Kapitel 1
April 1818
Hampshire, England
Belgrave Manor
Das kleine Lederbuch wirkte recht harmlos, bis man es wagte, den abgenutzten Einband aufzuklappen und die ersten Seiten zu überfliegen. Seit einigen Minuten las Oliver Simon Carlyle, der neunte Marquess of Ambrose, denselben Eintrag immer wieder. Er konnte kaum glauben, was da in einer so eleganten, fließenden Schrift geschrieben stand. Nichts, aber auch gar nichts, deutete auf den lasziven und schockierend erregenden Inhalt, der sich als Tagebuch der skandalösesten Art entpuppte:
Geliebtes Tagebuch,
mein Mann, Gott hab ihn selig, sagte, meine Begierden seien abscheulich und undamenhaft, und verwarnte mich deswegen auf das Strengste. Ich habe so sehr versucht, anständig zu sein, aber wie es scheint, bin ich verdammt. Gestern Abend stand ich im östlichen Geheimgang von Belgrave Manor und beobachtete, wie Lord R die Beine seiner Geliebten spreizte und ihre glitzernde Spalte leckte. Lady W schrie auf, packte seinen Kopf und wölbte sich seinem Gesicht entgegen. Sie wirkte so wild und so herrlich frei.
Zu meiner großen Schande und Freude wurde ich feucht, so unglaublich feucht. Ich rannte so leise wie möglich durch den verborgenen Gang in mein Zimmer und kroch unter die Bettdecke. Gott steh mir bei, ich berührte mich selbst. Ich habe mich nicht wie eine Lady benommen … Ich schob zwei Finger tief in meinen schlüpfrigen Kanal und –
Oliver klappte den schmalen, schwarzen Lederband zu und ein Stoß rauen Atems verließ zischend seine Lippen. Seit einer Stunde las er in dem Tagebuch und konnte nicht aufhören, auch wenn er sich bewusst war, dass es sich um die privaten Gedanken einer Person handelte, die ihm solch intime und lüsterne Gefühle niemals mitgeteilt hätte.
Oder überhaupt jemandem.
Dies waren die tiefsten Geheimnisse einer Lady, die Gast der einwöchigen Landpartie seiner Mutter war. In Wahrheit war diese Woche auf seinen Wunsch hin veranstaltet worden, damit er sich in einem kleinen Rahmen eine potenzielle Braut aussuchen konnte, anstatt sich auf den öffentlichen Heiratsmärkten der Saison zu tummeln. Wenn sich Oliver richtig erinnerte, waren nur fünfzig Gäste anwesend, und mindestens dreißig davon entstammten dem schönen Geschlecht.
Jetzt beschäftigte ihn noch eine Frage: Wer war die Autorin?
Der Gedanke, dass eine Dame der Oberschicht, selbst wenn sie verwitwet war, solche Neigungen hatte und sie niederschrieb, erschien geradezu unanständig und – wenn er ehrlich war – äußerst faszinierend. Er stachelte seinen abgestumpften Geist an.
Mit einem groben Schnauben ließ er das Tagebuch auf die Steinbank sinken, auf der er saß. Er würde es dort liegen lassen, wo er es gefunden hatte. Es war wahrscheinlich, dass die Besitzerin ihre Schritte zurückverfolgen und es bald wiederfinden würde. Ganz offensichtlich war es nicht dazu bestimmt, den Elementen preisgegeben oder von jemand anderem entdeckt zu werden.
Am frühen Morgen hatte es leicht geregnet, aber die Seiten des Tagebuchs waren trocken … und erregend … und sündhaft.
Sich heftig für seine Schwäche verfluchend, griff Oliver abermals nach dem Buch und schlug wahllos eine Seite auf.
Geliebtes Tagebuch,
Sir Elliot hat mir heute einen Antrag gemacht. Ich gestehe, dass ich überrascht bin, denn obwohl er mich ein paar Mal besucht hat, hat der Baronet nie eine romantische Zuneigung jeglicher Art angedeutet. Es hätte durchaus Vorteile, einen Mann zu heiraten, der bereits einen Erben hat. Ich wäre wieder die Herrin über einen eigenen Haushalt und hätte die liebenswerte Gesellschaft von Sir Elliot, ohne einen Nachkommen zur Welt bringen zu müssen. Er hat seinen Erben, einen weiteren Sohn und das entzückendste kleine Mädchen. Wenn er nur nicht doppelt so alt wäre wie ich! Er stellt für mich eher eine Vaterfigur dar. Es ist eine ziemlich quälende Vorstellung, mit meiner Zunge über seine Brust hinunter zu seiner Männlichkeit zu fahren, so wie ich es bei meinem lieben Robert versucht habe. Vielleicht wäre Sir Elliot ähnlich angewidert von meiner Lüsternheit und –
Oliver klappte das Buch zu und hob sein Gesicht zum Himmel. Verdammt! Sie war jung, wenn sie den Baronet, der nicht einen Tag älter als fünfzig sein konnte, als Vaterfigur ansah. Und ihr toter Ehemann hatte Robert geheißen. Das sollte Olivers Suche eingrenzen.
Was zum Teufel denke ich da?
Er hatte kein Interesse daran, die Identität der Autorin aufzudecken. Wozu auch? Er konnte ihr Tagebuch nicht einfach zurückgeben, ohne sie schrecklich in Verlegenheit zu bringen. Selbst wenn er log und behauptete, er habe die Seiten nicht gelesen, wäre ihre Scham immens.
Er konnte es aber auch nicht dort liegen lassen, wo er es gefunden hatte, auf der Wiese unter der Zypresse bei der Gartenlaube, konnte nicht riskieren, dass eine andere ahnungslose Seele über ihre lustvollen und skandalösen Grübeleien stolperte.
Vielleicht sollte er es einfach verbrennen.
Er schaute zu der Laube, in der er das verdammte Tagebuch gefunden hatte, und sein Blick musterte jede junge Dame, die vorbeischlenderte. Keine sah verunsichert aus. Ein paar lächelten ihn einladend an. Zweifellos hörten sie Hochzeitsglocken, da bekannt geworden war, dass er auf der Suche nach einer Frau war. Er war zweiunddreißig und ziemlich gelangweilt. Die üblichen Ausschweifungen, die privilegierte Gentlemen seiner Art genossen, erschienen ihm nicht mehr aufregend. Die Vergnügungsgärten, die rücksichtslosen Rennen, die skandalösen Orgien und selbst die mitreißenden Debatten im Parlament bewegten ihn kaum noch.
In seiner Seele herrschte eine Leere, die er nicht verstand, und nichts schien sie in letzter Zeit zu füllen. Seiner Mätresse hatte er vor acht Monaten Adieu gesagt und seitdem hatte er keine Geliebte mehr gehabt. Oliver sah keinen Sinn darin, nach einer anderen zu suchen, wenn die letzten drei ihn so uninspiriert und frustriert zurückgelassen hatten.
Seine Mutter hatte ihn sogar gedrängt, die Heilbäder in Bath aufzusuchen, um seine Langeweile zu kurieren.
Es war, als wäre die Welt in Grautönen gemalt, und er wartete auf einen Strahl von etwas … irgendetwas, das die gähnende Tristesse durchbrach und ihn etwas fühlen ließ.
Einer seiner engsten Freunde, der Duke of Basil, hatte vor einigen Monaten den Schritt in die Ehe gewagt, und der Mann schien glücklich und zufrieden mit seiner neuen Duchess. Der Pfeil der Eifersucht, der sein Herz durchbohrte, wann immer er sie zusammen sah, betäubte Oliver.
Nie in seinem Leben hatte er einen Mann mehr beneidet.
Der Duke hatte mit Elizabeth Armstrong, einer amerikanischen Erbin, die Liebe gefunden und die Gesellschaft schockiert, indem er sie zur Frau nahm. Seine Gnaden schien ausgeglichen und nicht geneigt, sich eine Mätresse zu beschaffen, was bedeutete, dass die Amerikanerin die dunkleren Sehnsüchte des Dukes befriedigte. Und Oliver wusste, welche Sehnsüchte das waren; schließlich hatten sie beide Lady Wimbledon für ein oder zwei Nächte gehabt … gleichzeitig.
Oliver wollte ein ähnliches Glück. Tatsächlich sehnte er sich geradezu nach einer Frau … und nach Kindern.
Dieses Bedürfnis wurde durch seinen Wunsch gemildert, eine Frau zu finden, die all seine Wünsche erfüllen konnte – selbst die, die einige seiner Mätressen als verdorben und schockierend bezeichnet hatten. Das war der Hauptgrund, warum er sich nicht unüberlegt in die Ehe stürzte.
Als er sechzehn Jahre alt gewesen war, hatte ihn sein Vater gelehrt, dass eine Ehefrau niemals niederen und dunkleren Trieben unterworfen werden durfte. Mätressen waren für die rauen fleischlichen Gelüste zuständig und es wäre zu erwarten, dass er zwei Frauen bräuchte, um all seine Bedürfnisse zu befriedigen.
