Kapitel 1
The Royal Pavilion, Brighton, England.
Mittwoch, 12. Juni 1811
Er hatte gewusst, dass sie zu ihm kommen würde. So war es immer. Seine Königliche Hoheit George, Prince of Wales und seit etwa vier Monaten auch Regent Großbritanniens und Irlands, schloss die Tür des Privatzimmers hinter sich und ließ seinen Blick über die üppigen Kurven und die entblößte Haut der Frau schweifen, die vor ihm lag. „Haben Sie es sich also anders überlegt, gnädige Frau? Und noch einmal überdacht, dass Sie meine Freundschaft so vorschnell abgelehnt haben?“
Sie sagte nichts und die flackernden Kerzen warfen einen Schatten auf ihre Züge, sodass er ihren Gesichtsausdruck nicht lesen konnte. Im Liegen hatte sie eines ihrer blassen Handgelenke aufreizend auf die vergoldete, mit Schnitzereien verzierte Armlehne des Sofas gelegt, das neben dem Feuer stand. Die meisten Menschen beschwerten sich darüber, wie warm es in den Gemächern des Pavilion war, die George für gewöhnlich – selbst in einer so milden Sommernacht wie dieser – beheizen ließ. Aber diese Frau schien die Hitze zu genießen; ihr Kleid glitt ihr raffiniert von den Schultern und ihre Füße blitzten nackt und verführerisch darunter hervor. George leckte sich über die Lippen.
Auf der anderen Seite des Zimmers ertönten hinter der verschlossenen Doppeltür die Klänge eines Bach-Konzerts, in das sich das Gemurmel der Stimmen seiner zahlreichen kultivierten Gäste mischte. Irgendwo in der Ferne war das leise, hohe Lachen einer Frau zu hören.
Beim Klang dieses Lachens spüre George, wie sich sein Magen plötzlich vor Nervosität verkrampfte. Der Empfang heute Abend hatte einen besonderen Reiz auf seine adligen Gäste ausgeübt, denn der Ehrengast war kein Geringerer als der entthronte französische König Louis XVIII. Aber all die höhnischen, herablassenden Damen und Herren der besseren Gesellschaft kamen jeden Abend hierher. Sie tranken seinen Wein und aßen seine Speisen und erfreuten sich an seiner Musik, aber er wusste, was sie wirklich von ihm hielten. Sie lachten immerzu über ihn und nannten ihn einen Gecken. Sie flüsterten sich zu, dass er genauso verrückt sei wie sein Vater. Sie dachten, er würde das nicht bemerken, aber das tat er. Und daher wusste er auch, dass sie lachen würden, wenn er zuließe, dass diese Frau ihn wieder einmal zum Narren hielt.
Warum sagte sie denn nichts?
Argwöhnisch baute sich George zu seiner vollen Größe auf und schob den Brustkorb heraus. „Was soll das, gnädige Frau? Haben Sie mich etwa hierhergelockt, nur um mit mir zu spielen? Wollen Sie mich vielleicht zum Narren halten?“
Er machte einen Schritt auf sie zu, schwankte und streckte hastig eine fleischige Hand aus, um sich an der geschwungenen Rückenlehne eines Stuhls festzuhalten, der in der Nähe stand. Natürlich war sein Knöchel schuld. Das blöde Ding knickte immer unter ihm weg, so, wie gerade eben. Es lag nicht am Wein – er vertrug jede Menge. Mehr als die meisten Männer, die gerade einmal halb so alt waren wie er. Das sagten alle.
Die Kerzen in den vergoldeten Wandleuchtern loderten hell auf, dann wurde es dunkel. Er erinnerte sich nicht daran, dass er sich hingesetzt hatte. Aber als er die Augen öffnete, saß er zusammengesackt im Sessel neben dem Feuer und sein Kinn war tief in die kunstvoll arrangierten Falten seines weißen Halstuchs gesunken. Er spürte, wie ein dünnes Rinnsal aus Speichel an einem seiner Mundwinkel herunterlief. George wischte sich mit dem Handrücken über das Kinn und hob den Kopf.
Sie lag noch genauso da wie zuvor: Ein entblößter Fuß hing vom Rand des mit gelbem Samt gepolsterten Sofas und ihr schimmernd smaragdgrünes Kleid war verführerisch von ihren nackten Schultern gerutscht. Aber sie starrte ihn mit großen, merkwürdig ausdruckslosen Augen an.
