Kapitel 1
»Wenn ich am Kopfende des Bettes stehe, wird der Kranke nicht mehr genesen. Siehst du mich aber am Fußende stehen, so wird der Kranke gesund, so schwer sein Leiden auch sein mag.«
Die Herrin des Todes und ihr Patensohn
Märchen aus Frankreich
Frau Melzer würde nicht durchkommen, so viel wusste Verena beim ersten Blick auf die Aura der Patientin. Violette Fäden faserten vom inneren Licht der bettlägerigen Frau ab, der goldene Schein um den Körper verblasste und blutete ins Nichts.
Verena hatte das Dutzende Male erlebt, wenn die Lebenskraft derart abnahm, dass sie sich wie ein ausbrennendes Feuer selbst verzehrte. Sie gab der Patientin noch zwei, drei Stunden und bettete Frau Melzer höher, damit sie besser Luft bekam.
Ihr eigener Kehlkopf verkantete sich. Verenas übernatürliche Gabe half bei der Bestimmung von Krankheiten oder Verletzungen. Sie hatte sogar einen Patienten vor einer falschen Bluttransfusion bewahrt, weil sie auch unterschiedliche Blutgruppen und Reste der persönlichen Aura darin wahrnahm.
Doch den Tod konnte niemand aufhalten. Dem Sterben machtlos ins Auge zu sehen, gehörte zum schwierigsten Teil des Berufs. Die auf unorthodoxe Weise erlangten Erkenntnisse weiterzugeben war ein anderes Problem.
Verena beschränkte sich auf dezente Empfehlungen, um die Kollegen auf die richtige Spur zu bringen und Revierkämpfe mit den Ärzten zu vermeiden. Da ihre Einschätzung der Todeszeit oft stimmte, nannte man sie hinter ihrem Rücken bereits Todesengel.
Getuschel im Schwesternzimmer war das eine. Falls Verena jedoch verriet, wie sie ihr Wissen gewann, drohte ihr die Einweisung in eine Klinik ganz anderer Art.
Im Bus nach Hause döste Verena neben schläfrigen Frühaufstehern dem Bett entgegen.
Zuhause waren dann die Kapitel über Gefäßkrankheiten dran, ehe sie endlich in die Kissen sinken konnte. Sie hoffte auf einen ruhigen Morgen, um Kräfte für die Medizin-Vorlesung um 12 Uhr zu schöpfen. Wenigstens fingen bald die Semesterferien an, da konnte sie sich voll auf das Lernen für die Klausuren konzentrieren. Und ausschlafen, ein rarer Luxus, in der für Nachtarbeiter schlecht eingerichteten Welt.
Es war wohl bitter nötig, nachdem sogar Oberarzt Karden sie vorhin angesprochen hatte. Seine skeptischen Worte klangen ihr noch im Ohr: »So erschöpft, wie Sie aussehen, weiß man ja nie, ob Sie in ein Bett auf Station gehören oder ins Schwesternzimmer, Frau Seiler. Ich begrüße es, wenn Leute mehr aus sich machen wollen. Aber sind Sie der doppelten Belastung wirklich gewachsen?«
Als sie ihm versichert hatte, dass es ihr gut ging, hatte Karden Zähne gezeigt, was wohl Sympathie ausdrücken sollte. Dieser falsche Hund!
Seit durchgesickert war, dass sie sich weiterbildete, um eines Tages Ärztin zu werden, hatte er sie auf dem Kieker. Dabei stammte er selbst aus einer Medizinerfamilie und war, im Gegenteil zu ihr, auf einem weichen finanziellen Polster durchs Studium gerutscht.
Verena gähnte. Der Mond spiegelte sich im Seitenfenster des Busses, und sie lehnte den bleischweren Kopf ans kühle Glas. Zwei Stationen noch. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und nickte ein.
Scheinwerfer zogen vorbei. Regentropfen malten Batikmuster auf die Glasscheiben, doch als die Familienkutsche auf der Autobahn Tempo aufnahm, spülte der Luftzug sie wieder weg. Verena spürte die Beschleunigung im Bauch. Sie äugte zu ihrer jüngeren Schwester im Kindersitz hinüber. Marion war endlich eingeschlafen, nachdem sie gerade erst am Gurtschloss gespielt hatte.
Reifen und Motor erzeugten ein einschläferndes Brummen, Wasser spritzte seitlich hoch.
Plötzlich bockte der VW wie ein Wildpferd, und der Gurt straffte sich. Verena sah vorüberjagende Pfosten und die Leitplanke, dann folgten ein Knall und ein Stoß. Im Rückspiegel blitzte Papas angespanntes Gesicht auf. Er kurbelte wild am Lenkrad, Mama duckte sich auf dem Beifahrersitz.
Ein heftiger Ruck schüttelte den Wagen, und danach geschah etwas mit dem Auto, geschah mit der Welt.
Die Umgebung kippte. Der Sicherheitsgurt drückte Verena die Luft aus dem Brustkorb. Marion purzelte kreischend umher.
Das Autodach verformte sich, wollte sie erdrücken. Entsetzt schrie Verena auf, prallte seitlich gegen das Fenster und schlug sich den Kopf an. Alles drehte sich und versank im Chaos.
Nachdem der VW zur Ruhe gekommen war, herrschte gespenstische Stille. Verena war schwindelig, und sie schmeckte Blut. Im Auto roch es scharf und metallisch. Verena steckte zwischen Sitz und eingedrückter Seitenwand fest.
»Mama?« Ihr Fuß schmerzte, und als sie sich vorbeugen wollte, fühlte es sich auch noch so an, als steche ein Messer durch ihr Bein. Sie tastete vorsichtig die Jeans entlang. Der Stoff war nass und klebrig, und sie spürte darunter Splitter! Schlagartig wurde ihr übel.
»Mama? Papa? Es tut so weh!«
Niemand rührte sich auf den Vordersitzen. Waren sie bewusstlos? Verena kämpfte gegen die Qualen an, aber sie schaffte es nicht einmal, ihre Mutter zu berühren. Sie fing am ganzen Leib zu zittern an.
Im Fußraum auf der anderen Seite weinte Marion. Sie musste aus dem Kindersitz geschleudert worden sein.
Die kleine Gestalt, in rötliches Licht getaucht, war nur eine Umarmung weit fort, doch für Verena war sie unerreichbar. Haarsträhnen verdeckten das Kindergesicht, und darunter sah Verena Blut! Sie reckte sich, aber die Schmerzen im Bein rissen sie brutaler zurück als der verklemmte Gurt.
Grünes Schimmern erfüllte die komplette Wagenfront.
»Mama, Papa, wacht bitte auf! Ihr macht Marion Angst.« Die Panik nistete sich in ihrem Brustkorb ein. Verena biss sich auf die Unterlippe und spähte durch den Spalt zwischen den Vordersitzen. Eine verkrümmte Faust mit Ehering umklammerte die Handbremse. Und war das da Marions zerdrücktes Kuscheltier oder der Kopf ihrer …?
»Nein … nein«, stammelte sie. Das fahlgrüne Licht, das sie für Armaturenbeleuchtung gehalten hatte, umgab die Erwachsenen wie ein phosphorisierendes Leichentuch.
Angst schnürte ihre Kehle zu. Sie zitterte schlimmer als zuvor und schloss die Augen, um das kalte Leuchten auszusperren. Verena wollte sich nur zusammenkauern, sie musste Marion trösten, die aus vollem Hals brüllte.
»Bleib ruhig, Süße!«, sagte sie unter Tränen und zerrte am Gurt, um ihre Schwester wenigstens in die Arme zu nehmen. Vergeblich. »Komm rüber! Ich puste das Aua weg!«
Das Geschrei wurde zu leisen Schluchzern, dann wimmerte das Kind bloß noch. Das eigenartige Licht um Marion wechselte von Rot zu fahlem Grün.
Das kalte Metall und das Leid drückten Verena die Luft ab, und bis die Helfer eintrafen und das Blitzen der Ambulanz alle Farben im Auto überstrahlte, hatte sie ihre Familie sterben sehen.
Etwas berührte Verenas Gesicht, und ruckartig erwachte sie im Bus aus dem Traum vom furchtbaren Tag, der ihr Leben zertrümmert hatte. Sie wischte den großen Nachtfalter weg, der mit ihr im Bus eingesperrt war und nun immer wieder vor die Scheibe flog.
Nur dank langjähriger Verhaltenstherapie hatte sie gelernt, die Fahrt in einem geschlossenen Fahrzeug angstfrei zu überstehen. Sie selbst besaß weder Führerschein noch Wagen.
Als der Bus an ihrer Station hielt, stieg Verena vorsichtig aus, um auf den Stufen nicht zu stolpern. Das lädierte Knie tat nach der ereignisreichen Nachtwache ohnehin weh.
Ihr Heimweg führte am Blankenrainer Park mit den nebeligen Wiesen und dem Wäldchen entlang. Vögel zwitscherten. Ein Kaninchen hoppelte übers Gras und malte einen silbrigen Streifen ins nasse Grün. Es war trächtig, das verriet das warme Orange ums Fell. Tierische Auren waren einfach zu lesen, in menschlichen dagegen konnte Verena sich verlieren. Sie hatte gelernt, den zusätzlichen Sinn größtenteils zurückzunehmen, um nicht von der Fülle an Eindrücken erschlagen zu werden.
In der Hoffnung, ihr Talent besser zu verstehen, hatte Verena sich früher mit Esoterik beschäftigt. Laut Grenzwissenschaft und fernöstlichen Lehren besaßen Menschen ein mystisches Auge auf der Stirn. Bei den meisten Leuten schlief dieses sogenannte Dritte Auge. Manchmal, wie in Verenas Fall, wurden übersinnliche Fähigkeiten durch Krisen aktiviert. Die Erklärung, dass dafür der Autounfall und der Verlust ihrer ganzen Familie verantwortlich waren, erschien ihr zumindest nicht schlechter als andere.
Die Gesundheitsdeutung per Aura hatte Verena sich allein erarbeitet, da ihre Wahrnehmung sehr speziell zu sein schien.
Die Gegend war wie ausgestorben. Um die Straßenlaternen flatterten allerhand späte Nachtfalter, angelockt vom hellen Licht, dass ihnen Mondschein hinter Glas vorgaukelte. Die Nachtschwärmer sollten langsam schlafen gehen, genau wie sie. Verena ertappte sich dabei, wie sie beim Gähnen die Augenlider immer ein wenig länger geschlossen hielt. Als es in den Holunderbüschen neben ihr raschelte, schrak sie daher zusammen. Doch es flatterte bloß eine Amsel heraus.