Nur … das wollte Oliver nicht. Er hatte gesehen, wie es seine Mutter zerriss und die Ehe seiner Eltern belastete. Diese Gedanken hätten seinen Vater in ein frühes Grab geschickt, wenn er nicht schon vor ein paar Jahren verschieden wäre.
Mit dem Buch in der Hand stand Oliver auf und schlenderte hinunter zum Ufer des Sees. Es war gottlob menschenleer, denn die meisten Gäste spielten Krocket oder hatten sich bereits zu einem leichten Mittagessen auf den frisch gemähten Rasenflächen niedergelassen. Ein paar Boote lagen am Steg vertäut. Er löste die Seile eines der Boote und kletterte hinein. Nachdem er das Tagebuch in die Innentasche seines feinen Gehrocks gesteckt hatte, ergriff er die Riemen und ruderte weit auf den See hinaus. Als er sich in sicherer Entfernung vom Ufer befand, ließ er das Boot auf dem ruhigen Wasser treiben.
Trotz seines Entschlusses, das Tagebuch zu vernichten, würde er es lesen. Das Interesse hatte ihn gepackt, und er wollte so viele Seiten wie möglich verschlingen, vielleicht alle, bevor er es wegwarf. Er schlug den schmalen Band noch einmal auf und begann. Nach ein paar Minuten begriff er ein paar Dinge:
Die Autorin war mit den Vorgängen auf Belgrave Manor und seinen geheimen Gängen vertraut. Vielleicht war sie schon einmal zu Gast gewesen und weilte nicht nur für diese Landpartie auf dem Anwesen? Eine Freundin seiner Mutter?
Olivers engster Freund, Thomas Pennington, der Earl of Radbourne, war für ein paar Wochen zu Gast gewesen. Die kleine Füchsin hatte sich in den Geheimgängen des Ostflügels aufgehalten, die zu den Gästezimmern führten, in denen Thomas wohnte. Oliver war sich sicher, dass er der in ihrem Tagebucheintrag erwähnte Lord R war.
Offenbar hatte sein Freund ein Muttermal auf der linken Pobacke und eine Männlichkeit, die hätte beeindruckender sein können. Großer Gott!
Ein raues Glucksen entwich Oliver. Was würde Thomas sagen, wenn er wüsste, dass einer von Olivers weiblichen Gästen die versteckten Gänge durchstrichen und ihn ausspioniert hatte, während er sich vergnügte? Zweifellos wäre der Earl amüsiert und würde versuchen, ihre Identität aufzudecken, um auch sie zu verführen. Thomas war ein notorischer Wüstling und Schwerenöter, der die Herausforderung einer Eroberung viel zu sehr genoss.
Bei diesem Gedanken regte sich Widerstand in Oliver. Wenn jemand seine geheimnisvolle Autorin verführte, dann wäre er es.
Er hielt inne, als er sich dieser Erkenntnis bewusst wurde. Die kribbelnde Hitze, die plötzlich durch seine Adern rann, überraschte ihn, denn in letzter Zeit verspürte er ein deutlich mangelndes Interesse an weiblicher Gesellschaft. Gefangen von ihren Grübeleien, vertiefte sich Oliver wieder in die Seiten. Er schwankte zwischen Wut und Belustigung.
Ihr Mann hatte sie für ihre undamenhaften Begierden geohrfeigt, und die Scham, die sie dafür empfand, brachte Oliver dazu, sich zu wünschen, der Mann wäre noch am Leben, damit er ihn zur Rede stellen und ihm eine Kugel in die törichte Seele jagen konnte. Was für ein Trottel! Mit einer Frau von unbändiger Leidenschaft gesegnet zu sein und sie dann für ihre scheinbar natürliche Sinnlichkeit zu tadeln.
Ihr Mann war wie Olivers Vater gewesen, der glaubte, dass Ehefrauen keine Gelüste des Fleisches zeigen dürften – diese waren Mätressen vorbehalten.
Während er weiterlas, bemerkte er ein Muster in ihren kunstvollen Worten. Jedes Mal, wenn seine Mutter eine Veranstaltung organisierte, nutzte die mysteriöse Autorin die geheimen Gänge seines Anwesens. Die Witwe musste in der Tat jemand sein, den seine Mutter sehr gut kannte, da sie zu den vergangenen beiden Bällen und dem Gartenfest eingeladen gewesen war, das im letzten Monat stattgefunden hatte.
Sein Herz klopfte wie wild, als ihn sein eigener Name aus einem der Einträge ansprang.
Geliebtes Tagebuch,
vor ein paar Monaten hat mich die Marchioness of Ambrose auf ihrem Gartenfest ihrem Sohn vorgestellt. Ich glaube nicht, dass er mich auch nur angesehen hat. Ich jedoch war mir seiner Präsenz auf unerklärliche Weise bewusst, so wie ich es noch nie bei einem anderen Mann gespürt habe. Er beachtet mich kaum und ich kann mich auch nicht erinnern, dass der Marquess mir jemals seine charmante Sinnlichkeit zuteilwerden ließ. Aber ich bemerke ihn – die Breite seiner Schultern und die Kraft in seinem Körper. An diesen breiten Schultern, der schlanken Taille und den langen Gliedmaßen ist nichts auszusetzen. Ambrose fasziniert mich. Aber da ist eine Einsamkeit in seinen Augen, und dieser ernste Mund verfolgt mich in letzter Zeit in meinen Träumen. Wie wäre es, von einem solchen Mann gehalten, geküsst und genommen zu werden? Dieses unangemessene Bedürfnis, das in mir aufsteigt, muss aufhören. Aber ich weiß nicht, wie ich ihm Einhalt gebieten soll. Zweifellos wäre die Marchioness entsetzt, wenn sie eine Ahnung davon hätte, welches Verlangen ihr Sohn in mir weckt.
Oliver gluckste. Lieber Himmel! Dieser eine Eintrag vervielfachte sein Interesse unendlich. Ihm war schleierhaft, was er tun würde – oder was er sagen würde –, wenn er ihre Identität aufdeckte, aber jetzt schien es ihm, als hänge seine gesamte Existenz davon ab, ihr zu begegnen. Sein Mund wurde trocken, Vorfreude pochte in seinem Herzen, sodass er vor Ungeduld fast platzte.
Er war weder ein leichtsinniger Mann, noch ließ er sich von seinen Begierden beherrschen. Wäre das der Fall gewesen, hätte er die dunkelsten und dekadentesten Bordelle Londons aufgesucht, um Frauen zu kaufen, die seine gröberen Gelüste stillen konnten. Seine Freunde verstanden seine Sehnsucht nach einer Frau nicht … er wollte jemanden, mit dem ihn mehr verband als nur ein einmaliger Ritt zur Erfüllung.
Er hatte es versucht, war zum Soho Square gefahren und hatte Londons bestes Bordell und berühmtesten Vergnügungspalast aufgesucht – das Aphrodite. Nach mehreren Stunden der Ausschweifung hatte er sich wie ausgewrungen gefühlt. Sein Schwanz hing schlaff herunter, aber in seinem Inneren hatte das Echo der Leere und der Unerfülltheit noch monatelang nachgewirkt. Zum Entsetzen seiner Freunde hatte er diese Erfahrung nicht wiederholt.
Finde sie …
Die Versuchung flüsterte in seinem Kopf und wanderte hinunter in seine Leisten. Oliver wischte sich mit einer Hand über sein Gesicht, unfähig zu akzeptieren, dass er so waghalsig handeln wollte. Denn es war sicherlich verwegen, so versessen darauf zu sein, die Autorin ausfindig zu machen.
Wo, um Himmels willen, sollte er überhaupt anfangen? Die geheimen Gänge erstreckten sich über beide Flügel von Belgrave Manor, aber soweit er es beurteilen konnte, schien sie nur mit dem östlichen Teil vertraut zu sein. Was sollte er tun? Durch die Gänge seines Hauses spuken, nur um ihre Identität aufzudecken? Und was dann … sie verführen?
Wenn seine Mätressen nicht in der Lage gewesen waren, seine Bedürfnisse zu befriedigen, bezweifelte er, dass eine vornehme, respektable Dame bereit wäre, sich ihm ohne Aufhebens zu ergeben.
Was, wenn sie die Richtige ist?
Er ließ den Gedanken durch seinen Geist wandern. Zweifellos war sie eine Lady der Gesellschaft, jung und scheinbar bereit, wieder zu heiraten. Sie war keine jungfräuliche Debütantin, die zur Hysterie neigen würde, wenn er ihr zum ersten Mal seinen Schwanz zwischen die Lippen und weiter nach hinten schob, während er ihren Rachen massierte. Ein Stöhnen entkam ihm, als das Bild vor seinem geistigen Auge aufflammte, und er war frustriert, als die schemenhafte Gestalt, die vor ihm kniete und seinen Schwanz lutschte, wie Rauch im Wind verflog. Er wollte ihr Gesicht, ihr Haar … wollte wissen, wie diese unbekannte Frau aussah.
