberin, Mrs …«
»Bottomly.« Die Duchess nickte und strich sich sorgfältig die Regentropfen von ihrem Kleid. »Ja, mir ist zu Ohren gekommen, dass sie davongelaufen ist. Sie hat Sie im Stich gelassen, nicht wahr?«
»Ich fürchte, ja. Ich dachte, ich nehme meine Siebensachen erst einmal mit ins Lazarett. Später kann ich mich um eine neue Anstellung kümmern, wenn die Dinge … wenn …«
»Wenn wir wissen, ob wir morgen englisch oder französisch sprechen«, sagte Lady Kate mit einem bestimmten Nicken. »Ja. Nun ja, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Sie haben eine Anstellung. Lustigerweise suche ich gerade eine Gesellschafterin. Es ist furchtbar, dass ich mir selbst meine Umhänge heraussuchen muss. Es ist unter der Würde einer Duchess, finden Sie nicht?«
Olivia schnappte nach Luft. »Was ist mit Lady Beatrice?«
Lady Kate tätschelte sie wie ein Kind. »Oh nein. Bea ist nicht meine Gesellschafterin. Sie ist meine liebe Freundin. Ich suche nach jemandem, der mir dabei hilft, meinen chaotischen Haushalt zu organisieren.« Mit einem letzten Blick auf Gervaise, der es unsicher auf die Beine geschafft hatte, packte sie Olivia und drehte sie Richtung Tür. »Ich denke, wir sollten gehen. Es gibt ungeheuer viel zu tun für Sie. Holen, tragen, schmeicheln …«
»Lady Kate, ich sage es nur ungern«, protestierte Gervaise mit erhobener Hand. »Aber Sie wissen nicht, wer diese Person wirklich ist.«
Ach, dachte Olivia und spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog, jetzt kommt es.
Doch Lady Kate war offensichtlich nicht in der Stimmung, mehr zu tun, als nur die Augenbrauen zu heben. »Lieber Gervaise, sicherlich wissen Sie inzwischen, dass ich mir Klatschgeschichten zwar gern anhöre, allerdings nur selten glaube.«
»Aber Sie sollten wissen …«
Die Duchess blickte ihn so eindringlich an, dass er unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. »Nein. Ich glaube nicht, dass ich das sollte. Und ich glaube nicht, dass ich irgendetwas von Ihnen hören will – vor allem nicht, wenn Sie es sowieso nicht gern sagen. Es würde nur Ihren wunderbaren Mund besudeln. Nein, ich bestehe darauf, dass Sie mir die Entscheidung hinsichtlich Mrs Grace selbst überlassen.« Sie streckte den Arm aus, nahm Olivia die Hutschachtel ab und schob ihre neue Begleitdame zur Tür. »Wir sollten aufbrechen, Olivia. Meine Kutsche wartet, und wir haben nicht viel Zeit. Ich habe zugestimmt, dass einige der verwundeten Soldaten zu mir nach Hause gebracht werden, und sie müssen versorgt werden.«
Olivia hätte widersprechen und ihrer neuen Freundin die Peinlichkeit ersparen sollen, sie entlassen zu müssen, wenn die Wahrheit ans Licht kam – denn das würde unweigerlich geschehen. Ein Blick auf die Verbitterung, die Gervaises Augen verdunkelte, reichte aus, um eine Entscheidung zu treffen. Sie konnte nicht riskieren, jetzt die Wahrheit zu verraten, auch nicht, um Lady Kate zu beschützen oder um ihre eigene Seele zu retten.
»Danke, Lady Kate«, sagte sie und machte einen Knicks. Noch immer hielt sie ihren Koffer an sich gedrückt. »Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Kates Lächeln war strahlend. »Ich bin nicht sicher, ob Sie Ihre Meinung nicht doch noch ändern, wenn Sie erst einmal das Chaos in meinem Haus gesehen haben. Aber Sie haben sich verpflichtet, meine liebe Olivia. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«
Und damit zog sie die Tür auf. Der Wind wehte Regen herein. Draußen wartete ein Diener mit einem aufgespannten Regenschirm. Lady Kate drängte an ihm vorbei und führte Olivia zur offenen Tür ihrer Kutsche, einer blauen Berline mit herzoglichen Rauten. Die Kutsche wurde von zwei der ohne Zweifel letzten Pferde in ganz Brüssel gezogen. Die riesige Flinte, die Olivia auf dem Schoß des Kutschers liegen sah, hatte vermutlich etwas damit zu tun. Olivia wollte sich gerade an die weichen cremefarbenen Ledersitze lehnen, als etwas vor ihrem Fenster ihre Aufmerksamkeit erregte. Ein zweiter Mann wartete vor der Tür zur Pension. Er stand unter seinen Schirm gekauert, um sich vor dem starken Regen zu schützen. Sie fragte sich, was an ihm sie dazu veranlasste, ihn genauer zu betrachten.