Der Weg rückte näher an den bewaldeten Teil der Anlage. Verena gelangte an ein Drängelgitter, das Radfahrern den Zugang erschweren sollte. Ausgerechnet an dieser Stelle lagen die Reste eines Trinkgelages. Als sie versuchte, Glasscherben und Bierdosen auszuweichen, verhakte sich die Handtasche an einer Metallstrebe. Aus dem Tritt gebracht, prallte Verena mit der Hüfte gegen die Stange. Au, verdammt!
Ihr Atem beschleunigte sich instinktiv. Sie steckte fest, wie damals im Auto. Verena zerrte wild an der Tasche, und endlich löste sich der Riemen.
Um sie herum war es totenstill geworden. Wachsam sah sie sich um. Ein seltsamer Ast, dachte sie noch, dann jagte ihr Herz los. Das war kein Holzstück, das da aus dem kahlen Rhododendron ragte, sondern ein menschlicher Arm!
»Hallo?« Brauchte jemand dort Hilfe?
Instinkt und Pflicht stritten kurz miteinander, und schließlich machte Verena ein paar Schritte Richtung Waldrand. Nach einigen Metern über die feuchte Wiese blieb sie stehen.
Der Verstand wollte ihr weismachen, es sei nur Teil einer Schaufensterpuppe, die Spaßvögel versteckt hatten. Aber ihre Gabe nahm ganz deutlich die olivgrüne Leichenaura wahr. Und beim genaueren Hingucken erkannte sie im Gebüsch einen Torso. Und dahinter einen Fuß …
Verena versuchte, den Kloß im Hals loszuwerden. Sie hatte in der Klinik genug Tote gesehen, und im Studium im Präp-Kurs einen menschlichen Leichnam seziert. Meist sahen Verstorbene entspannt aus – gelöst und irgendwie entrückt, nicht nur für ihre geschärften Sinne. Das hier aber war vollkommen anders. Die Teile lagen verstreut wie Glieder einer zerrissenen Puppe.
Sie stieß einen erstickten Laut aus.
Ihre besondere Wahrnehmung zählte die Stücke, die zuvor ein lebendes Wesen gebildet hatten. Ein Rest Bewusstsein registrierte, wie sich feuchte Luft auf dem Mantelkragen niederschlug, und versuchte, den stechenden Geruch nach Fäkalien und Blut auszublenden.
Etwas knackte im Buschwerk. Verena zuckte zusammen, und ihr Blick blieb an einer Spur auf der taugetränkten Wiese hängen. Die Fährte endete vor dem Rhododendron mit der Leiche.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Es führte keine zweite Fußspur über den Rasen zurück. Lauerte der Mörder hier irgendwo?
»Oh Gott!« Beim nächsten Rascheln im Gebüsch verkrampfte sich ihr Magen. Etwas Menschengroßes schob sich durchs Unterholz. Sie war allein mit einer Bestie in Menschengestalt!
So schnell das marode Knie es erlaubte, eilte sie zum Weg und tastete dabei vergeblich nach dem Handy. Hatte sie das Telefon etwa beim Drängelgitter verloren? Ihr Fuß verhakte sich in einem Erdloch. Weiter! Jedes Knistern von altem Laub und Zweigen trieb sie vorwärts. Sie musste fort, unter Menschen, in Sicherheit. Verena konnte kaum Schritt halten mit dem Gedankenkarussell im Kopf.
Bevor sie die Parkanlage verließ, schälte sich eine Sekunde lang eine Silhouette aus den Büschen. Verenas Füße trugen sie wie von selbst zwischen parkende Autos hindurch. Als sie sich gehetzt umdrehte, war die Gestalt untergetaucht.
Gepresst stieß sie den Atem aus und stoppte nicht mehr, um sich umzusehen. Stattdessen legte sie alle Energie in die Flucht. Ihre Sneaker schlugen dumpf auf den Asphalt, doch außerdem hörte sie eine Art Schlurfen und das leise Klicken wie von Krallen. Verenas Hand schloss sich um die Dose Pfefferspray. Die andere suchte immer noch das Handy. Mist!
Ein Stück die Straße hinunter lag ein Kiosk, der vielleicht geöffnet hatte! Etwas kratzte hinter ihr gegen Blech. Im Vorbeihetzen schaute Verena in den spiegelnden Autoscheiben nach dem Verfolger. Im Glas zeichnete sich ein vager Umriss ab, den blaue Blitze umzuckten. Verenas hellwache Sinne versuchten, die Aura zu deuten, und sie übersah die Bordsteinkante. Als sie das Bein zu hart aufsetzte, drang der Stoß bis in den Kiefer. Schlagartig wechselte das Knie vom Sand-im-Gelenk-Gefühl zur Phase Glassplitter über.
Verena zischte schmerzerfüllt, und die Finger stahlen sich automatisch zu der wehen Stelle. Sie verharrte in Deckung des Wagens, die Hand schützend um die Kniescheibe gelegt und spähte umher. Wo steckst du?
Aber sie hatte die Gestalt aus den Augen verloren.
Die Ampel an der Kreuzung schaltete von Rot auf Grün. Das fahle Leuchten erinnerte sie an die Aura der zerfetzten Leiche. Verena unterdrückte ein Würgen. Sie hastete weiter, an einem Abbruchhaus vorbei und schließlich um eine Ecke. Nirgendwo ein Licht, jedermann sonst schlief.
»Internationale Presse« stand in abblätternden Buchstaben an der Wand des Kiosks. Der Rollladen über dem Tresen war geschlossen. Hier würde sie keine Hilfe finden. Auf dem Bordstein vor dem Geschäft lag ein aufgeplatztes Zeitungspaket. »Lumpensammler-Morde ohne jede Spur«, überflog Verena im Vorbeihasten. Sie war auf sich allein gestellt.
Wieder bemerkte sie aus dem Augenwinkel eine geschmeidige Bewegung, mehr das Huschen eines Tieres als das eines Menschen. Sie wollte lauschen, doch das Rattern eines Zugs übertönte jedes andere Geräusch. Zug! Neuer Plan! Verena lenkte die Schritte zum Bahnhof. Dort wartete zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Taxi. Sie biss die Zähne zusammen und überquerte im Eilschritt das Kopfsteinpflaster.
Zu den Stichen im Knie kam ein dumpfes Drücken im rechten Fuß, den der Unfall zehn Jahre zuvor zerschmettert hatte. Er fühlte sich an, als stecke er in einem viel zu engen Schuh.
Verena hatte das Unglück überlebt, das ihr die Familie genommen hatte, und die Unterbringung bei den strengen Pflegeeltern überstanden. Die Sorge, dass man sie wegen ihrer Gabe für einen Freak hielt, ertragen – eine Befürchtung, die bisher jede Beziehung zerstört hatte. Und sie würde auch die Begegnung mit dem Lumpensammler für sich entscheiden – denn wer sonst könnte für die Leiche im Park verantwortlich sein?
Eine Woge von Energie beflügelte sie.
Verena bog zum Bahnhof ab und war schon einige Meter gelaufen, als ihr der Denkfehler bewusst wurde.
Die Bahnhofsstraße war von Zierkirschen gesäumt. Im Dämmerlicht glichen die Bäume finsteren Säulen, hinter denen sich wer-weiß-was verbergen konnte. War der Verfolger überhaupt noch an ihr dran oder hatte sie ihn abgeschüttelt?
Etwas schepperte bei der Einbiegung, und damit hatte sie ihre Antwort. Verena riskierte einen Blick über die Schulter: Eine rollende Mülltonne. Die kippten nicht von alleine um. Wenn sie jetzt umkehrte, lief sie dem Mörder direkt in die Arme.
Sie hinkte auf den Mittelstreifen, um Abstand zu den Straßenrändern zu gewinnen. Auf der Straße lauerten wenigstens keine Kanten oder Asphaltlöcher.
Ängstlich schaute sie sich abermals um. Eine gedrungene Gestalt bewegte sich von Deckung zu Deckung. Verena konnte nicht genau festmachen, ob sie auf zwei oder vier Beinen lief. So stellte sie sich einen Werwolf vor!
Sie bekam eine Gänsehaut. Die Aura war bis auf die bläulichen Funken matt und kränklich, so eine Kombination war ihr nie zuvor begegnet.
Sie legte trotz des wummernden Knies noch einen Schritt zu. Das wunde Gelenk rieb aufeinander, bis darunter rohes Fleisch zu liegen schien. Der Fuß fühlte sich inzwischen an, als würde er jeden Moment in zwei Teile brechen. Verena setzte den Schuh zur Entlastung stärker mit der Außenkante auf und hinkte deutlicher. Die halbe Strecke war geschafft. Aber der Verfolger kam näher.
Sie bereitete sich auf die Konfrontation vor. Zuerst war das Pfefferspray dran. Dann musste sie improvisieren: Schlüsselbund, Fingernägel. Sie ging im Geiste schon die verwundbaren Stellen des menschlichen Körpers durch, da geriet sie in eine süße Duftwolke.
Natürlich. Sie war nicht die Einzige, die nachts arbeitete!
Angespannt und kampfbereit bog Verena in den Hinterhof der Bäckerei Horn ein. Der wild pochende Herzschlag trieb sie auf die Tür und den Lichtstreifen am Durchgang zu.
Sie trat ins helle, warme Licht der Backstube, wo drei mehlbestäubte Angestellte sie verblüfft ansahen.
»Ich brauche Hilfe«, stieß sie atemlos hervor.
Kapitel 2
Gazette: Blutbad im Park
Küstennachrichten: Lumpensammler schlägt wieder zu
Hernberger Rundschau: Rätselhafte Mordserie geht weiter
Blankenrain – In den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages entdeckte die 23-jährige Verena S. im Stadtpark von Blankenrain den grausam zugerichteten Körper eines Helmstädter Geschäftsmannes. Die Polizei schließt einen Zusammenhang zu den anderen Morden im Landkreis (wir berichteten) nicht aus.
Sucht der wegen seiner abgerissenen Erscheinung im Volksmund Lumpensammler genannte Serienmörder nun auch im beschaulichen Blankenrain nach Opfern?
Über die genauen Hintergründe der Tat gibt es noch keine Informationen. Wir ermitteln in alle Richtungen, so der Polizeipräsident.
