Leseprobe Die Schatten von Kestrel Hall

Eins

Montag, 20. Juni 1814 – Hyde Park, London

Einundzwanzig Salutschüsse waren zu hören gewesen. Das Zeichen, dass sie das Tor zum Park erreicht hatten.

»Können Sie sie sehen, Hayward?«, rief Marguerite und sah zu dem Ast hinauf, auf dem Leander Hayward saß und nach den Majestäten Ausschau hielt. An den Baumstamm gestützt, balancierte Marguerite auf den Fußballen und reckte den Hals, um über die Köpfe der Zuschauer hinwegzusehen, doch sie konnte nur gelegentlich einen Blick auf den Reitweg erhaschen, wenn eine Lücke zwischen den dichtgedrängten Menschen entstand.

»Nein! Noch ist nichts zu sehen«, rief der junge Mann von seinem Ausguck.

»Fall bloß nicht herunter. Der Ast sieht nicht gerade stabil aus.« Seine Schwester Emmeline beschattete die Augen mit ihrer Hand und sah zu ihrem Bruder auf.

»Jetzt! Jetzt sehe ich sie!« Der Ast bog sich gefährlich, als er sich aufrichtete, um besser sehen zu können. »Da! Da ist Prinny! Und das zu seiner Rechten muss der russische Zar sein.«

Marguerite musste lachen. War es nicht ein wenig gewagt, diesen spöttischen Kosenamen für den Prinzregenten zu verwenden, wenn der gerade vorbeiritt? Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und fand endlich eine Lücke, durch die sie Köpfe und Schultern der vorbeireitenden Majestäten erspähen konnte.

»Der in der schwarzen Uniform? Mit den goldenen Epauletten?«

»Ja. Und der mit dem weißen Federbausch auf dem Hut ist gewiss der preußische König, Friedrich Wilhelm III.«

»Und der Alte mit der roten Schärpe und den vielen Orden?« Emmeline war neben Marguerite getreten und versuchte ebenfalls, zwischen den Zuschauern hindurchzuspähen.

»Der mit dem Schnauzbart? Ich glaube, das ist Feldmarschall Blücher.«

Hinter den Majestäten folgte ein Zug diverser hochdekorierter Offiziere und Beamter. Es mussten bestimmt weit über zweihundert Männer aus verschiedenen Nationen sein. Nachdem der Prinzregent mit den alliierten Hoheiten vorbeigeritten war, zerstreute sich die Menge ein wenig, und das Gedränge wurde erträglicher.

»Achtung, Miss Gillray, ich komme herunter.« Geschickt ließ sich Leander Hayward von dem Ast gleiten und landete neben seiner Schwester und Marguerite auf dem Boden. Mit den Handflächen klopfte er notdürftig den Schmutz von seinen hellen Pantalons. Sein Hemd sah ebenfalls etwas mitgenommen aus, und die Krawatte, zuvor salopp à la Byron gebunden, hatte sich gelockert.

Marguerite sah ihn amüsiert an.

»Sie sehen aus wie ein Lausbub, der im Garten Verstecken gespielt hat.«

»Dazu fehlen mir die aufgeschlagenen Knie.« Hayward zupfte sein Hemd zurecht, richtete die Krawatte und ließ sich von Emmeline die Jacke reichen. »Ist es Ihnen so genehm, Miss Gillray?«

»Beinahe. Darf ich?« Marguerite zupfte ein Blatt aus seinen rotblonden Locken. »So. Nun könnten Sie fast mit dem Zar zum Bankett gehen.«

Hayward lachte und zwinkerte ihr zu.