Guinevere Anglessey war eine bemerkenswert schöne Frau: Die sanften Kurven ihrer halb entblößten Brüste waren so weiß wie Clotted Cream und ihr Haar schimmerte im Kerzenlicht blauschwarz. George rutschte vom Sessel und sank auf die Knie. Ihm entwich ein Schluchzen, als er ihre kalte Hand umfasste. „Mylady?“
George spürte, wie sein ganzer Körper vor Beunruhigung zu kribbeln begann. Er hasste Szenen mit viel Aufsehen und wenn sie einen Schwächeanfall oder dergleichen erlitten hätte, würde es eine schreckliche Szene gegeben. Er schob seine Hände unter ihre nackten Schultern und zog sie hoch, um sie sanft zu schütteln. „Sind Sie … ach du meine Güte, sind Sie krank?“ Diese andere, noch viel entsetzlichere Erklärung jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Er war sehr anfällig, was ansteckende Krankheiten anging. „Soll ich Dr. Heberden rufen?“
Er wollte sich sofort wieder von ihr entfernen, aber sie lag in einem so ungünstigen Winkel da, halb auf der Seite, dass es ihm schwerfiel, sie wieder auf dem Sofa zu positionieren. „Hier, lassen Sie es mich Ihnen bequemer machen und dann schicke ich jemanden, um –“
Er verstummte und drehte ruckartig den Kopf herum, weil die Doppeltür des Salons aufgerissen wurde. Die heitere Stimme einer Frau sagte: „Vielleicht versteckt sich der Prinz ja hier drinnen.“
George, der gerade dabei ertappt worden war, wie er die schöne, bewusstlose junge Frau des Marquis of Anglessey unbeholfen in seinen Armen umklammert hielt, erstarrte. Er war sich seiner lächerlichen Pose schmerzlich bewusst und leckte sich über die plötzlich trockenen Lippen. „Sie ist in Ohnmacht gefallen, möchte ich meinen.“
Lady Jersey hatte eine Hand um den Türknauf gekrampft. Ihre Wangen erbleichten unter dem Rouge und sie starrte ihn mit weit aufgerissen Augen an. „Ach du lieber Gott“, sagte sie und schnappte nach Luft.
Kreischende Frauen und ernst dreinblickende Männer drängten sich in die Tür. Er erkannte seinen Cousin Jarvis und den mordlüsternen Sohn Lord Hendons, Viscount Devlin. Und alle starrten sie. Es dauerte einen Moment, bis George merkte, dass sie nicht ihn anstarrten, sondern den juwelenbesetzten Griff eines Dolches, der aus dem nackten Rücken der Marchioness of Anglessey ragte.
George schrie. Es war ein hoher, weiblich anmutender Schrei, der seltsam widerhallte, als das Licht der Kerzen sich wieder verdunkelte und dann erlosch.
Kapitel 2
Eine kühle Brise blies über die Steyne und brachte den salzigen Duft des Meeres mit sich. Sebastian Alistair St. Cyr, Viscount Devlin, hielt auf dem gepflasterten Platz vor dem Pavilion inne und sog die frische Luft tief in seine Lungen.
Überall um ihn herum hallten panische Rufe nach Kutschen durch die dunklen Straßen, gemischt mit den gehetzten Schritten von Sänftenträgern, während juwelengeschmückte Damen und Herren in festlichen Kniehosen durch die offenen Türen des Palasts in die Nacht hinausströmten. Einige warfen Sebastian vielsagende, ängstliche Blicke zu. Und alle machten einen auffällig großen Bogen um ihn.
„Diese Narren“, ertönte eine schroffe, wütende Stimme hinter ihm. „Was denken sie denn? Dass du die Frau getötet hast?“
Sebastian drehte sich um und betrachtete die grobschlächtigen, besorgten Züge seines Vaters, Alistair St. Cyr, des fünften Earl of Hendon. Sebastian verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. „Vermutlich finden sie diese Erklärung tröstlicher als die Alternative – nämlich, dass ihr Regent gerade einer schönen jungen Frau einen Dolch in den Rücken gestoßen hat.“
„Prinny ist gar nicht fähig zu solch einer Gewalttat und das weißt du auch“, blaffte Hendon.