Gazette: Ihm (Rainer D.) konnte auch Schwester Verena nicht mehr helfen
Abendbote: Nachtschwester findet zerstückelte Leiche
Wie erst nach Redaktionsschluss bekannt wurde, arbeitet Verena S., die gestern früh auf dem Heimweg wortwörtlich über eine Leiche stolperte, als Krankenschwester in der Klinik von Blankenrain. Nachdem sie auf die sterblichen Überreste von Rainer D. stieß, rief sie, eigenen Angaben zufolge, umgehend die Polizei. Trotz eingeleiteter Großfahndung konnte im Park niemand angetroffen werden. Lesen Sie weiter im Innenteil.
Gazette: Nichts Neues im Park-Mord
Die Behörden haben auch nach drei Tagen keine Ergebnisse vorzuweisen. Langsam erkaltet die Spur. Verena S., die angeblich so couragierte Krankenschwester, weigert sich, mit der Presse zu sprechen. Hat sie etwas zu verbergen? Oder hat die junge Frau mehr gesehen, als sie zugeben möchte? In unserem Interview mit Bäckermeister Horn erfahren wir, wie er die Nacht des Mordes erlebte …
Ein leises Klirren schreckte Verena auf, und die Zeitung rutschte ihr aus der Hand.
»Scht, alles in Ordnung.« Martina stellte die Tasse auf den Glastisch und hinterließ eine mittlere Überschwemmung. »Du brauchst jetzt eine Teepause.«
»Danke, Tina!« Verena wärmte sich die Finger am Porzellan.
»Mir ist schleierhaft, wieso du dir das antust.« Tina wies auf den mit Zeitungen übersäten Tisch. »Die schreiben jeden Tag mehr Unfug über dich. Nun haben sie sogar ein Foto von dir aufgetrieben. Nicht mal ein Schmeichelhaftes.«
»Das war gestern schon bei Twitter.« Verena zuckte die Achseln. »Von den lieben Kolleginnen geteilt.« Auf ihr Handy, das sie in jener Nacht so verzweifelt gesucht hatte, war sie schließlich ganz unten in der Tasche gestoßen. Nun war der Akku so gut wie leer, weil sie sich von der inneren Unruhe ablenken wollte, indem sie jede Mitteilung online verfolgte.
»Nun lass doch mal gut sein, Verena.«
»Irgendwas muss ich ja tun. Die Klinik hat mich freigestellt, und ab nächster Woche sind Semesterferien. Eigentlich will ich von der Sache nichts mehr hören, ich müsste für die Klausuren lernen. Aber das ist wie mit einem lockeren Zahn. Man wackelt dauernd mit der Zunge dran.«
»Die verbreiten nur Gerüchte, weil es über den Lumpensammler wenig zu berichten gibt. Wenn du die Gazette zusammenrollst, kannst du bei dem schaurigen Verbrechen und Promischmalz glatt Blutwurst daraus machen.«
Lachend zog Verena Tina neben sich aufs Sofa. Die Freundin erstrahlte in einem gelben Licht, das sie als gesund zu deuten gelernt hatte.
»Danke«, sagte sie. »Für die Einladung, ein paar Tage bei dir zu verbringen, bis das Schlimmste vorbei ist.«
»Na, hör mal! Du hast doch sonst niemanden. Und die Polizei weigerte sich ja, dich in Schutzhaft zu nehmen.«
»Schutzverwahrung«, meinte Verena mit gespieltem Vorwurf. »Leider bin ich keine Kronzeugin aus einem US-Krimi. Ich hatte halt nur das Pech …«
»… über eine Leiche zu stolpern. Stell dir den Rummel vor, wenn du zu Hause geblieben wärst.«
»Ich will dich da nicht reinziehen. Es könnte gefährlich werden.« Verena wies auf das Phantombild des Verdächtigen, das kaum mehr hergab als ein Paar glühender Augen in einer Kapuze, die in einen zerfetzten Mantel überging. »Der sieht alles andere als freundlich aus.«
Jetzt war es Tina, die empört dreinblickte. »Hey, du hast doch ausgesagt, dass du niemanden gesehen hast.«
Verena schluckte.
In Wahrheit hatte sie der Polizei berichtet, dass ihr jemand gefolgt war, den sie für den Mörder hielt. Die Beamten hatten sie jedoch angewiesen, aus ermittlungstaktischen Gründen über dieses Detail Stillschweigen zu bewahren. Sogar Tina gegenüber. Man hatte ihr Polizeischutz angeboten. Aber der Gedanke an eine Zelle im Polizeirevier oder dem wochenlangen Eingesperrtsein in der eigenen Wohnung war unerträglich.
Tina deutete ihr Schweigen falsch. »Außerdem ist dieser Lumpensammler nur hinter Männern her«, betonte sie. »Siehst du hier irgendwelche Männer? Unter dem Tisch? Im Schrank? Oder etwa im Schlafzimmer?« Sie sah einen Moment lang traurig aus, und das gelbe Licht um sie flackerte. »Wir sind ja beide solo!«
Mit einem lag Tina goldrichtig: Bei den vier bisherigen Opfern des Lumpensammlers handelte es sich durchweg um ältere Männer. Trotzdem wurde Verena das unheimliche Gefühl nicht los, dass mehr hinter den Morden steckte. Vor allem wegen der seltsamen Aura des Verfolgers.
Eine wachsende Unrast plagte Verena. Sich im winzigen Appartement ihrer einzigen Freundin zu verstecken, war eine Sache. Wie eine Klette an ihr zu hängen, eine andere.
»Heute Abend gehe ich arbeiten!«, sagte sie. »Ich kann mich nicht die ganze Zeit hier verkriechen und romantische Kostümfilme gucken.«
»Hast du dir das gut überlegt? Uns fehlen noch zwei Staffeln von Downton Abbey.«
Kopfschüttelnd meinte Verena: »Mein Ladegerät fürs Handy liegt in der Klinik, und dann kann ich auch gleich nach dem Rechten schauen.«
»Ich bring dich hin. Und zurück nimmst du ein Taxi!«
Tina fuhr so übervorsichtig, dass man sich in ihrem Auto halbwegs sicher fühlte. »Ja, Mama.«
Sie lachten beide. Doch das von der Zimmerdecke zurückgeworfene Gelächter klang wie Spott. Plötzlich war Verena nicht mehr zum Lachen zumute.
Verena hängte das Mobiltelefon ans Ladegerät und streifte den Schwesternkittel über. Endlich wieder auf Station. Es roch nach Desinfektionsmitteln, Plastik von den Abdeckhauben der Abendbrotteller, dazu ein Hauch von Schweiß und krankem Mensch. Der übliche Krankenhausmief. Während der Nachtschicht herrschte in der Klinik eine beruhigende Atmosphäre, als färbe der Schlaf der Patienten ab. Und Ruhe war genau das Richtige für ihre überreizten Nerven.
Als Verena an einer angelehnten Tür vorbeikam, hörte sie die vertraute Stimme von Dr. Karden und verdrehte unwillkürlich die Augen. Natürlich hatte ausgerechnet er heute Dienst. Doch das war ein Krankenzimmer, nicht der Bereitschaftsraum. Gab es einen Notfall?
»Ja. Wir sind so nahe dran wie nie.«
Kein Patientengespräch, es sprach nur einer. Der Oberarzt musste sich für ein vertrauliches Telefonat zurückgezogen haben.
»Was glaubst du?« Irgendetwas an dem Tonfall veranlasste sie, stehenzubleiben.
»Ich vergesse nie, was er Helene angetan hat. Der Gedanke an das Salamanderbuch motiviert mich jeden Tag.« Pause.
»Ja, ich habe den Standort verlegt. Aus Sicherheitsgründen. Ganz in deren Nähe. Was das Löwen-Projekt angeht … GU-28, AD-12 und vor allem CY-15 zeigen Fortschritte.«
Als Karden Faktoren aus irgendeinem Experiment aufzählte, setzte sich Verena wieder in Bewegung. Es ging um seine Familienfirma Panazee-Pharma.
Sie betrat das Schwesternzimmer, eine Lichtinsel inmitten abgedunkelter Räume. Die Kolleginnen blickten überrascht hoch. Ärzte pflegten vorher anzuklopfen und natürlich erwartete sie niemand.
»Sieh an, unsere Berühmtheit«, bemerkte Katja spitz. »Aus dem Rampenlicht zurück an die Bettpfanne.«
»Wir haben das von dir gehört. Was tust du denn hier?«, fragte Mila. Sie musste gerade aus der Raucherpause gekommen sein, der Grauschleier um ihre Aura löste sich schon auf.
Blauer Dunst und schwarzer Kaffee trugen das Personal durch die Nachtschicht. Verena mochte gar nicht wissen, was Ärzte einwarfen, um Bereitschaftsdienste, Rufdienste oder die Verantwortung für eine ganze Station und die Notaufnahme durchzustehen. Allerdings würde sie nie verstehen, wieso ausgerechnet Leute im Medizinbetrieb Raubbau am eigenen Körper betrieben. »Ich wollte mich nützlich machen. Mir fällt die Decke auf den Kopf.«
»Der Warteraum der Ambulanz ist voll«, bemerkte Katja. »Es gab einen Notfall auf der U6. Bei nur einem Arzt auf Station stapeln sich die Patienten.«
Das war ja kein Wunder, wenn Karden telefonierte, statt zu arbeiten.
Im Wartebereich der Ambulanz empfing sie Alkoholgeruch, allerdings nicht von Desinfektionsmitteln. In einer Glaskabine am Ende der Stuhlreihe teilte ihre Kollegin Elvan die Patienten nach Dringlichkeit der Behandlung ein. Zwei Männer sahen aus, als kämen sie von einer Prügelei. Ein älterer Herr saß schnaufend da. Für Verenas inneres Auge wirkten die Beschwerden seiner verschleppten Bronchitis nicht sonderlich ernst. Eine Frau hielt sich den Arm, der verstaucht zu sein schien.
Verena musterte das Pärchen genauer, von dem der Geruch nach Schnaps stammte. Der Betrunkene hockte ungelenk auf dem viel zu niedrigen Stuhl und schob die Beine ruhelos vor und zurück. Beide Auren waren am Rand leberrot getönt, typisch für Alkoholrausch. Außerdem zeigte die Aura der Frau einen feinen Riss auf Schädelhöhe, und sie war in diesem Bereich verschoben.