»Finden Sie nicht, dass ich dafür ein wenig zu vornehm bin?« Er reckte den Hals und spähte über die Menge hinweg. »Da kommen die Truppen. Das wird ein einmaliges Spektakel«, verkündete er und begann zu schwärmen. »Rund zweihundert Mann der Königlichen Artillerie, über zweitausend Mann Kavallerie, Infanterie, Milizionäre und Freiwilligenkorps, insgesamt über zwölftausend Mann.«

Marguerite konnte Haywards Begeisterung für das Militär zwar nicht teilen, ein Aufmarsch von über zwölftausend Soldaten und mehr als zweitausend Pferden allerdings war ein durchaus sehenswertes Ereignis, und so waren aus ganz London Schaulustige in den Hyde Park geströmt und säumten die Wege, um die Truppenabnahme zu sehen.

Begleitet von Militärkapellen und Freudenschüssen zogen die Soldaten an der jubelnden Menge vorbei, und Marguerite musste zugeben, dass es in der Tat beeindruckend war.

»Ich glaube nicht, dass ich jemals so viele Männer in Uniform gesehen habe.«

»Die machen schon etwas her, finde ich.« Emmeline Hayward beobachtete gebannt den schier endlosen Zug, der an ihnen vorbeimarschierte.

»Du wirst also einmal einen Offizier heiraten, Schwesterlein?«, neckte Hayward. Emmeline lachte nur und knuffte ihren Bruder wenig damenhaft in die Seite.

»Reden wir nicht übers Heiraten«, seufzte Marguerite. »Davon reden meine Eltern bereits genug.«

»Dann wollen wir heute nicht davon sprechen und uns einfach nur vergnügen.« Leander Hayward lächelte.

»Dafür gibt es auch genug Anlass. Endlich hat der grässliche Krieg ein Ende«, stimmte Emmeline zu.

In der Tat war der Sieg über Napoleon ein Grund zu feiern, und der Prinzregent hatte auch keine Kosten und Mühen gescheut, dieses freudige Ereignis und die nunmehr zweihundert Jahre währende Herrschaft des Hauses Hannover mit zahlreichen sich an Prunk und Extravaganz überbietenden Festivitäten zu begehen.

Als etwa zwei Stunden später die letzten Regimenter vorbeigezogen waren, beschlossen die drei Freunde, bei einem der vielen Stände, die entlang der Wege aufgebaut waren, eine Erfrischung zu sich zu nehmen.

Sie kamen nur langsam vorwärts, denn zwischen den Ständen und Zelten drängelten sich die Menschen, und überall gab es etwas zu sehen. Jongleure, Tänzer und Clowns, dressierte Tiere, Puppenbühnen, Schiffsschaukeln und Karussells.

Nachdem Leander für sie Rindfleischpasteten, heißen Aal und Ingwerbier sowie kandierte Früchte erstanden hatte, fanden sie einen Platz an einem der Tische zwischen den Zelten. Es schien, als habe die Sonne dem Anlass entsprechen wollen, denn sie strahlte kräftig vom fast wolkenlosen Himmel, und Marguerite beneidete Hayward nicht um Jacke und Krawatte, war ihr doch selbst in ihrem hauchzarten Musselinkleid noch ungeheuer warm.

»Herrlich, so ein buntes Treiben, nicht wahr?« Emmeline nahm einen Schluck Ingwerbier und sah sich neugierig um.

»Sehr«, stimmte Marguerite zu. »Ich kann mich nicht daran erinnern, je ein solches Spektakel in London gesehen zu haben. Man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.«

Tatsächlich hatte der Trubel sie für eine Weile von ihrer unangenehmen Lage ablenken können. Doch jetzt, da sie ein wenig zur Ruhe kam, kehrten ihre Gedanken zurück zu dem Gespräch mit ihrer Mutter.

»Was ist mit dir? Fühlst du dich nicht wohl?«, fragte Emmeline, die den grüblerischen Gesichtsausdruck der Freundin bemerkt hatte. Vor ihr konnte Marguerite nichts verbergen, sie kannten einander einfach zu gut, schließlich waren sie so gut wie miteinander aufgewachsen.

»Eigentlich wollte ich uns damit nicht die Stimmung verderben«, entgegnete Marguerite.

