Kapitel 1
Manchmal ist ein Irrenhaus gar nicht so schlimm
Ich öffne die Augen, trotzdem bleibt es dunkel. Finsternis umfängt mich und ist alleseinnehmend. Kein einziges Geräusch dringt bis an meine Ohren, lediglich das Rauschen meines Blutes durchbricht die Stille.
Mein Herz hämmert gegen meine Brust, versucht die Rippen zu zerschmettern und ins Freie zu gelangen. Vergeblich. Es sitzt fest, genau wie ich. Sobald ich realisiere, wo ich bin, was geschehen ist, beruhigt sich mein Puls. Panik hat keinen Sinn, sie bringt mich hier nicht raus.
Dennoch beherrscht mich weiterhin die Angst. Stumm rollen mir Tränen die Wangen hinab. Ich darf nicht aufgeben, muss mich an die Hoffnung klammern. Doch es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis mich die Leere in meinem Inneren komplett verschlingt und auch das letzte Licht der Hoffnung mit sich nimmt.
Schweißgebadet schrecke ich hoch, schnappe gierig nach Luft und entwinde mich den Schatten des Traums. Sie haften an mir, wie unliebsame Verwandte an Weihnachten. Gänsehaut überzieht meine Unterarme, verleiht meiner inneren Unruhe Ausdruck. Ich reibe über meine Haut, versuche beides zu vertreiben.
Der Mond scheint durchs Fenster in unser Zimmer und ich blicke zu Samira. Sie liegt auf der Seite, hat das Gesicht zur Wand gedreht und die Decke bis über die Schulter gezogen. Bei jedem Atemzug bewegt sich ihr Oberkörper sanft auf und ab.
Ich ziehe die Knie zu mir, schlinge die Arme darum und lasse meinen Rücken gegen die Wand sinken. Bisher war mein Bett immer ein sicherer Ort gewesen, doch das hat sich in den letzten Tagen verändert. Seit Higgins angeschossen wurde und ich herausgefunden habe, was wirklich hinter meinem Erbe steckt, verfolgen mich die Albträume. Sie heißen mich beinahe jede Nacht willkommen, entführen mich in eine dunkle Welt, die nicht meine eigene zu sein scheint. Ist es die Zukunft? Oder die Vergangenheit? Sind es meine Erinnerungen oder sehe ich etwas, das irgendwann erst geschehen wird?
Keine Ahnung.
Nur einer Sache bin ich mir sicher: Es ist die Realität, kein einfacher Traum. Was auch immer ich sehe, war einmal real oder wird es einst sein.
Genau deswegen habe ich niemandem davon erzählt. Die Neuigkeit, dass in mir das Blut zweier Göttergeschlechter fließt, verunsichert die anderen schon genug. Sie sind in dem Glauben aufgewachsen, dass jemand wie ich niemals existieren darf, und ihre Familien haben alles darangelegt, es zu verhindern. Allerdings haben sich meine Eltern gegen ihre Überzeugungen aufgelehnt und mit einer Tradition gebrochen, die meine Mutter in die Flucht trieb und dafür sorgte, dass sie nie wieder nach Hause zurückkehren konnte. Nicht ohne für meinen Tod verantwortlich zu sein.
Denn genau das würde mir wahrscheinlich blühen, wüsste jemand von meiner Existenz. Die Halbgötter fürchten jemanden wie mich. Sie haben Angst vor der Macht, die durch meine Adern fließen könnte.
Mit Sicherheit missbilligen sie auch meine Beziehung zu Maris. Immerhin ist er ein Gott und ich eine Halbgöttin. Somit entstammen wir verschiedenen Götterlinien und dürften eigentlich keine Beziehung führen. Bisher schützt uns die Tatsache, dass Maris ein Gott ist. Ihm stellt man sich nicht in den Weg. Zumindest habe ich diese Erfahrung gemacht.
Mir schwirrt der Schädel. Es sind zu viele Gedanken, zu viele Fragen, die momentan niemand beantworten kann. Zu viel, was in den letzten Wochen geschehen ist.
Kira ist verschwunden, Higgins – mein biologischer Vater – liegt im Krankenhaus und zugleich versucht jemand, das Tor zur Götterwelt zu finden und in den Olymp zu gelangen. Was wir unter allen Umständen verhindern müssen, sonst könnte es das Ende beider Welten bedeuten.
Müde fasse ich mir an die Stirn, schließe die Lider einige Momente. Sofort ist die allumfassende Dunkelheit meines Traums zurück und erneut breitet sich die Hoffnungslosigkeit in mir aus.
Deswegen greife ich nach meinem Handy, entsperre es und öffne Instagram. Ich scrolle durch die Posts meiner früheren Freunde. Lese Captions, die ich nicht mehr verstehe. Seit dem Tod meiner Eltern bin ich kein Teil mehr ihrer Welt. Ich habe mich zurückgezogen, sie vor den Kopf gestoßen und bin schließlich nach Kingswood Castle gekommen. Wir haben uns so weit voneinander entfernt, dass mir Fremde vermutlich näher wären. Ihre Bilder zu sehen, ihre Geschichten zu lesen und in den Storys mitverfolgen zu können, wer die Menschen, die ich früher meine Freunde nannte, heute geworden sind, versetzt mir einen Stich. Jeder ihrer Posts erinnert mich an eine Vergangenheit, die nie wieder zurückkehren wird. An eine Gegenwart, die ohne mich stattfindet. An eine Zukunft, die ich nicht miterleben werde. Deswegen treffe ich eine Entscheidung und rufe nacheinander die Profile meiner alten Mitschüler und Freunde auf. Ich entfolge ihnen, lasse endlich den Teil meines Lebens hinter mir, aus dem ich herausgewachsen bin. Denn in Wahrheit bin ich es, die sich verändert hat, und diese Erkenntnis schmerzt. Mit jedem Detail meines früheren Lebens, das ich zurücklasse, fühlt es sich an, als würde ich ein Stück meiner Eltern verlieren. Als würde ich vergessen, wer ich war und woher ich komme.
