Prolog
Sommer 1489, Marrakesch
„Hast du verstanden, was ich dir sagte? Vor allem jedoch, wirst du das tun, was ich sagte?“
Er sah eine Weile schweigend zu Boden, beobachtete, wie der sanfte Sommerwind den Sand zu seinen Füßen leicht aufwirbelte, um ihn sodann mit sich fortzutragen. Zu dieser Jahreszeit war der feine Sand überall, in jedem Raum, in jedem Kleidungsstück.
„Bist du taub? Hat man dir dein Gehör geraubt oder wie soll ich dein Schweigen deuten?“
Langsam und mit Bedacht hob er den Blick und sah ihr in die Augen. „Was immer ich hören muss, das höre ich, vertraut mir.“
„Aus welchem Grund zögerst du dann noch? Vertrau auch du mir, wenn ich es noch einmal sage. Du wirst meinen Befehl befolgen!“
Er schüttelte leicht den Kopf, so, als wolle er etwas Unliebsames abschütteln. „Euren Befehl? Verzeiht, doch Ihr wisst, ebenso wie ich, dass ich einem anderen unabdingbar meine Treue geschworen habe. Befehle, mag Euch dies auch auf den ersten Blick nicht verständlich erscheinen, nehme ich nur von meinem Herrn entgegen.“
Ihr Blick bekam etwas Lauerndes, als sie noch einen Schritt nähertrat. Eine leichte Brise ließ den sinnlichen Duft von Jasmin und Amber in seine Nase steigen. Die Goldtropfen, die in üppigen Mengen an ihr Gewand genäht waren, funkelten im hellen Licht der Sonne. Die ebenfalls goldenen, kunstvoll geschmiedeten Sterne und Monde an den Ketten, die ihre Handgelenke zierten, klimperten leise.
„Ich gewinne langsam den Eindruck, du siehst deine Lage falsch, mein Freund.“
In letzter Sekunde konnte er verhindern, das auszusprechen, was ihm als Erstes in den Sinn kam. Nämlich, dass er alles andere war als ihr Freund. Doch er war klug genug, um zu wissen, dass das eine schlechte Entscheidung wäre. Darum beschränkte er sich auf ein erzwungenes Lächeln. „Glaubt mir, ich deute meine Lage durchaus richtig.“ Erneut suchte er ihren Blick. „Warum? Ich sehe keinen Grund für Euer Tun, ich erkenne keine Notwendigkeit, diesen Wahnsinn weiterzuführen. Ihr habt ein wahrlich gutes Leben. Ihr werdet auf Händen getragen und Ihr werdet geliebt.“ Es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben, die Frau nicht zu reizen, ihren Zorn nicht herauszufordern. „Habt Ihr denn nicht alles, was man sich wünschen kann? War es nicht das, wovon Ihr noch vor einigen Jahren geträumt habt? Eure Träume haben sich erfüllt. Einer nach dem anderen, so als wolle Allah selbst Euch zeigen, dass auch er Euch liebt. Darum frage ich Euch noch einmal: Warum? Ich möchte es doch lediglich begreifen.“
Nur für den Hauch eines Augenblicks glaubte er, dass sich der Ausdruck in ihrem Gesicht, in ihren Augen verändern würde. Es schien, als huschte ein Schatten über ihre Züge, ein Schatten, der ihr schönes Antlitz weich erscheinen ließ.
Als sie leicht das Haupt senkte, zauberte die Sonne rotgoldene Muster in ihr dunkles Haar und ihre makellose, braune Haut bekam einen sanften goldenen Schimmer. Der winzige Moment verging so rasch wie er gekommen war. Sie lachte und es war kein fröhliches Lachen.
„Soll ich denn jeden Tag auf Knien für mein Schicksal danken? Wem? Ihr Männer nehmt alles für gegeben, euch legt man die Zukunft in eure Wiegen. Für euch ist es leicht, ein Leben nach den eigenen Wünschen, den eigenen Träumen, falls ihr Männer überhaupt die Fähigkeit zu träumen besitzt, zu führen. Ihr tut, ohne jemals darüber nachsinnen zu müssen, was man uns vom Tag unserer Geburt an verwehrt. Und wachsen wir heran, tun wir alles, um euch zu gefallen und so ebenfalls ein gutes Leben zu haben, dafür fordert man von uns fortwährend Dankbarkeit. Bist du dir dessen bewusst, dass ich es leid bin, dankbar zu sein? Kannst du denn nicht verstehen, dass es mich von Tag zu Tag zorniger macht, um alles wieder und wieder kämpfen zu müssen?“
Sie traf mit ihrer Aussage einen wunden Punkt bei ihm. Ja, es war richtig, viele Frauen führten ein hartes, entbehrungsreiches Leben. Auch seine eigene Frau Darya war gezwungen gewesen, hart zu arbeiten, um die Familie zu unterstützen. Nie würde er den Tag vergessen, an dem er vor einigen Jahren mit dem Heer zurückkehrte und den Fluss überquerte. Zahlreiche Frauen und junge Mädchen waren, trotz der noch frühen Stunde, bereits am Ufer und wuschen Wäsche. Die Strahlen der aufgehenden Sonne vermischten sich in zarten Rottönen mit den noch über dem Wasser schwebenden Dunstwolken. Darya war ihm in jenem Moment wie ein Wesen aus einer anderen Welt, einem Märchen für Kinder, erschienen. Ihr langes schwarzes Haar, die hellbraunen Augen, in denen er glaubte, Sterne funkeln zu sehen, und ihr bezauberndes Lächeln, das zwei Reihen blendend weißer Zähne zeigte. Er hatte sich nicht getäuscht, Darya war gewiss aus einem Märchen entsprungen, denn seit dem ersten Blick in ihre Augen, hatte auch sein Märchen begonnen, sein ganz persönliches Märchen. Was aber wäre geschehen, wenn er nicht die schmale Furt zum Überqueren des Flusses gewählt hätte? Was, wenn er sie nie gesehen hätte? Was, wenn sie die Frau eines Kameltreibers oder eines der Arbeiter geworden wäre, die tagtäglich in der Stadt und auf dem Land um ihr Überleben kämpften? Er konnte Darya ein gutes Leben bieten. Viele andere Frauen lebten unter wesentlich härteren Bedingungen.