»Ich kann es mir denken. Gewiss geht es um die Heiratspläne, die deine Eltern schmieden, nicht wahr?«

»Geht es nicht immer darum?« Marguerite seufzte. »Seit ich sechzehn geworden bin, arbeitet Mama doch darauf hin. Eine günstige Liaison soll meine Eintrittskarte in die noble Gesellschaft sein.«

»Ist es nicht eigentlich widersinnig, dass sich die adlige Gesellschaft dem Bürgertum gegenüber derart überlegen fühlt?« Leander Hayward biss ein Stück von seiner Fleischpastete ab und kaute. »Ihr Vater, Miss Gillray, arbeitet hart und hat es mit seinem Tee- und Gewürzhandel zu Ansehen und Wohlstand gebracht. Während er sich mit Geschick und ehrlicher Arbeit ein Vermögen erwirtschaftet hat, leben wir in der Hauptsache von unserem Landbesitz, der uns als Erbe in die Wiege gelegt wurde. Warum also sollte man einem Mann wie Ihrem Vater weniger Respekt entgegenbringen als beispielsweise unserem Vater – nur, weil der sich Baron Segrave nennen darf?«

»Du wirst den Gang der Welt nicht ändern, Leander«, warf Emmeline ein. »Es sei denn, du willst es den Franzosen gleichtun. Vergiss dabei nicht, wie viel Blut in ihrer Revolution geflossen ist.«

Hayward lachte.

»Sei unbesorgt, Emmeline. Zum Umstürzler bin ich nicht geboren, und es ist auch nicht mein Ehrgeiz, die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Dennoch glaube ich, ein bisschen weniger Arroganz stünde unserer noblen Gesellschaft ganz gut zu Gesicht.«

»Hört, hört!«, rief Emmeline aus und hob ihr Glas. »Du wirst einmal einen fabelhaften Politiker abgeben.«

»Sie haben recht, Hayward. Eigentlich sollte es keine Rolle spielen, in welch eine Familie man hineingeboren wurde. Doch so ist es nun einmal, und daher hat sich meine Mutter in den Kopf gesetzt, dass ich unbedingt einen Mann mit Titel heiraten soll. Und ich fürchte, dieses Mal wird es für mich ernst.«

Das Lächeln wich aus Haywards Gesicht und seine Stirn legte sich in Falten.

»Das heißt, sie hat einen geeigneten Heiratskandidaten für Sie gefunden?«

»Allerdings. Seit Wochen ist von nichts anderem die Rede. Mama hat auf einer Gesellschaft die Dowager Countess of Peterborough kennengelernt und nähere Bekanntschaft mit ihr geschlossen. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, ist die finanzielle Lage der Familie angespannt. Dessen ist Lady Peterborough offenbar erst nach dem Tod ihres Mannes gewahr geworden, als ihr die Vermögensverhältnisse offengelegt wurden.«

»Und höchstwahrscheinlich gibt es da einen Sohn, richtig?«, folgerte Hayward.

»Adam Sinclair, der fünfte Earl of Peterborough.« Marguerite stieß hörbar Luft aus. »Die Countess hat es offenbar eilig, ihn unter die Haube zu bringen. Neben der prekären finanziellen Lage, befürchtet sie möglicherweise auch, die Geburt eines Stammhalters nicht mehr zu erleben.«

»Und den sollst du ihm schenken – zusammen mit einer großzügigen Mitgift, nehme ich an?«, schloss Emmeline.

»So ist es.« Marguerite nickte. »Mama hat Lady Peterborough und ihren Sohn für nächste Woche zu einem Dinner eingeladen, damit wir uns kennenlernen können.«

»Ansehen kannst du ihn dir doch. Vielleicht ist er gar nicht so übel«, fand Emmeline. »Ich hoffe, du verzeihst meine Direktheit, aber du neigst dazu, dich viel zu schnell aufzuregen. Jedoch ebenso rasch kannst du dich für Dinge begeistern. Nimm dir Zeit, ihn erst einmal kennenzulernen. Noch ist nichts beschlossen, und du kannst später entscheiden, ob du dem Drängen deiner Eltern nachgeben willst oder es auf eine Konfrontation ankommen lassen möchtest.«