Mein Handy vibriert und vor Schreck lasse ich es beinahe fallen. Schnell schalte ich den Wecker aus, damit Samira noch einige Minuten den Schlaf auskosten kann. Ich schlage die Decke zurück, schleiche zum Schrank und krame frische Klamotten hervor. Darauf bedacht, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen, ziehe ich mir die Schuluniform über und öffne danach die Tür. Im Bad putze ich mir die Zähne und beseitige die Spuren der Nacht mit Make-up und Wimperntusche. Meine Augenringe gleichen Mondkratern und der Stress der letzten Wochen macht sich in meinem Gesicht bemerkbar. Ein großer Pickel prangt auf meiner Stirn. Sein Hohn lacht mir entgegen und ich drücke so lange an ihm herum, bis er rot anläuft. Gut, jetzt ist jede Hilfe verloren. Make-up ist schließlich auch kein Zaubermittel, das den Pickel einfach verschwinden lassen kann.
Frustriert kämme ich mir das Haar und fasse es zu einem Zopf zusammen. Seit Higgins in den Kopf geschossen wurde, ist eine Woche vergangen. Bisher wissen wir weder, wer für die Tat verantwortlich ist, noch ob er etwas mit Kiras Entführung zu tun hat. Beinahe erscheint es mir, als stünden wir nach jedem Rätsel, das wir lösen, vor hundert neuen. Mit jeder Wahrheit, die wir ans Licht bringen, wird unser Leben komplizierter.
Schluss jetzt, ermahne ich mich selbst. Keine negativen Gedanken vor dem ersten Tee. So will es das Gesetz!
Ich schließe die Tür zum Badezimmer hinter mir und gehe den Flur entlang. Fürs Frühstück ist es zu früh, deswegen schlage ich den Weg in den Flügel der Royals ein. Elena und Cassy gehen heute Nacht Patrouille. Sie schleichen durchs Internat, damit wir schneller reagieren können, sollte ein neuer Angriff bevorstehen. Damit erreichen wir vermutlich nichts, trotzdem gibt es uns das Gefühl, wenigstens etwas zu tun.
Gestern sind einige Mitglieder der Frourá angekommen. Sie wollen die Schule mithilfe verschiedener Relikte und Zauber schützen. Allerdings steht in den Sternen, ob sie wirklich etwas tun können. Unser Angreifer besitzt Fähigkeiten, die kein Halbgott außer uns beherrschen sollte, und das macht ihn gefährlich und unberechenbar. Wir wissen nicht, mit wem oder was wir es zu tun haben. Es gibt viele Möglichkeiten, eine abstruser als die andere. Gleichzeitig gab es bisher auch niemanden wie mich, also müssen wir jede Theorie in Betracht ziehen.
Ich stoße die Tür zum Flügel der Royals auf und steuere auf Lucas’ Zimmer zu. Leise öffne ich die Tür einen Spalt und spähe hinein. Lucas liegt in seinem Bett, eine Hand nach dem Wecker auf dem Nachttisch ausgestreckt. Ein Schmunzeln kämpft sich auf meine Lippen, drängt die Leere in meinem Inneren zurück. Wahrscheinlich hat sein Wecker bereits einige Male geklingelt, denn genau wie ich braucht er seine Zeit, um wach zu werden. Wir sind uns so ähnlich. Vielleicht fühle ich mich Lucas deshalb so nahe. Er versteht mich, als wäre er nicht nur mein bester Freund, sondern ein Teil meiner Familie – wie ein Bruder.
Ich trete neben ihn, rüttle vorsichtig an seiner Schulter. „Lucas?“ Mit einem lauten Klicken schalte ich die Nachttischlampe ein. Erst beim nächsten Rütteln öffnet Lucas die Augen, blinzelt und zieht dann die Brauen nach oben.
„Alles okay?“, fragt er verwirrt. Seine Stimme ist vom Schlaf belegt, trotzdem sehe ich in seinen Pupillen die Panik.
Ich gehe in die Knie und bin nun beinahe auf Augenhöhe mit ihm. „Ja“, entgegne ich auf einmal verlegen. Was suche ich hier? Wieso bin ich nicht in den Speisesaal gegangen oder habe mich wieder ins Bett gelegt? Sofort erinnere ich mich an das Gefühl der Leere, an die Hoffnungslosigkeit meines Traums und schaudere. „Ich habe schlecht geträumt“, gebe ich zu und senke den Blick. Wie alt bin ich? Fünf? Jedenfalls komme ich mir so vor. Obwohl die Empfindungen und Ängste, die in mir toben, eher zu einer Hundertjährigen passen.
Doch Lucas zögert keine Sekunde, hebt seine Decke und rutscht ganz an die Wand. „Komm, wir verschlafen das Training.“
„Das geht nicht“, widerspreche ich, krieche gleichzeitig neben ihn und genieße die Wärme, die mich umfängt. Auf einmal erscheint mir der Traum beinahe lächerlich. Solange ich den Schutz der Decke nicht verlasse, kann mir nichts Schlimmes passieren. Ich kuschle mich ins Kissen und wünschte, mein eigenes Bett hätte diese Wirkung nie verloren.