„Nun, irgendjemand hat sie aber umgebracht. Und ich weiß zumindest, dass ich es nicht war.“
„Lass uns zu Fuß gehen“, sagte Hendon und schickte mit einer Handbewegung seine Kutsche davon. „Ich brauche ein bisschen frische Luft.“
Sie wandten sich in Richtung ihres Hotels auf der Marine Parade. Keiner von ihnen sagte etwas, nur ihre Schritte hallten leise in der Dunkelheit wider. Die vertrauten Gerüche – nach dem Meer, das die Felsen umspülte, und nach nassem Sand – hingen schwer in der warmen Nachtluft und das Mondlicht flutete die Straßen. In dieser Stadt geisterten gemeinsame Erinnerungen von Vater und Sohn umher, über die keiner von ihnen sprechen wollte. Seit Jahren hatten sie beide Brighton gemieden, wann immer es möglich gewesen war. Aber Hendons Stellung als Finanzminister und der derzeitige Besuch der enteigneten französischen Königsfamilie hatte die Anwesenheit des Earls hier in Brighton unumgänglich gemacht. Sebastian selbst war nur zu Hendons sechsundsechzigstem Geburtstag hier herunter gefahren. Das andere noch lebende Kind des Earls, Amanda, war aus Gründen ferngeblieben, über die nicht gesprochen wurde.
„Diese Frau …“, begann Hendon, hielt aber gleich darauf inne, wobei er seinen Unterkiefer vor und zurück bewegte, so, wie er es immer tat, wenn er nachdachte oder beunruhigt war. Im schwachen Schein einer Straßenlaterne, die in der Nähe stand, wirkte sein Gesicht blass und das Mondlicht ließ seinen weißen Haarschopf leuchten. Er räusperte sich und setzte erneut an. „Sie sah Guinevere Anglessey außerordentlich ähnlich.“
„Weil es die Marchioness of Anglessey war“, sagte Sebastian.
„Großer Gott.“ Hendon rieb sich mit einer Handfläche über das Gesicht. Seine Züge waren vor Bestürzung erstarrt. „Das könnte Anglessey ins Grab bringen.“
Einen Moment lang schwieg Sebastian. Es kam in ihrer Welt oft genug vor, dass schöne junge Frauen wohlhabende, adlige ältere Männer heirateten. Aber selbst in der besseren Gesellschaft galt der Altersunterschied, der zwischen dem Marquis und seiner jungen Frau fünfundvierzig Jahre betrug, als übermäßig.
„Ich muss gestehen“, begann Sebastian behutsam, weil er um die langjährige Freundschaft zwischen Hendon und Anglessey wusste, „ich hätte sie nicht für die Art von Frau gehalten, die sich den Reihen von Prinnys Geliebten anschließen würde.“
Hendons Augen funkelten wütend. „Denk nicht einmal daran. Sie war kein leichtes Mädchen. Nicht Guinevere.“
„Was zum Teufel hatte sie dann in seinem Privatzimmer zu suchen?“ Hendon stieß heftig die Luft aus. „Ich weiß es nicht. Aber das hat nichts Gutes zu bedeuten. Weder für Anglessey noch für Prinny – und auch nicht für dich“, fügte er hinzu. „Das Letzte, was du jetzt brauchst, ist, dass man deinen Namen mit noch einer ermordeten Frau in Verbindung bringt.“
Sebastian legte die Stirn in Falten, denn sein Blick war an dem königlichen Wappen hängengeblieben, das auf der Vertäfelung einer Kutsche prangte, die vor ihrem Hotel stand. „Glaub mir, ich habe nicht die Absicht, für diesen Mord den Kopf hinzuhalten.“
Hendon sah ihn überrascht an. „Wie kommst du bloß überhaupt auf so eine Idee?“
Wortlos hob Sebastian das Kinn und deutete in die Richtung des livrierten Lakaien neben den unruhigen Pferden, die vor die Kutsche gespannt waren.
„Was soll das werden?“, fragte Hendon.