Dann ging die Tür zur Pension auf, und Gervaise kam heraus. Er spannte seinen Schirm auf und trat zu dem wartenden Mann auf der Treppe. Beide drehten sich um und sahen zu, wie die Kutsche vorbeifuhr. In diesem Moment erblickte Olivia das Gesicht des anderen Mannes.
Er war mittleren Alters, schlank, wie aus dem Ei gepellt, die Haare mit Makassar-Öl zurückgekämmt. Seine Augen blitzten auf, als hätte er sie erkannt, und er duckte sich, als könnte er sich vor ihr verstecken.
Es war zu spät. Olivia hatte ihn bereits wiedererkannt. Es war der Diener ihres Ehemannes – Edward Chambers. Eine weitere unwillkommene Erinnerung an die Vergangenheit, eine weitere nicht beantwortete Frage. Es schien so, als wäre er inzwischen Gervaises Diener. Das ist vermutlich Antwort genug, dachte sie.
Olivia wandte sich ab und schloss die Augen. Sie zitterte noch immer vor Angst.
Es stand so viel auf dem Spiel. Mehr als ihre eigene Ehre. Mehr als ihr Leben. Mehr als eine einzelne Frau ertragen konnte. Denn Gervaise würde keine Ruhe geben, ehe er nicht jedes Geheimnis in Erfahrung gebracht hatte, um es gegen sie zu verwenden. Bis er ihr kleines Häuschen in Devon gefunden hatte, wo Georgie sich versteckte. Bis er sie alle zerstört hatte.
Doch sie konnte Lady Kate nicht in Gefahr bringen. Sie musste ihr die Wahrheit sagen. Wenn sie Lady Kate nicht ihren richtigen Namen sagte, gefährdete sie deren Ruf. Wenn sie ihr nicht die ganze Wahrheit erzählte, brachte sie diese wundervolle Lady in große Bedrängnis.
Aber wenn sie die Wahrheit sagte, würde Lady Kate sie hinauswerfen müssen. Und Gervaise hatte nicht übertrieben: Es gab keinen anderen Ort, an den sie fliehen konnte. Sie hatte kein Geld. Sie konnte Gervaise nicht entkommen. Sie konnte ihre kleine Familie nicht beschützen – dabei hatte sie alles, was sie in den vergangenen fünf Jahren aushalten musste, nur aus diesem einen Grund überlebt.
Sie würde Lady Kate die Wahrheit sagen.
Morgen.
Wenn sie ausgeruht war. Wenn sie einen klaren Gedanken fassen konnte. Wenn sie nicht mehr von nackter Angst gepackt war.
Sie hoffte nur, dass Lady Kate nicht dafür würde büßen müssen.
Am nächsten Nachmittag stand Olivia auf dem verwüsteten, zertrampelten Feld vor der massiven Steinmauer, die Brüssel umgab. Noch nie in ihrem Leben war sie so erschöpft gewesen. Lady Kate hatte tatsächlich acht Soldaten in dem Haus an der Rue Royale einquartiert, das sie gemietet hatte, doch die Pflege war dem Hauspersonal übertragen worden. Draußen wurde dringender Hilfe benötigt. Die Lage war angespannt. An den Toren Richtung Namur und Löwen waren Sanitätszelte errichtet worden. Aber es waren schnell viel zu viele Verwundete gekommen, die hatten versorgt werden müssen. Sie drängten auf die Kopfsteinpflasterstraßen und auf die gepflegten Plätze der mittelalterlichen Stadt, und in all dem Chaos war Olivia einfach keine Zeit geblieben, um mit Lady Kate zu reden. Ihr tat alles weh, und ihr war schwindelig vor Müdigkeit. Sie lehnte sich an die kühlen ockergelben Steine der alten Mauer. Die Spätnachmittagssonne brannte erbarmungslos vom Himmel, immer mehr Verwundete trafen ein, und der Wind wehte ab und an das ferne Donnern der Kanonen zu ihnen herüber.