„War es schlimm?“, murmelt Lucas, und ich höre, dass er noch halb im Schlaf hängt. Die Worte dringen verwaschen aus seinem Mund, erreichen mein Ohr mehr schlecht als recht.
„Was?“
„Der Traum.“
Ich nicke und Lucas legt mir eine Hand auf die Schulter. „Auf einer Skala von Cruella De Ville bis Scar, wie gruselig war es?“, fragt er und ich grinse. Nur Lucas schafft es, meinen Albträumen mithilfe einer Anspielung auf Disneybösewichte die Macht zu nehmen.
„Schwierig“, überlege ich laut und gehe währenddessen in meinem Kopf verschiedene Schurken durch. „Maleficent, denke ich. Dunkel und furchteinflößend.“
„Aber mit einem weichen Kern und einem Schimmer Hoffnung. Es war nur ein Traum, Laurie.“
„Ja“, flüstere ich und schließe die Lider. Vielleicht hat er recht. Immerhin besteht die Chance, dass mein sechster Sinn mich trügt und es doch nichts weiter als ein Traum war. Nur ein Traum, keine Bilder aus der Zukunft oder der Vergangenheit.
In mir schreit etwas auf, fühlt die Lüge. Denn es ist wie mit den Visionen. Obwohl es keinen Beweis dafür gibt, spüre ich die Wahrheit. Weiß, dass die Szenen, die mir Nacht für Nacht erscheinen, real sind. Trotzdem schweige ich, behalte die Wahrheit für mich. Selbst wenn ich Lucas widersprechen würde, könnte er nichts daran ändern. Stattdessen besitze ich die Macht, ihm eine Sorge zu ersparen.
Lucas’ Wecker klingelt und ich drehe mich zum Nachttisch, schalte ihn aus. In wenigen Minuten müssen wir aufstehen, uns der Realität stellen.
„Darius‘ Training zu verschlafen, klingt verdammt himmlisch“, gebe ich zu.
„Sag ich ja.“
Trotzdem quälen wir uns beim nächsten Klingeln aus dem Bett, und während Lucas sich anzieht, gehe ich in den Gemeinschaftsraum, gönne ihm seine Privatsphäre. Manuel gesellt sich einige Minuten später zu mir und wir warten auf die anderen, bevor wir zum Frühstück in den Speisesaal schlurfen.
In der großen Halle werden wir aufgehalten. Christa steht auf einmal mit verschränkten Armen vor mir und mustert mich abschätzig. Unser Verhältnis hat sich seit dem Mordversuch auf Higgins verschlechtert. Sie ist mir gegenüber reserviert, zieht den Unterricht knallhart durch und beantwortet keine meiner Fragen, die von dem Stoff abweichen, den sie mir zuvor beigebracht hat. Keine Ahnung, ob sie spürt, dass wir ihr etwas verheimlichen, oder glaubt, dass ich etwas mit dem Schuss auf Higgins zu tun habe. Es spielt auch keine Rolle, denn die Wahrheit muss ich unter allen Umständen verheimlichen. Niemand darf erfahren, dass ich von zwei Göttern abstamme. Momentan haben wir keine Zeit, uns mit den Folgen dieser Tatsache zu befassen. Nicht, solange Kira verschwunden ist und es jemand darauf abgesehen hat, in die Welt der Götter zu gelangen.
„Es gibt jemanden, der dich kennenlernen will“, sagt Christa. Ohne ein weiteres Wort dreht sie sich um und geht in die Richtung des Lehrertraktes. Obwohl sie nur mich angesprochen hat, folgen wir ihr alle schweigend in Higgins Büro. Die Stimmung ist angespannt. Beim Eintreten halte ich die Luft an, mustere die Stelle, an der Higgins vor einigen Tagen gelegen hat. Nichts zeugt von seinem Unfall, trotzdem hat sich das Bild in mein Hirn gebrannt. Das Blut, die Waffe, mein halb toter Vater.
Ich zwinge mich dazu, meinen Blick weiterwandern zu lassen. Auf dem Stuhl des Direktors sitzt ein junger Mann, dessen Augenbrauen sich beinahe berühren, so weit hat er sie zusammengezogen.
„Kommt rein“, meint er, erhebt sich und geht um den Schreibtisch herum. Die Art, wie er stolziert und sich schließlich gegen die Tischplatte lehnt, bringt meinen Magen dazu, sich umzudrehen. Glaubt er etwa, das wäre sein Büro? Automatisch ballen sich meine Hände zu Fäusten, während mein ganzer Körper sich verkrampft. Zwar ist das Verhältnis zwischen Higgins und mir angespannt, trotzdem ist es falsch, dass der Fremde seinen Platz einnimmt. Niemand sollte das, nicht, solange die Möglichkeit besteht, Higgins eines Tages wieder auf seinem Stuhl sitzen zu sehen. Beinahe kann ich ihn mir dort vorstellen. Das grau melierte Haar, der verkniffene Ausdruck im Gesicht.
„Alexian“, begrüßt Cassy den Fremden, geht auf ihn zu und streckt ihm die Hand entgegen. Ihre Haltung hat sich verändert, die Schultern sind gestrafft, der Rücken durchgedrückt. Alles an ihr strahlt Stärke und Entschlossenheit aus. Selbst ihr Gang wirkt anders, beharrlicher, beinahe aggressiv.