Er atmete tief ein und rief sich selbst zur Vernunft. Er durfte sich – mochte sie in dieser Sache auch die Wahrheit sagen – nicht von ihren Worten einnehmen lassen. Hier stand keine Frau, die täglich für das Brot ihrer Kinder schuften musste, nein, hier stand eine Frau, die im Überfluss lebte, die Not nicht kannte.
„Ich kann nicht leugnen, dass etwas Wahres an Euren Worten ist, aber Ihr macht Euch hier ein Schicksal zu eigen, das nicht das Eure ist. Ihr müsst schon seit vielen Jahren nicht mehr um ein gutes Leben kämpfen.“
Dieses Mal schüttelte sie den Kopf, was bewirkte, dass die Perlen und Goldplättchen an ihren Ohrringen eine leise Melodie zu spielen schienen. „Du verstehst es nicht, wie solltest du auch? Als Mann geboren, mit Macht versehen und sicher und unantastbar in all deinem Tun. Nein, du kannst nicht begreifen, wie schnell wir Frauen all das, was wir uns so schwer erkämpft haben, auch wieder verlieren können. Es gibt immer schönere, jüngere, einfallsreichere, sanftere, ach, was sage ich, wir sind austauschbar. Das, wofür ich alles gegeben habe, wofür ich gekämpft habe, wird mir bleiben und es wird sich sogar mehren, dafür werde ich unerbittlich Sorge tragen. Und dies werde ich mit deiner Hilfe tun.“
Er hätte ihr allzu gern an den Kopf geworfen, dass beinahe alles, was heute ihr schönes, ja, oft traumhaftes Leben ausmachte, nicht etwa harter Arbeit, einem „Kampf“, wie sie es nannte, zu verdanken war, sondern einzig und allein ihrer unbeschreiblichen Schönheit. Dieser und ihrer Kunst, sich stets von ihrer Sonnenseite zu zeigen, zu schmeicheln, zu bezaubern, zu beglücken. Nicht selten bezeichneten unwissende, allzu sehr den weiblichen Reizen zugetane Zeitgenossen sie als fleischgewordenen Engel. Welch ein fataler Irrtum. Von Anfang an hatte er geahnt, dass sich in diesem grazilen, anmutigen Körper und hinter dem süßen, alles versprechenden Lächeln der leibhaftige Schaitan verbarg. Wieder einmal hatte er recht behalten, wie so oft in seinem Leben.
„Du beginnst, mich zu langweilen. Ich habe dir einen Auftrag erteilt und ich erwarte, dass du ihn, ohne zu murren, ausführen wirst. Ja, ich gestehe ein, ich fordere viel von dir. Bedenke jedoch, was dagegen für dich auf dem Spiel steht. Ich glaube, ich muss dir nicht erläutern, dass ich meine Drohung umgehend wahrmachen würde? Du weißt, dass ich meine Mittel, vor allem aber helfende Hände habe, die mir treu ergeben sind? Sie sind meine Vertrauten, da sie mir stets zur Seite stehen, ohne dass ich ihnen fortwährend mit schrecklichen Geschehnissen drohen müsste. So wie ich es bei dir leider tun muss.“
Noch nie in seinem Leben war ihm so viel Kälte, so viel Gefühllosigkeit und solch eine immense Grausamkeit im Körper eines Menschen begegnet. „Ihr seid Euch doch dessen bewusst, dass ich nicht ablehnen kann. Ihr bedroht meine Familie, mein Kind, und damit meinen größten Schatz. Daher ist hier jegliche weitere Unterhaltung unnötig, Ihr wisst sehr wohl, dass Ihr mich mit Eurer Drohung in der Hand habt.“ Zornig ob seiner Machtlosigkeit in diesem Augenblick, straffte er seine breiten Schultern. „Sagt mir eines, habt Ihr keine Furcht davor, eines Tages für all das büßen zu müssen? Solch Hass, solch eine Ruchlosigkeit fällt irgendwann immer auf diejenigen zurück, die diese Taten begangen haben.“
Ein sanftes, sehr anmutiges Lächeln kräuselte die Lippen der schönen Frau. „Ich fürchte mich nicht. Ich fürchte mich vor niemandem. Nein, ich lehre andere das Fürchten und ich finde Gefallen daran, so wie andere Gefallen daran fänden, stünde ich auf der falschen Seite. Denn vertraue mir, würde mir meine Macht, meine Position genommen, oder, und das weiß ich nur zu gut, würde meine Schönheit verblassen, würde ich ohne Gnade in die Dunkelheit gestoßen.“
Ihn schauderte. „So sei es. Ich werde Eure Anweisung befolgen. So werden wir beide mit der Schuld, die wir auf uns laden, weiterleben müssen.“
Sie zog den Schleier vor ihr Gesicht und hob spöttisch eine Augenbraue an. „Eine Schuld, mit der ich sehr gut werde leben können. Dessen sei dir gewiss. Ich erwarte deine Meldung, am Tage deiner Rückkehr.“
Ohne einen weiteren Gruß drehte er sich um und stapfte in Richtung der Pferdeställe. Er musste weg von hier. Ihm war übel, bittere Galle kroch seinen Schlund hinauf und er hatte seine liebe Not, sich nicht vor den Pferdeknechten zu übergeben. Sein Pferd war rasch gesattelt und so schwang er sich schon wenig später in den Sattel. So schnell es ihm möglich war, verließ er den Innenhof, ließ die engen Gassen der Vorstadt hinter sich und erreichte die Ebene, die sich im Sonnenuntergang vor ihm in schier atemberaubender Schönheit darbot. Heute aber hatte er kein Auge für das einzigartige Naturschauspiel des Sonnenunterganges. Er musste den Kopf frei bekommen, musste eine Lösung finden, eine Lösung, bei der es darum ging, nicht nur ein unschuldiges Leben zu retten. Nur wie sollte er das anfangen? Sie würde ihre Drohung ohne Gnade wahr machen. Daryas Leben war ebenso in größter Gefahr wie das seines kleinen Mädchens und seines Sohnes. Das wusste er mit tödlicher Sicherheit. Allerdings wusste er auch, dass dies nicht die letzte Erpressung sein würde, wenn es ihr gelänge, immer und immer wieder ihren Willen zu bekommen.