»Sicherlich«, stimmte Marguerite zu. »Ansehen könnte ich ihn mir, doch ich fürchte, wenn er mir nicht gefällt, werde ich trotzdem herzlich wenig Mitspracherecht haben. Mama plant im Kopf bereits die Hochzeit – es fehlt nur, dass sie mich schon das Monogramm auf die Wäsche sticken lässt. Bleibt mir nur die Hoffnung, dass ich ihm nicht gefalle und er mehr Einfluss auf die Entscheidung hat als ich.«

»Das halte ich für unwahrscheinlich«, entgegnete Hayward.

»Dass er selbst entscheiden kann, ob er Marguerite heiraten möchte?«, fragte Emmeline.

»Dass sie ihm nicht gefallen könnte.« Leander Hayward lächelte schelmisch. »Da müsste er ein rechter Einfaltspinsel sein – oder blind wie eine Fledermaus.«

Marguerite lachte. »Vielen Dank für das reizende Kompliment, Hayward. Allerdings hoffe ich, dass der Earl diese Ansicht nicht teilt.«

Zwei

Dienstag, 21. Juni 1814 – Portland Place, London

Marguerites Finger flogen über die Tasten des Pianofortes, doch immer wieder musste sie innehalten und neu ansetzen. Sie war einfach nicht bei der Sache.

Ihre Mutter saß vor dem Fenster und war damit beschäftigt, ein halbmondförmiges Holztischchen mit einem zierlichen floralen Muster zu bemalen – ihre große Leidenschaft.

»Am Sonntag solltest du möglicherweise ein anderes Stück spielen. Oder du musst noch viel üben. Wir wollen doch, dass du bei Lord Peterborough einen guten Eindruck hinterlässt.« Mrs Gillray warf ihrer Tochter einen tadelnden Blick zu und tauchte die Pinselspitze in die Farbe.

»Nein, Mutter. Nicht wir wollen – du willst«, entgegnete Marguerite trotzig und griff prompt einen falschen Akkord. »Ich sehe nicht ein, dass ich für eure Ambitionen an den nächstbesten Mann verschachert werden soll.«

»Marguerite! Ich muss doch sehr bitten.« Die Mutter hatte den Pinsel sinken lassen und sah sie streng an. »Es ist eine mehr als glückliche Fügung, dass Lady Peterborough es so eilig hat, ihren Sohn zu verheiraten und dass sie bei der Wahl einer geeigneten Schwiegertochter nicht unbedingt auf einer adligen Herkunft besteht.«

Marguerite hörte auf zu spielen und schaute ihre Mutter zornig an.

»Nein, natürlich nicht. Ihr geht es in erster Linie darum, das wirtschaftliche Überleben ihrer Familie zu sichern. Offenbar hat der verstorbene Lord Peterborough sich nicht um die Finanzen geschert und über seine Verhältnisse gelebt. Und ich soll es nun richten. Unter normalen Umständen würde Ihre Ladyschaft genauso auf uns herabsehen wie der Rest ihres Standes. Doch wenn ihr Schiff im Sinken begriffen ist, kommt der reiche Gewürzhändler als Rettungsanker gerade recht.«

»Nun, darin kann ich nichts Verwerfliches sehen«, fand Mrs Gillray. »Ein jeder ist auf seinen eigenen Vorteil bedacht und möchte nur das Beste für seine Kinder.«

»Und du glaubst, das Beste für mich sei es, einen Mann zu heiraten, den ich überhaupt nicht kenne, nur um mich mit einem Titel schmücken zu können? Du hast es bloß nie verwunden, selbst einen Bürgerlichen geheiratet zu haben. Und jetzt soll ich mich dafür hergeben, deine Rückkehr in die adlige Gesellschaft zu ermöglichen.«

»Marguerite! Mäßige dich! Ich dulde nicht, dass du in diesem Ton mit deiner Mutter sprichst.«

Marguerite zuckte zusammen. Die donnernde Stimme ihres Vaters war ungewohnt scharf. Wie es schien, war Mr Gillray unbemerkt hereingekommen und hatte einen Teil ihres Wortwechsels mit angehört.