Ich blicke mich um, erkenne, dass alle Royals eine formelle Haltung angenommen haben, und fühle mich auf einmal ganz klein.
„Cousinchen“, entgegnet Alexian und sein Lächeln wird breiter, entblößt eine Reihe unnatürlich weißer Zähne, die in hartem Kontrast zu seinem rabenschwarzen Anzug stehen. Sofort stellen sich die feinen Härchen in meinem Nacken auf und mein Herz beschleunigt sein Tempo, rät mir, das Weite zu suchen, bevor das Raubtier zum Sprung ansetzt.
Beinahe unmerklich schüttle ich den Kopf, befreie mich von der übertriebenen Reaktion auf den Fremden. Irgendetwas an ihm strahlt eine subtile Feindseligkeit aus und lässt alle Alarmglocken in meinem Inneren schrillen.
Cassy dreht sich zu uns um. Ihre Zähne sind derart aufeinandergepresst, dass ihre Wangen leicht zittern. „Darf ich vorstellen? Alexian Skleros, mein Cousin“, erklärt Cassy und ich kann das Arschloch in ihren verkniffenen Augen lesen. Sie lässt sich ihre Unruhe kaum anmerken, dennoch spüre ich sie, als wäre sie meine eigene.
„Danke, Cassandra“, sagt Alexian und wendet sich uns zu. „Ich bin hier, um euch im Namen der Frourá zu unterstützen. Wir haben einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen und hoffen, zumindest den Schutz eurer Mitschüler garantieren zu können.“
„Ihr hofft es?“, entfährt es mir. Sobald die Worte meinen Mund verlassen haben, höre ich, wie meine Freunde die Luft anhalten, wie ihre Herzen einen Augenblick aussetzen und die Zeit still zu stehen scheint.
Alexian lacht. „Du musst Laurie sein“, stellt er fest und kommt auf mich zu. Er greift nach meinem Kinn, drückt es zusammen und dreht mein Gesicht zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Bevor ich mich seinen Fingern entwinden kann, lässt er mich los und ich kann mich gerade so beherrschen, ihm eine Beleidigung an den Kopf zu werfen. Sein ganzes Auftreten widert mich an.
Alexian mustert mich abschätzig, dabei ist sein Blick vollkommen kalt. Seine Iriden zeigen keinerlei Regung, kein Gefühl, das auf seine Gedanken schließen ließe. „Schön, dich kennenzulernen.“
Wohl kaum. Statt das zu sagen, nicke ich lediglich, balle meine Finger zu Fäusten.
„Wir errichten eine Art Schutzschild um das Gelände. Außerdem werden Patrouillen durch das Schloss streifen und ihre Augen aufhalten. Kommt es erneut zu einem Kampf, stehen wir hinter euch. Zwar verfügen wir nicht über die … Fähigkeiten, die in euch wohnen, trotzdem können auch ein Schwert und eine Schnellfeuerwaffe manchmal nützlich sein.“ Alexian lacht über einen Witz, den nur er versteht. Trotzdem verzieht Cassy krampfhaft die Lippen zu einem Lächeln.
Obwohl Alexian ebenfalls von einem Gott abstammt, besitzt er nicht denselben Zugang zu seinen magischen Fähigkeiten wie wir. Unsere Aufgabe ist es, den Raum der Schicksale zu beschützen, und dafür gewährt uns Moira den Zugang zu Maris‘ Magie. Wir ziehen unsere Kraft direkt aus ihm. Alexian hingegen hat lediglich Zugriff auf einen Abklatsch dieser Macht.
„Das ist alles?“, frage ich und sehe, wie Christa zusammenzuckt. Bisher haben wir diese Schule beschützt, hätten unser Leben füreinander und Kingswood Castle gegeben. Und wir haben unseren Job gut gemacht. Daher gibt es keinen Grund, Angst vor Alexian oder einem anderen Mitglied der Frourá zu haben.
„Was denkst du, sollten wir sonst tun?“, erwidert Alexian und ich zucke mit den Schultern. Jedenfalls mehr als das, was wir sowieso schon tun.
„Das dachte ich mir“, meint er, und ich könnte kotzen. Alexians Eitelkeit bringt meinen Magen regelrecht auf Hochtouren, sodass ich ihm am liebsten den kompletten Inhalt vor die Füße spucken würde. Wir sollten ein Team sein, Pläne entwickeln und gemeinsam gegen den Feind vorgehen. Stattdessen habe ich das Gefühl, es geht Alexian nur darum, seine Macht zu demonstrieren. Der zu sein, der genau weiß, was das Richtige ist. Der, der am Ende dasteht und sich die Hände für seine guten Entscheidungen reibt, obwohl er gar nichts getan hat.
Quälend langsam geht er zurück hinter den Schreibtisch und sinkt elegant auf den Stuhl. Er faltet die Hände auf der Tischplatte, lässt seinen Blick über uns schweifen. Dabei rutscht sein Ärmel nach oben und offenbart ein Lederarmband. In das schmale braune Material sind goldene Zeichen eingestanzt. Eine schmale Rune wiederholt sich immer wieder. Sie erinnert mich an ein eckiges C, dessen Linien gezackt sind.