Beim Anblick von Verenas Kittel wetterte der Mann los. »Wo bleibt’n der Doktor? Wir warten seit ’ner Stunde!«
Verena musste die Kollegin unbedingt auf den kritischen Zustand der Frau aufmerksam machen. Rasch schlüpfte sie in die Kabine. »Hallo, Elvan.«
Die riss die Augen auf. »Gut, dass du da bist. Der Kerl randaliert gleich.«
Hinten ging eine Tür auf. Köpfe ruckten hoch, und Bewegung kam in die Menge. »Herr Doktor!« Der Betrunkene sprang schwankend auf die Füße. »Meine Frau ist die Treppe ’runtergefallen. Sie hat wahnsinnige Schmerzen.«
»Ich seh mir eben die Papiere an.« Karden wollte die Tür zum Glaskasten öffnen, doch überraschend flink packte ihn der Mann am Kittel.
»Es is’ dringend, Herr Doktor. Die wird verrückt vor Kopfweh.«
Die Frau kauerte benommen da, und ihr liefen Tränen über das Gesicht. Ihr Aurariss war in dem kurzen Moment bereits größer geworden. Wütend pulsierte ein rötliches Strahlen um die Fissur.
»Wenn Sie ausfallend werden, helfen Sie Ihr auch nicht.« Karden griff nach den Krankenblättern. Die Hand des Betrunkenen glitt vom steif gestärkten Arztkittel wie ein totes Gewicht. »Ich mein’ doch nur – tun Sie was!«
Karden wich vor seiner feuchten Aussprache zurück und wäre dabei beinahe in Verena gelaufen. »Wir kümmern uns darum. Ich muss sehen, ob es dringendere Fälle gibt, Herr …«
»Noviak.«
Erst mal abwiegeln. Typisch Karden. Verena äugte noch einmal zu der Verletzten und räusperte sich. »Soll ich alles zum Röntgen vorbereiten?«
Sie wählte einen neutralen Tonfall, um nicht eigenmächtig zu erscheinen. Sonst musste am Ende die Patientin unter ihrem Vorpreschen leiden. Karden brachte es fertig, das genaue Gegenteil zu tun, um zu zeigen, wer das Sagen hatte.
Der Arzt blickte sie an, als sähe er ein Gespenst. »Frau Seiler«, sagte er mit gespitzten Lippen. »Was machen Sie denn hier?«
»Ich bin eingesprungen, weil so viel los war!«
Kardens Blick sengte eine Brandspur durch den Raum. Elvan schüttelte rasch den Kopf. »Ich hab niemanden angefordert!«
»Sie haben keine Berechtigung mehr für die Klinik, Frau Seiler. Das wissen Sie doch.«
»Wo liegt denn das Problem?« Was sollte schlimm daran sein, wenn sie mal freiwillig zum Dienst erschien? Personal war immer knapp.
»Seit Sie in diese unselige Mordgeschichte verwickelt wurden, wimmelt die Klinik vor Reportern.«
Als wäre sie mit Absicht einem Mörder in die Quere gekommen. Verena errötete. »Wenn ich erklären …«
»Das Patientenwohl geht vor, Frau Seiler, das verstehen Sie gewiss. Ihre Anwesenheit stört die betrieblichen Abläufe. Gestern ist ein Boulevard-Schnüffler bis ins Schwesternzimmer vorgedrungen. Hat Fragen über Sie gestellt.« Er blinzelte.
»Ich bedauere, dass Sie es auf diesem Wege erfahren …«
Verena wurde heiß und kalt. Gar nichts tut dir leid. Ihr fehlten vor Empörung die Worte.
Der Arzt bürstete sich ein Staubkorn vom Ärmel. »Das Kündigungsschreiben hätte längst …«
Ein Brief der Vermittlerfirma wäre an ihre Postadresse gegangen. Die Sendungen der vergangenen Tage hatte Verena bisher nicht abgeholt.
»Den Resturlaub bekommen Sie voll ausbezahlt. Ich bin sicher, eine andere Institution …«
Verena hasste die Vorstellung, doch sie musste betteln. Und ausgerechnet bei Karden. »Ich bin auf die Stelle angewiesen, um das Studium zu finanzieren. Wenn ich jetzt nach einem neuen Job suchen muss, kann ich die Klausuren vergessen.« Sie brauchte die Semesterferien zum Lernen und Geld verdienen. Und nun sollte sie sich in der knappen Zeit die Hacken bei der Arbeitssuche ablaufen. Das war unfair!
»Die Entscheidung habe nicht ich gefällt«, stellte Karden klar. »Der Betriebsrat hat der Kündigung zugestimmt. Da Sie nur über die Zeitarbeit angestellt sind, ging das fix. Entschuldigen Sie mich, es warten Patienten!« Er hob die Krankenblätter wie einen Schild vor die Brust.
Verena warf einen letzten Blick auf die zusammengesunkene Patientin im Warteraum. Sie hörte ihr Weinen bis hierher.
»Wir waren fachlich nicht immer einer Meinung, Doktor. Aber bitte sehen Sie sich Frau Noviak genauer an. Ich vermute, sie hat eine schwere Gehirnerschütterung, vielleicht sogar einen Schädelbruch.«
Kardens Mund verzog sich abschätzig. »Wer saufen kann, der muss auch die Folgen tragen. Im Übrigen bin ich ausgebildeter Arzt mit Berufserfahrung, Sie hingegen nur eine Pflegekraft. Von einem fachlichen Austausch auf gleichem Niveau dürfte also keine Rede sein.«
In Verena kochte es. »Wir werden ja sehen, was die Presse zu Ihrer Behandlung von Notfällen sagt. Und das bei Ihrem familiären Hintergrund!«
Er fletschte die Zähne und erinnerte sie an einen Hai. »Wenn ich wollte, setzten Sie keinen Fuß mehr in ein deutsches Krankenhaus, auch nicht als Ärztin. Dann können Sie ewig beim Pflegedienst versauern. Haben wir uns verstanden, Frau Seiler?«
Verena versteifte sich. Die Wände des gläsernen Kastens rückten näher. Sie spürte, wie ihre Stirn feucht wurde. Ihr Herz galoppierte, Übelkeit erfüllte ihren Bauch.
Karden beäugte sie misstrauisch. »Machen Sie bloß keine Szene. Also gut …« Er winkte Elvan herbei. »Bringen Sie die Patientin zum MRT. Einen schönen Abend, Frau Seiler.«
Verena flüchtete aus der Glaskabine, ehe ihre Kehle zu eng für den nächsten Atemzug wurde.
Ihre Zukunft stürzte gerade ein wie ein Kartenhaus. Sie geriet zwar regelmäßig mit Ärzten aneinander, weil ihre Gabe genauere Einblicke verschaffte als jedes Gerät. Aber sie hatte sich in den letzten Jahren ebenso einen soliden Ruf erworben. Nun war sie unverschuldet den Job los.
Sie ballte die Fäuste. Verfluchte Klatschpresse! Verdammter Lumpensammler. Hätte sie den Toten bloß nie entdeckt!
Die kühle Nachtbrise trieb die drückenden Sorgen auseinander wie Regenwolken, als eine Wahrnehmung durch Verenas abflauende Panik drang: Tritte von schweren Schuhen. Sofort schlug ihr das Herz wieder bis zum Hals, und sie lief schneller. Zu dumm! Aus purer Gewohnheit hatte sie nach dem aufgebrachten Abgang den gewohnten Weg zur Bushaltestelle eingeschlagen. Die offene Station gegenüber vom Parkplatz war keine Zuflucht.
Jemand folgte ihr. Und das Handy hing noch am Ladegerät beim Spind, weil sie sich nicht einmal umgezogen hatte. Wenn etwas schiefging, dann gründlich!
Verena blickte sich hektisch um, konnte in der Dunkelheit aber niemanden erkennen. Doch sie war im hellen Kittel leicht auszumachende Beute.
»Frau Seiler?«, rief eine Männerstimme. »Bitte warten Sie, wir müssen reden.«
Karden hatte ja davon gesprochen, dass die Presse das Krankenhaus umlagerte. Ein Journalist war das Letzte, worauf Verena Lust hatte.
Oder versuchte der Lumpensammler, sie hier zu erledigen?
Aber nicht mit ihr! Der Mann war mindestens zehn Meter zurück. Sie knöpfte im Gehen den Kittel auf. Hinter der ausladenden Kiefer ein Stück weiter würde er sie für einen Moment aus den Augen verlieren. Verena zog das Oberteil aus und hängte das helle Kleidungsstück in eine Berberitze. Dann schlug sie sich seitlich in die Büsche.
Für den Verfolger sah es hoffentlich so aus, als wäre sie stehen geblieben. In Wahrheit huschte Verena über den Rasen zurück zur Klinik. Immer wieder sicherte sie nach allen Seiten. Der Kittel hing wie ein Gespenst zwischen den dornigen Zweigen.
Als sie endlich das Krankenhaus erreichte, sah sie sich ein letztes Mal um. An der Stelle, wo sie das Kleidungsstück zurückgelassen hatte, stand eine schattenhafte Gestalt, zu weit weg, um die Aura zu deuten. Wild flatterten die Kittelärmel, und es sah beinahe aus, als tanze der Verfolger damit. Verena steuerte schaudernd auf das Pförtnerhäuschen zu.
Muffiger Geruch schlug Verena am nächsten Tag aus der Wohnung entgegen. Raschelnd schoben sich Briefe mit dem Türblatt über die Fliesen. Sie sammelte die Post auf und fächerte die Umschläge in der Hand auf wie ein wenig aussichtsreiches Pokerblatt.
Werbung. Handyrechnung. Zweimal Firma Holzmann. Das wird die Kündigung sein. Verena hatte nicht übel Lust, der Klinik und dem treulosen Vermittler ihren Anwalt auf den Hals zu hetzen. Vielleicht war ja eine Abfindung drin. Und wovon träumst du nachts? Zahnarzt-Erinnerung, Reklame. Nanu! Inmitten trostloser Umschläge steckte ein dickes cremefarbenes Kuvert. Ein richtiger Brief!
Verena klemmte die Post zwischen Zeige- und Mittelfinger und fischte das interessante Schreiben heraus. Die Anschrift war handgelettert, und der Absender in Gold in das Papier geprägt. Wolf von Hagendorf. Der Name sagte ihr nichts, und die Adresse noch weniger.
Sie ließ die Tasche mit der Schmutzwäsche von der Schulter gleiten und riss im Gehen die Lasche auf. Das steife Kuvert enthielt einen Bogen mit schwungvoller Handschrift.