Er warf einen Blick auf das Tagebuch in seiner Hand. Wahrscheinlich würde er den Impuls bereuen, aber er würde sie finden. Sie war hier in seinem Haus und schlich vielleicht gerade jetzt durch die geheimen Flure. Oliver musste handeln. In sieben Tagen wäre die Landpartie vorbei, und dann würde sie verschwinden. Er verstaute das Buch in seinem Gehrock, schnappte sich die Ruder und begab sich zurück ans Ufer.
Ein paar Augenblicke später schlenderte Oliver über den Rasen in Richtung des Seiteneingangs und betrat kurz darauf sein Herrenhaus.
„Mylord“, intonierte Branson, der bisweilen pompöse Butler des Anwesens.
Oliver reichte ihm seinen Mantel und seinen Zylinder. „Wo ist die Marchioness?“
„Ihre Ladyschaft ist im Rosenzimmer, Mylord.“
Oliver schlenderte den Korridor hinunter, passierte die Bibliothek und ging in den kleineren und intimeren Salon, den seine Mutter bevorzugte. Nach einem halbherzigen Klopfen stieß er die Tür auf und trat ein. Seine Mutter saß am Fenster und strickte. Die einzige andere Person im Raum war ihre Gesellschafterin, Mrs Layton.
Seine Mutter blickte auf und Wärme leuchtete in ihren haselnussbraunen Augen. „Oliver, was für eine wunderbare Überraschung. Ich dachte, du wärst noch bis Freitag in der Stadt. Ich weiß, dass du Landpartien verabscheust, und dachte, du würdest nur für den Ball anreisen. Es freut mich sehr, dass du dich der Suche nach einer Frau widmest.“
„Mutter“, begrüßte er sie und beugte sich nach vorn, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Ich hielt es für klug, so früh wie möglich hier zu sein.“
Sie strahlte und nickte zustimmend. Seit er volljährig geworden war, hatte ihn seine Mutter darin bestärkt, sich eine Frau zu suchen und das Kinderzimmer zu füllen. In den letzten paar Jahren hatte sie ihn ermutigt, seine Wahl zu treffen, aber es hatte sich eher wie ein Dorn in der Seite angefühlt und nicht wie die Unterstützung einer liebevollen Mutter. Als er verkündet hatte, dass er sich mit der Absicht trug, sich niederzulassen, hatte er sie zur glücklichsten Mutter der Gesellschaft gemacht.
Ein Rascheln ertönte, und er blickte sich rechtzeitig um, um zu bemerken, dass ihre Gesellschafterin wütend kaute, um das hinunterzuschlucken, was auch immer sie verzehrt hatte. Schnell spülte die Dame die Reste mit ein paar großen Schlucken ihres Tees hinunter. Nachdem sie die Tasse wieder auf ihre Untertasse zurückgestellt hatte, erhob sie sich.
„Mylord“, sagte sie etwas atemlos und sank in einen eleganten Knicks.
Das dunkelblaue Musselin–Kleid, das sie trug, schien etwas eng zu sein, und ihre Brüste spannten das Oberteil reizvoll. Entsetzt über die Richtung, die seine Gedanken genommen hatten, riss er seine Augen nach oben. Dies war das zweite Mal, dass er unangemessene Gedanken über die Gesellschafterin seiner Mutter hatte. Das erste Mal war es vor einem Monat geschehen, als er sie in diesem Zimmer auf den Knien erwischte. Sie hatte versucht, nach einem Knopf zu greifen, der unter die Chaiselongue gerollt war. Ihr runder Hintern war die reinste Verlockung gewesen, und der Gedanke, seinen Schwanz in sie zu versenken, während sie sich in dieser köstlichen Position befand, war ihm durch den Kopf geschossen.
Er schob seine Reaktion auf die Tatsache, dass er seit mehreren Monaten keine Frau mehr gehabt hatte. Oliver hatte die chaotischen Triebe in seinem Körper unterdrückt und war ohne ein Wort gegangen. Er gehörte nicht zu den Männern, die Bedienstete oder Abhängige in seinem eigenen Haushalt verführten. Nein, er war nicht wie sein Vater, der jedes Zimmermädchen vögelte, das er in die Finger bekam, und damit Olivers Mutter ohne Rücksicht auf ihre Ehre und ihre Gefühle demütigte.
„Mrs Layton“, sagte er, etwas zu eisig, denn in ihren aufgerissenen Augen sah er Verwirrung über seine Schroffheit. Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Mutter und fragte: „Haben Sie die Liste der in Frage kommenden Ladies zusammengestellt?“
„Oh, Oliver, ich bin so erfreut, dass du solches Interesse zeigst“, sagte sie, nahm ein Blatt Papier von dem kleinen Tisch und reichte es ihm. „Mrs Layton und ich haben uns gerade über die besten Kandidatinnen unterhalten.“
Wahrscheinlich hatte seine Mutter die ganze Zeit geplaudert, und Mrs Layton hatte mit diesem faszinierenden Ausdruck von echtem Interesse und wahrer Sympathie höflich zugehört. Er war froh, dass seine Mutter sie eingestellt hatte. Sie war in letzter Zeit etwas melancholisch gewesen und schien sich immer weiter zu entfernen. Er hatte sie ermutigt, sich mehr auf gesellschaftlichen Ereignissen zu zeigen, und nichts einzuwenden gehabt, als sie ihm mitteilte, dass die Witwe des verstorbenen Vikars Layton von nun an auf Belgrave Manor wohnen würde. Mrs Layton war eine unerwartete Überraschung gewesen. Sie schien geistreich und charmant zu sein und unterhielt sich, zur Freude seiner Mutter, über die verschiedensten Themen mit ihr. Die letzte Diskussion, die er mit angehört hatte, behandelte die Paarungsgewohnheiten von Kaninchen.
Bei der Erinnerung daran zuckten seine Lippen. „Ich werde die Damen ihrer Handarbeit überlassen und diese Liste in der Bibliothek durchsehen.“
„Wunderbar“, erwiderte seine Mutter mit einem breiten Lächeln. „Das Abendessen wird um acht Uhr serviert. Ich werde dafür sorgen, dass Lady Victoria neben dir sitzt. Die Tochter des Earls ist eine wahre Freude und eine sehr gute Malerin. Ich dachte, so hättet ihr ein gemeinsames Gesprächsthema.“
Er neigte zum Abschied den Kopf und machte auf dem Absatz kehrt. Als er sich der Tür näherte, hielt er kurz inne. Ihm war, als spüre er etwas. Er warf einen Blick zurück auf Mrs Layton, die ihn beim Weggehen beobachtet hatte. Sie errötete, schaute aber seltsamerweise nicht weg.
„Sie sind nicht mehr in Trauer, Mrs Layton.“ Er war daran gewöhnt, sie in Witwenkleidung zu sehen. In den sechs Monaten, die sie nun in seinem Haus wohnte, hatte sie nur Schwarz oder Dunkelgrau getragen.
„Ich … Ja, es ist zwei Jahre her.“
Unerklärlicherweise verweilte sein Blick auf ihren Gesichtszügen. Da war noch etwas anderes an ihr. Ah … ihr Haar. Sie trug nicht mehr diese abscheuliche weiße Haube, die normalerweise ihr Haar verbarg. Er hatte Strähnen gesehen, die unter der Haube hervorlugten, aber niemals hätte Oliver sich die herrliche Pracht vorstellen können, die sie darunter versteckt hielt.
Ihr Haar war von einem so dunklen Weinrot, wie er es noch nie gesehen hatte. Götterblut.
Sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln und er starrte auf ihren Mund, unfähig, seine Augen von ihren sinnlichen Lippen abzuwenden. Durch eine äußerst irritierende Wendung des Schicksals hatte seine Mutter die einzige Frau eingestellt, zu der er sich ungewollt hingezogen fühlte. Eine Angestellte in seinem Haus. Und die zweifelsohne prüde Witwe eines Pfarrers. Möglicherweise würde sie in Hysterie verfallen und den Dienst bei seiner Mutter quittieren, wenn sie wüsste, welche Gedanken sie in ihm auslöste.
Er unterdrückte einen wilden Fluch, biss die Zähne zusammen und verließ den Salon, bevor er etwas Dummes sagte. Oliver machte sich auf den Weg in die Bibliothek und ging zum Kaminsims, wo er sich einen großzügigen Brandy einschenkte. Er nahm mehrere Schlucke und setzte sich dann in den Sessel, der dem Feuer am nächsten war. Auf der Liste seiner Mutter gab es fünfzehn Namen infrage kommender junger Damen, um die er werben konnte. Einige davon waren ihm aus der letzten Saison bekannt.
Ein Name fiel ihm auf: Lady Penelope Dodge. In der letzten Saison hatte Oliver sie auf einem Maskenball in einer kompromittierenden Situation mit einem seiner engsten Freunde, dem Earl of Bainbridge, erwischt.
Oliver hatte sich in die Bibliothek zurückgezogen, als Bainbridge mit der jungen Dame eintrat. Oliver steckte in einer Zwickmühle, denn sich zu offenbaren, hätte die junge Dame in große Verlegenheit gebracht und möglicherweise einen Skandal ausgelöst. Also hatte er im Dunkeln gesessen und zugehört, wie sein Freund Lady Penelope bezirzte, vor ihm auf die Knie zu gehen und seinen Schwanz zu lutschen. Im schwachen Licht des Kaminfeuers hatte Oliver ihren unschuldigen Hunger beobachtet, als sie den Earl in den Mund nahm, und nach einem ähnlichen Vergnügen gelechzt.