„Für eure Mitschüler sind wir eure neuen Lehrer, daher zollt uns auf den Gängen den nötigen Respekt, verstanden?“, erklärt Alexian. Nicken erfüllt den Raum und ich schließe die Lider für einen Moment. Ist das die Hilfe, auf die wir seit Tagen gewartet haben? Gehört Alexian wirklich zu den Frourá, die sich dem Schutz des Durchgangs zur Götterwelt verschrieben haben? Hoffentlich sind die anderen Mitglieder das genaue Gegenteil von dem Mistkerl, denn ansonsten kann ich getrost auf sie verzichten und bin lieber wieder auf mich und meine Freunde gestellt. Denen kann ich wenigstens vertrauen. Bei Alexian sieht die Sache anders aus. Ihm würde ich nicht einmal das Leben meines größten Feindes in die Hände legen.
„Ihr könnt gehen“, meint der Halbgott und wir setzen uns mechanisch in Bewegung. Auf dem Flur entspannen sich die Royals merklich.
„Was war das?“, durchbreche ich die Stille.
Elena schüttelt sich. „Das war eine Demonstration, wie es unter Halbgöttern zugeht, Laurie.“
„Aber ausgerechnet Alexian?“, wirft Lucas ein. „Hätten sie nicht jemand anderen schicken können? Jemanden, dessen Augen nicht vor Tod und Verderben sprühen?“ Er wirft einen Seitenblick zu Cassy. „Entschuldige.“
Sie winkt ab. „Schon gut. Du hast ja recht, er ist das personifizierte Böse. Seine Eltern haben ihn ultrakonservativ erzogen. Jedes Mal, wenn ich ihn berühre, fürchte ich, von seiner inneren Kälte eingefroren zu werden. Ich glaube er und seine Familie haben es nie verkraftet, dass ich auserwählt wurde.“
Ungläubig schüttle ich den Kopf.
„Hoffen wir, dass keine weiteren Halbgötter hinter der nächsten Ecke lauern.“
„Gemessen an euren Familienfeiern scheint The Purge ein Zuckerschlecken zu sein“, meine ich und versuche die Stimmung zu heben. Es klappt, Manuel bricht in schallendes Gelächter aus.
„Gar kein schlechter Vergleich“, entgegnet er. „Walking Dead würde auch passen. Wobei es innerhalb der Familien recht harmonisch zugeht. Erst wenn anderes Götterblut dazukommt, wird’s kompliziert.“
Endlich verlässt die Anspannung unsere Runde und ich bin froh, halbwegs zur Normalität zurückzukehren. Trotzdem bleibt ein fahler Nachhall des Kennenlernens zurück. In der Theorie war mir klar, wie es um das Verhältnis der Götterfamilien untereinander steht. Ich wusste, dass sie sich verabscheuen. Allerdings ist es etwas anderes, das Ganze am eigenen Leib zu erleben. Zu erfahren, wie jemand mich allein meiner Herkunft wegen verurteilt, ist grausam. Zurück bleibt Wut. Und Hilflosigkeit.
„Alexian und ich stammen von einem Geschlecht ab, das versucht, die alten Traditionen mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten“, erklärt Cassy. „Nicht jeder Halbgott ist wie er, Laurie. Ja, es gibt Abscheu und Hass. Ja, die Blutlinien bleiben unter sich. Aber – und das ist wichtig – es gibt Stimmen, die sich für ein neues Zeitalter starkmachen. Deswegen sind meine Eltern die schwarzen Schafe der Skleros. Daddy hat mich in dem Glauben großgezogen, dass Hass der falsche Weg ist.“
Cassys Worte erinnern mich an das, was Darius nach meiner ersten Trainingsstunde zu mir sagte. Auch er ist der Ansicht, dass es Zeit für Veränderung ist, und glaubt, in unserer Generation den ersten Schritt dafür zu sehen. Denn die Royals sind eine Familie und das, obwohl in jedem von ihnen anderes Götterblut fließt. „Leute“, murmle ich nachdenklich. „Zum Glück sind wir anders. Stellt euch vor, wir würden uns hassen.“
Elena schaudert und Phil legt den Arm um seine Schwester. „Wir hatten Glück“, meint er. „Wären wir erzogen worden wie Alexian, hätten wir sicher nie zueinandergefunden. Außerdem haben die Lehrer uns geholfen. Vor allem Maurice, Darius, Christa und Higgins.“
Lucas grinst. „Scheint, als hätte das Schicksal zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Leute am richtigen Ort vereint.“
Wir steigen die Stufen zum Speisesaal hinauf. Mittlerweile ist das Internat zum Leben erwacht. Mitschüler wuseln um uns herum, schlurfen durch die Gänge, mehr oder weniger motiviert für den Schultag, der auf sie wartet. Außerdem kommen uns immer wieder Menschen entgegen, die mir bisher nie begegnet sind. Frourá, dessen bin ich mir sicher. Sie patrouillieren in Zweiergruppen durchs Schloss und bei einigen sehe ich das Zeichen, das Alexian an seinem Armband getragen hat. Jedes Mal, wenn wir einen von ihnen passieren, versteifen sich meine Freunde. Das kann ja heiter werden.
Im Speisesaal warten die Mädels an unserem üblichen Platz. Seit unsere Gruppe auch noch um Ben und seine Freunde gewachsen ist, ist es eng geworden. Meistens teilen wir uns auf zwei Tische auf.
„Morning“, begrüße ich die Runde und grinse Samira fröhlich entgegen. Dann mache ich mich auf ans Buffet, fülle eine Schüssel mit Müsli und überschütte die Mischung mit Hafermilch.
Plötzlich steht Lucas hinter mir und ich erschrecke mich beinahe zu Tode. Sein Atem streift meinen Nacken und ich drehe mich zu ihm. „Hat Samira was zu dir gesagt?“, fragt er.