Wütend trieb er sein Pferd an und der edle Rappe galoppierte wie vom Teufel gehetzt in die langsam einsetzende Dämmerung.
1.
Sommer 1489, Almuñecar, Kastilien
„Luz, komm zurück. Jetzt auf der Stelle. Ich sagte doch, dass du nur bis zu den Knien ins Wasser darfst.“ Elena wedelte heftig mit den Armen, um ihre jüngste Schwester auf sich aufmerksam zu machen. „Das … das sind nicht deine Knie, das ist dein Kinn!“ Ihre Stimme wurde zunehmend ängstlicher. „Luz, hörst du mich denn nicht?“
„Natürlich hört sie dich, sie will dich nur nicht verstehen. Das ist ein feiner Unterschied.“ Estrella legte ihrer Schwester beruhigend ihre Linke auf den Rücken. „Warum gehst du nicht hinein und holst sie heraus? Widerspenstig, wie sie nun einmal ist, müssen wir ihr zeigen, wo ihre Grenzen liegen. Sie ist vier Jahre alt, sie muss auf dich hören.“
Elena wand sich eine Weile, ehe sie der älteren Schwester antwortete. „Ich habe Angst.“
Estrella atmete tief ein. Sie wusste um die Furcht der Schwester vor dem Meer. „Elena, Liebes, du musst sie überwinden. Wir leben am Meer, wir leben vom Meer und wir müssen mit dem Meer leben.“ Sie hätte gerne weitergesprochen, sah jedoch aus dem Augenwinkel, das Luz noch immer bis zum Hals im Wasser stehend darin herumplantschte. Höher werdende Wellen kündigten die kommende Flut an. Unwillig schüttelte Estrella den Kopf, stemmte ihre Arme in die Hüfte, tat einen Schritt nach vorn und holte tief Luft.
„Luz! Komm aus dem Wasser, wenn ich dich nicht holen soll. Die Flut kommt und mit ihr die Meeresungeheuer.“
„Mama hat gesagt, wir dürfen nie die Unwahrheit sagen.“ Elenas Stimme war sehr leise.
Estrella zuckte die Achseln. „Bei der Körpergröße, die unsere Kleine derzeit noch hat, ist auch ein ausgewachsener Zackenbarsch noch ein Ungeheuer. Daher ist es, zumindest unter dieser Voraussetzung, nicht die Unwahrheit.“ Sie kniff die Augen zusammen und sah hinaus zu Luz.
Tatsächlich, wenn auch mit höchst mürrischer Miene, kämpfte sich die Kleine zurück ans Ufer. Sie tat das sehr geschickt und man konnte bereits erkennen, dass sie einmal gut würde schwimmen können. Im Gegensatz zu Elena. Da Luz bereits aus dem Wasser watete, drehte sich Estrella wieder zu ihrer anderen Schwester um. „Wie ich sagte, Elena. Du musst lernen, wie man schwimmt, du musst deiner Angst entgegentreten.“
Elena zog eine trotzig anmutende Grimasse. „Doña Alba sagt, dass eine Dame nicht schwimmen lernen muss. Im Gegenteil, es sei unschicklich für ein Mädchen, nur in einem Hemd ins Wasser zu gehen.“
Estrella rubbelte die mittlerweile bei ihr angekommene Luz mit einem trockenen Tuch ab und schüttelte missbilligend den Kopf. „Schwester, Doña Alba ist eine reizende Dame und eine liebe Freundin der Familie. Sie ist aber auch sehr reich, lebt in einem großen, wunderschönen Haus, hat Diener und muss nichts selbst erledigen, zumindest wenn sie das nicht möchte. Ich mag die Dame sehr, das weißt du, aber sie ist es nicht, die hier unten bei den Fischern überleben muss. Ja, es geht uns gut, dennoch sind wir die Töchter eines Fischers, der keine Söhne hat. Wir müssen, hörst du, Elena, wir müssen unserem Vater zur Hand gehen können. Ich weiß, was du denkst, dass wir Frauen sind, dass wir uns um das Haus, die Kleidung und die täglichen Mahlzeiten kümmern müssen. Das ist nicht alles, Schwester. Bei weitem nicht. Ja, uns geht es gut. Vater ist ein geachteter Mann, wir haben ein hübsches Haus und die Fänge sind erfolgreich. Das hat nicht zur Folge, dass dies so bleibt. Sollte etwas geschehen, dann müssen wir bereit sein, verstehst du das? Das ist zu unserer eigenen Sicherheit.“
Luz, die inzwischen trocken war und mit Estrellas Hilfe in ihre Kleider geschlüpft war, sah zu ihrer großen Schwester auf. „Estrella, darf ich noch an den Klippen spielen? Carmen ist auch dort, bitte. Ich bin vorsichtig, versprochen.“
„Hm, gut, aber lass dir zuerst dein Haar zusammenbinden.“ Estrella griff nach der ledernen, mit Silber eingefassten Spange und bändigte die wilden, dunklen Locken der Jüngsten. Jede von ihnen besaß mehrere dieser wunderschönen Schmuckstücke, die man so hier nicht bekommen konnte. Diese edlen Kunstwerke waren samt und sonders Geschenke von Doña Alba, die ihr Bruder ihr bei einer seiner vielen Überfahrten mit seinem Segelschiff aus dem fernen Marokko mitgebracht hatte. Praktisch waren sie obendrein.
Sie strich Luz eine letzte, sich der Bändigung störrisch widersetzende Haarsträhne aus der Stirn. „So, fertig. Nun siehst du wieder wie unsere kleine Prinzessin aus. Verschwinde, aber so, dass ich dich sehen kann, verstanden?“
Luz sah zu ihr auf und ihr süßes Stupsnäschen in dem runden Kindergesicht kräuselte sich bei ihrem breiten Lächeln. „Aber gewiss, ich bin doch immer gehorsam.“ Ehe Estrella etwas erwidern konnte rannte das Kind auch schon in Richtung Klippen, von wo aus ihre Freundin Carmen ihr bereits entgegenwinkte.