In dieser Nacht hatte Bainbridge sie auf dem Teppichboden genommen. Während er an seinem Brandy nippte, war Oliver ungewollt Zeuge ihrer Entjungferung geworden. Er wusste, dass sein Freund ein paar Tage später um Lady Penelopes Hand angehalten hatte, aber als die Gesellschaft von seiner prekären Finanzlage erfuhr, hatte die Lady ihn höchstpersönlich zurückgewiesen. Viele Türen waren dem Earl verschlossen worden, als bekannt wurde, dass er beinahe bankrott war. Es war nicht einmal genug, um eine Frau zu bekommen. Es schien, ihr Verlust der Tugend wäre ohne Konsequenz geblieben, wenn sie keinen Ehemann ohne Vermögen duldete.
Gedanklich strich Oliver sie von der Liste. Nicht, weil sie nicht mehr rein war, sondern weil er kein Interesse an einer Ehe hatte, die im Grunde genommen nur eine geschäftliche Transaktion war. Ein weiterer, nicht unwesentlicher Grund war, dass Bainbridge sie immer noch liebte. Oliver betrachtete die Liste und wusste die Auswahl, die seine Mutter getroffen hatte, zu schätzen. Der Rest der Ladies entstammte guten Familien, sie besaßen eine angemessene Mitgift, tadellose Blutlinien und kein Makel oder Skandal war mit ihren Namen verbunden. Oliver bedauerte jedoch, dass es keinen Hinweis auf den Charakter der jungen Damen gab. Er wollte das Gegenteil von dem, was seine Eltern hatten – kein kaltes Schweigen am Esstisch, keine gestelzten Tänze auf Bällen, kein Weinen, wenn er das Schlafgemach seiner Frau besuchte.
In der Tat würde er keine Verabredungen treffen, um seiner Marchioness im Schlafgemach beizuwohnen, wie es viele Lords taten. Er wollte Leidenschaft, je spontaner, desto besser, und er würde sich mit seiner Zukünftigen ein Schlafgemach teilen. Sie würden mitreißende Debatten führen und sich im Bett vergnügen. Zu ihren Kindern wären sie spielerisch und aufmerksam. Er würde mit ihr Liebe machen, aber er würde sie auch hart nehmen, wenn seine Stimmung es verlangte, und sie wäre jeden Schritt des Weges bei ihm.
Niedergeschlagen seufzte er und schloss die Augen. Er war selbst schuld daran, dass er enttäuscht werden würde. Konnte eine solche Frau überhaupt existieren?
Vielleicht nicht, aber er würde seine Suche mit der Autorin des Tagebuchs beginnen.
An diesem Abend wollte er die geheimen Gänge betreten und Enttäuschung erfahren … oder Versuchung.
Kapitel 2
Der Marquess hatte etwas an ihr bemerkt.
Der Schock über die bloße Vorstellung, dass sich ein so selbstsicherer, mächtiger und sinnlich anziehender Mann herabließ, sie zu bemerken, linderte nicht die Panik, die in ihrem Magen rumorte, sodass sie beinahe ihr Frühstück aus Eiern, Schinken und Toast wieder hervorgewürgt hätte. Lily Layton hielt ihr Lächeln durch reine Willenskraft aufrecht. Die verwitwete Marchioness of Ambrose plapperte weiter und ahnte nichts von dem Tumult an Gefühlen, den Lily gerade verspürte.
Ihr Tagebuch war verschwunden.
Ihre Gedanken rasten und sie versuchte sich zu erinnern, ob irgendetwas auf den Seiten stand, das sie als Autorin auswies. Während sie die unangemessenen Begierden ihres Körpers und ihrer Seele zu Papier brachte, hatte sie sorgfältig darauf geachtet, keine Spuren ihrer Identität zu hinterlassen.
Aber wie konnte sie so unvorsichtig gewesen sein, nicht zu bemerken, dass es beim Morgenspaziergang aus ihrem Korb gefallen war?
Lily schob es auf die schockierende Nachricht, die sie erhalten hatte, bevor sie ihren Spaziergang unternommen hatte. Lady Ambrose wollte sie nicht länger als Gesellschafterin haben.
Einige Zeit nach dem Tod ihres zweiten Mannes, dem örtlichen Vikar, hatte die Marchioness Lily befohlen, nach Belgrave Manor zu ziehen und sich um sie zu kümmern. Der Vikar war ein puritanischer, sozial aufsteigender Despot gewesen, der alles getan hatte, um sich bei Lady Ambrose einzuschmeicheln. Die Marchioness hatte seine ehrfürchtige Unterwürfigkeit toleriert, und sie war unglaublich freundlich und zuvorkommend zu Lily gewesen. Sie hatte die Stellung als Gesellschafterin der Marchioness angenommen, denn ihr Witwenanteil betrug nur hundert Pfund, und das Cottage, in dem sie mit Robert gewohnt hatte, wurde für den neuen Vikar gebraucht.
Auch wenn sie sich der Gnade von Lady Ambrose bewusst war, bestand Lily hartnäckig darauf, dass die Anstellung bezahlt wurde. Sie konnte nirgendwohin. Ihre Eltern konnten es sich nicht leisten, sie wieder in ihrem kleinen Häuschen aufzunehmen, wo sie eine zusätzliche Belastung für ihre bereits angespannten Ressourcen gewesen wäre.
Lady Ambrose, Gott segne sie, hatte Lilys exorbitante Forderung nach drei Guineen pro Monat für ihre Dienste akzeptiert. Sie hatte gespart, was sie konnte, aber es war nicht genug, um sich eine von einem Ehemann unabhängige Zukunft zu sichern. Das Letzte, was sie tun wollte, war, ein drittes Mal zu heiraten, vor allem, wenn der neue Ehemann Kinder wollte.
Sie musste den vertrauten Schmerz und Kummer wegschieben, der in ihrem Herzen wühlte, bevor die Flut der Verzweiflung sie in den Abgrund riss.
„Es ist an der Zeit, meine liebe Mrs Layton, Ihre Zukunft zu sichern.“
Lily stellte die Teekanne vorsichtig auf den schön gestalteten französischen Rokokotisch. „Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen, Mylady“, sagte sie mit einem kleinen Lächeln, das sich zu verkniffen anfühlte. Auch wenn die Marchioness es gut meinte, gefiel es Lily nicht, dass ihre Zukunft von jemand anderem als ihr selbst bestimmt wurde.
„Sie haben sich doch sicher gefragt, warum ich Ihre Gesellschaft nicht mehr benötige. Sie sind reizend, das steht außer Frage, aber es wäre egoistisch von mir, Sie für mich zu behalten, wenn Sie mit einem anderen Mann ein Kinderzimmer füllen könnten. Ich habe kürzlich ein unvergleichliches Glück mit Lord Clayton gefunden.“ Die Marchioness errötete und tätschelte ihre elegant gelegte Frisur.
Viscount Clayton hatte der Marchioness besondere Aufmerksamkeit geschenkt, und Lily hatte den Verdacht, dass sie ein Liebespaar waren. Lady Ambrose neigte dazu, zu erröten, wenn sie seinem Blick begegnete, und einmal hatte Lily sogar gesehen, wie der Viscount im Morgengrauen aus dem Schlafgemach der Marchioness schlich. Lily war sehr glücklich darüber, dass die Melancholie, die die Marchioness bedrückte, dahinzuschmelzen schien. Sie war immer noch eine sehr schöne Frau, mit nur ein paar grauen Strähnen in ihrem dunklen Haar und einigen weichen Falten im Gesicht. Ihre Schönheit war zeitlos, und Lily freute sich darüber, dass das Funkeln in ihre haselnussbraunen Augen zurückkehrte.
Es schmerzte sie ein wenig, so einfach ausrangiert zu werden, aber sie ignorierte den Stich. Es war ja nicht so, dass sie geplant hatte, den Rest ihres Lebens auf dem Gut zu verbringen. Sie hatte nur gehofft, so lange bleiben zu können, bis sie genug gespart hatte, um ihr Geschäft in London zu eröffnen, und sie durch die Marchioness einige bemerkenswerte Verbindungen geknüpft hatte.
An den meisten Tagen schien ihr Traum unerreichbar – eine führende Modistin zu werden, mit einem Geschäft in der Bond Street oder am Cavendish Square oder sogar in High Holborn.
Sie würde sich auf Reitkleider spezialisieren und selbst den bekanntesten Schneiderinnen mit ihren einzigartigen und eleganten Kreationen Konkurrenz machen.