»Außerdem erlaube ich nicht, dass du dich derart respektlos über den seligen Lord Peterborough äußerst. Wie schnell kann man in eine missliche finanzielle Lage geraten. Wer möchte es der Dowager Countess of Peterborough verdenken, dass sie anstrebt, die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen und ihrer Familie zu einer neuen, glänzenderen Zukunft zu verhelfen? Was bitte ist so unzumutbar daran, dass du ein Teil dieser Zukunft werden könntest?«

Mr Gillray stieß mit dem Zeigefinger in die Luft und ging energischen Schrittes vor dem Pianoforte auf und ab.

»Du musst nicht nur an dich selbst denken, Marguerite! Denke doch bitte auch an deine zukünftigen Kinder. Als Countess kannst du ihnen ein ganz anderes Leben bieten. Es wäre eine ideale Verbindung. Die Peterboroughs brauchen das Geld, und wir brauchen ihren Titel. Es ist ein legitimer Handel.«

Marguerite sprang auf.

»Ein Handel! Ich bin doch kein Stück Vieh, das ihr auf dem Markt an den Meistbietenden verkauft. Ist es denn zu viel verlangt, wenn ich einen Mann heiraten möchte, den ich auch liebe?«

Mrs Gillray lachte auf.

»O Marguerite, mein Herz. Das, was du für Liebe hältst, ist nach spätestens zwei Jahren verblüht. Darauf kann doch niemand eine Ehe und schon gar keine Familie gründen. Du wirst sehen, später kommt es viel mehr auf gegenseitigen Respekt und Verlässlichkeit an als auf Schwärmerei und alberne Sentimentalitäten.«

»Sentimentalitäten? Aber Mama! Mit diesem Mann werde ich mein Leben teilen müssen.«

»Strohfeuer verglühen schnell. Liebe muss erst langsam wachsen, Marguerite«, warf Mr Gillray ein.

»Wenn du erst einmal verheiratet bist, wirst du einem Haushalt vorstehen und dich um die Erziehung deiner Kinder kümmern müssen, für Romantik bleibt dir dann ohnehin keine Zeit. Lord Peterborough ist ein kluger und höflicher Mann und sieht ausgesprochen gut aus. Er wird einen guten Ehemann abgeben. Und selbst wenn er dir nicht gleich zusagt, mit der Zeit wächst man zusammen und lernt einander lieben«, sprang Mrs Gillray ihrem Gatten bei.

»Du hast Papa auch aus Liebe geheiratet. Nun wirst du doch wohl nicht behaupten, dass es dich unglücklich gemacht hätte.«

»Unglücklich nicht, Liebes, aber ich habe feststellen müssen, dass einem ein Titel mehr Türen öffnet als ein gefülltes Bankkonto, und für dich wünsche ich mir, dass du es leichter haben wirst.« Mrs Gillray nahm den Pinsel wieder auf und wandte sich ihrer Malerei zu. Das Thema war für sie offenbar erledigt.

»Ich werde nicht zulassen, dass du dich aus einer romantischen Vorstellung heraus für dein Leben unglücklich machst, Marguerite«, beendete ihr Vater die Diskussion mit Nachdruck. »Du wirst dir am Sonntag die allergrößte Mühe geben, Lord Peterborough und der Dowager Countess gegenüber zuvorkommend und höflich zu sein und dich von deiner besten Seite zu zeigen. Du genießt in diesem Haus eine Menge Freiheiten und Privilegien, und du wirst feststellen, dass ich auch weit weniger großzügig sein kann, wenn du es darauf anlegen möchtest.«