Estrella legte das Tuch wieder ordentlich zusammen und blickte über den langgezogenen, goldgelben Sandstrand hinweg, hinaus auf das weite Meer. Der azurblaue Himmel spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Die Wellen, die sich in einiger Entfernung brachen und mit lautem Rauschen ans Ufer rollten, brachten den Sand dort, wo sie über ihn hinwegleckten, zum Glänzen. Es war ein schönes Naturschauspiel, wenn dann noch die Sonnenstrahlen auf den nassen Sand trafen. Estrella liebte das Meer und den Strand. Vor allem aber die Stimmung, die sich nun, da sich langsam die Dämmerung anzukündigen begann, über alles legte. Friedlich, schön und beeindruckend zugleich. Wie bunte Spielzeuge schaukelten einige der Fischerboote weit draußen am Horizont auf und ab. Derzeit waren viele Boote unterwegs und dies Tag und Nacht. Es war die Zeit, in der sie den großen Thunfisch fingen, ihr Vater nannte ihn den roten Thun, ein begehrter und köstlicher Fisch. Eigentlich zu groß für ihre kleinen Fischerboote. Es mussten mehrere Fischer zusammenarbeiten, um eines der mächtigen Tiere, so sie denn eines fingen, gemeinsam an Land zu bringen. Bis zu vier Meter lang konnte so ein Fisch werden. Bei einem der kleineren Boote konnte es da schon geschehen, dass der ersehnte Fang den schweren Kampf auf dem Meer gewann und sich seine Freiheit zurückeroberte. Brachten sie aber bis zu fünf der Giganten zurück, wobei ihr Vater fast immer einer der erfolgreichsten war, was daran liegen mochte, dass er das größte und sicherste Boot sein eigen nannte, dann bedeutete das gutes Geld und Nahrung für viele Menschen.
„Du träumst schon wieder von deinem geliebten Meer, nicht wahr? Du solltest Seefahrer werden. Oder du wagst es und wirst Pirat.“ Elenas Stimme klang nur ein wenig spöttisch.
Estrella wusste, dass die Jüngere es nicht böse meinte. Sie nickte. „Ja, ich mag das Meer nun einmal. Ich könnte niemals oben in den Ebenen leben, dort, wo es immer trocken und staubig ist.“
Elena griff nach dem großen Weidenkorb, mit dem sie am Ufer Treibholz gesammelt hatten. „Das bedeutet, dass es Doña Alba nicht gelingen konnte, dich mit ihren märchenhaften Geschichten über die Wüste zu begeistern?“
Estrella bückte sich, um ein verwittertes Stück Holz aufzulesen, und warf es in den Korb. „Sie erzählt wunderschön und man kann es sich so gut vorstellen. Ich hatte bei ihrer letzten Erzählung über den Markt in Marrakesch das Gefühl, ich könne die Gewürze riechen, die sie so treffend beschrieben hat. Sie macht mich immer neugierig und ich möchte dieses Land voller Duft, bunter Farben und wunderbaren Palästen gerne kennenlernen. Die Wüste jedoch … nein, ich glaube nicht. Sie scheint mir schon sehr … trocken.“
Sie mussten beide lachen. „Wüste ist trocken, Schwester, also sei froh, dass du an deinem geliebten Meer leben darfst.“ Elena musterte sie lächelnd. „Ich kann nichts dafür, dass ich deine Liebe nur bedingt teile. Aber ich bin ja auch jünger als du, wer kann es wissen, vielleicht kommt ja die übergroße Liebe zu den von dir so geschätzten Fluten noch.“
„Das sehe ich nicht kommen, meine Liebe. Aber das ist es doch, was uns ausmacht, nicht wahr? Die Unterschiede, dass wir so verschieden sind. Wichtig ist doch nur eines: Dass wir uns lieben, dass wir eine glückliche Familie sind. Du bist eben die Dame in dieser Familie, das ist nun einmal so.“
Während sie weiter Holz sammelten und Estrella dabei stets die kleine Luz im Auge behielt, betrachtete sie sich auch Elena genauer. Wann war aus dem Kind ein solch großes Mädchen geworden? Seit wann sprach sie so vernünftig und klug? Elena war mittlerweile fast ebenso groß wie sie selbst und das, obwohl sie drei Jahre jünger war. Das lange schwarze, fast glatte Haar ließ ihre helle Haut fein und zart wirken. Im Gegensatz zu ihr, schützte die Schwester sich stets mit einem großen, breitkrempigen Hut, der verhinderte, dass sie so braun aussah wie einer der Fischer draußen auf dem Ozean. Elena hatte, ebenso wie Luz, die fast schwarzen Augen der Mutter geerbt, umrahmt von langen, gleichmäßigen Wimpernkränzen, die sie noch ausdrucksvoller erscheinen ließen. Im Gegensatz zu Estrella war sie regelrecht zartgliedrig, schlank und biegsam. Dazu das schmale Gesicht mit dem roten Kirschmund, den sie oft und gern nutzte, um strahlend zu lächeln. Estrella fand, dass ihre jüngere Schwester ein ausnehmend schönes Mädchen war.
Sich selbst empfand sie als zu groß und zu kräftig. Was daran liegen mochte, dass sie viel und hart arbeitete, um der Mutter die Stütze zu sein, die sie brauchte. Auch hatte ihre Haut immer einen Bronzeton, da sie gern und viel an der Sonne war. Sie wusste, dass sie Doña Alba damit an den Rand der Verzweiflung trieb, den die trachtete seit Jahren danach, aus Estrella eine junge Dame zu machen. Ein, das musste Estrella eingestehen, schwieriges Unterfangen. Ihr Haar war lockig wie das von Luz, aber nicht so schwarz wie Elenas lange Flechten. Schien die Sonne darauf, nahm es einen rotgoldenen Ton an. Trug sie es offen, dann reichte es ihr fast bis zur Hüfte. Bei einer der Fiestas im vergangenen Jahr, als man der Jesu-Mutter Maria huldigte, hatte sie einen Blick auf die edlen Damen der gehobenen Gesellschaft Granadas erhascht. Die kunstvollen Frisuren sahen herrlich aus, waren aber ausgesprochen unpraktisch für die Tochter eines Fischers. Darum fasste sie ihr dichtes Haar am Oberkopf mit einer der hübschen Lederspangen zusammen und begnügte sich damit, es oft und kräftig zu bürsten. Das musste genügen. Sie musste nicht schön sein, sie musste gesund sein. Das war viel wichtiger.