Sehr geehrte Frau Seiler,
Sie kennen mich nicht, und damit Ihnen dieser Umstand nicht zum Nachteil gereicht, erlaube ich mir, mich und mein Anliegen etwas ausführlicher vorzustellen. Mein Name lautet Wolf von Hagendorf. Ich bin Privatgelehrter, den die Studien vor einigen Jahren auf den Familienstammsitz Weißenbach bei Richtstetten geführt haben. Zurzeit bin ich auf der Suche nach einer probaten Pflegerin für meine Mutter Sidonie, die ebenfalls im Hause wohnt. Sie ist körperlich leidend, geistig aber völlig klar.
Es beträfe einen Zeitraum von ungefähr 6 Wochen – dann wird sie zu einer Kur ins Ausland aufbrechen, die ihr Linderung verschaffen soll.
Sie wurden uns als zuverlässige und einfühlsame Pflegekraft empfohlen, und ich habe bereits bei Ihrer Arbeitsvermittlung Erkundigungen eingezogen. Dort versicherte man mir, dass Sie momentan ohne Anstellung seien. Ihre Pflichten werden Sie kaum länger als 4 Stunden am Tag beanspruchen, und Sie können auf die Hilfe der Haushälterin zurückgreifen. Ich hoffe, es ist Ihnen möglich, so kurzfristig zu disponieren.
Daher erlaube ich mir, einen Scheck beizufügen, der Ihre Reisekosten decken wird, und erwarte Ihre positive Antwort.
Kopfschüttelnd ließ Verena das Blatt sinken. Die Worte, antiquiert wie Dialoge in einem Kostümfilm, erzeugten Bilder aus einem vergangenen Jahrhundert. Sie wunderte sich so sehr über die gestelzten Ausdrücke, dass ihr die Bedeutung der Zeilen erst langsam bewusst wurde: ein Arbeitsangebot.
Wie war dieser von Hagendorf ausgerechnet auf sie gekommen? Sie hatte zwar vor der Krankenhauszeit im Bereich häuslicher Pflege gearbeitet, allerdings mehr im Umkreis von Blankenrain. Hatte einer ihrer ehemaligen Kunden sie empfohlen? Sie googelte und fand den Ort Richtstetten weit weg Richtung Lüneburger Heide.
Verena griff zum Telefon. »Tina, bin gerade zu Hause und hab meine Post gelesen.«
»Die Kündigung?«
»Ja. Holzmann schreibt, dass die Klinik das Arbeitsverhältnis beendet. Wie erwartet.«
»Tut mir leid.« Tina klang so zerknirscht, als wäre das ihre Schuld.
»Das ist aber nicht alles. Sie erwähnen ein neues Angebot. Der Kunde hat sich bei mir gemeldet wegen einer befristeten Stelle mit Kost und Logis.«
»Das würde ja perfekt in deine Planung passen.«
Allerdings. Das war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Verena glaubte, den Angelhaken in der Kehle kratzen zu fühlen. Aber es war ein in jeder Hinsicht verführerisches Angebot – auch die Polizei hatte ihr geraten, eine Weile von der Bildfläche zu verschwinden.
»Die alte Dame, die ich pflegen soll, lebt bei ihrem Sohn in einem Herrenhaus. Scheint weitab vom Schuss zu liegen, der Kasten.« Vor dem inneren Auge sah Verena einen typisch englischen Landsitz inmitten von sturmgepeitschter Heide. Als könne Tina ihre Gedanken lesen, rief sie begeistert: »Mit einem auf düstere Weise gutaussehenden Hausherrn wie Mr Rochester bei Jane Eyre.«
»Du bist hoffnungslos!«, sagte Verena kopfschüttelnd.
»Hoffnungslos romantisch«, korrigierte Tina. »Hauptsache, du entkommst diesem gruseligen Verfolger. Vom Lumpensammler gar nicht zu reden.«
Jemand klingelte an der Tür, und Verena beendete rasch das Gespräch. Sie sah durch den Türspion Frau Holm, die agile Rentnerin aus der gleichen Etage und öffnete.
»Lange nicht gesehen, Frau Seiler«, grüßte die Nachbarin. »Man las ja so einiges über Sie in der Zeitung.«
»Danke, der Nachfrage«, sagte Verena bloß ironisch und ließ Frau Holm auflaufen. Sie würde dem Klatsch keine Nahrung bieten. »Was ist denn?«
»Ich wollte Sie warnen. Da war neulich dieser seltsame Kerl, der hier im Treppenhaus herumlungerte. Er hatte einen Stapel Käseblättchen dabei. Hat getan, als wäre er der Austräger. Aber damit kann er jemanden wie mich nicht täuschen. Der hat auf Sie gelauert.«
Verena stockte der Atem. »Wann war das?«, brachte sie heraus. Folgte der Mörder ihr etwa? War sie zu leichtsinnig gewesen, so dass er längst wusste, wo sie wohnte?
»Och, vor drei oder vier Tagen. Er wollte wissen, ob Sie bald nach Hause kämen.« Sie kicherte. »Der hat mich für senil gehalten. Natürlich habe ich nichts über Sie erzählt.« Sie warf sich in Positur, als hätte sie einem hochnotpeinlichen Verhör der Inquisition standgehalten.
»Können Sie den Kerl beschreiben?« Verenas Herzklopfen wurde stärker. Gab es endlich einen Augenzeugen?
»Ich hab den hier noch nie gesehen. Er wirkte ein bisschen verlottert. Aber die jungen Leute sind heute ja alle gammelig angezogen.«
»Würden Sie bei der Polizei darüber eine Aussage machen?«, bat Verena.
Der Mund, der bis gerade kaum stillgestanden hatte, schloss sich wie eine Auster. Frau Holm schüttelte den Kopf, und ihr Kinn schlackerte. »Ich möchte keinen Ärger.«
»Vielleicht können Sie wertvolle Hinweise liefern!«
»Och, meine Serie fängt jetzt an.« Schon wollte sich die Rentnerin davonschlängeln.
Verena war binnen weniger Tage zweimal verfolgt worden. Und nun, wo ein Fremder hier herumschnüffelte, war ihr Zuhause kein sicherer Hafen mehr. Ihr Türschloss war ein Witz. Und mit einem Sicherheitsschloss wäre es nicht getan, denn der Verfolger brauchte sie ja bloß bei den Mülltonnen abzupassen oder ihr im Hauseingang aufzulauern.
Bis alles geklärt war, konnte sie sich unmöglich in Tinas Einraum-Apartment einquartieren. Außerdem musste sie für die Prüfung lernen.
Sie wollte so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und diesen Kerl bringen! Und sie benötigte den Job. Es gab nur eine Lösung. »Ich bin wohl einige Wochen nicht da. Würden Sie in der Zeit bitte ein Auge auf die Wohnung halten? Eine Freundin kommt zum Blumengießen vorbei.«
Der bescheidene Wunsch beruhigte die Nachbarin. Sie nickte. »Ach ja. An seinem Rucksack war ein Namensanhänger dran. Ich hatte die falsche Brille auf, doch ich glaube, es stand etwas wie L. Fichte drauf.«
»Danke!« Wenigstens ein Hinweis. »Und rufen Sie am besten sofort die Polizei, wenn der Kerl wieder auftaucht! Ich will Ihnen keine Angst einjagen, aber das wäre in Ihrem eigenen Interesse. Der Mann hat Sie gesehen und weiß, wo Sie wohnen.«
Die Nachbarsfrau erbleichte.
Kapitel 3
Eine halbe Woche darauf saß Verena im Zug Richtung Lüneburger Heide und redete sich ein, dass die Reise eine vernünftige Entscheidung war und keine Flucht.
Mit dem Auto wäre es weniger umständlich gewesen, da sie zweimal umsteigen musste. Doch Verena hatte ihr Gepäck bereits am Vortag aufgegeben und nur die Reisetasche dabei, die Tina mit Proviant gefüllt hatte, als ginge es nach Sibirien. Als Überraschung lag ein Paket hochwertiger Buntstifte für Verenas Hobby bei, die Ausmalbücher. Auch das dazugehörige Malbuch mit Regency-Motiven war ein Geschenk.
Verena verfolgte die vorbeifliegende Landschaft. Dichte Nadelwälder wechselten sich mit Heidehöfen mit ihrem charakteristischen Backsteinfachwerk ab. Eine Werbung im Abteil wies auf eine Sehenswürdigkeit hin – den Mergelsteiner Aussichtsturm.
Die aufziehende Dämmerung hüllte das Land bereits in ein blaues Tuch, und Verena übersah beinahe das Ortsschild Richtstetten. Sie beeilte sich mit dem Aufstehen und ging vorsichtig durchs wiegende Großraumabteil zur Zugtür. Ihr Knie mochte schwankenden Untergrund gar nicht.
Der asphaltierte Bahnsteig der kleinen Station war zu kurz für den Regionalexpress. So musste sie nach dem Kampf mit der klemmenden Tür einen Höhenunterschied von beinahe einem Meter überwinden und auf unbefestigten Boden treten. Um beide Hände zum Festhalten frei zu haben, ließ sie die Tasche auf die Grasnarbe plumpsen und stieg dann hinterher. Wie immer, wenn sie einen geschlossenen Raum verließ, atmete sie durch.
Wobei ihr das Schlimmste vermutlich noch bevorstand: Ein Wagen sollte sie vom Bahnhof abholen. Die drohende Tour lag Verena schwer im Magen.
Als dann Hufklappern und das Geräusch hölzerner Räder auf Pflastersteinen ertönten, blickte sie entgeistert auf die Pferdekutsche, die hinter dem Bahnhofsgebäude hervorrollte.
Kam das Gespann etwa von Weißenbach? Das war ja wohl die Krönung hochherrschaftlichen Reisens. Wenn ich das Tina erzähle.
Doch bei genauerem Hinsehen bemerkte Verena das Schild mit der Aufschrift ›Stadtrundfahrten‹ an der Seite der offenen Kutsche. Schade.
Stattdessen wartete vor dem Bahnhof ein Oldtimer – und damit meinte Verena nicht den älteren Herrn beim Auto. Es handelte sich bei der Nobelkarosse um einen Maybach. Verena erkannte das Emblem mit den verschlungenen Ms aus einem von Tinas Kostümfilmen.