„Mylady, es ist nett, dass Sie an mich denken, aber ich bin mit Ihnen hier auf Belgrave Manor sehr glücklich.“
„Sie brauchen einen Ehemann, der Ihnen hilft, meine Liebe. So ist der Lauf der Welt.“
Lily konnte sich ihren Sarkasmus kaum verkneifen. „Ich versichere Ihnen, Lady Ambrose, ein Ehemann ist das Letzte, was ich brauche. Ich möchte niemanden, der mein Leben überwacht und meine Träume und Leidenschaften einschränkt. Ich bin fünfundzwanzig. Ich glaube, ich bin fähig, mein eigenes Leben zu führen.“
Ein Glitzern erschien in den Augen der Marchioness. „Meine Liebe, es gibt Ehemänner, die ihren Frauen liebend gerne einige Freiheit geben.“
„Ich bin mehr daran interessiert, meine Zukunft zu sichern, indem ich meine Fähigkeiten und meinen Intellekt einsetze, Mylady. Ehemänner sind nicht beständig und ich könnte ein drittes Mal heiraten und wieder verwitwet sein, während meine Zukunft noch immer ungesichert ist.“
„Papperlapapp!“ Die Marchioness winkte ihren Protest ab.
„Ich sehe die Sehnsucht auf Ihrem Gesicht, wenn Sie denken, dass ich nicht hinschaue. Ich habe bereits eine andere Gesellschafterin eingestellt. Miss Julia Waverly wird bis Ende des Monats hier sein. Ich werde unseren örtlichen Ball Anfang des Jahres ausrichten, und Sie werden einen passenden Gentleman aus dem Dorf finden. Sie sind jung, haben sehr hübsche Augen und ein reizendes Lächeln. Es wäre nicht gut für Sie, hier zu verkümmern.“
„Ich danke Ihnen, Mylady, aber –“
„Ich will Ihren Einwand nicht hören“, unterbrach die Marchioness brummend. „Ich habe die Blicke gesehen, die Sie meinem Sohn zuwerfen.“
Lieber Gott im Himmel!
Lily konnte Lady Ambrose nur anstarren, der Schreck lähmte sie kurzzeitig. „Sie irren sich gewaltig, Mylady. Das ist lächerlich. Ich versichere Ihnen, was Sie gesehen haben, war meine Bewunderung für den Schnitt seines Rocks und das schöne Material des Stoffes. Sie wissen, dass mich die Mode schon immer fasziniert hat, und ich bin fest entschlossen, eine gefragte Modistin der Gesellschaft zu werden.“
Die Marchioness konnte nicht ahnen, dass Lily vom Marquess träumte, der mit seinen festen und sinnlichen Lippen verruchte Dinge mit ihrem Körper anstellte. Sie hatte sich in seiner Gegenwart nie unangemessen verhalten. Tatsächlich nahm der Mann sie kaum zur Kenntnis. Es war, als ob er sie nicht sähe, so sehr verblasste Lily vor dem Hintergrund seines üppigen Lebensstils. Sie war einfach die angeheuerte Hilfe, die sich reizenderweise Gesellschafterin nannte.
Die Marchioness musterte sie prüfend, die Lippen zu einer missbilligenden Miene verzogen. „Sie müssen am Freitag zum Ball kommen, meine Liebe“, sagte sie und machte eine wohlwollende Handbewegung.
Ein Ball! Ein Schimmer von Aufregung durchströmte Lily. „Mylady –“
„Sir Ellington ist anwesend, und ich habe bemerkt, dass er Ihnen große Aufmerksamkeit schenkt. Auch Mr Crauford scheint sehr interessiert zu sein. Er ist der Großneffe von Baron Hayford, also ist Mr Crauford nicht ohne Verbindungen und er verfügt über zweitausend Pfund im Jahr. Meine Liebe, ich glaube nicht, dass Sie einen Besseren finden werden.“
„Oh, nein, Mylady. Das Angebot ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich muss es höflichst ablehnen.“
„Unfug. Wenn Sie sich um Ihre Garderobe sorgen, dann habe ich ein entzückendes Kleid. Ein paar Änderungen und es wird Ihnen sehr gut passen. Wenn Sie eine Modistin sind, die ihr Geld wert ist, dann sollten zwei Tage ausreichen, um die Änderungen zu Ihrer Zufriedenheit vorzunehmen.“
Lily stand auf und schlenderte zum Fenster mit Blick auf den See. Sie mochte das heftige Brennen der Aufregung, das in ihr aufgeflammt war. Sie war noch nie auf einem prestigeträchtigen Ball gewesen – nur bei einigen Landpartien, die ungemein reizend gewesen waren.
„Ihre Ladyschaft, ich weiß das freundliche Angebot zu schätzen, aber ich habe wahrlich nicht das Verlangen, einen mondänen Ball zu besuchen.“
Lügnerin!, rief ihr Herz leise. Es war ungeheuer verlockend, aber was hätte das für einen Sinn? Sie gehörte nicht in diese extravagante Welt.
„Jede junge Dame wünscht sich, einen meiner Bälle zu besuchen“, erwiderte die Marchioness und reckte ihr Kinn arrogant nach oben. „Wenn Sie sich Hoffnungen machen, Mr Craufords Aufmerksamkeit zu erregen, dann wird es auf dem Ball am Freitag geschehen. Wenn er sieht, wie Sie sich in der High Society benehmen, wird er bereit sein, Ihnen den Hof zu machen, auch wenn Sie weder über eine Mitgift noch über geeignete Verbindungen verfügen.“
Es hatte wenig Sinn, die Marchioness daran zu erinnern, dass sie nicht heiraten wollte. Sie hatte schon zwei Ehen ertragen, und trotz des Sprichworts würde die dritte nicht gut, angenehm oder liebenswürdig werden, sondern wiederholt Banalität und Schande für ihr lüsternes Herz bedeuten. Dennoch konnte Lily die Gelegenheit nicht ignorieren, die der Besuch des Balls bot. Dies könnte ihre Chance sein, die Damen der Gesellschaft mit ihren Entwürfen zu beeindrucken. Sie würde das Kleid der Marchioness abändern, sodass sie die anwesenden Damen in den Schatten stellte. Vielleicht sähen sich einige gezwungen, sie nach ihrer Modistin zu fragen. Das war der Weg, die Verbindungen aufzubauen, von denen sie geträumt hatte.
„Danke, Mylady. Ich glaube, ich werde Ihr Angebot des Ballkleides annehmen.“
Die Marchioness nickte anerkennend. „Wunderbar, Mrs Layton. Das Kleid ist aus der letzten Saison, und ich habe es nur einmal getragen, weil mir die Farbe nicht schmeichelte. Das zarte Rosa würde Ihnen sehr gut stehen, meine Liebe.“
Sie läutete, und kurz darauf eilte ein Dienstmädchen herein. Die Marchioness befahl, das Kleid in Lilys Zimmer zu bringen, und wünschte auch, dass ein Picknickkorb vorbereitet werde.
Lily lächelte. „Brauchen Sie mich noch für den Rest des Morgens, Mylady?“
„Sie können den Rest des Tages haben.“ Sie räusperte sich und ihre Wangen erröteten. „Lord Clayton und ich werden ein leichtes Mahl im Südgarten einnehmen, bevor wir an den Spielen im Freien teilnehmen.“
Lily sank in einen Knicks und ging. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Marchioness ihre Anwesenheit in letzter Zeit weniger benötigt hatte. Ihre Nachmittagslesungen waren seit über einer Woche abgesagt worden, und ihr letzter wöchentlicher Ausflug ins Dorf war fast zwei Monate her. Sie zögerte und presste eine Hand auf ihren Bauch. Wieso hatte sie das nicht bemerkt? Wegen ihrer Unachtsamkeit hatte sie nun weniger als einen Monat Zeit, um ihre unbeschwerte Zukunft zu planen.
Sie öffnete die Tür und stieß mit Lady Lucinda, der jüngeren Schwester des Marquess, zusammen, eine zierliche, blauäugige Brünette mit schlanken Kurven, einem gewinnenden Lächeln und einer höchst charmanten Persönlichkeit.
„Ach, du liebe Zeit!“
Lily lächelte. „Lady Lucinda, wie geht es Ihnen heute?“
Ihre Augen funkelten, und Lily hatte den leisen Verdacht, dass das Mädchen gelauscht hatte.
„Liebe Mrs Layton, darf ich Sie um Hilfe bitten?“
„Wobei …?“
Ein breites Lächeln umspielte die Lippen des Mädchens, als sie Lily mit einem seltsamen Blick betrachtete.
„Ich brauche Sie im Musikzimmer. Ich möchte meine Schritte für den Walzer üben, aber Mr Potter scheint gerade nicht verfügbar.“
Lucinda sah sie erwartungsvoll an, und Lily starrte einige Sekunden lang verlegen zurück. Aber sie war erfreut über die Freundlichkeit des Mädchens. „Sie sind sehr rücksichtsvoll, Lady Lucinda, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass man mich auf dem Ball zum Tanz auffordert. Und Sie sollten nicht lauschen.“
Lucinda errötete. Sie hatte eine romantische Seele und war in Herzensdingen recht naiv. Lily fürchtete den Tag, an dem das Mädchen erkennen würde, dass die Ehe nicht so war, wie sie es sich vorstellte. Lady Lucinda war begierig auf ihr Debüt und hatte in den letzten Wochen von kaum etwas anderem gesprochen.