„Ich denke, wir haben genug gesammelt. Das sollte ausreichen. Ich muss auch zurück und Mutter beim Kochen helfen. Komm, wir holen unsere kleine Schwester und gehen nach Hause.“ Estrella bückte sich, um den Korb aufzunehmen, doch eine dunkle, kräftige Hand umfasste statt ihrer die beiden Griffe.
„Solch hübsche Mädchen sollten nicht so schwer zu tragen haben. Lass das einen starken Mann tun. Ich begleite euch, wenn es mir gestattet ist.“
Estrella hob den Blick. „Sieh einer an, Edmondo, dich hatte ich hier nicht erwartet.“ Sie deutete hinaus auf das Meer. „Solltest du deine Kräfte nicht beim Thunfischfang einsetzen? Starke Männer wären dort gewiss besser aufgehoben als hier am Strand.“
Edmondo lächelte vielsagend. „Ich werde später hinausfahren, sobald die Flut ihren Höchststand erreicht hat, ist es ein Kampf um das nackte Leben, wenn man einen Thunfisch am Haken hat. Jetzt gönnt mir die Freuden, euch beide zu begleiten, wenn ich bitten darf.“
„Die Freuden.“ Estrella seufzte leise. „Würde es etwas nutzen, wenn ich ablehnte?“ Das breite Lächeln des jungen Fischers war ihr Antwort genug. So ließ sie es zu, dass der er sie und die Schwestern zum Haus ihrer Eltern begleitete. Sie wusste, dass ihre Mutter Edmondo gern mochte. Gut, er war auch angenehm anzuschauen. Groß, kräftig, das dichte schwarze Haar mit einem Tuch zurückgebunden, mit einem muskulösen Körper von viel und schwerer Arbeit. Dazu stets freundlich, immer zu einem Scherz aufgelegt und er scherzte wahrlich oft und gern. Das grobe, helle Hemd, das er heute trug, war wie die ebenso helle Kniebundhose noch gänzlich sauber. Sein Gesicht glänzte regelrecht vor Sauberkeit und nicht der Hauch eines Barthaares zeigte sich auf Kinn und Wangen. Sie roch den dezenten Duft von Seife. Hatte er sich etwa nur für sie so fein gemacht? Oder galt seine Aufmerksamkeit gar Elena?
Sie beobachtete Edmondo, der fröhlich von seinem letzten großen Fang berichtete, genauer. Nein, er würdigte Elena kaum eines Blickes, umso mehr suchte er immer wieder den ihren. Sollte Mutter recht behalten? War Edmondo tatsächlich an ihr interessiert? Unwillig schürzte sie ihre Lippen. Welch eine dumme Frage. Er war einer der hübschesten Kerle hier im Ort, ja, in der ganzen Umgebung. Warum sollte er sie wollen?
Sie waren, ohne dass Estrella es bemerkt hätte, am Haus ihrer Eltern angekommen. Sollte er doch so unterhaltsam gewesen sein, dass sie so gefesselt von seinen Worten gewesen war?
Ihre Mutter trat lächelnd aus dem Haus. „Edmondo, das ist aber sehr lieb von dir, dass du meinen Mädchen mit dem schweren Korb hilfst. Schön dich zu sehen, mein Junge.“
„Es war mir eine Freude, helfen zu können. Zeit hatte ich auch noch, da war meine Unterstützung selbstverständlich.“ Edmondo stellte den Korb neben dem Eingang ab und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Ich hoffe, es geht Ihnen gut, Señora Jiménez?“
„Das tut es, Junge. Ich hörte, dass dein Vater ein neues Boot angeschafft hat?“
„Ja, ein wirklich schönes und viel größer als das alte Boot. Das werden wir zusammen reparieren und wieder in neuem Glanz erstrahlen lassen, denn Vater hat es mir geschenkt. Ich freue mich sehr darüber. Mein erstes eigenes Boot ist etwas anderes, als mit dem von Vater aufs Meer zu fahren. Mein Ziel ist es einmal, vier Boote zu haben und ein paar Fischer, die für mich arbeiten.“
Aurora Jiménez schmunzelte nach Edmondos Worten anerkennend. „Das klingt vernünftig. Deine Familie kann einer sicheren Zukunft entgegenblicken. Wie schön für dich.“
Edmondo nickte, zögerlich, wie es Estrella schien. Erst nach einigen kurzen Augenblicken antwortete er. „Ja, das denke ich auch. Aber nicht nur Vater und Mutter sollen es schön haben, sondern auch meine zukünftige Frau wird feststellen können, dass für sie bestens gesorgt sein wird.“
Sie bemerkte den Blick sehr wohl, den ihre Mutter ihr nach diesen Worten zuwarf. Allerdings weigerte sich Estrellas Kopf noch, den Zusammenhang zu verstehen.
„Ich freue mich für euch und für deine zukünftige Frau, lieber Edmondo. Komm doch einmal zum Essen zu uns. Hector würde sich gewiss freuen und die Mädchen freuen sich auch über Gesellschaft, nicht wahr?“
Es war Elena, die an ihrer Stelle antwortete. „Über jemanden, der unsere Arbeit tut und dabei noch schöne Geschichten erzählt, freuen wir uns allemal.“
Endlich rang auch sie sich zu einer Erwiderung durch. „Sicherlich. Es ist immer schön, Gäste zu haben.“
Jetzt sah man die Freude im Gesicht des jungen Mannes. „Wenn dem so ist, nehme ich die Einladung sehr gerne an. Jetzt aber muss ich mich beeilen. Vater wartet, wir wollen zu den anderen hinaus und versuchen, ein rechtes Prachtexemplar an Thun zu angeln. Ich darf mich verabschieden!“
Estrella sah ihm nachdenklich hinterher. Was war hier soeben vor sich gegangen? Hatte Edmondo tatsächlich bei ihrer Mutter vorgefühlt, ob sie, Estrella, seine Frau werden könnte? Nachdem er über so viele Jahre immer wie ein großer Bruder für sie gewesen war, überraschte sie all das außerordentlich.