»Frau Seiler? Weber, von Weißenbach.« Der Fahrer streckte unbegeistert die Arme nach ihrer Tasche aus. Durch sein kurzes Kraushaar schob sich ein eckiger Schädelknochen, die eidottergelbe Aura war gedämpft, wie hinter einer staubigen Fensterscheibe.
Verena grüßte nervös zurück. Sie hätte die Pferdekutsche vorgezogen.
»Dauert die Tour länger?«, fragte sie angespannt, während Weber die Tasche verstaute.
Ein undefinierbares Krächzen ertönte, das als Zeitangabe wenig taugte. Der Chauffeur schlug die Heckklappe zu. »Das Haus liegt ’n gutes Stück hinterm alten Truppenübungsplatz.«
Sie blieb stehen, als er ihr die hintere Wagentür aufhielt. Beim Anblick der Rückbank überfielen sie tausend schreckliche Erinnerungen.
»Ich sitze lieber vorne.« Es klang so piepsig.
»Wie Se wollen.« Weber schien lautlos zu seufzen, ließ die Tür zufallen, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür für sie.
Der Innenraum war geräumig und bot Beinfreiheit. Hinter der großen Windschutzscheibe fühlte sich Verena wohler, als eingezwängt im Fond, trotzdem ballte sich ihr Magen zusammen, wie vor jeder Autofahrt.
Weber lag beinahe in seinem Sitz, völlig entspannt. Mit sonorem Brummen nahm die Limousine Fahrt auf.
Der Chauffeur hüstelte. »Anschnallen, bitte.«
Ach ja. Verena zog den verhassten Gurt über die Brust. Er schien sich durch den Mantel in die Haut zu sengen. Das Geräusch des Gurtschlosses erinnerte an das Zuschnappen einer Falle. Ihr Herz schlug laut wie eine Kesselpauke, und der Schweiß brach ihr aus.
Sie atmete ein und aus und versuchte, nicht zu hyperventilieren. Flacher atmen, Bauchatmung, wiederholte sie ihr persönliches Mantra.
Der Verstand musste helfen, den Körper zu überzeugen. Es war ein großes Auto. Sie fuhren sehr gemütlich auf der Landstraße, keinesfalls schneller als fünfzig. Verena äugte auf den Tacho und zuckte zusammen. Tatsächlich war der Wagen mit achtzig Kilometern unterwegs. Sie hatte sich durch die ruhige Fahrt täuschen lassen. Verena verkrampfte die Finger. Sie war eingesperrt, ein einziges, wild klopfendes Herz in einem Brustkorb aus Stahlstreben.
Eine halbe Ewigkeit später, so erschien es Verena, rollte der Maybach an einem Teich vorbei über die kiesbestreute Auffahrt von Weißenbach. Malerisch spiegelte sich das Gebäude in dem Gewässer. Wacholder standen auf dem letzten Stück Spalier – eine stumme Garde, die den Blick zum Portikus lenkte.
Vor dem Haus blühte violettes Heidekraut in steingefassten schmalen Beeten. Anders als der Name nahelegte, war Weißenbach bestenfalls grau. Verena fielen die runden Fenster gleich unterhalb des Giebels auf, wie Augen eines Fabelwesens. Das großzügig geschnittene Gemäuer ähnelte durch die zwei quer gestellten Flügel einem flachen H.
Weber ließ den Wagen ausrollen und öffnete den Schlag für sie. Spätestens jetzt fühlte Verena sich in einen historischen Film versetzt, wo verschollene Erbinnen den Familienstammsitz besuchten. Nun fehlen nur noch die sich zur Begrüßung aufstellende Diener.
Doch sie war keine heimkehrende Erbin, und genau genommen zählte sie selbst zum Personal.
Verena atmete auf, weil die Nervenprobe zu Ende war. Sie stieg mit wackeligen Beinen aus und fand sich Auge in Auge mit einem überlebensgroßen Relief eines Pfaus wieder, das die Hauswand schmückte. Sein Hals bog sich dem Betrachter entgegen, und das Federrad griff das Augenmotiv elegant auf.
Verena trat zwischen die Säulen, wo eine junge Frau mit sommersprossigem Gesicht und butterblumenglänzender Aura wartete. »Herzlich willkommen, Frau Seiler. Ich bin Gina und für alles in Weißenbach zuständig, außer dem Maybach und der Pflege der gnädigen Frau.«
Ihr offenes Lächeln und der flapsige Kommentar lösten Verenas Anspannung. »Danke sehr.«
»Folgen Sie mir bitte.« Die Haushälterin lief voran, doch der Eingang führte nicht etwa zu einer Treppenflucht oder in eine Halle. Stattdessen ging es in einen langen, schmalen Korridor. Licht fiel lediglich durch schlüssellochförmige Fenster auf der Außenseite ein, eng wie Schießscharten. An mehreren Stellen zweigten weitere Gänge ab ins Innere. Das ist ja das reinste Labyrinth, dachte Verena, nachdem sie alleine zweimal zur Eingangshalle abbiegen mussten.
»An den verschachtelten Grundriss werden Sie sich schnell gewöhnen«, versprach Gina. »Ich laufe deswegen alle paar Wochen meine Sohlen durch.« Sie trug Schuhe mit leisen Gummisohlen, das war Verena schon aufgefallen. »Wir haben immer einige vorrätig, ich bin sicher, auch in Ihrer Größe.«
»Bitte?«, fragte Verena verwirrt.
»Keine lauten Schritte im Haus, so wünscht es die gnädige Frau. Sie hat ungewöhnliche Ruhezeiten, wegen der Krankheit. Deswegen sind wir angewiesen, alles so leise wie möglich zu erledigen.«
Das fing ja gut an. »Meine Sneaker werden bestimmt …«, setzte sie an.
»Danke, Gina, das wäre dann alles«, kam von oben eine Männerstimme. »Ich kümmere mich um Frau Seiler.« Auf der Galerie, die von zwei Säulen getragen die Halle überspannte, stand jemand und sah zu ihnen herunter.
Gina knickste wie das Dienstmädchen in einem Historiendrama. »Ist recht, Herr Hagendorf.« Sie verabschiedete sich von Verena mit einem gemurmelten »Bis später«.
Hagendorf war ein dunkler Typ um die Vierzig. Seine goldgelbe Aura kleidete ihn wie ein maßgeschneiderter Anzug. Er lächelte Verena auf selbstbewusste Art an, ohne arrogant zu wirken, und während er lässig die Treppe hinabschritt, berührte er den Handlauf kein einziges Mal.
»Willkommen in Weißenbach.« Er streckte Verena die Hand entgegen. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise, Frau Seiler.« Seine braunen Haare waren eine Spur zu lang, der Schnitt des Anzugs förmlich für den Aufenthalt im eigenen Heim.
»Ja, danke«, antwortete Verena, eher höflich als wahrheitsgemäß, denn es konnte ohnehin niemand ihre ganz privaten Qualen nachvollziehen. Sie bot beim Händeschütteln kräftigen Gegendruck, um sich nicht von der Präsenz des Gegenübers vereinnahmen zu lassen. Es kribbelte bei der Berührung erfreulich in ihrem Bauch.
Hagendorf überragte sie um eineinhalb Köpfe. Um größenmäßig mit ihm mithalten zu können, müsste eine Begleiterin auf hohe Absätze setzen. Verena schielte auf seine Linke. Kein Ehering. Unverheiratet. Bestimmt geschieden, überlegte sie. Oder verwitwet. Ein Bild aus der Hitchcock-Verfilmung von Rebecca schoss ihr durch den Kopf. Sie erinnerte sich an Tinas Fantastereien über windumtoste Schlossherren und wurde tatsächlich rot.
»Ein ungewöhnliches Haus«, brachte sie heraus. »Ich dachte immer, alte Villen wären mit Efeu überwachsen.« Mist, das klang jetzt wie eine Kritik.
Hagendorfs Brauen sanken einen Millimeter tiefer. Im Dämmerlicht wirkten seine Augen dunkelbraun. »Efeu ist eine Schmarotzerpflanze und zerstört die Bausubstanz. Das verrät die Vernachlässigung eines Gebäudes.«
»Verzeihen Sie, ich bin ein Stadtkind.« Verena wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken, dann fiel ihr der Pfau ein und eine Gelegenheit, von ihrem Lapsus abzulenken. »Sie haben einen sehr originellen Fassadenschmuck. Hat es mit dem Pfau eine bestimmte Bewandtnis?«
»Das ist ein uraltes Symbol.«
Für Eitelkeit, dachte sie, hielt aber diesmal ihre Zunge im Zaum. »Ja?«
»Die Menschen des Mittelalters glaubten, der Kadaver eines Pfaues würde nicht verwesen. Das machte ihn zum Sinnbild für die Unsterblichkeit. Oder im christlichen Sinne für die Wiederauferstehung allen Fleisches. Sie werden die tiefere Bedeutung noch verstehen, wenn Sie mehr von der Geschichte dieses Gebäudes kennen.«
»Das würde ich gern.« Sein Blick ging ihr durch und durch. Verena freute sich auf überaus unprofessionelle Weise über das Wohlwollen darin.
»Wie wäre es mit einer kleinen Hausführung, ehe ich Ihnen die Unterkunft zeige?«
»Danke. Wie geht es denn Frau von Hagendorf?« Verena wollte gerne die Patientin kennenlernen, um eine Vorstellung der Krankheit zu bekommen.
»Sie ruht. Ich denke, nach dem Abendessen wird sie Sie empfangen.«
Oh. Gina hatte ja schon so etwas angedeutet. »Gibt es medizinische Aufzeichnungen? Welche Beschwerden plagen Ihre Mutter denn?«
Hagendorf seufzte. »Mit der Last der Jahre geht bei Sidonie eine Schwäche der Muskeln einher und zugleich eine Überreiztheit der Nerven. Kein Arzt konnte das rätselhafte Leiden aufhalten oder lindern. Zum Glück ist Mutters Geist gänzlich ungetrübt, auch wenn die körperliche Beeinträchtigung eine Belastung darstellt.«
»Das verstehe ich.« Die Beschreibung der Krankheit machte Verena neugierig. Sie brannte darauf, mit Hilfe der Aurensicht mehr darüber herauszufinden.
»Hier entlang.« Hagendorf legte eine Hand auf Verenas Rücken, um ihr die Richtung zu weisen. Es fühlte sich beschützend an, aber gleichzeitig auch ein wenig besitzergreifend.