Marguerite wollte protestieren, doch sie wusste genau, dass es keinen Sinn hatte. Möglicherweise hatte Emmeline recht und der Earl war gar nicht so übel. Sie beschloss, sich ihre Kräfte zu aufzusparen. Sollte sie ihm gegenüber einen unüberbrückbaren Widerwillen empfinden, konnte sie sich noch immer wehren. In dem Fall stand ihr ein zäher Kampf mit ihren Eltern bevor. So viel stand fest. Also verbiss sie sich weitere Widerworte und kehrte zu ihrem Klavierspiel zurück. Mr Gillray schien zufrieden, nahm die Zeitung und setzte sich in seinen Lieblingssessel. Seine streitlustige Stimmung war verflogen, denn er wippte zu Marguerites Klavierspiel gut gelaunt mit dem Fuß.

Sie hatte noch nicht lange gespielt, als Travers den Besuch der Geschwister Hayward ankündigte.

»Wir wollen gar nicht lange stören«, begann Leander Hayward, nachdem sie die Gillrays begrüßt hatten. »Eigentlich wollten wir Miss Gillray nur auf eine Ausfahrt in unserer Barouche entführen. Das Wetter ist herrlich.«

»Darf ich, Mutter?«, bat Marguerite. »Wenigstens möchte ich meine letzten Tage in Freiheit noch genießen.«

Mrs Gillray warf ihr einen zornigen Blick zu.

»Aus allem musst du ein Drama machen! Aber fahr nur. Frische Luft wird dir guttun. Doch ich wünsche, dass du morgen weiter dein Klavierstück übst.«

»Ja, Mutter. Ich verspreche es. Setzen Sie sich doch einstweilen, Mr Hayward. Ich werde mich rasch umziehen.«

Drei

Dienstag, 21. Juni 1814 – Hyde Park, London

Marguerite ließ den Kopf in den Nacken fallen und blinzelte in die Sonne, während die Kutsche mit den drei Freunden darin die Oxford Street in Richtung Cumberland Gate entlangrollte.

»Ich bin froh, für eine Weile entfliehen zu können. Mama bleibt unerbittlich, was den Earl of Peterborough angeht, und Papa stellt sich auf ihre Seite. Ich fürchte, die Aussicht, aus ihrer Tochter eine Countess zu machen, hat ihnen vollkommen den Verstand vernebelt.«

»Sie wollen nur dein Bestes, Marguerite. Das darfst du nicht vergessen. Welche Frau hat schon das Glück, nur aus Liebe zu heiraten?«, warf Emmeline ein. »Von Liebe allein kann der Mensch nicht leben, und man darf die Realität nicht aus den Augen verlieren. Solange dein Peterborough nicht rundheraus widerwärtig ist, solltest du es dir überlegen, ob eine solche Verbindung nicht doch von Vorteil sein könnte.«

»Ich muss dir widersprechen, liebste Schwester. Du warst schon immer viel zu vernünftig«, wies Leander Hayward den Einwurf zurück. »Wie sollen zwei Menschen miteinander glücklich werden, wenn sie nur der Zweck verbindet? Wenn andere Menschen oder äußere Umstände darüber bestimmen, wen ein Herz lieben darf und wen nicht, kann das doch nur in die Katastrophe führen.«

»Sehr wohlgesprochen, Hayward. Ich glaube auch, dass der Verstand das Gefühl nicht in die Schranken weisen kann. Gefühle sind wie Wasser, sie wollen frei fließen. Man kann wohl Dämme bauen, doch staut sich zu viel, können sie das Wasser nicht aufhalten und es bricht sich Bahn«, bemerkte Marguerite.

Emmeline lachte.

»Ihr lest zu viele Gedichte und Romane. Ich gebe euch recht, denn auch ich denke, dass eine Verbindung dann am glücklichsten ist, wenn Opportunität und Leidenschaft zusammenkommen. Doch wenn wir darauf warten, einem solchen Menschen zu begegnen, kann es sein, dass wir am Ende allein dastehen.«

»Möglicherweise ist es besser, allein zu sein, als sein Leben mit dem falschen Menschen zu verbringen«, sagte Marguerite und seufzte hörbar. »Doch was nutzt es? Wenn ich mich nicht mit meiner Familie überwerfen möchte, muss ich mich wohl oder übel ihrem Willen beugen.«

»Sind Sie sicher, dass Ihre Eltern nicht nachgeben werden?« Hayward sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Er schien nachzudenken.