„Estrella, hörst du mich? Ich habe dich etwas gefragt.“ Das liebevolle, sanfte Antlitz ihrer Mutter war direkt neben ihr. Sie musste aufhören, seltsamen Gedanken nachzuhängen. „Bitte entschuldige, Mama, ich habe tatsächlich nicht zugehört. Es tut mir sehr leid.“
„Schon gut. Man bekommt ja auch nicht jeden Tag einen Heiratsantrag, mag er auch nicht auf den ersten Blick als solcher ersichtlich gewesen sein.“
„Heiratsantrag?!“ Ihre Stimme klang seltsam hoch. „Mama, das ist nicht ernst gemeint, oder etwa doch? Ich muss eingestehen, ich verstehe gerade gar nichts mehr.“
Ihre Mutter zog Luz eine Schürze über das Kleid und band sie fest zu. Dann schickte sie die Kleine in den Garten hinter dem Haus. „Hol uns doch bitte zum Abendessen ein paar Rüben und bring zwei Gurken mit, sei so lieb, meine Kleine.“
Luz nickte eifrig und sichtlich stolz, dass sie von der Mutter beauftragt wurde. „Ich beeile mich, Mama.“
Danach wandte sich Aurora Estrella zu, während sich Elena unauffällig zurückgezogen hatte. „Kind, nun sei doch bitte nicht so begriffsstutzig. Das bist du doch sonst nicht. Natürlich ist er an dir interessiert und das schon lange. Es wundert mich schon sehr, dass dir das nicht aufgefallen sein sollte. Was ist denn nur los mit dir? Edmondo ist ein fleißiger junger Mann, der auch noch gut aussieht. Seine Familie kennen wir seit langen Jahren und sie die unsrige. Dein Vater schätzt Edmondo ebenfalls sehr. Die Einzige, die zögert, zaudert und sich weigert, das Offensichtliche zu sehen, das bist du.“
Sie wand sich etwas. „Mag sein, Mama. Aber es kommt so unerwartet. Da kennt man sich jahrelang, ärgert sich gegenseitig, macht Späße über alles Mögliche und plötzlich wird aus dem Kindheitsfreund ein möglicher Bräutigam. Bitte, Mama, du musst eingestehen, dass man sich daran erst einmal gewöhnen muss. Ich mag Edmondo ja, aber, um aufrichtig zu sein, ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass ich ihn liebe.“ Sie dachte kurz nach. „Liebe klingt im Zusammenhang mit Edmondo wirklich seltsam, so fremd.“
Aurora seufzte, dieses Mal etwas lauter. „Ich denke, ich muss dir da einiges erklären. Warte, wir verbinden das mit der Vorbereitung für unser Abendessen, sonst gehen wir heute hungrig zu Bett.“ Sie eilte ins Haus und kam nur wenig später mit einer großen Schüssel mit Erbsenschoten zurück. Sie stellte eine weitere Schüssel daneben und bedeutete Estrella, die Erbsen auszuschälen. Sie setzte sich ihr gegenüber und gemeinsam rückten sie den kleinen grünen Früchten zu Leibe.
Es dauerte etwas, ehe Aurora erneut das Wort an sie richtete. Es schien Estrella fast, als habe ihre Mutter sehr gut über das nachgedacht, was sie nun sagen würde.
„Hör mir gut zu, Kind. Eine Ehe beruht auf den verschiedensten Grundlagen. Auf Respekt, auf Anerkennung, auf Freundschaft, auf Vertrauen, und, ja, auch auf Liebe. Sieh mich nicht so an. Es gibt gute Gründe, warum ich die von dir so hoch geschätzte Liebe an letzter Stelle erwähnte. Die von euch Mädchen in romantischer Verklärtheit erhoffte und ersehnte glühende Liebe ist sehr selten. Glaub es mir lieber. Liebe aber ist etwas, das wachsen kann, das sich festigt, das zu einem Band wird, welches unerschütterlich aneinanderbinden kann. Man muss der Liebe Zeit geben. Liebe ist geduldig und Liebe verzeiht. Aber nur, wenn man sie zuvor wachsen ließ. Glühende Liebe brennt ebenso rasch herunter, wie ein Strohfeuer, das hell und wärmend aufflackert, um dann binnen kürzester Zeit zu verglühen. Du hast es selbst gesagt, du und Edmondo seid schon von Kindesbeinen an in Freundschaft verbunden. Das ist etwas Wundervolles, etwas, auf dem man aufbauen kann. Ihr kennt euch, wisst von den Eigenarten des anderen und so werden dich keine bösen Überraschungen erwarten. Ich bin mir sicher, dass Edmondo dich liebt, als Mutter merkt man so etwas. Es zählt aber noch viel Wichtigeres. Du bist bei ihm gut versorgt. Er kann dir eine sichere Zukunft bieten. Er ist fleißig und er hat Ziele vor Augen. Es wäre deinem Vater und mir eine Freude, beide Familien vereint zu sehen. Glaube mir bitte, wenn ich sage, dass Edmondo eine gute Wahl und dir ein guter Mann wäre.“
„Das heißt, dass ich dir und Vater damit eine Freude machen würde, nähme ich ihn zum Mann?“ Estrella war sich dessen bewusst, dass ihre Stimme traurig klang.
Ihre Mutter ließ die Erbsen der Schote, die sie soeben geöffnet hatte, in die Schüssel gleiten, legte die leere Hülle zu dem Häuflein, das sich inzwischen auf dem grob gezimmerten Holztisch gebildet hatte, an dem sie saßen, und griff dann nach Estrellas Händen. Sie umfasste sie fest und blickte ihre Tochter liebevoll an. „Mein Herz, du machst dir selbst eine Freude, das wirst du rasch erkennen. Noch einmal, und bitte vertrau mir, diese Liebe, nach der ihr euch so sehr verzehrt, die gibt es meist nur in Sagen und Legenden. In Märchen, die man seinen Kindern erzählt. Dass man einen Menschen trifft, bei dem man beim ersten Blick in seine Augen Feuer fängt, lichterloh zu brennen glaubt, bei dem das Herz überläuft und man kaum mehr zu atmen vermag, ist sehr unwahrscheinlich.“
Estrella hätte gern auf die Ausführung der Mutter geantwortet, doch Luz kam um die Ecke gerannt, so schnell ihre Beine sie trugen. „Ich habe Rüben und ich habe Gurken, sind das genug?“
Sowohl Estrella wie auch ihre Mutter mussten lauthals lachen, als sie Luz näher betrachteten. So wie sie aussah, schien sie den halben Gemüsegarten umgegraben zu haben. Überall an dem kleinen Mädchen war Erde und in ihren Armen trug sie einen ganzen Berg Rüben, über dem sie geschickt zwei Gurken balancierte.