Ihr Arbeitgeber führte Verena durch weitere Gänge, und sie gab bald auf, ein Muster in der Anordnung der Flure entdecken zu wollen.
»Da das Anwesen für seine Bedürfnisse zu klein war, kam mein Großonkel auf die Idee, an Stelle des alten Familiensitzes einen neuen zu bauen. Und zwar genau am gleichen Ort. Er wollte aus Respekt vor der Vergangenheit die ehrwürdigen Mauern bewahren und beschloss, ein größeres Zuhause um das ursprüngliche Gebäude herum zu errichten. Seine Studien machten moderne Arbeitsräume sowie eine umfangreiche Bibliothek unabdingbar.«
Wie verschroben. Das war ja mal wirklich konservativ. »Das alte Haus steckt also noch in der Villa Weißenbach wie eine Kapsel in einem Überraschungsei?«
Hagendorf legte den Kopf schräg. »Der Vergleich mit einem Ei ist durchaus zutreffend. Mein Großonkel war bestrebt, alles so vollständig wie möglich zu erhalten. Deswegen wurde der Eingang, durch den Sie gekommen sind, zwar an die andere Seite verlegt und dem Verlauf der neuen Straße angepasst, aber kein Mauerbruch durchgeführt. Aus diesem Grund führen die Gänge zur Eingangshalle innen um das alte Gebäude herum.«
Ganz schön unpraktisch, wollte Verena einwenden, dann wurde ihr klar, dass jemandem mit gesunden Beinen Umwege nicht viel ausmachten.
»Dazu kamen später die eingeschossigen Seitenflügel, von denen einer die Garage und Werkstätten, der andere die Wirtschaftsräume beherbergt. Aber das Herz Weißenbachs schlägt im Zentrum.«
Hagendorf sprach von dem Wohnsitz wie von einem Lebewesen. »Haben Sie noch weitere Familie?«, fragte Verena. Ein Schatten verfinsterte seine Züge. Sie hätte ihn wohl übersehen, wenn ihr nicht gleichzeitig ein Flackern in seiner Aura aufgefallen wäre.
»Ich lebe allein. Mit Mutter«, antwortete er knapp. Verena beschlich das Gefühl, dass es da eine Geschichte gab.
Sie räusperte sich. »Könnte ich vielleicht mein Zimmer sehen? Ich würde mich gerne ein wenig frischmachen.«
»Ach ja, natürlich.« Er ließ ihr den Vortritt durch eine schmale Tür, und Verena staunte nicht schlecht: Sie waren wieder in der Haupthalle mit den Freitreppen eingetroffen.
Hagendorf wandte sich nach oben. »Seien Sie vorsichtig. Die Treppenstufen sind ausgetreten.«
Innerlich seufzte Verena. Bisher hatte sie ihr Hinken verborgen, um sich keine Blöße zu geben. Jetzt ging sie voll konzentriert, eine Hand immer am Geländer. Wie mühelos Hagendorf die Stufen nahm. Er musste die Treppe in- und auswendig kennen.
»Wie lange wohnen Sie schon hier?« Verena genoss bei einer kurzen Atempause den Ausblick von der Empore über die Halle. Es brauchte nicht viel Fantasie, um sich in vergangene Zeiten zurück zu träumen – rauschende Ballnächte, Musik, wirbelnde Kleider und blitzende Juwelen.
»Ungefähr acht Jahre. Wir haben vorher in Frankreich gelebt. Dann ist mein Großonkel gestorben und hat mir das Anwesen vererbt.«
»Sie haben sich gut eingelebt. Ich meine, weil Sie so viel von der Vergangenheit Weißenbachs wissen.«
»Das 19. Jahrhunderts ist eine private Liebhaberei. Man könnte mich mit Fug und Recht als Jünger Klios bezeichnen.«
»Verzeihung, wessen Jünger?«
»Klio ist die griechische Muse der Historienwissenschaft«, erklärte er, und Verena atmete erleichtert auf. Bei dem Begriff Jünger war ihr etwas flau geworden. Das fehlte noch, dass sie in eine obskure Geheimgesellschaft hineinschlitterte.
Die Anordnung der Räume im Zentrum war übersichtlicher, dafür herrschte bedrückende Dunkelheit, die nur durch einige Lampen aufgehellt wurde. Es konnte kein Tageslicht geben, da das ganze Gebäude ja in einem größeren Haus steckte wie eine russische Matroschkapuppe in der anderen.
Hagendorf wies auf eine Tür mit geschwungener Messingklinke. »Da wären wir. Gina soll Sie heute abholen, bis Sie sich besser zurechtfinden. Das Abendessen wird traditionell um zwanzig Uhr im Speisesaal aufgetragen.«
Wenn das die Ernährungsberaterin der Klinik wüsste, dachte Verena amüsiert. Für die war Nahrungsaufnahme nach achtzehn Uhr eine Sünde!
Sie trat ein und blieb verblüfft stehen. Jemand hatte das Licht eingeschaltet, und der Lüster unter der hohen Zimmerdecke ließ den samtigen Orientteppich auf den gebohnerten Dielen pfauenblau erglühen. Ihr Gepäck wartete zwischen dem geräumigen Bett und einem Sekretär mit ausklappbarer Schreibfläche. Die Sachen würden in die schmalen Kommoden passen, die aussahen, als stammten sie aus unterschiedlichen Epochen.
Zwei Fenster verbargen sich an einer Wand hinter dichten Gardinen. Verena stieß einen der Flügel auf, aber der Ausblick war ernüchternd. Eine Mauer, nur um Armeslänge entfernt, versperrte jede Aussicht. Zwischen Außen- und Innenwand blieb bis zur Decke ein komplett offener Bereich. Ein Lichtschacht sorgte für ein bisschen Helligkeit.
Bei aller Schönheit hatte das Haus etwas von einem unterirdischen Bunker. Verena schloss das Fenster und zog vorsichtshalber die Vorhänge zu, ehe ihr beim Anblick der Mauersteine vor Beklemmung der Schweiß ausbrach.
Zwei weitere Türen waren geschickt wie Paneele in die holzverkleideten Wände eingelassen. Hinter einer versteckte sich ein begehbarer Kleiderschrank – eine ganze Kammer, die ihre spärliche Garderobe nach dem Einräumen noch bescheidener aussehen ließ. Verena seufzte. Aber sie trug den halben Tag nur den Pflegekittel und hatte wenig Gelegenheit, schicke Kleidung auszuführen. Deswegen besaß sie außer einer geerbten Uhr auch keinen Schmuck. Und selbst die Uhr legte Verena selten an, denn die Schnalle war so scharfkantig, dass sie damit aus Versehen schon mal einen Strickpulloverärmel aufgeribbelt hatte.
Der andere Durchgang führte in ein modernes Badezimmer: Duschwanne, WC, Waschbecken mit Spiegelfront. Die zeitgemäßen sanitären Anlagen mussten nachträglich eingebaut worden sein. Verena war erfreut, dass Hagendorf den Aufwand nicht gescheut hatte.
Sie schaute aufs Handy und entschied, dass noch genug Zeit für eine heiße Dusche blieb.
Verena rubbelte gerade die Haare trocken, als es an der Tür klopfte. »Bin gleich so weit«, rief sie. Den goldbraunen Bob konnte sie unterwegs noch zurechtzupfen.
In der grauen Hose mit lilafarbenem Mohair-Pullover war sie hoffentlich angemessen gekleidet für ein Dinner im Speisesaal. Draußen wartete statt Gina allerdings Hagendorf in einem frischen Jackett mit seidig schimmernden Aufschlägen.
»Oh!« Verlegen strich sich Verena eine feuchte Strähne hinters Ohr.
»Ich wollte persönlich sicherstellen, dass alles zu Ihrer Zufriedenheit eingerichtet ist. Wir haben selten Gäste. Gina ist noch in der Küche beschäftigt, und ich glaube, sie möchte Eindruck schinden.« Er lächelte, wie über den Eifer eines bastelnden Kindes voller Klebstoff und Glitter.
Einen guten Eindruck machen, wollte Verena ebenfalls. Während sie ein Geschoss tiefer ging, überkamen sie daher Zweifel an ihrer Kleiderwahl. Lila und grau, na toll. Damit sehe ich aus wie ein wandelnder Erika-Strauß …
Sie atmete durch. Wen wollte sie beeindrucken?
Fast wäre sie falsch abgebogen, doch Hagendorf fasste ihren rechten Ellbogen und hinderte sie daran, in einen offenbar blind endenden Gang zu laufen.
Seine Berührung war elektrisierend. Es schien, als würde die Energie, die sich so deutlich in der strahlenden Aura zeigte, auf sie übergreifen.
Unwillkürlich schnappte Verena nach Luft, und dann war das eigenartige Gefühl von Verschmelzung auch schon vorbei.
»Im Speisesaal wartet eine Überraschung«, kündigte er an.
Das Wort klang nach endlos langer Tafel, die nur an den Kopfenden gedeckt war. Ich sollte endlich aufhören, in Klischees zu denken. Aber ihre Fantasie erhielt mit jedem Schritt Anregungen. Ölgemälde in den Fluren, dunkel unter altem Firnis. Der Mann neben ihr, scheinbar ein Relikt aus vergangener Zeit, doch trotzdem – vielleicht gerade deshalb – besonders anziehend.
»Wir sind da.« Hagendorf hielt ihr die Tür auf.
Am runden Tisch in dem getäfelten Zimmer saß eine zerbrechlich aussehende Dame. Verena blieb so unvermittelt stehen, dass der Hausherr fast gegen sie gelaufen wäre. Sie hörte das leise Schaben seines Jacketts. Als er sich dicht an ihr vorbeischob, berührte er ihren Ärmel, wie um sich ihrer Gegenwart zu versichern. Ein Duft nach Zedernholz umhüllte ihn.
»Darf ich dir Frau Seiler vorstellen, Mutter? Frau Seiler …«
»Für meine Patienten bin ich einfach Verena.«
Der Hausherr hüstelte irritiert bei der Unterbrechung, fuhr dann aber geschmeidig fort: »Sidonie von Hagendorf.«
»Guten Abend, Fräulein Seiler.« Die Dame sprach mit steifen Lippen, als bereite ihr jedes Wort körperlichen oder seelischen Schmerz. Auf den ersten Blick sah sie nicht im klassischen Sinne verwelkt aus. Sie hatte kaum Falten, trotz der erschreckend papiernen Haut mit gräulichem Teint. Aber ihre Aura … Verena erschrak und verschloss sich den überwältigenden Eindrücken.