Die große Schlacht hatte begonnen. Wellington hatte Napoleon endlich von Angesicht zu Angesicht auf einem Feld südlich von Brüssel in der Nähe der Stadt Waterloo gestellt. Die Liste der Todesopfer war schon jetzt viel zu lang. Der gut aussehende junge Lord Hay, der jedes Mädchen auf dem Ball der Duchess of Richmond verzaubert hatte, war tot. Gefallen bei Quatre Bras. Genau wie der Duke von Brunswick, dessen schwarz gekleidete Soldaten ihn persönlich vom Schlachtfeld in die Stadt zurückgetragen hatten. Und die eindrucksvollen Gordon Highlander, die vor drei Nächten in ihren farbenfrohen Kilts getanzt hatten, waren fast alle abgeschlachtet worden. Gott allein wusste, wie viele noch umgekommen waren – auf dem Feld oder an der vierzig Kilometer langen Strecke vom Schlachtfeld bis nach Brüssel.
Olivia trat in das Sanitätszelt und sah, dass Lady Kate einem der Chirurgen am Operationstisch half. Ihr keckes, strahlendes Lächeln half dabei mehr als einem Soldaten durch die Qualen des Eingriffs. Grace Fairchild beugte sich über einen sterbenden Jungen, der ein kleines Bild an seine zerschmetterte Brust drückte. Frauen erledigten an diesem blutigen Tag Arbeiten, die sonst nie jemand von ihnen verlangt oder erwartet hätte, und Olivia war sich nicht sicher, wie sie das Erlebte jemals verarbeiten sollten.
Die vierundzwanzig Stunden, die seit ihrer Rettung durch Lady Kate vergangen waren, hatte sie damit verbracht, zu verbinden und zu trösten, bis ein Gesicht mit dem anderen verschwommen war und sie die dreckverschmierten Männer nur noch anhand ihrer Uniformen hatte auseinanderhalten können. Nein, nicht die Männer. Die Jungen.
Es waren Jungen, so mutig und so ängstlich und so allein in den letzten Momenten ihres Lebens. Sie konnte sie mit dem Wasser, das sie hin- und herschleppte, nicht schnell genug erreichen. Oft war sie der einzige Trost, den die Jungen noch hatten. Sie fand nicht die richtigen Worte, um ihnen ihre Qualen zu erleichtern. Sie konnte das Weinen und Stöhnen nicht mehr ertragen. Doch noch schlimmer war das Schweigen. Männer mit grauenhaften Verwundungen, die die Lippen aufeinandergepresst hielten und keinen Ton von sich gaben, um ihre Freunde nicht zu beunruhigen.
Angst brannte in ihrer Kehle und wühlte ihr Innerstes auf. Sie fühlte sich so bedeutungslos und selbstsüchtig, weil sie sich Sorgen über eine Flucht machte, während diese Jungen so viel Schlimmeres erdulden mussten. Sie bemerkte, dass Lady Kate in ihre Richtung schaute. Und sie sah Tränen in diesen glänzenden, schönen Augen. Bewusst straffte Olivia die Schultern und ging zurück auf die schmale Kopfsteinpflasterstraße, wo noch mehr Verwundete warteten.
Es mochten Minuten oder Stunden vergangen sein, als einer der Männer plötzlich ihren Arm ergriff. »Hören Sie«, drängte er.
Olivia war sich nicht sicher, was er meinte. Sie konnte noch immer die Schmerzensschreie wahrnehmen, das Flehen um Hilfe, um Wasser, um den Tod. Sie hörte …
Die Kanonen.
»Es hat aufgehört«, sagte sie. Sie betrachtete den hübschen jungen Mann mit dem rötlich braunen Haar. Er diente bei den leichten Dragonern. Und er würde seinen Arm verlieren, noch ehe die nächste Stunde vorbei war. »Oder? Bedeutet das, dass es vorbei ist?«
Er sah sie nicht an. Sein Blick ging ins Leere, als würde er all seine Energie darauf verwenden zu hören. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
Olivia flößte ihm ein wenig Wasser ein und gab ihm einen Schluck von Lady Kates letzter Reserve an Brandy. Den ganzen Tag trafen widersprüchliche Berichte ein. Wellington hatte gewonnen. Wellington war auf dem Rückzug, und die Franzosen waren bereit, in Brüssel einzumarschieren. Sie hatten sogar einer Truppe der belgischen Kavallerie ausweichen müssen, die durch die Straßen gejagt war und die Niederlage verkündet hatte. Inzwischen war es Olivia gleichgültig, wer gewonnen hatte. Solange das Gemetzel endlich ein Ende nahm.