»Ja. Für meine Mutter steht fest, dass ich einen Mann mit Titel heiraten muss. Und diese Gelegenheit ist zu gut, um sie sich entgehen zu lassen. Wie ich bereits gestern sagte, meine einzige Hoffnung besteht darin, dass Peterborough sich uninteressiert zeigt.«

»Hm«, machte Hayward und knetete sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger. »Vielleicht findet sich auch noch eine andere Lösung.«

»Lassen Sie uns über etwas Erfreulicheres sprechen«, schlug Marguerite vor. »Zum Beispiel darüber, wie lange Sie noch in der Stadt bleiben werden.«

»Wir werden sicher bis Mitte August bleiben. Es wird viel Trubel sein zu den Jubiläumsfeierlichkeiten, und ich glaube kaum, dass unsere Eltern sich das entgehen lassen wollen.«

»Also sollte ich dem Hause Hannover dankbar sein, beschert es mir doch die Freude, mich in diesem Jahr nicht so früh von meinen lieben Freunden trennen zu müssen.« Marguerite lächelte.

Sie befuhren die Ringstraße in der Nähe der nordwestlichen Einfriedung, die im Westen von den Kensington Gardens, im Süden vom Serpentine und vom restlichen Park mit einem Zaun abgetrennt war, als Emmeline den Kutscher bat, beim Eingang in der Nähe des Wildhüterhauses zu halten.

»Ich habe großen Durst«, erklärte sie.

Marguerite hatte den verschwörerischen Blick bemerkt, den die Geschwister getauscht hatten, und sie fragte sich, was dieser zu bedeuten hatte.

»Wenn man dem Fußweg unter den Bäumen ein Stück folgt, kommt man an eine Mineralquelle. Dort sitzt eine Frau, die Wasser verkauft. Bitte, wäret ihr vielleicht so lieb, mir einen Krug zu holen? Ich habe mir leider gestern den Knöchel vertreten und bin nicht so gut zu Fuß.«

Marguerite konnte sich nicht erinnern, bemerkt zu haben, dass Emmeline zuvor Schwierigkeiten beim Gehen gehabt hatte. Sie runzelte die Stirn. Was führten die beiden im Schilde? Sie würden doch nicht etwa … nein, den Gedanken fand sie so abwegig, dass sie ihn gleich wieder verwarf.

»Aber natürlich, Emmy. Kommen Sie, Miss Gillray, wir wollen rasch zur Quelle gehen. Es ist nicht weit, und der Weg am Garten des Wildhüters vorbei ist recht hübsch.«

Leander Hayward sprang aus der Kutsche und reichte Marguerite die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

Sie ließen die Barouche hinter sich und spazierten den schattigen, von Bäumen gesäumten Weg entlang. Nach einer Weile konnten sie in einiger Entfernung das eingefasste Quellbecken erkennen und daneben eine Frau mit einem Handkarren, die unter den Bäumen einen Tisch und einen Stuhl aufgebaut hatte.

»Da ist es schon!«, rief Leander aus.

An der Quelle sahen sie eine Familie mit Kindern. Die Eltern hatten ihren Sprösslingen offenbar etwas zu trinken gekauft und grüßten freundlich, als Leander und Marguerite näherkamen. Die Kinder tollten lachend um das Quellbecken herum.

Leander kaufte bei der Frau mit dem Handkarren einen kleinen Krug Wasser, und sie machten sich auf den Rückweg.

Als sie die Quelle und die Familie mit den lachenden Kindern hinter sich gelassen hatten, verlangsamte Leander merklich seine Schritte. Er räusperte sich.