Der Diener trat vor und verbeugte sich. Seine Livree war unverkennbar: Der Mann gehörte, genau wie die Kutsche, zu dem Hausstand des Prinzen. „Lord Devlin? Lord Jarvis würde gerne mit Euch sprechen, Mylord. In seinem Büro im Pavilion.“
Offiziell war Lord Jarvis nichts weiter als ein entfernter Cousin des Königs, ein wohlhabender Adliger mit einem skrupellosen Ruf: Er war bekannt für seine Gerissenheit und sagenhafte Allwissenheit, die daher rührte, dass er über ein weitläufiges Netzwerk von Auftragsspionen verfügte. Aber in Wirklichkeit war Jarvis der Strippenzieher in der königlichen Familie und ein skrupelloser Intrigant, der sowohl England als auch der Monarchie – beides war für ihn untrennbar miteinander verbunden – zutiefst ergeben war. „Zu dieser späten Stunde?“, fragte Sebastian.
„Er sagt, es sei überaus dringend, Mylord.“
In Anbetracht seiner bisherigen Begegnungen mit Jarvis war Sebastians erster Impuls, den Diener mit einer möglichst kurz angebundenen Antwort wieder zu seinem Herrn zurückzuschicken. Aber dann dachte er an Guinevere Anglessey, die blass und leblos in dem von Kerzen beleuchteten Privatzimmer des Prinzen lag, und zögerte.
„Sagen Sie Ihrem Herrn, dass Lord Devlin ihn am Morgen empfangen wird“, blaffte Hendon und knirschte verärgert mit den Zähnen.
Sebastian schüttelte den Kopf. „Nein. Ich werde gleich bei Tagesanbruch nach London zurückfahren.“ Noch bevor die Treppe heruntergelassen wurde, sprang er in die Kutsche und sah der Begegnung wachsam, aber auch gespannt entgegen. „Warte nicht auf mich“, sagte er zu seinem Vater und ließ sich nach hinten in den mit Plüsch gepolsterten Sitz fallen, als der Lakai die Tür schloss.
Kapitel 3
Charles, Lord Jarvis, hatte sein Büro in Gemächern im Palast eingerichtet, die sein Cousin, der Prinzregent, eigens für ihn bereitgestellt hatte.
Die Liebe des Prinzen zu dem kleinen Küstenstädtchen Brighton währte schon dreißig Jahre oder noch länger und stammte aus den Tagen, als er jung und gutaussehend gewesen war und sogar beliebt bei den Menschen – obwohl es Jarvis sonderbar vorkam, wenn er jetzt daran zurückdachte. Noch immer kam der Prinz hierher, so oft er konnte, um seinen aufgedunsenen Körper in Meerwasser zu baden, endlose Musikabende und Kartenspielrunden zu geben und eine Reihe extravaganter Anbauten für seinen Pavilion oder dessen Neudekoration zu planen.
Gegenwärtig hingen in Jarvis’ Gemächern Kronleuchter mit Drachenornamenten, außerdem waren die Räumlichkeiten mit Möbeln aus Bambusimitat und einer pfauenblauen Tapete ausgestattet, bemalt mit exotischen Tieren und verziert mit Blattgold. Aber noch bevor der Sommer zu Ende war, konnte sich diese Optik wieder ändern und vielleicht würden die Zimmer dann das opulente Flair eines Sultan-Harems oder eines Maharadscha-Tempels annehmen. Jarvis selbst machte sich wenig aus dem orientalischen Stil, in den der Prinz so verliebt war. Aber Jarvis verstand besser als die meisten anderen Menschen, dass der Royal Pavilion – wie auch das Carlton House, die Londoner Residenz des Prinzen – ein paar hübschen Bausteinen gleichkam, die man einem fetten, überaus verwöhnten Kind zum Spielen gab. Die endlosen Umbauprojekte mochten zwar kostspielig sein, aber sie hielten den Prinzen bei Laune und sorgten dafür, dass er stets eine Beschäftigung hatte, sodass klügere, vernünftigere Männer sich der Aufgabe widmen konnten, das Land zu regieren.
Mit seinen beinahe zwei Metern Körpergröße und der inzwischen beleibten Figur – er war siebenundfünfzig Jahre alt – war Jarvis ein imposanter Mann. Allein seine Größe wäre schon eindrucksvoll gewesen. Aber es waren Jarvis’ intellektuelle Fähigkeiten, die die meisten Männer einschüchterten – sein eindrucksvoller Intellekt und die Tatsache, dass er sich in seiner Hingabe an König und Vaterland gnadenlos über alle Moral hinwegsetzte. Das Amt des Premierministers hätte sofort ihm gehören können, wenn er den Posten gewollt hätte. Aber das tat er nicht. Er wusste genau, dass man Macht viel effektiver und mit zufriedenstellenderen Ergebnissen ausüben konnte, wenn man im Verborgenen die Fäden zog. Und der derzeitige Premierminister, Spencer Perceval, verstand auch, wo sein Platz war. Genau wie die meisten anderen Mitglieder des Kabinetts. Nur zwei Männer in der Regierung wagten es überhaupt, sich gegen Jarvis zu wenden. Der eine war der Earl of Hendon, der Finanzminister.