»Ich muss auf der förmlichen Anrede bestehen, Fräulein Seiler. Das übrige Personal würde Vertraulichkeit nicht schätzen.« Sie polierte den Ehering an der linken Hand.
Ah, so war das also.
»Natürlich. Guten Abend dann, Frau von Hagendorf.«
Die alte Dame winkte ab. »Hagendorf genügt völlig. Wir leben ja nicht mehr im 19. Jahrhundert.« Ein messerrückendünnes Lächeln teilte ihre Lippen, deren Rosé auf die honigblonden, gewellten Haare abgestimmt war, die kein bisschen gefärbt aussahen.
Der Hausherr rückte Verena einen Stuhl zurecht, ehe er an der Seite seiner Mutter Platz nahm. An die guten Manieren konnte man sich gewöhnen!
»Es freut mich, Sie kennenzulernen. Wie geht es Ihnen denn heute?« Sie öffnete vorsichtig ihren besonderen Sinn. Die fremde Aura glich der von Frau Melzer, ihrer letzten Patientin. Das gesunde Gelb umrahmte den Körper vor ihr nur noch als dünne Linie, der größere Teil der Aura war grell violett. Rötliche Adern durchzuckten das Licht wie Purpurblitze und zeigten das nahende Lebensende an.
Wie sie aussah, würde sie den Antritt der Kur in sechs Wochen kaum erleben. Ob sie ahnte, wie es um ihre Gesundheit stand?
Das Schweigen dehnte sich unangenehm. Verena fühlte den saugenden Blick der alten Frau auf sich und war brüskiert, weil sie nicht auf die Frage reagierte.
»Gewiss ist meine Mutter froh darüber, dass Sie jetzt hier sind«, sagte Hagendorf in die Stille hinein.
»Ja, selbstverständlich. Wolf hat Recht.«
Es klopfte, und die Tür wurde geöffnet. Gina kam herein, mit einer frischen, weißen Schürze über dem schwarzen Hauskleid. Sie balancierte ein Speisetablett, über das sich eine silberne Haube wölbte. Ihr folgte Weber mit grimmiger Miene, weißen Handschuhen und einem ähnlichen Tablett – er sah immer noch aus wie ein Höhlenmensch, den man in einen Anzug gesteckt hatte. Nach dem Servieren verschwanden die beiden und ließen die Tischgemeinschaft vor gefüllten Schüsseln zurück. Verena stürzte sich auf das Essen. Sie bemerkte, dass ihre Patientin ebenfalls mit Appetit zulangte.
Verenas voller Mund enthob sie glücklicherweise jeglicher Verantwortung für eine Beteiligung an der tröpfelnden Konversation. Immer wieder schaute sie zu der alten Frau hinüber und überlegte, welche Art Krankheit eine solche Verwüstung in der Aura hinterließ. Jedenfalls nicht Krebs, der hätte sich am Ursprungsherd oder in den Lymphen durch beulenartige Ausbuchtungen bemerkbar gemacht. Lunge, Herz und andere Organe schienen ebenfalls in Ordnung. Es war mehr eine Beeinträchtigung des gesamten Systems. Als ob die alte Dame innerlich verbrannte. Das konnte unmöglich allein die Folge fortgeschrittenen Alters sein.
Wann immer Verena hinsah, schaute Sidonie fort, als wollte sie sich ihrerseits nicht bei der Musterung von Verena ertappen lassen. Trafen sich die Blicke dennoch, sprach ein eigentümliches Verlangen aus Sidonies Miene.
Verena musste ansprechen, dass die Patientin ihrer Ansicht nach in die Obhut einer Klinik gehörte. Ihr Zustand ging weit über die Möglichkeiten häuslicher Pflege hinaus.
Die Gelegenheit kam schneller als erwartet, denn Frau Hagendorf zog sich vor der Nachspeise zurück. Sie nahm nur einen Stock zu Hilfe.
Erstaunlich. Verena hatte Leute in körperlich besserer Verfassung erlebt, die nicht mehr eigenständig gehen konnten. Aber wenn die Patientin auf der Treppe stürzte?
Sie war schon aufgestanden, da legte der Hausherr seine Rechte auf ihren Handrücken. »Warten Sie«, bat er leise. »Ich bringe Mutter selbst nach oben.«
»Wir sehen uns morgen«, meinte die alte Dame über die Schulter hinweg.
»Gute Nacht, Frau Hagendorf.« Verena fühlte sich überflüssig.
Als der Kaffee serviert wurde, war ihr Arbeitgeber zurück, und Verena hatte sich eine Rede zurechtgelegt.
»Gab es Unstimmigkeiten wegen der Pflege? Oder andere Probleme mit Ihrer Mutter, von denen ich wissen sollte?« Hatte er Verena über den Kopf der Kranken hinweg engagiert, und war Sidonie deshalb so abweisend?
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Patient und Pfleger müssen an einem Strang ziehen. Wenn die Patientin mich ablehnt, kann ich die Stelle bedauerlicherweise nicht antreten.«
Hagendorf schüttelte den Kopf. Seine Augen schimmerten im gedämpften Licht wie brauner Samt. »Im Gegenteil, meine Mutter war von der Idee sogar sehr angetan. Ich versichere Ihnen, Sie freut sich, dass Sie hier sind.«
Abgesehen von dem beinahe hungrigen Abschätzen verhielt sie sich wenig überschwänglich. »Ich breche die Entscheidung nicht übers Knie. Aber eine Zusammenarbeit, gerade in diesem Fall, muss vertrauensvoll sein.«
Etwas blitzte in seiner Miene auf. »Gerade in diesem Fall?«
Verena schluckte. Wo nun von Vertrauen die Rede war … »Sie sollten die Beurteilung des Gesundheitszustands natürlich einem Mediziner überlassen. Aber mir scheint, dass die Krankheit Ihrer Mutter mehr als ungewöhnlich ist.«
Puh – das war gefährliches Terrain. Über solche Aussagen war es in der Klinik regelmäßig zu Auseinandersetzungen mit den Ärzten gekommen. Und auch in Weißenbach konnte Verena unmöglich darlegen, wie sie ihre Einblicke gewann.
»Wie meinen Sie das?«, wollte Hagendorf wissen und sah sie aufmerksam über die Kaffeetasse an.
»Nun, sie wirkt nicht gebrechlich und hat einen gesunden Appetit. Andererseits liegt ihr BMI sichtbar am Rand zum Untergewicht. Das sollte überwacht werden.«
»Das alles haben Sie schon nach einer halben Stunde und ohne genaue Untersuchung festgestellt?«
Sein Sarkasmus ärgerte Verena. Automatisch setzte sie sich aufrechter hin. »In der Klinik habe ich ständig mit Kranken zu tun. Außerdem studiere ich Medizin im sechsten Semester. Mit der Pflege und den Nachtdiensten im Krankenhaus finanziere ich mir nur die weitere Ausbildung.«
»Sie sind eine erstaunliche junge Dame«, sagte Hagendorf beschwichtigend. »Ich zweifele keineswegs Ihre Qualifikation an. Sehen Sie, ich weiß über das Studium Bescheid. Ich bewundere diese Ambitionen.«
Ach! Jetzt war Verena sprachlos.
»Verstehen Sie das bitte nicht falsch. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Für meine Familie ist mir keine Mühe zu groß. Mutters Zustand ist fragil, darüber bin ich mir im Klaren. Unser Hausarzt hat mich darin bestärkt, sie so lange wie möglich zu Hause zu pflegen. Auch am Kurort ist alles für ihre Bedürfnisse eingerichtet.«
Verena war hin- und hergerissen. Sollte sie darauf pochen, Frau Hagendorf ins Krankenhaus zu bringen? Dort gab es die Option der Intensivpflege. Andererseits lauerten da resistente Keime, die einem geschwächten Patienten den Rest geben mochten. Verena versuchte, die belegte Stimme mit einem Räuspern freizubekommen, ehe sie sagte: »Solange wir uns mit dem Arzt abstimmen, und die Patientin einverstanden ist, bin ich bereit, diese Verantwortung zu übernehmen.«
»D’accord. Und was das Zwischenmenschliche angeht, gewiss werden Sie beide sich anfreunden, Frau Seiler. Vielleicht war es falsch, das Treffen zu forcieren. Meine Mutter war sehr neugierig auf Sie, aber heute war kein guter Tag für sie. Das wird morgen ganz anders aussehen.«
Verena biss sich auf die Lippe. An ihr sollte es bestimmt nicht scheitern. »Sie müssen versprechen, bei einer Verschlechterung den Arzt hinzuzuziehen. Und ich würde bei erster Gelegenheit auch gerne mit dem Doktor reden.«
»Gewiss doch. Sagen Sie nur, was Sie an Pflegemitteln, Medikamenten oder Geräten benötigen, und ich werde es herbeischaffen.« Er nahm ihre Hand, und Verena atmete den holzigen Duft ein, der Hagendorf umgab. »Natürlich.«
»Mir fällt ein Stein vom Herzen! Wir brauchen Sie hier. Meine Mutter hatte in der Vergangenheit bereits solche Phasen. Es ging ihr jedoch nach einer Kur jedes Mal besser. Darauf richten wir unsere Hoffnungen. Erst einmal sollte sie aber fit genug für die Reise sein.«
Verena nickte. »Welche Kur ist denn geplant?«
»Wir fahren nach Valedom, das ist ein Heilbad in den französischen Alpen. Von dort stammt auch unser Mineralwasser.« Er deutete auf die Glasflasche in einem silberfarbenen Flaschenkühler. »Das sollten Sie probieren, hier im Haus leert jeder mindestens eine Flasche pro Tag, und es ist ausreichend da.«
»Valedom. Ich muss gestehen, von diesem Kurort habe ich noch nie gehört.«
»In dem abgelegenen Bergtal wird streng naturkundlich behandelt«, erläuterte Hagendorf bereitwillig. »Die Kombination von frischer Luft, dem besonders mineralhaltigen Wasser und einer speziellen Medikation wird Sid… Mutters Gesundheit hoffentlich wiederherstellen.«
Wo wuchsen Pflanzen gegen das Altern? Das klang mehr nach einem Wunderheiler. Allerdings war Verena die Letzte, die über gewisse Phänomene spotten sollte.
Sie versenkte sich in Hagendorfs kraftvolle Aura. Wer weiß, was ihr entging, wenn sie jetzt unverrichteter Dinge zurückfuhr.