„Bitte, Mrs Layton, seien Sie nachsichtig mit mir. Es wird auch helfen, mich auf meine Einführung in die Gesellschaft vorzubereiten. Ich möchte so anmutig wie ein Schwan sein, wenn mich meine Beaus über das Parkett wirbeln. Und vielleicht werden Sie ja aufgefordert. Stellen Sie sich nur die Demütigung vor, wenn Sie ablehnen müssten, weil Sie nicht tanzen können.“
Lily lächelte über ihre Ernsthaftigkeit. „Sie haben mich überzeugt, aber nicht jetzt. Vielleicht in ein paar Stunden.“
Lucindas ganzes Gesicht erhellte sich mit einem Lächeln. „Wie herrlich! Sie werden es nicht bereuen!“
„Gern geschehen, und ich danke Ihnen, dass Sie an mich gedacht haben“, sagte Lily und lächelte. Sie eilte in ihr Zimmer, um ihre Haube zu holen. Sie würde sich auch ein Buch aus der Bibliothek leihen, sodass sie, unter dem Vorwand zu lesen, im Freien heimlich nach ihrem Tagebuch suchen konnte.
Das war alles, woran sie im Moment denken konnte, denn es wäre furchtbar, wenn ihre persönlichen Gedanken jemandem in die Hände fielen, vor allem, wenn man herausfände, dass Mrs Lily Layton, Witwe des verehrten Vikars, die Urheberin solch sündiger Gedanken war.
***
Viele Stunden später starrte Lily an die Decke ihres Schlafzimmers, unfähig, sich zu beruhigen. Die Sorge raubte ihr den Schlaf, und sie fürchtete, er würde auch nicht zurückkehren. Sie hatte ihre Schritte mehrmals zurückverfolgt, aber es gab keine Spur von ihrem Tagebuch, weder auf den Rasenflächen, auf den Sitzbänken, auf einem Tisch noch auf dem Kaminsims oder irgendwo sonst. Sie hatte sogar die Regale und Tische der Bibliothek durchsucht, für den Fall, dass es jemand mit einem Buch verwechselt und zurückgestellt hatte. Sie wusste nicht, wo sie noch suchen sollte, und hasste das enge Band der Angst, das ihre Brust zusammenzog, und die Tränen, die in ihren Augen brannten.
Noch einmal versuchte sie, ihre rasenden Gedanken zu beruhigen und sich daran zu erinnern, wo sie überall gewesen war. Plötzlich versteifte sie sich und setzte sich langsam auf dem Bett auf, als ihr etwas einfiel. An diesem Morgen hatte sie einen Spaziergang durch die geheimen Gänge gemacht, bevor sie sich um die Marchioness gekümmert hatte. Manchmal war die Dunkelheit dieser Gänge ein versteckter Zufluchtsort, an dem sie atmen und sich ihrer verruchten Fantasie hingeben konnte. Es war auch der Ort, an dem sie zufällig auf das offene Portal gestoßen war, das ihr einen direkten Blick auf Lord Radbournes Gästezimmer geboten hatte.
Sie stieß sich vom Bett ab, Erleichterung und Hoffnung rauschten durch ihre Adern. Vielleicht war es dort aus dem Korb gefallen. Obwohl sie vermutete, dass es eine Geheimtür gab, die von ihrem Schlafgemach in die Gänge führte, hatte sie deren Eingang trotz zahlreicher Nachforschungen noch nicht gefunden. Aber sie konnte sie durch die Bibliothek betreten. Sie schlich sich aus ihrem Zimmer und rannte fast den langen Korridor hinunter und dann die Treppe hinauf, sodass sich ihr voluminöses Baumwollnachthemd um ihre Beine bauschte.
Wenige Augenblicke später hielt sie vor der Tür der Bibliothek inne und versuchte zu erspüren, ob eine weitere Person anwesend war. In der Gewissheit, dass das Haus schlief, öffnete sie vorsichtig die Tür. Auf dem Rost im Kamin brannte ein Feuer, aber der Raum war gottlob leer. Lily schloss die Tür hinter sich und eilte zum Bücherregal hinüber. Sie schob einige Bücher auf dem dritten Regal in die äußerste rechte Ecke. Das Bücherregal bewegte sich und enthüllte die ersten Stufen einer dunklen Treppe. Lily schnappte sich einen Kerzenhalter vom Kaminsims, entzündete die Kerze am Feuer und ging in den dahinterliegenden Gang.
Das Bücherregal schloss sich in ihrem Rücken und der Windzug löschte fast ihre einsame Kerze. Die Flamme flackerte, hielt dann aber stand. Mit einem leisen Seufzer wandte sie sich nach links und ging in den Ostflügel, wo sich die meisten Gäste aufhielten. Nach einigen Minuten der Suche überkam sie wieder das hohle Gefühl der Verzweiflung. Ihr Tagebuch lag nicht auf dem Boden dieser versteckten Korridore.
Ein lautes Stöhnen ließ sie ins Stocken geraten. Sie hob die Kerze hoch, sah sich vorsichtig um und errötete, als sie feststellte, dass sie wieder vor dem Portal von Lord Radbournes Gemach stand. Da war ein dumpfer Schlag, etwas, das wie ein Kichern klang, dann ein lustvoller Schrei.
Sie schloss die Augen und unterdrückte den Drang, den Earl und seine Geliebte auszuspionieren. Als sie die Geräusche zum ersten Mal gehört hatte, hatte sie die kleine Holzluke geöffnet, unsicher darüber, was sie vorfinden würde. Nie hätte sie gedacht, dass Bettsport solch lustvolle Schreie hervorrufen konnte.
Ihr Schock war groß gewesen, als sie sah, dass der Earl seinen Mund in Lady Wimbledons Möse vergraben hatte. Das Schauspiel erschütterte und erregte Lily, und sie blieb wie angewurzelt stehen, unfähig, sich von der intimen Darbietung loszureißen.
Ein Geräusch drang an ihr Ohr, und sie versteifte sich, runzelte die Stirn und lauschte. Da war es wieder. Lily spannte sich an und wurde fast ohnmächtig, als Schritte in dem geheimen Korridor erklangen, in dem sie stand. Sie atmete scharf ein und umklammerte den Kerzenleuchter fester.
Jemand kam auf sie zu.
Das Bewusstsein legte sich wie Felsbrocken auf ihre Brust, erdrückend und beängstigend. Wie sollte sie ihre Anwesenheit in diesem Gang erklären, der ihr einen skandalösen Blick in das Schlafgemach des Earls erlaubte? Lieber Gott, warum hatte sie dem lüsternen Drängen und den sündigen Versuchungen ihres Herzens nachgegeben?
Die Schritte kamen näher, aber sie stand wie erstarrt. Wenn sie sich beeilte, würde derjenige, der da kam, hören, wie sie davonhuschte, und ihr vielleicht nachlaufen. Der Kerzenhalter entglitt ihren nervösen Fingern und fiel mit einem Klonk zu Boden. Sie hielt den Atem an, sicher, dass der Earl und seine Geliebte sie gehört hatten. Zum Glück war die Kerze erloschen und so drückte sie sich an die Wand und hoffte, dass man sie nicht gesehen hatte und dass die Person, die mit ihr im Gang war, an ihr vorbeiging und sie nicht bemerkte.
„Ah … endlich treffen wir uns“, sagte eine raue, tiefe Stimme, die beängstigend nah klang.
Vor Schreck entwich ihr ein verräterisches Zischen.
Lieber Gott, ich bin entdeckt worden.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich jemandem begegnen würde … aber Sie sind wirklich hier“, fuhr die Stimme mit einem Hauch von Belustigung und vielleicht auch von Neugierde fort. „Habe ich Sie sprachlos gemacht?“
Er hatte ihr die Sinne vernebelt, denn er deutete an, dass er erwartet hatte, hier jemanden zu finden. In all den Monaten, in denen sie diese dunklen, geheimnisvollen Ecken erkundet hatte, war sie nie einer anderen Seele begegnet. Die Tatsache, dass er ohne Kerzenleuchter gekommen war, deutete auf seine Vertrautheit mit den verwinkelten Gängen hin.
„Wer sind Sie?“, fragte sie, ihre Stimme heiser vor Besorgnis.
„Ein verwandter Geist.“
„Das halte ich kaum für möglich.“ Er stand nur wenige Meter entfernt, und sie musste aufblicken, um zu erkennen, woher seine Stimme kam. Selbst in der Dunkelheit bemerkte sie, dass er groß war.
„Erlauben Sie mir, Sie nach Ihrem Namen zu fragen“, sagte er sanft.
„Ein Spaßvogel, wie ich sehe.“ Als ob sie so dumm wäre, ihre Identität preiszugeben. Sie sprach tiefer, sodass ihre Stimme sie nicht verriet. Sie fragte sich, ob er dasselbe tat.