»Nun ja, ich erwarte von Ihnen, dass Sie mich auf dem Siegesball mindestens zu einem Tanz auffordern«, sagte sie zu dem Jungen.
Ein Lächeln erhellte seine erschöpfte, ausgezehrte Miene. »Es wäre mir eine Ehre, Ma’am. Ensign Charles Gregson, zu Ihren Diensten.«
Olivia richtete sich auf und machte einen Knicks. »Mrs Livvie Grace, Ensign. Mein Lieblingstanz ist der Kontratanz.«
»Im Kontratanz übertreffe ich mich selbst, Ma’am.«
Olivia verschloss die Brandyflasche und erwiderte sein Lächeln. »Bis dann, Ensign Gregson«, sagte sie und wollte sich dem nächsten Soldaten zuwenden.
Aber eine bleiche Grace Fairchild stellte sich ihr in den Weg. Graces verschwitztes Haar hing zerzaust aus ihrem Knoten. Ihr Gesicht war verschmiert, und Blut befleckte die Schürze, die ihr praktisches graues Kleid schützte.
»Olivia, darf ich Sie um einen Gefallen bitten?« Sie sah aus, als müsste sie sich sehr zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren. In den drei Tagen, die Olivia sie nun kannte, hatte sie mitbekommen, dass Grace nie um einen Gefallen bat. Es war immer umgekehrt – alle baten Grace um Hilfe.
Olivia legte ihre Hand auf Graces Arm. »Selbstverständlich, Grace. Was ist passiert?«
»Mein Vater …« Sie blickte Richtung Süden, wo den ganzen Tag über die Kanonen zu hören gewesen waren. »Ich habe nichts von ihm gehört. Für gewöhnlich gelingt es ihm immer, mir eine Nachricht zukommen zu lassen, wie es ihm geht. Es ist …«
Sie schluckte, als würden ihr die Worte im Halse stecken bleiben. Olivia wollte ihre Arme um die junge Frau legen. Sie hatte das Gefühl, dass Grace sich selbst beigebracht hatte, das Schlimmste zu überstehen. Wenn sie ihr nun ihr Mitgefühl zeigte, war es möglich, dass diese Beherrschung zunichtegemacht wurde.
»Wissen Sie, wo er sich aufhält?«, fragte Olivia.
Grace sah noch immer Richtung Süden. »Die Garde hat Château Hougoumont verteidigt. Ich habe gehört, dass es den ganzen Tag über erbitterte Gefechte gegeben hat. Wenn wir das Château verlieren würden, würde das auch den Verlust der westlichen Flanke bedeuten, verstehen Sie?«
Olivia verstand nicht. Bis sie hier auf den Straßen die Verwundeten versorgt hatte, war sie nie mit solchen kriegerischen Auseinandersetzungen in Berührung gekommen. »Kann denn niemand an Ihrer Stelle gehen?«, fragte Olivia. »Sie waren heute so lange auf den Beinen, dass ich fürchte, es würde Ihre Verletzung nur noch verschlimmern.«
Einen Moment lang sah Grace sie verwirrt an. Dann lächelte sie sanft. »Ach, mein Bein. Das ist keine Verletzung, Olivia. Ich bin so geboren worden. Ich versichere Ihnen, dass es schon Schlimmeres überstanden hat.«
Olivia errötete. »Oh, das tut mir leid.«
Graces Lächeln wurde noch milder. »Seien Sie nicht albern. Wieso sollte ich gegen Freundlichkeit etwas einzuwenden haben? Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich zu begleiten? Der ehemalige Offiziersbursche meines Vaters, Sergeant Harper, wird mit uns kommen. Er beschützt uns mit Waffen. Doch er sähe es lieber, wenn ich eine Freundin dabeihabe, falls … nun ja …«
Olivia strich ihre blutbesudelte Schürze glatt und warf einen nervösen Blick zur Stadtmauer. »Natürlich. Aber sind Sie sich sicher, dass Sie heute Abend fahren müssen? Es ist schon nach sieben, und die Soldaten sagen, dass die Straße so gut wie unpassierbar ist.« Und das Kanonenfeuer hatte erst vor so kurzer Zeit aufgehört.