Der andere war dieser Mann, der Earl of Portland. Lord Jarvis zog eine zierliche, aus Elfenbein geschnitzte Schnupftabakdose aus seiner Tasche und musterte den Adligen, der in diesem Moment auf dem grün-goldenen türkischen Teppich im Zimmer auf und ab schritt. Der große, schlaksige Portland war ein nervöser, energiegeladener Mann und seit zwei Jahren Innenminister. Er galt gemeinhin als klug. Natürlich war er bei weitem nicht so klug wie Jarvis, aber dennoch klug genug, um Ärger zu machen.
„Warum tun Sie das?“, fragte Portland fordernd. Das Licht der Kerzen in den Wandleuchtern fiel schimmernd auf seinen rotbraunen Schopf, während er mit langen Schritten wieder im Zimmer auf und ab ging. „Der Untersuchungsrichter hat erklärt, dass der Prinz auf keinen Fall in den Vorfall verstrickt war. Lassen Sie die Angelegenheit damit gut sein! Je länger sich die Sache hinzieht, desto belastender wird das alles für den Prinzen. Die Ärzte mussten ihm bereits ein Beruhigungsmittel geben.“
Jarvis hob eine feine Prise Tabak an eines seiner Nasenlöcher und schnupfte. Der Premierminister, Perceval, hatte sich zum Gebet in die Kapelle zurückgezogen und sich damit begnügt, die schmutzige Angelegenheit Jarvis zu überlassen. Aber nicht Portland. Allmählich war der Mann nicht mehr bloß eine Plage; er wurde zu einem richtigen Problem.
„Der Untersuchungsrichter ist ein Dummkopf“, sagte Jarvis und klappte seine Schnupftabakdose zu. „Genau wie jeder, der ernsthaft denkt, man könnte die Leute glauben machen, dass Lady Anglessey Selbstmord begangen hat, indem sie sich einen Dolch in den Rücken gestoßen hat.“
Portland hatte eine ungewöhnlich helle Haut, beinahe so blass wie die einer Frau, und seine hohen Wangenknochen waren von ein paar zimtfarbenen Sommersprossen bedeckt. Diese Haut verriet ihn oft, so wie jetzt, wo er vor Verärgerung errötete. „Theoretisch ist das möglich. Wenn sie den Dolch genau so positioniert hat und dann auf ihn gefallen ist -“
„Ich bitte Sie“, entgegnete Jarvis. „Die Hälfte der Leute, die heute Abend hier waren, glaubt bereits, dass der Prinz die Frau getötet hat. Wenn wir zulassen, dass der Untersuchungsrichter diese Ansicht öffentlich macht, tun wir nichts anderes, als auch noch die andere Hälfte davon zu überzeugen.“
„Machen Sie sich nicht lächerlich. Niemand könnte wirklich glauben, dass der Regent in der Lage wäre …“ Portlands Augen weiteten sich, so, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, und er verstummte.
„Eben“, sagte Jarvis. „Sie werden sich alle wieder an Cumberlands Kammerdiener erinnern. Die Untersuchung seines Todes kam ebenfalls zu dem Schluss, dass es Selbstmord war, wenn Sie sich erinnern. Aber was glauben Sie, wie viele Leute wohl tatsächlich davon überzeugt sind, dass der arme Kerl sich selbst die Kehle aufgeschlitzt hat? Von links nach rechts, wo er doch Linkshänder war?“
„Cumberland ist ein gefährlicher und jähzorniger Mann. Das würde niemand leugnen. Aber was man auch sonst über Prinny sagen mag, er ähnelt seinem Bruder kein bisschen.“
Jarvis zog still und ungläubig eine Augenbraue hoch. Wieder zeigte sich dieses schwache Erröten auf Portlands blasser Haut. „Na schön. Ich verstehe Ihren Standpunkt. Aber warum haben Sie nach Devlin geschickt? Er wurde von jedem Verdacht freigesprochen, was diese schrecklichen Morde im letzten Winter angeht.“
„Offiziell schon“, sagte Jarvis und drehte sich um, weil sein Lakai in der Tür erschienen war und sich verbeugte.