„Man hat mir noch nie angelastet, übermäßig humorvoll zu sein.“
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. „Ich werde meinen Namen nicht preisgeben.“
Er gluckste. „Ah, Sie ziehen also Anonymität vor.“
„Ich würde es vorziehen, wenn Sie mich unbehelligt passieren ließen.“
Es entstand eine Pause. „Ich hindere Sie nicht, Mylady“, sagte er mit einem scheinbaren Anflug von Bedauern. „Es steht Ihnen frei, zu gehen.“
Doch ihre Füße bewegten sich nicht. Sie blieb an die Wand gepresst stehen und ignorierte die Kühle des Steins. Wer, in Gottes Namen, war mit ihr in der Dunkelheit und warum verweilte sie in seiner Gegenwart? Er könnte ihren Ruf ruinieren! Obwohl sie nicht eingewilligt hatte, wieder zu heiraten, hatte sie den Gedanken noch nicht ganz aufgegeben. Manchmal wünschte sie sich einen Gefährten, einen Freund, einen Liebhaber und ein glückliches Heim, aber sie wollte es mit einem Mann, bei dem sie sich nicht für ihre Sinnlichkeit und Lüsternheit schämen musste. Und sie wollte einen Mann, den es nicht furchtbar grämen würde, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Wenn es überhaupt einen solchen Mann gab.
„Oder Sie könnten bleiben … und wir könnten einfach nur sein“, murmelte er mit tiefer, rauer Stimme, die etwas Dunkles und allzu Verlockendes an sich hatte.
Seine Worte ließen ihren Mund trocken werden. Diese gefährliche, verbotene Erregung schoss wieder durch sie hindurch. Die gleiche, die ihren verstorbenen Ehemann dazu gebracht hatte, sie zu ohrfeigen und in der Hochzeitsnacht als Hure zu bezeichnen.
Er ist weg, flüsterte die Verführerin, die in ihr lauerte.
„Wer sind Sie?“ Eilig änderte Lily ihre Frage. „Nein. Keine Namen, bitte. Wissen Sie, wer ich bin?“
Einen Moment lang herrschte Spannung. „Nein.“
Ihre Augen weiteten sich ungläubig. „Wirklich?“
„Ja.“ Seine Stimme klang voller Aufrichtigkeit.
„Wollen Sie es wissen?“ Nicht, dass sie es ihm jemals sagen würde, aber sie war mehr als neugierig auf den Grund seiner Anwesenheit.
„Nur wenn Sie mir mehr erzählen wollen. Ich weiß, Sie sind verwitwet.“
„Wie bitte?“ Wie konnte er so etwas wissen? Ahnte er, wer sie war, und spielte nur mit ihr? Die Wut über diesen Gedanken verbrannte Lily, und Angst keimte auf.
„Es gibt keine unbedarften Ladies auf dem Gut, die es wagen würden, so kühn durch diese dunklen Gänge zu wandeln. Das ist doch sehr ungewöhnlich, finden Sie nicht auch?“ In seinem Tonfall lag eine seltsame Belustigung.
„Was wissen Sie sonst noch?“ Die Frage war harsch.
„Entspannen Sie sich“, drängte er. „Ich weiß, dass Sie eine Lady sind, zweifellos zählen Sie zu Lady Ambroses Gästen. Aber welche Lady sind Sie?“
Etwas von der Anspannung fiel von ihr ab. Sie war keine Lady. Wenn er das dachte, wäre es viel schwieriger für ihn, ihre Identität zu entschlüsseln.
„Ich werde nicht auf mehr bestehen, bis Sie bereit sind, es mir zu sagen.“
Was sie niemals sein würde. „Sie sind nicht in der Position, auf irgendetwas zu bestehen.“ Eine Lüge, denn er hatte die ganze Macht in diesem Austausch. Wie leicht könnte er sie überwältigen und sie in die Bibliothek zerren?
„Dann werde ich Sie höflich umgarnen.“
Da war wieder dieser Hauch von provozierender Belustigung.
Sie dachte einige Sekunden lang darüber nach.
„Was wollen Sie?“
Ein leises, erwartungsvolles Kichern, das sie frösteln ließ. Gütiger Himmel.
Was will er?
Ihr Herz stolperte. Könnte es sein, dass er ebenfalls den Earl ausspionierte? Beschämende Hitze versengte ihren Körper, und sie war dankbar für die kühle Dunkelheit. „Warum sind Sie hier?“
„Ich habe Ihr Tagebuch gelesen.“
Für kostbare Sekunden konnte sie nicht atmen. „Ich bitte um Verzeihung?“
Die Luft um sie herum wurde bemerkenswert still.
„Ich habe Ihr Tagebuch gefunden … und es gelesen. Daher wusste ich, wo ich Sie finden konnte.“ Seine Stimme war so dunkel, wie sie sich die fleischgewordene Sünde vorstellte.
Ihr Herz hämmerte gegen ihr Brustbein, und sie konnte nur ratlos in die Richtung seiner Stimme starren. Dann durchströmte sie Wut.
„Das waren private Gedanken! Sie, Sir, sind kein Gentleman“, schimpfte sie, wobei sie darauf achtete, dass ihre Stimme leise und verstellt blieb.
„Ah.“
In diesem einen Wort steckte eine Fülle von Bedeutungen.
„Ich bedaure die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen bereitet habe, aber ich glaube nicht, dass es mir leid tut, denn ohne das Tagebuch hätte ich Sie nie gefunden. Ich hatte gehofft, dass es vielleicht eine Frau gäbe, mit der ich die Dinge erleben könnte, die ich schon lange mit einer Lady machen wollte.“
Sie biss sich auf die weiche Lippe, weil sie verzweifelt fragen wollte, von welchen Dingen er sprach. Sie sollte weglaufen, aus dieser Situation fliehen, auch wenn sie damit Gefahr lief, ihre Identität preiszugeben, wenn sie aus dem Geheimgang in die erleuchtete Bibliothek sprang.
„Ihre Zurückhaltung ist bewundernswert.“ Seine Stimme wurde rauer, provozierendes Amüsement schwang darin mit. „Ich bin drauf und dran, Ihnen meine Begierden mitzuteilen.“
Der verfluchte Mann war eine stille, bedrohliche Gestalt in der Dunkelheit vor ihr.
„Vielleicht sind sie mir egal.“
„Sind Sie die Autorin des Tagebuchs … oder, so wie ich, ein unwissentlicher Leser?“
Beklemmung huschte über ihre Nervenenden und vermischte sich schmerzhaft mit der Erregung, die sich in ihrem Körper ausbreitete. Lüg!, forderte eine innere Stimme. „Warum ist das wichtig?“
„Diese Autorin würde verzweifelt gerne alle meine unzüchtigen Fantasien kennen – sie ist furchtlos, was ihre Wünsche angeht.“
Oh, so hatte Lily sich immer gewünscht, mit ihren verborgenen Gedanken umzugehen – furchtlos und frei. Sicherlich war dieser Mann kein Gentleman der Gesellschaft? Gentlemen erwarteten damenhafte Sittsamkeit von ihren Ehefrauen. Wer war er, dass er einen so ungezügelten Geist besaß?
„Sie halten die Autorin des Tagebuchs, das Sie gefunden haben, nicht für eine Hure?“
„Nein“, antwortete er bestimmt.
„Das ist ungewöhnlich“, sagte sie leise. „Und welche … furchtbaren Begierden haben Sie?“
„Sollen wir also ein offenes Gespräch führen, Mylady?“
„Ich –“ Sie konnte ihren Ausrutscher gerade noch rechtzeitig abfangen. Zu widerlegen, dass sie eine Lady war, wann immer ihr jemand fälschlicherweise diesen Ehrentitel verlieh, kam ihr instinktiv über die Lippen.
Der hinterhältige Halunke. Er wollte tatsächlich ihre Identität aufdecken. „Das sollten wir, Mylord.“
Ein kurzes Schweigen, dann signalisierte er brummend seine Zustimmung.
Das Geräusch gleichmäßigen Klatschens und Pochens drang zu ihnen und Lily errötete vor Scham, als sie erkannte, dass es der Earl und seine Geliebte waren und das Kopfteil des Bettes, das gegen die Wand schlug.
Der Earl stöhnte auf, als seine Geliebte um mehr bettelte und einige schockierende Forderungen von ihren Lippen kamen. Lilys Atmung wurde rauer. Sie war voller Angst und über die Maßen erregt.
Sie spürte, wie er sich ihr näherte.
„Ah, Lady W und Lord R.“
Ihre Knie wurden weich. Wie beschämend, er hatte diesen speziellen Eintrag gelesen.
„Sehen Sie gern zu?“
Ihr heißes Gesicht verriet ihr, dass sie errötete, und sie war dankbar, dass die Dunkelheit ihre Reaktion verbarg. Was musste er wirklich von ihr denken? „Es spricht nicht für einen Gentleman, eine so private Frage zu stellen.“
„Warum lassen wir nicht alle Erwartungen an das Verhalten eines Gentlemans oder einer Lady … außen vor.“
Verflucht sei ihr unbändiges Herz, weil es von der skandalösen Idee so angetan war.
„Sehen Sie gern zu?“, wiederholte er.