Grace lächelte. »Nicht für einen alten Soldaten.« Sie starrte auf ihre Hände, als wäre sie fasziniert von ihnen. »Verstehen Sie nicht?«, fragte sie mit einem steifen Schulterzucken. »Ich muss es wissen.«
Olivia sah die Wallanlagen entlang und bemerkte, dass die Zivilisten innegehalten hatte, um die Stille besser deuten zu können. Sie betrachtete die stumme Prozession von Verwundeten, die durch die Tore stolperten und taumelten. Es war die Hölle. Doch wie mochte es da draußen aussehen, nachdem die Geräusche der blutigen Schlacht den ganzen Tag über angehalten hatten?
Ehe sie lange darüber nachdenken konnte, nickte sie. »Ich werde Lady Kate Bescheid sagen. Bei all den jungen Männern, die sie bezaubern muss, bezweifle ich, dass sie überhaupt bemerken wird, wenn ich weg bin.«
Olivia konnte Grace, die sonst immer so kontrolliert war, am Gesicht ablesen, wie aufgewühlt sie war. »Danke, Olivia. Können Sie mit einer Waffe umgehen?«
Zum ersten Mal lächelte auch Olivia. »Tatsächlich kann ich das. Mein Vater hatte eine übermäßige Vorliebe für Waffen. Und ich kann mir im Moment nicht vorstellen, was ich lieber täte, als auf jeden zu schießen, der uns daran hindern will, zu Ihrem Vater zu gelangen.«
Außer vielleicht, auf Gervaise zu schießen. Aber er hatte sich auffallend zurückgehalten, seit die Duchess Olivia gerettet hatte. Selbst er war nicht so dumm, Lady Kate herauszufordern. Jedenfalls hoffte sie das.
Doch ihre Probleme musste sie erst einmal hintanstellen. Jetzt ging es um Grace. Also straffte sie die Schultern, wie sie es bei den Soldaten gesehen hatte, ehe sie in den Kampf marschiert waren. »Sollen wir uns dann wie Grenadiere bewaffnen und Sergeant Harper aufs Schlachtfeld folgen?«
Trotz der Tränen in ihren Augen lächelte Grace. »Genau. Das Abenteuer erwartet uns.«
Nur die Tatsache, dass Sergeant Harper zwei Gewehre dabeihatte, sicherte den Erfolg ihrer Mission. Ganz sicher war es nicht seine Körpergröße. Er war nicht viel größer als Olivia, krummbeinig und hatte einen feuerroten Haarschopf. Aber Olivia erkannte gleich die Bindung, die er zu Grace hatte, und wusste, dass er niemals zulassen würde, dass ihr etwas zustieß.
Lady Kate bot ihnen ihre Kutsche, ihre Pferde und ihren Kutscher an. Sie nahmen die ersten beiden Angebote an; der Kutscher war beunruhigend blass geworden, als sie ihm ihr Ziel genannt hatten.
Grace lenkte die Kutsche, damit der Sergeant die Hände freihatte, um sie nötigenfalls verteidigen zu können. Da sie nicht versessen darauf war, allein in der Kutsche zu sitzen, kletterte Olivia auf den Kutschbock und nahm zwischen den beiden Platz. Nicht einmal der Bündelrevolver, den sie in der Tasche ihrer Schürze trug, beruhigte sie, als sie langsam die Charleroi Road hinabfuhren.
Die Landschaft war hügelig. Acker mit Weizen, Roggen und Gerste erstreckten sich bis zum Horizont. Die Straße war aufgewühlt, und überall lagen zerbrochene Wagen, tote Pferde, zurückgelassene Ausrüstung herum. Verwundete Soldaten, die sich nach Brüssel durchschlugen, kamen ihnen entgegen. Mehr als ein Mal sah Olivia Soldaten, die sich auf dem beschwerlichen Weg zum Ausruhen in den Schatten unter einen Baum gesetzt hatten und nicht wieder aufgestanden waren. Der Gestank war unbeschreiblich: Tod und Rauch und Blut. Diesen Geruch würde Olivia für den Rest ihres Lebens nicht vergessen.