„Weswegen?“
„Mir?“
„Dir?“
Lucas verdreht die Augen. „Ja, Laurie, wegen mir.“
Ich lehne mich gegen die Anrichte in meinem Rücken, warte, bis Lucas sich zwei Scheiben Käse auf den Teller gelegt hat, und schiebe mir einen Löffel Müsli in den Mund. Glücklich gluckert mein Magen. „Wieso?“ Mein Blick gleitet zu Samira und ich erwische sie dabei, wie sie uns verstohlen mustert. Grinsend versenke ich den Löffel in der Schüssel. „Ihr seid ja süß.“
„Pssst“, entgegnet Lucas, was mein Grinsen nur breiter werden lässt. „Also?“
„Nein, Samira hat mir keine schmutzigen Details verraten.“
„Schmutzige Details?“, echot Lucas schockiert und seine Stimme wandert eine Oktave höher.
„Nur ein Scherz.“
„Nicht lustig.“
„Ein bisschen“, erwidere ich und greife nach einer Banane. „Wieso, machst du dir Sorgen?“
Langsam zieht er einen Toast aus dem Korb, hält dann inne. „Es ist seltsam. Wir bewegen uns in einem Zustand, in dem wir nicht wissen, wer wir füreinander sind. Mag sie mich auf dieselbe Art oder bin ich lediglich ein Freund?“
Verstehend nicke ich. „Ich weiß, was da hilft.“
„Was?“, fragt Lucas hoffnungsvoll mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Reden.“
Lucas schnaubt. „Ernsthaft, Laurie?“
„Natürlich. Wenn ich in den letzten Monaten eins gelernt hab, dann, dass reden der einzige Weg ist, um die Seele zu erleichtern.“
Nachdem Lucas’ Teller bis zum Rand gefüllt ist, gehen wir zurück zu den anderen. Samira rückt zur Seite, doch anstatt mich neben sie zu setzen, gehe ich zu Cassy und Elena. Perplex starrt Lucas mich an. Ich schenke ihm einen auffordernden Seitenblick und ich reibe mir innerlich die Hände. Meisterkupplerin Laurie at her best.
„Was steht heute Morgen an?“, fragt Aura und ich überlege einen Moment.
„Biologie“, lüge ich schließlich, denn seit dem Löwenangriff in der Bibliothek, der uns beinahe das Leben gekostet hat, sehen unsere Tage recht monoton aus. Training mit Darius und Maurice wechselt sich mit dem Geschichtsunterricht bei Christa ab. Meine Arme schmerzen, meine Beine sind übersät mit blauen Flecken und mein Hirn hat bereits vor Tagen den Dienst quittiert. Jede Zelle meines Körpers schreit nach einer Pause, lechzt nach Ruhe und Erholung. Eine Auszeit zusammen mit Maris … der Himmel auf Erden.
„Wir haben Englisch“, meint Aura und ich halte inne, lasse den Löffel sinken. Aura erholt sich sehr gut von ihrem Zusammenstoß mit dem Einbrecher. Mittlerweile kann sie nahezu normal am Unterricht teilnehmen, lediglich mit der Konzentration hat sie manchmal Probleme. Auch Samiras Verband um den Arm ist verschwunden, die Prellung Schnee von gestern. Zum Glück sind beide glimpflich davongekommen. Wenn ich mich an den Kampf mit dem gläsernen Löwen und unseren Sturz von der Empore in der Bibliothek erinnere, setzt mein Herz jedes Mal eine Sekunde aus. Wir hatten wirklich einen Schutzengel und sind mit mehreren blauen Augen davongekommen. Was wir sicher der guten Ausbildung der Royals zu verdanken haben. Sie agierten wie eine gut geölte Maschine. Nun ja, beinahe zumindest, denn ein Zahnrädchen fehlte – Kira. Stattdessen habe ich ihren Platz mehr schlecht als recht eingenommen. Eine Tatsache, die mich die letzten Tage angespornt und über mich hinauswachsen hat lassen. Mittlerweile beherrsche ich den Wind, verlasse mich blind auf meine Freunde und lege Darius immer öfter – wenn er es zulässt – auf die Matte.
„Man, bin ich nervös“, bemerkt Ben und unterbricht meine Gedanken. Verwirrt blicke ich zu ihm. Dann fällt der Groschen.
„Shit, das habe ich vollkommen vergessen. Heute ist der Tag.“
Aura nickt. „Heute ist der Tag.“ Sie müssen ihren Englischvortrag halten.
„Wir schaffen das“, meint Ben, und ich bin mir unsicher, ob er sich selbst oder Aura überzeugen will.
„Natürlich schafft ihr das. Ich hab euer Stück gelesen, es ist wirklich gut“, versichert Samira und ich fasse über den Tisch hinweg nach Auras Hand, drücke ihre Finger. „Wir glauben an euch. Und sollte es schief gehen, dann ist es nur ein Referat. Dadurch geht die Welt nicht unter. Der Gedanke hilft mir jedes Mal, wenn ich kurz vor dem Durchdrehen bin.“
„Ehrlich gesagt habe ich gar keine Angst mehr“, gibt Aura zu. „Seit dem Angriff hat sich das geändert. Natürlich sind meine Noten weiterhin ein Thema. Aber es gibt Wichtigeres. Gesundheit. Und Freundschaft.“
„Schön gesagt“, stellt Cassy fest und lächelt in die Runde. Die Konversation wechselt zu Higgins und seinem angeblichen Herzanfall. Ich verschließe meine Ohren, konzentriere mich bewusst auf etwas anderes. Momentan will ich mich nicht mit dem Mordversuch auseinandersetzen, würde Higgins am liebsten komplett aus meinen Gedanken verbannen, denn die Tatsache, dass er mein biologischer Vater ist, tut weh. Deswegen lasse ich alles, was mit ihm zu tun hat, an mir abprallen.