Aurora erhob sich, griff nach einer weiteren Holzschüssel, die auf dem Tisch stand, und befreite Luz von ihrer Last. „Ja, mein Herz, das ist ganz sicher genug. Heute wird in der Familie Jiménez niemand Hungers sterben.“
Während Estrella damit beschäftigt war, Luz die Erde von Schürze, Kleid, Händen und Armen zu klopfen, verschwand Aurora noch immer lachend im Haus. Nachdenklich blickte sie ihr hinterher. In den vergangenen Minuten hatte sich etwas verändert und Estrella wusste nicht, ob ihr das auch gefiel.
2.
Malaga, Kastilien, Haus Doña Albas
„Herrin, Ihr wisst, dass ich recht habe. Ihr wisst auch, dass es geschehen wird. Was auch von unserer Seite getan wird, es ist ganz gewiss vergebens. Euer Bruder macht sich große Sorgen um Euch und um Eure Sicherheit.“
Doña Alba musterte Ibrahim eine Weile schweigend, dann verlangte es allein schon das Gebot der Höflichkeit, dem langjährigen Diener und Vertrauten ihres Bruders zu antworten. „Dessen bin ich mir bewusst. Allerdings gestehe ich ein, dass es mir schwerfällt, all das zu verstehen.“ Sie stockte, nickte, als wolle sie sich selbst zustimmen, um mit leiserer Stimme fortzufahren. „Falsch, verstehen kann ich es, muss ich es. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es mich unendlich traurig macht.“ Ihr Blick huschte durch den weitläufigen Salon, der von der untergehenden Sonne, die durch die offenen Fenster schien, in helles Orange getunkt wurde. „Dies ist mein Zuhause, Ibrahim, unser aller Zuhause. Habe ich jemals in den langen Jahren meines Lebens irgendjemandem ein Leid zugefügt? Habe ich jemals jemanden bestohlen?“
Der dunkelhäutige Diener, der auch heute ganz selbstverständlich den weißen Turban und seinen goldgelben Burnus trug, so wie er es immer getan hatte, schüttelte den Kopf. „Nein, Herrin, das habt Ihr nie getan. Dies trifft aber auch auf so viele andere zu, die dieser Tage das gleiche Schicksal ereilt. Niemand von diesen Menschen hat irgendwelche Schuld auf sich geladen. Ich bitte Euch von Herzen, denkt über meine Worte nach. Noch haben wir Zeit, mag sie uns auch wie Wüstensand zwischen den Fingern zerrinnen.“
„Ich verspreche es dir, Ibrahim. Bestell doch bitte meinem Bruder, er möge mir mitteilen, wann er gedenkt, das nächste Mal zu segeln. Bitte, habt allesamt etwas Verständnis für eine alte Frau, die sich nicht binnen lediglich zweiter Tage von ihrem alten Leben verabschieden kann. Ja, ich werde der Bitte meines Bruders Folge leisten, jedoch nicht in solch kurzer Zeit. Das kann ich nicht, das bringe ich nicht übers Herz.“
Ibrahim verbeugte sich vor ihr und schenkte ihr ein erfreutes Lächeln. „Allein diese Worte werden Euren Bruder bereits beruhigen, Doña Alba. Um bei der Wahrheit zu bleiben, befürchtete er, dass es weit mehr an Überredungskunst kosten könnte, Euch zu dieser Entscheidung zu bewegen.“
Nun konnte sie ein Lächeln nicht unterdrücken. „So lass meinen Bruder bitte wissen, wenn er mich nochmals, sei es auch sehr liebenswürdig, als halsstarrige Alte hinstellt, möge er sich in Acht nehmen, meine Zunge ist gefährlich wie eh und je.“
Ibrahim wirkte höchst erheitert. „Herrin, niemals würde Euer Bruder es wagen, so auch nur von Euch zu denken. Ich darf mich nunmehr verabschieden, vor der Überfahrt in zwei Tagen ist noch Vieles zu tun. Ich werde dem Herrn Eure Entscheidung übermitteln. Ich bin sicher, dass er sehr erfreut sein wird.“
Doña Alba hob drohend die rechte Braue. „Das möchte ich ihm anraten. Danke für deinen Besuch, Ibrahim, und auf baldiges, gesundes Wiedersehen.“
Als sich die schwere Doppeltür aus glänzendem, dunklem Holz hinter dem treuen Begleiter ihres Bruders schloss, seufzte sie und erhob sich von dem farbenfrohen, bequemen Diwan, auf dem sie Platz genommen hatte. Langsamen Schrittes durchmaß sie den lichtdurchfluteten Raum, wobei weiche Teppiche jegliches Geräusch ihrer Schritte verschluckten, und trat durch die gläserne Flügeltür hinaus auf den Balkon. Ihr eindrucksvolles Haus lag etwa einen einstündigen Ritt von Malaga entfernt in den wunderschönen Hügeln hinter der Stadt. Von ihrem Balkon aus vermochte sie die ganze Stadt zu überblicken. Vor langen Jahren waren ihre Augen so gut gewesen, dass sie die Schiffe im Hafen hatte erkennen können. Sehen konnte sie die gigantischen Segelschiffe auch heute noch, erkennen, welches das ihres Bruders war, das vermochte sie dieser Tage nicht mehr. Ihr Blick wanderte über die Hügel, die Stadt bis hin zum Meer. Die Sonne berührte bereits die Wasserlinie am Horizont und ihre Heimat präsentierte sich ihr in ihrer ganzen Schönheit. Nun, da es nicht mehr heiß war, konnte sie den Duft des Jasmins wahrnehmen, den die üppigen Büsche in ihrem weitläufigen Garten verströmten. Er vermischte sich mit dem des galán de noche, der langsam begann, seine äußerst wohlriechenden Blüten zu öffnen. Das leise Plätschern des marmornen Springbrunnens, wirkte beruhigend, ein vertrautes Geräusch, das sie seit so vielen Jahren begleitete und ihr ein winziges Stück Normalität vorgaukelte. Doña Alba trat an das rosa glänzende Marmorgeländer ihres Balkons und legte ihre Handflächen auf den glatten, von der Sonne noch warmen Stein. Vor ihr breiteten sich die sauber gepflegten Wege zwischen den vielen Blumenrabatten aus, Palmen säumten die Hauptauffahrt, die direkt zum Portal ihres Heimes führte. Das doppelstöckige Haus, erbaut im maurischen Stil ihrer Ahnen, befand sich von Anfang an im Besitz ihrer Familie. Mehrere Jahre hatte ihr berühmter Vorfahr, der maurische Gelehrte Abd al-Wahid al-Marrakuschi, hier gelebt. Ihn hieß man in jener Zeit von Herzen willkommen. Von dieser Herzlichkeit war nichts mehr übriggeblieben. Abd al-Wahid hatte dieses Land geliebt. Was er wohl sagen würde, könnte er es heute, beinahe dreihundert Jahre später sehen? Ihr Leben hatte sich grundlegend verändert. Sie waren, wenn überhaupt, nur noch Geduldete in dem Land, das sie mit aufgebaut hatten.