Sie dachte, dass sie in Brüssel schon viel Leid gesehen hatte. Doch ein Blick auf die Männer, die an ihnen vorbeikamen, belehrte sie eines Besseren. Sie bewegten sich wie lebendige Tote: ausgezehrt, mit verschmierten Gesichtern, zerlumpt und blutig, stützten sie einander oder setzten sich einfach mitten auf die Straße, wenn sie nicht mehr weiterlaufen konnten. Sie nahmen den seltsamen Anblick von zwei Frauen auf dem Weg zum Schlachtfeld kaum wahr. Diejenigen, die sie bemerkten, waren eher an den Pferden interessiert, aber Sergeant Harpers Anwesenheit reichte aus, um eventuelle Gedanken an einen Diebstahl zu vertreiben.
Stundenlang kämpften sie sich weiter. Das Licht des späten Sommerabends wies ihnen den Weg. Das Geratter von Gewehrschüssen zerriss die Stille, und am Horizont stieg hier und da Rauch auf. Olivia konnte im Osten, als sie den Mont St. Jean erreichten und in westliche Richtung auf die Nivelles Road bogen, Zelte und Lichter sehen.
»Wir sind fast da, Ma’am«, sagte Sergeant Harper. Unentwegt hielt er nach Gefahren Ausschau und hatte den Finger immer am Abzug, als Grace die Kutsche an einem weiteren umgekippten Wagen vorbeilenkte. »Sehen Sie den Rauch?«
Was erkannte er dort? Überall war Rauch. Der allmählich dunkler werdende Himmel verschwamm darin. Die Sonne war untergegangen, und es dämmerte, sodass die Szenerie noch tiefer im Schatten lag. Olivia spähte in die Richtung, in die Harper wies, und mit einem Mal stockte ihr Herz.
Um Gottes willen. Das konnte nicht wahr sein. Wie hatte auch nur ein Mann dieses Massaker überleben können? Die Kornfelder gab es nicht mehr. An ihrer Stelle lag ein Teppich aus Toten – Leichen in Rot und Blau und Grün wie Blumen, die im Sturm umgeknickt waren, Reihen von toten Soldaten, Haufen von toten Soldaten. Das schwache Licht des Tages brach sich in Schwertern und Brustpanzern und Waffen. Hunderte von Pferden wanden sich im Todeskampf, einige von ihnen waren bereits aufgedunsen.
Und dann die Schreie. Menschliche. Tierische. Die schreckliche, schauerliche Totenklage der Verdammten, die zwischen den zerstörten Bäumen emporstieg und ihr Innerstes aufwühlte.
»Der Herr steh uns bei«, flüsterte Sergeant Harper, und sogar er klang erschüttert.
Menschen beugten sich, Laternen in der Hand, über die Gefallenen. Olivia bezweifelte, dass sie alle gekommen waren, um zu helfen. Sie wollte mit ihrer Pistole von der Kutsche springen und sie verjagen.
»Dort, glaube ich, Sergeant«, sagte Grace unvermittelt und streckte den Arm aus. Ihre Aufmerksamkeit wurde von einer Rauchsäule gefesselt, die über den Bäumen aufstieg. »Die westliche Flanke.«
Auch Olivia sah es nun. Eine rote Steinmauer. Zerstörte Bauernhäuser aus Stein, weiß verputzt. Flammen züngelten noch immer aus den leeren Fenstern. Noch mehr Leichen, an den Wänden übereinandergelegt, zwischen gespaltenen Bäumen: lebendig, tot, auseinandergerissen wie Puppen. Noch mehr Rauch, der die Konturen der schrecklichen Szene verschwimmen ließ. Olivia schluckte schwer und wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab. Wie sollten sie hier Graces Vater finden? Wie sollten sie sich diesem Grauen stellen?
»Hier, glaube ich, Sean«, sagte Grace leise, als sie die nördliche Wand des Grundstückes erreichten. »Bei den Toren.«
Die Kutsche hielt, und Grace legte die Zügel auf den Schoß des Sergeants.
»Ich sehe nach«, sagte Harper und ergriff ihre Hand. »Sie bleiben.«
Grace tätschelte seinen Arm. »Niemand wird ein paar Frauen bemerken, wenn hier eine Kutsche und Pferde stehen.«
Olivia war sich da nicht so sicher. Trotzdem überzeugte Grace Harper schließlich, und er half Grace und Olivia vom Kutschbock.
»Wir werden in der Nähe bleiben«, versprach Grace und nahm eine der Laternen entgegen, die Harper nach unten reichte.