Statt also der Unterhaltung zu folgen, lasse ich meinen Blick verstohlen zu Samira und Lucas schweifen. Letzterer krampft seine Finger um das Messer, mit dem er gerade die Scheibe Toast bestreicht, und vermeidet es tunlichst, zu seiner Sitznachbarin zu schielen.
„Wir haben heute Nachmittag eine lange Pause“, sage ich in dem Versuch, die beiden dazu zu bringen, miteinander zu reden. Verwirrt sieht Lucas auf, hebt fragend die Augenbrauen. „Wollen wir nicht irgendetwas zusammen unternehmen?“ Ich blicke von ihm zu Samira. „Oder musst du lernen, Samira?“
Jetzt habe ich auch ihre Aufmerksamkeit.
Sie lässt den Apfel in ihrer Hand sinken, überlegt kurz. „Nein, ich kann später zur Gruppe stoßen. An was denkst du?“
Unbestimmt zucke ich mit den Schultern. „Keine Ahnung. Musik hören, abhängen … so was eben.“
Früher bestand mein halbes Leben aus chillen. Meine Freunde und ich trafen uns bei Blake zu Hause, lagen in seinem Zimmer auf dem Bett, dem Sofa und sogar dem Boden verstreut herum, während wir Musik hörten und im Internet surften. Die Zeit scheint Jahrzehnte entfernt und über der Erinnerung hängt ein Schleier, der dafür sorgt, dass sie langsam verblasst. Obwohl ich die Einfachheit dieser Tage vermisse und mir manchmal wünsche, der neuste TikTok-Trend wäre alles, worüber ich mir Sorgen machen brauche, würde ich die Halbgötter und meine Mädels für nichts auf der Welt eintauschen.
Lucas tritt mir unter dem Tisch gegen das Bein, gleichzeitig wackelt er vielsagend mit den Augenbrauen. Allerdings beherrscht er das mehr schlecht als recht und mir bleibt verborgen, was er sagen möchte.
„Äh, ich … keine Ahnung … wieso nicht?“, meint er schließlich, und ich lächle, schüttle innerlich jedoch den Kopf. Die beiden machen mich wahnsinnig. Wenn ich ihnen bloß sagen könnte, dass der eine etwas für den anderen empfindet … Leider müssen sie das selbst auf die Kette bekommen.
Samira nickt, dreht sich dann zu den anderen. „Habt ihr auch Lust?“
Beinahe klatsche ich mir mit der Hand gegen die Stirn, kann mich gerade noch beherrschen.
„Wozu?“, fragt Francesca und rückt ihre Brille gerade.
Samira beugt sich über den Tisch, um unsere Freunde besser im Blick zu haben. „Chillen, nach dem Unterricht.“
„Klar.“
Ergeben schließe ich die Lider einige Sekunden. Der Titel für die Kupplerin des Jahres geht definitiv an mir vorbei. Immerhin war es einen Versuch wert. Schicksal zu spielen, ist schwerer, als ich dachte.
Im Speisesaal wird es unruhig. Ein eindeutiges Zeichen, dass der Unterricht bald startet. Deswegen räume ich meine Schüssel ab, verabschiede mich von den Mädels und mache mich zusammen mit den Royals auf den Weg in die Trainingshöhle.
Lucas öffnet im Lehrertrakt das Gemälde, hinter dem sich der Eingang versteckt, und entzündet eine Flamme in seiner Hand. Gleichzeitig krame ich mein Handy aus der Hosentasche und aktiviere die Taschenlampe. Im Schein des Lichtes quetschen wir uns durch den schmalen Gang und dringen immer tiefer in die Gänge unter dem Schloss vor.
Kurz vor unserem Ziel ziehen wir uns um. Die Schuluniform gleitet zu Boden und die Trainingsklamotten kommen zum Einsatz. Wir nutzen dafür zwei kleine Räume, in denen alte Aufzeichnungen der verschiedenen Lehrer und Schulleiter aufbewahrt werden.
Darius wartet bereits in der großen Höhle auf uns. An seiner Seite steht wie üblich Maurice, der uns mürrisch zur Begrüßung zunickt. Er ist kein Mann großer Worte, lässt lieber seine Fähigkeiten sprechen.
Zwar ist seit dem letzten Angriff nicht viel Zeit vergangen, dennoch haben wir uns und unsere Fähigkeiten verbessert. Zum einen fokussieren wir unser Training viel stärker als früher und lassen den normalen Schulstoff vorerst schleifen, zum anderen haben wir angefangen, auch ohne die Lehrer zu üben. Uns dabei auf unseren Instinkt verlassen und voneinander gelernt.
Wir wachsen jeden Tag ein Stück über uns selbst hinaus. Während Manuel als Heras Gotteskind sein Schutzschild mittlerweile auf einzelne Personen übertragen kann, erahnt Cassy die Absichten ihres Gegenübers nun schneller. Hades wäre sicher stolz auf sie. Wobei, vielleicht sind die Götter auch unfähig, ein solches Gefühl zu empfinden. Außerdem sind Phil und Elena mittlerweile in der Lage, unsere Magie mit ihrer eigenen zu verstärken. Wie Demeter die Erde mit Energie speist, lassen sie unsere Kräfte wachsen.