Unweigerlich blickte Alba in die Richtung, in der sie das Zuhause der Familie Jiménez wusste. Aurora, Ehefrau des Alcalden Hector Jiménez und Mutter der vier bezaubernden Töchter, war ihr eine liebe Freundin geworden. Sie hatte die Familie bei einem ihrer zahlreichen Besuche am Meer kennengelernt. Ihre Bewunderung für die stets ruhige, überlegte und freundliche Aurora war groß. Vor allem nach der Geburt der letzten Tochter, Luz, die der Frau um ein Haar das Leben gekostet hätte, war Albas Bindung zu ihr und zu Auroras ältester Tochter Estrella noch stärker geworden. Standesunterschiede hatten sie nie interessiert, es waren stets lediglich die Menschen, die ihr Interesse und ihre Neugier weckten. Was die selbst noch junge Estrella damals geleistet hatte, war beeindruckend gewesen. Mit ihren zwölf Jahren hatte sie sich um den Vater und die beiden jüngeren Schwestern gekümmert, geputzt, gewaschen und gekocht. Sie sorgte dafür, dass die Mädchen ordentlich aussahen und lesen und schreiben lernten, so wie sie auch. Es war ihr, Alba, eine Freude gewesen, sich der Kinder anzunehmen. Ihnen das Wissen zu vermitteln, das ihr zu eigen war, ihnen die Geschichte des eigenen Landes, aber auch des fernen Marokko zu erzählen machte ihr viel Freude. So konnten die Jiménez-Mädchen nicht nur lesen und schreiben, sie verfügten über geschichtliches Wissen, das anderen verwehrt war. Mochte Vater Hector zuerst zweifelnd auf das geblickt haben, was sie tat, so siegte letztendlich doch der Stolz auf seine klugen Mädchen.
Alba wusste nur zu gut, dass Estrella mit jedem Tag näher an das Alter kam, in dem sie eine Heirat in Betracht ziehen musste. Lediglich war das Mädchen, zumindest in ihren Augen, nicht für eine eintönige Ehe in einem Fischerdorf geschaffen, mochte es auch außergewöhnlich schön sein. Estrella war hungrig nach Wissen, sehnte sich nach Abenteuern, das hatte sie rasch bemerkt. Die vielen Fragen, wenn Alba erzählte, wenn sie aus alten Büchern vorlas, wenn sie von Völkern berichtete, die in langen Karawanen durch die endlosen Wüsten zogen. Estrellas Augen leuchteten in solchen Augenblicken wie der Abendstern. Bei ihrem letzten Besuch fiel zunehmend oft der Name eines der Fischerjungen. Edmondo. Sie kannte den Jungen sogar. Ein netter, freundlicher Kerl, der gewiss einer Frau Sicherheit und ein gutes Leben bieten konnte. Das Mädchen brauchte aber mehr! Nur, wie sollte sie, als Freundin der Familie, dies vermitteln, ohne dass es als Einmischung angesehen würde? Hector war ein stolzer Mann, der das, betrachtete man seinen Stand, auch sein durfte. Sollte er das Gefühl haben, Alba könnte sich einmischen, dann würden letztendlich auch ihr Stand und ihr Ansehen nicht mehr helfen und damit wiederum wäre dem Mädchen wenig geholfen.
Alba reckte ihr Kinn den letzten Strahlen der Sonne entgegen. Sie verstand nur zu gut, dass ihre Welt sich im Umbruch befand. Vielleicht hatte das Tragische, das ihr unweigerlich bevorstand, ja auch etwas Gutes. Noch wollten sich in ihrem Kopf die beiden Gedankengänge nicht zusammenfügen und doch ahnte sie, dass dem so sein würde.
„Herrin, das Essen ist bereitet. Möchtet Ihr auf dem Balkon essen oder kommt Ihr in das Esszimmer?“ Carmela war leise wie immer hinter sie getreten. Ihre langjährige Zofe wusste, wie es derzeit um ihr Gemüt bestellt war.
Lächelnd wandte sie sich ihr zu. „Ich esse im Haus. Ich danke dir. Bitte gib mir noch einen Augenblick, dann komme ich.“
Carmela knickste und antwortete mit ihrer sanften, beruhigenden Stimme. „Sehr wohl, Herrin, bitte nehmt Euch alle Zeit der Welt.“
Ja, die könnte sie gut gebrauchen, derzeit jedoch schien die Zeit zu fliegen und Alba wusste, dass sie viele Dinge zu erledigen haben würde, ehe sie der Bitte ihres Bruders Folge leisten konnte.
Nach einer kleinen Weile und einem letzten Blick auf den sich langsam verdunkelnden Horizont, ging sie in Gedanken versunken zurück ins Haus. Hinter ihr zog Carmela lautlos die schweren roten Vorhänge zu.