Sehr viel langsamer folgte Olivia ihr. Sie konnte das hier nicht tun. Sie konnte keine der Leichen umdrehen. Sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, das tote Gesicht des großartigen schnauzbärtigen Generals zu erblicken und es Grace sagen zu müssen.
Wenigstens verbarg die einsetzende Dämmerung das Schlimmste. Olivia nahm eine der Laternen und folgte Grace zu der zerstörten Mauer.
Es waren keine Schüsse mehr zu hören. Ein paar Männer hatten sich bei dem Holztor versammelt. Grace ging zu ihnen und erkundigte sich nach ihrem Vater. Alle schüttelten den Kopf. Es war ein schweres Gefecht gewesen, und der General war mit einigen Soldaten im Obstgarten des Gehöfts in Stellung gegangen.
Grace nickte und wandte sich den Bäumen zu. Olivia folgte ihr. Sie beobachtete, wie Grace den ersten Körper in einer roten Uniform umdrehte, und wartete. Grace legte den Leichnam wieder hin, richtete sich auf und ging zum nächsten. Einen Moment lang schloss Olivia die Augen und betete. Dann beugte sie sich über den ersten Toten. Von da an konzentrierte sie sich auf nichts anderes als den weißen Schnurrbart.
Die Nacht brach herein, während sie noch immer weitersuchten. Der Vollmond schien am Himmel und tauchte die entsetzliche Szene in silbriges Licht. Die Laterne schwankte hin und her, als Grace an der östlichen Mauer in Richtung Süden ging. Ihre Bewegungen waren schnell und effizient. Nicht annähernd so schnell und effizient lief Olivia ihr hinterher. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie plötzlich etwas hörte.
»Mylady.«
Die Stimme eines Mannes, wie so viele andere. Sie wischte den Ruß vom Gesicht eines jungen Gardisten und drückte seine Augen zu.
»Bitte, Mylady.«
Olivia blickte auf und erwartete, einen verwundeten Soldaten zu sehen.
Er war kein verwundeter Soldat.
Olivia blinzelte. Sie war sich sicher, dass sie Rauch in den Augen hatte. Dass sie einfach vollkommen erschöpft war. Doch als sie ihre Augen wieder aufmachte, war er noch immer da. Keine eineinhalb Meter von ihr entfernt stand er. Chambers. Gervaises Diener. Und er trug den roten Rock eines Gardisten, als würde er auf dieses Schlachtfeld gehören.
»Bitte, Mylady«, sagte er zu ihr. Sein ernstes Gesicht wirkte beinahe panisch. »Helfen Sie mir.«
»Was machen Sie hier?« Olivia keuchte erschrocken auf und sah sich um.
Dann erstarrte sie. Oh Gott. Wenn Chambers hier war, wo war dann Gervaise? Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie weit sie gegangen war. Abgesehen von Chambers und den Toten und der hereinbrechenden Nacht, war sie allein zwischen den Bäumen.
»Es ist schon gut, Mylady«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gehört. »Er ist nicht hier.«
»Hören Sie auf, mich so zu nennen«, erwiderte Olivia knapp. »Ich bin Mrs Olivia Grace.«
»Sie müssen helfen«, flehte Chambers.
»Wem muss ich helfen?«, wollte Olivia wissen. »Ihnen?«
»Ihm.«
»Gervaise?«
Chambers schüttelte wortlos den Kopf. Olivia wartete und fragte sich, wo die Pointe blieb. Sie wollte ihm sagen, dass sie auf keinen Fall vorhatte, ihm zu helfen – egal, was passierte. Vor fünf Jahren hatte sie seine Welt hinter sich gelassen, war gejagt worden wie ein Dieb mit einem gestohlenen Apfel in der Hand. Sie hatte die Erinnerung an jene Zeit tief in sich verschlossen und wollte sie nicht wieder hervorholen.
Sie machte auf dem Absatz kehrt, um zu gehen. Chambers war jedoch schneller und packte sie am Handgelenk.
»Lassen Sie mich los«, forderte sie und wollte sich aus seinem Griff befreien.
Er beachtete ihre Worte nicht. »Ich habe ein Pferd gestohlen und bin Ihnen hierher gefolgt«, sagte er und zog sie unaufhaltsam hinter sich her zwischen den Bäumen hindurch. »Ich danke Gott, dass Sie gerade an diesem Ort sind. Ich hätte Sie sonst aber auch den ganzen Weg übers Schlachtfeld geschleift, wenn es nötig gewesen wäre.«
Sie wehrte sich noch immer gegen ihn, als er sie über und um die Toten herum führte, die unter den zerstörten Bäumen lagen.