„Sir, ich –“
„Wir sind Fremde in der Dunkelheit“, murmelte er. „Hier gibt es keine Regeln.“
Der Atem verließ ihre Lunge. „Ich –“
„Sagen Sie nichts, sehen Sie einfach nur hin.“
Ihr Herz klopfte wild, aber sie stand still und versuchte, die Schwäche zu verstehen, die sie überkam, und das immer stärker werdende Pochen in ihrem Inneren.
„Erlauben Sie mir“, murmelte der Fremde, und die Wärme seines Körpers streifte ihren.
Er schob das kleine Portal zur Seite, und als ob das chaotische Verlangen sie kontrollierte, drehte sich Lily langsam zur Öffnung.
Der Earl lag zwischen den gespreizten Beinen seiner Geliebten, und sein Mund presste sich auf ihre Mitte.
Der Mann hinter ihr trat näher heran. „Sagen Sie mir, warum schauen Sie gerne zu?“
Peinlich berührt, ballte Lily ihre Hände zu festen Fäusten. „Ich schaue nicht –“
„Lassen Sie uns nicht um den heißen Brei reden, Mylady. Ich weiß, dass Sie es tun … Ich konnte es Ihrem Tagebuch entnehmen. Sie sind durch diese Gänge gelaufen und haben Lord R und Lady W beobachtet. Sie sind zufällig Zeugin geworden … und dann sind Sie in Ihr Zimmer gegangen und haben sich mit Ihren Fingern verwöhnt … nicht wahr?“
Lieber Gott. Ihr Herz stotterte in einem höchst schmerzhaften Rhythmus. Zitternd holte Lily Luft. „Ja.“
„Seitdem haben Sie sie nicht mehr beobachtet … warum nicht?“
„Ich …“ Sie war verwirrt gewesen, verlegen und hatte sich zu bedürftig gefühlt. „Meine Scham hat mich überwältigt.“
Seine Fingerspitzen tanzten über ihren Nacken, und ein Kribbeln schoss direkt unter ihren Nabel. Ihr ganzes Wesen konzentrierte sich auf diese eine Empfindung.
„Es gibt keinen Grund, sich zu schämen, wenn man das Bedürfnis hat, zuzusehen … die unzähligen Ausdrücke auf ihrem Gesicht zu beobachten, während er ihre Möse schändet. In jedem von uns steckt ein Voyeur, von der Jungfrau, die einen Blick auf die nackte Brust eines Mannes werfen möchte, bis hin zum Gentleman, der sich nach dem Aufblitzen des Knöchels einer Dame sehnt, dem Schatten zwischen ihrem üppigen Dekolleté oder dem Aufblitzen der Locken, die ihre intimsten Stellen bedecken. Wir alle hungern nach dem Geschmack von etwas Verbotenem und nur einige von uns haben die Kühnheit oder den Mut, diesem Verlangen nachzugeben.“
Lily konnte sich nicht gegen das Erwachen des lüsternen Teils ihrer Seele wehren. Die Verführerin in ihr meldete sich zu Wort und schwelgte in seiner sinnlichen Gewissheit. „Eine unerklärliche Sehnsucht erfüllte mich, als ich Lord R und Lady W sah, eine, die ich nicht überwinden konnte. Mir fehlte der Mut, sie weiter zu beobachten, weil ich sicher war, dass ich von einem Verlangen ergriffen werden würde, das nie gestillt werden kann.“
Seine Finger strichen leicht über ihre Hüften, und anstatt sich zurückzuziehen, lehnte sie sich in seine kühne und unangemessene Berührung. Ein rauer Seufzer entrang sich seiner Kehle. Lily verstand. Dass sie die Berührung dieses Fremden akzeptierte, bedeutete, dass sie offen für skandalöse Machenschaften war, und es war seine Absicht gewesen, dies herauszufinden.
Die Berührung seiner Hände auf ihren Hüften brannte durch ihr Nachthemd. Sie war sich eines anderen noch nie so bewusst gewesen.
„Der Earl und seine Geliebte hätten ihre Freude daran gehabt, zu wissen, dass Sie sie beobachten.“
Dieser Gedanke war geradezu unanständig … und erregend. „Woher wissen Sie das?“
Sie spürte sein Lächeln an ihrer Schulter.
„Der Earl und ich haben Lady W geteilt … und ich kenne ihre fleischlichen Gelüste.“
Lily schnappte nach Luft.
„Erzählen Sie mir von Ihren Wünschen“, forderte der geheimnisvolle Fremde sie auf. „Ich möchte wissen, wonach Sie sich sehnen.“
Lily wusste ohne den Hauch eines Zweifels, dass ihr Leben nie wieder dasselbe sein würde, wenn sie der Lust in ihrem Herzen nachgab. Aber sie wollte nicht in dieses Reich der Ungewissheit zurückkehren, in dem man seine Leidenschaft und seine wahren Gefühle unterdrücken musste.
„Ich genieße es, Lady Ws Miene zu beobachten. Manchmal weiß ich nicht, ob sie sich vor Schmerz krümmt … oder vor Vergnügen. Ich liebe die Nuancen, die ich in ihrem Gesicht erkenne; ich schwelge in den Schreien, die ihrer Kehle entrinnen, und mich schmerzt das Verlangen, wenn sie sich dem Earl hingibt. Ich möchte sie sein. Ich möchte solch eine Glückseligkeit fühlen … und ich möchte gespreizt und genommen werden, während andere mich beobachten.“ Das Geständnis fühlte sich an, als wäre es aus den verborgenen Tiefen ihrer Seele gerissen worden, in denen sie ihre verdorbensten Triebe vergraben hatte. Sie kniff ihre Augen fest zu und wartete auf irgendeine Art von Zurückweisung.
Stattdessen … ertönte ein zustimmendes Summen in der Dunkelheit.
Lilys ganzer Körper wurde schwach und von Hitze durchströmt, als sie ihn in ihrem Rücken spürte.
„Sehen Sie zu?“
Sie riss die Augen auf und befeuchtete ihre Lippen.
„Ja.“ Ihre Stimme klang heiser und so untypisch für sie, dass Lily sich nicht anstrengen musste, ihren Tonfall vorzutäuschen.
Schweigend beobachteten sie gemeinsam, wie der Earl seine Geliebte auf die sinnlichste Weise anbetete, die Lily je gesehen hatte. „Machen Sie das?“ Sie fiel fast in Ohnmacht, als die Worte unaufgefordert aus ihr heraussprudelten.
„Was machen?“
„Das, was der Earl macht.“
„Die Muschi seiner Geliebten lecken?“
Seine verruchten Worte streichelten erotisch ihre Sinne. „Ja“, flüsterte Lily.
„Aber sicher“, erwiderte der Fremde.
Seine raue Stimme weckte in ihr die Sehnsucht nach Dingen, die sie erröten ließen, wenn sie nur daran dachte. Ihr Herz beschleunigte seinen Rhythmus, als Versuchung und unmögliche Begierden an ihr zerrten. Wie viele Nächte hatte sie wach gelegen und von Leidenschaft und verruchten Taten geträumt?
Du Schlampe!
Nein! Die Frau in ihr wehrte sich gegen den Geist der Stimme ihres Mannes. Nie wieder!
„Versuchen Sie nicht, herauszufinden, wer ich bin.“
„Ich schwöre es bei meiner Ehre“, kam die unmittelbare Antwort des Fremden.
„Und ich will nicht wissen, wer Sie sind.“
„Wie Sie wollen.“
Ein sehnsuchtsvoller Seufzer entrang sich ihr. „Ich will … ich will …“ Sie rang um Worte.
„Sagen Sie es mir.“
Durch den engen Knoten in ihrer Kehle konnte sie kaum sprechen. Er wartete, und sie bewunderte seine Geduld. Lily schloss das Portal und verdrängte das Bild des Earls, der seine Geliebte so gedreht hatte, dass sie auf ihm saß.
Sie wollte nach all den skandalösen Dingen fragen, über die sie sinniert hatte, von denen man ihr jedoch sagte, sie seien zu schockierend, als dass eine Dame darüber Bescheid wüsste … selbst eine Ehefrau. „Was ist das unschicklichste und undamenhafteste Wort, das Sie für das kennen, was zwischen einem Mann und einer Frau geschieht … wenn sie im Bett intim werden?“
„Kopulieren, vögeln, bumsen … aber mein persönlicher Favorit ist ficken.“
Oh. Erwartungsvolles Schweigen breitete sich aus. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, ihre schamhaften Bedürfnisse auszusprechen.
„In der Dunkelheit liegt die Freiheit. Sagen Sie, was Sie wollen. Nehmen Sie sich, was Sie wollen.“ Seine Stimme war ein Flüstern, das sich wie Samt auf ihrer Haut anfühlte.
Freiheit in der Dunkelheit. Er war der Teufel. Dieser Fremde war der einzige Mann, der je gefragt hatte, was sie wollte. Er war in einer mächtigen Position, er konnte sie einfach nehmen, wenn er wollte, und niemand würde es je erfahren.
Die Dunkelheit umgab sie, sicher und schützend, aber auch elektrisierend und gefährlich. „Ich will … ich will Ihren Mund auf mir spüren, dort“, flüsterte sie und trat von der Kante des Leichtsinns in die Freiheit, nach der ihr Herz hungerte.