»Miss Gillray, ich würde mit Ihnen gern über etwas sprechen, das mich seit unserer Unterhaltung gestern beschäftigt«, begann er. Marguerite blieb stehen und sah ihn prüfend an.

»Natürlich, Mr Hayward. Sprechen Sie.«

»Also, nun, ich habe lange nachgedacht … über das, was Sie bezüglich der Pläne Ihrer Eltern sagten und … nun, wenn es Ihren Eltern um den Titel geht, mein Vater ist Baron Segrave, und ich als ältester Sohn werde diesen Titel eines Tages erben. Möglicherweise könnten Sie sich vorstellen – also, da ich nichts als die wärmsten Gefühle für Sie habe, Miss Gillray – könnte ich doch bei Ihren Eltern um Ihre Hand anhalten, um Ihnen eine arrangierte Heirat mit Lord Peterborough zu ersparen.«

Das Sonnenlicht, das durch die Blätter der Bäume fiel, ließ seine großen bernsteinfarbenen Augen leuchten und Marguerite an hellen Karamell denken, den sie so gerne aß. Die rötlichblonden Locken fielen ihm keck in die Stirn und gaben ihm etwas Lausbübisches. Für einen kurzen Moment war sie versucht, seinen Antrag anzunehmen, denn die Geste rührte sie. Doch es fühlte sich falsch an, eine Ehe allein auf die Furcht vor der Alternative zu gründen. Einen lieben Freund zu heiraten, um einer von den Eltern angebahnten Heirat zu entgehen, war schließlich keinen Deut besser, als sich in ihr Schicksal zu fügen. Wäre es nicht in beiden Fällen ein Zweckbündnis?

»O Hayward!«, rief Marguerite. »Sie sind ein wahrer Freund, und ich weiß Ihr Angebot zu schätzen. Es ehrt Sie, dass Sie mir damit eine erzwungene Heirat ersparen möchten. Ich habe Sie sehr gern, und wir kennen einander nun schon so lange, dass Sie wie ein Bruder für mich sind. Sicher könnten wir eine glückliche Ehe führen, doch gerade, weil ich Sie sehr schätze, kann ich Ihren Antrag nicht annehmen. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für undankbar, jedoch wäre es falsch, aus diesem Grund zu heiraten und in höchstem Maße selbstsüchtig. Ich würde Ihnen damit die Möglichkeit nehmen, ihr Glück zu finden.«

Für einen Augenblick schien es, als wolle Hayward widersprechen. Doch schließlich nickte er.

»Ich verstehe. Sie haben höchstwahrscheinlich recht, Miss Gillray. Es war dumm von mir.«

»Nein. Nicht dumm. Es war sehr lieb von Ihnen, mir einen Ausweg aus meiner misslichen Lage bieten zu wollen. Das werde ich Ihnen niemals vergessen, Hayward. Vielen Dank!«

Für einen kurzen Augenblick schien sich ein Schatten über sein Gesicht zu legen, doch dann lächelte er wieder.

»In Anbetracht der Umstände, Miss Gillray, möchten Sie nicht endlich Leander zu mir sagen? Jedenfalls wenn wir unter uns sind?«

»Sehr gerne. Leander.« Sie mochte den Klang seines Namens. »Dann musst du mich auch Marguerite nennen.«

Langsam schlenderten sie zurück zu der wartenden Barouche, von der aus ihnen Emmeline bereits neugierig entgegenblickte. Marguerite bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Leander den Kopf schüttelte und ein fragender Ausdruck in das Gesicht ihrer Freundin trat.

»Ich habe seinen Antrag nicht angenommen«, flüsterte Marguerite ihr ins Ohr, als Leander ihr in die Kutsche half. Emmelines Blick war nun nicht weniger neugierig, doch unterließ sie es, das Thema aufzubringen, um ihrem Bruder die Verlegenheit zu ersparen, was sie sichtbar Mühe kostete. Marguerite jedoch war es ganz recht, nicht weiter darüber sprechen zu müssen, auch wenn sie sich sicher war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.