»Lassen Sie mich los«, forderte sie wieder. »Ich muss meiner Freundin helfen.«
»Sie müssen mir helfen.«
Ihr Herz geriet ins Stocken. Das konnte nicht wahr sein. Sie musste träumen. Sie war in einem der Sanitätszelte eingeschlafen, und jetzt bezahlte sie den Preis für diese Nachlässigkeit.
Chambers blieb stehen. Sie wäre beinahe gegen ihn geprallt. Sie hatten einen Ort erreicht, an dem die Toten übereinander unter den zerstörten Obstbäumen lagen. Das Mondlicht strich mit kalter Hand über sie; der Geruch von Schwarzpulver war überwältigend. Chambers nahm Olivia die Laterne ab und ging vor einem der reglosen Körper in die Knie.
»Schauen Sie«, befahl er.
Sie betrachtete den Soldaten. Ihr Atem setzte aus. Sie war sich sicher, dass auch ihr Herz nicht mehr schlug.
Es war nicht möglich. Es konnte nicht möglich sein. Er war blutverschmiert, so blutverschmiert. Ein schmutziges Halstuch war um seinen Oberarm und ein zweites um sein Bein gebunden. In seinem Haar klebte das Blut, das auch sein Gesicht, seinen Hals und seine Brust bedeckte. Er saß an einen Baum gelehnt, als wäre er nur betrunken eingeschlafen. Seine Augen, diese wundervollen blaugrünen Augen, die sie früher einmal für ehrlich und freundlich gehalten hatte, waren geschlossen.
»Ist er tot?«
Für einen winzigen Moment verschaffte ihr dieser Gedanke ein bösartiges Glücksgefühl. Es geschah ihm nur recht – nach allem, was er ihr angetan hatte. Doch das Gefühl war genauso schnell wieder verflogen, wie es immer verflog, und sie blieb mit der Trauer zurück, die ihm folgte.
»Noch nicht«, entgegnete Chambers und legte seine Hand an das blutige Gesicht. »Bitte, helfen Sie ihm, Mylady. Er braucht Sie.«
»Ich denke, er würde Ihnen da nicht zustimmen«, korrigierte Olivia ihn. Sie war nicht in der Lage, sich zu rühren. Nervös ballte sie die Hände zu Fäusten, um den Drang zu unterdrücken, sich hinzuknien. Den Drang, den übel zugerichteten Körper in die Arme zu schließen, wo er hingehörte. Den Drang, ihn zu schlagen, weil er ihr so viel Schmerz zugefügt hatte, und dann um ihn zu weinen. »Er hat mich weggeworfen, Chambers. Er hat keinen Zweifel daran gelassen, was er von mir gehalten hat. Nichts hat sich geändert.«
»Er braucht Sie«, flehte der Diener. »Er darf nicht entdeckt werden. Nicht so.«
»Nicht wie?«, wollte sie wissen. »Dann ist er eben zum Militär gegangen. Das ist sehr patriotisch von ihm. Fragen Sie doch einen der anderen Gardisten, ob der Ihnen helfen kann.«
Sie blinzelte unsicher. Die Gardisten hatten dieses Gehöft in ihren leuchtend roten Uniformen mit den glänzenden Messingknöpfen verteidigt. Er trug einen blauen Uniformrock. Nur die Halsbinde und die Manschetten waren rot.
Solche Uniformen hatte sie schon einmal gesehen. Sie hatte viele Soldaten darin gesehen – tot übereinanderliegend im Osten des Schlachtfeldes. »Was ist das für eine Uniform?«, wollte sie wissen und hoffte mit einem Mal, dass sie sich irrte. »Ich erkenne sie nicht …«
Aber sie erkannte sie wieder. Sie unterbrach sich. Wich zurück. Selbstverständlich erkannte sie sie wieder. Sie war umgeben von Toten in solchen Uniformen. Von den gefallenen Soldaten, die gegen die Gardisten gekämpft und versucht hatten, das Château einzunehmen.
Französische Soldaten.
John Phillip William Wyndham, Nachkomme einer der ältesten, angesehensten Familien Englands, ein Earl, lag in einer französischen Uniform auf einem englischen Schlachtfeld.
Ihr Ehemann war ein Vaterlandsverräter.