„Guten Morgen“, sagt Darius und unterbricht meine Gedanken. „Heute werdet ihr gegeneinander kämpfen, ohne dabei eure Kräfte einzusetzen.“
„Keine Magie?“, fragt Manuel irritiert und mustert unseren Lehrer mit verschränkten Armen.
Darius verneint. „Wer weiß, vielleicht kommt es zu einer Situation, die ihr mit reiner Muskelkraft bewältigen müsst. Zuerst wärmen wir uns auf. Setzt euch auf den Boden.“
Ohne zu zögern, gehorchen wir, versinken in Stretch- und Dehnübungen, die unsere Körper auf die folgende Tortur vorbereiten sollen.
Es fällt mir schwer, bei der Sache zu bleiben, meine Gedanken driften immer wieder ab. Dabei prallen sie gegen Wände, die ich in meinem Hirn errichtet habe, um die schwierigen Themen auszugrenzen. Leider scheint nahezu alles in meinem Leben kompliziert zu sein und hinter jeder Ecke steht eine Wand, die mir den Weg versperrt.
„Auf den Rücken“, weist Darius uns an und ich folge seiner Stimme. Maurice geht von einem zum anderen, korrigiert unsere Haltung. Bei mir angelangt zieht er meinen Arm weiter in die Richtung, in die wir uns stretchen, und zeigt mir damit, zu welcher Leistung mein Körper in der Lage ist. Die Muskeln zittern und am liebsten würde ich aufgeben, trotzdem halte ich die Position und atme kontrolliert aus und ein. Denn jetzt, wo der Schmerz in meinem Körper brennt, schweigt mein Schädel endlich und gönnt mir eine Pause.
„Locker lassen, entspannen“, sagt Darius und erlöst uns.
Ich strecke mich, wackle mit der Hüfte, um die Anspannung hinter mir zu lassen.
Maurice kehrt an seinen Platz neben Darius zurück, verschränkt die Arme hinter dem Rücken. „Zweierteam. Elena und Manuel, Cassy und Phil, Lucas und Laurie. Stellt euch gegenüber.“
Schwerfällig hieve ich mich hoch, klopfe mir den Staub von der Leggins und zupfe mein Oberteil zurecht.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir gegeneinander kämpfen, dennoch ist es der Teil, den ich am wenigsten mag. Natürlich verstehe ich die Notwendigkeit, auch praktische Erfahrungen zu sammeln, allerdings fällt es mir bedeutend leichter, Darius oder Maurice ins Gesicht zu schlagen als Lucas.
Verlegen lächle ich meinen besten Freund an, führe die Kampfbewegungen aus, die Darius vormacht, während Lucas jeden Schlag oder Tritt pariert. Momentan arbeiten wir in Zeitlupe, doch das wird sich früher oder später ändern.
Vorher wechseln wir die Positionen. Lucas teilt aus, ich wehre ihn ab. In der Rolle fühle ich mich deutlich wohler.
Mir läuft der Schweiß über den Körper und mein Oberteil klebt an meiner Haut. Die kleine Trinkpause, die Maurice uns gönnt, koste ich in vollen Zügen aus, genieße die kalte Flüssigkeit, die meine Kehle hinabrinnt und bereite mich innerlich auf das vor, was folgt: der Kampf.
Jetzt ist der Welpenschutz vorbei. Maurice treibt uns zu Schnelligkeit an und ich hadere damit, mein Bein mit voller Kraft gegen Lucas’ Bauchmuskeln prallen zu lassen.
„Keine halben Sachen“, mahnt Maurice’ und ich zucke zusammen, drehe mich zu ihm. Sein Blick liegt auf Phil, dem es offensichtlich genauso geht wie mir. „Leute, ihr müsst das ernstnehmen und lernen einzustecken. Wenn euch bereits der erste Schlag aus dem Konzept bringt, habt ihr verloren.“
Er hat recht. Dennoch ist es Lucas, der vor mir steht, und kein Angreifer. Mein besonnener, bester Freund, der viel zu oft in seinen Gedanken versinkt und in dem trotzdem Hestias Feuer brennt.
„Laurie: Tritt, Schlag, Tritt“, bellt Maurice, und ich gehorche, versuche zu ignorieren, wie Lucas bei der Berührung zusammenzuckt.
Nach einer Weile wechseln wir und ich atme erleichtert auf. Verteidigung liegt mir mehr. Deswegen spanne ich die Muskeln an, wehre einen Tritt ab und schütze mein Gesicht vor dem nächsten Schlag. Es funktioniert, Lucas’ Angriff scheitert.
Dann verliere ich das Gleichgewicht, komme nur eine Sekunde aus dem Takt. Doch es reicht, um mich aus dem Konzept zu bringen. Lucas’ nächster Schlag trifft mich unvorbereitet, ohne Gegenwehr. Mein Kopf wird zur Seite gerissen und sofort verschwimmt meine Sicht. Die Ränder meines Blickfelds sind verzerrt und dunkel. Ich verliere die Kontrolle, kippe zu Boden. Schmerz flutet meine Schläfe, nimmt mein ganzes Denken, mein komplettes Sein ein. Meine Lunge verweigert den Dienst, obwohl ich gierig nach Luft schnappe. Ergeben bleibe ich liegen.
Blinzle.
Keuche.