„Viscount Devlin, Mylord.“
Jarvis konnte ihn jetzt sehen: Er war ein großer, schlanker junger Mann mit dunklem Haar und seltsamen, beinahe animalisch wirkenden Augen, die angeblich die unheimliche Fähigkeit besaßen, nachts so scharf zu sehen wie die einer Katze. Einen Moment lang empfand Jarvis stille Genugtuung. Er hatte fast damit gerechnet, dass Devlin nicht kommen würde. Er war ein höchst unberechenbarer Mann, dieser Viscount; ungestüm und gefährlich und verblüffenderweise durch und durch brillant.
Jarvis warf dem Innenminister einen vielsagenden Blick zu. „Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden, Lord Portland?“
Portland zögerte, so, als wäre er versucht, darauf zu bestehen, dass er bliebe. Dann verbeugte er sich und sagte knapp: „Natürlich.“
Mit schmal zusammengepressten Lippen schritt er zur Tür. Aber Jarvis bemerkte den plötzlichen, nachdenklichen Glanz in den Augen des Mannes, bevor er den Kopf beugte und kurz angebunden sagte: „Lord Devlin.“
Kapitel 4
„Treten Sie ein, Mylord“, sagte Jarvis und ließ einen Arm in einer ausladenden Geste durch die Luft schweifen. Er war von Natur aus mit einem charmanten, entwaffnenden Lächeln gesegnet, das sich oft als erstaunlich wirkungsvoll erwies. Dieses Lächeln setzte er jetzt ein, als der Viscount innehielt, kaum, dass er über die Türschwelle ins Zimmer getreten war. „Die Einladung überrascht Sie sicherlich. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie mir bei unserem letzten Treffen eine Pistole an den Kopf gehalten. Und meine Tochter entführt.“
Devlin stand reglos da und auch seine Miene verriet nichts. „Ich hoffe, sie hat keine bleibenden Schäden davongetragen.“
„Hero? Gewiss nicht. Aber das Dienstmädchen ist seitdem nicht mehr sie selbst.“ Jarvis nahm eine Karaffe aus Kristall von einem Tablett und hielt sie hoch. „Brandy?“
Devlins Blick verengte sich. Der junge Viscount hatte wirklich unmenschliche Augen: so gelb und wild wie die eines Wolfes. „Ich denke, wir können uns die Höflichkeiten sparen.“
Jarvis stellte die Karaffe beiseite. „Also gut. Dann wollen wir nicht um den heißen Brei herumreden. Sie wurden hergebeten, weil der Regent Ihre Hilfe braucht.“
„Meine Hilfe.“
„Ganz recht. Er möchte, dass Sie herausfinden, was genau heute Abend im Pavilion passiert ist.“
Der Viscount schien belustigt. Er lachte kurz auf; ein schrilles Geräusch, das auch ein wenig hämisch klang.
Jarvis’ Stimme blieb freundlich. „Es ist nicht unsere Absicht, Ihnen diesen Mord anzuhängen, falls Sie das befürchten.“
„Wie beruhigend. Das wäre wohlgemerkt auch recht schwierig, weil ich das Musikzimmer den ganzen Abend lang nicht verlassen habe.“
„Dennoch flüstern sich einige Menschen zu, dass Ihre Anwesenheit bei der Soiree heute Abend, nun ja, recht … vielsagend war.“
„Ah, ich verstehe. Es ist also in meinem eigenen Interesse, den Mörder zu finden – wollen Sie das damit sagen?“
„So in etwa.“
Der Viscount schlenderte durch das Zimmer und blieb einen Moment lang stehen, um eines der goldfarbenen Fabelwesen zu betrachten, die auf der Tapete abgebildet waren. „Wenn es mich kümmern würde, was die Leute von mir denken, wäre ich vielleicht versucht, einzuwilligen“, sagte er, ohne sich umzudrehen. „Aber glücklicherweise ist dem nicht so.“
Jarvis wechselte mühelos die Taktik: Sein Lächeln verblasste, seine Stimme wurde laut und ernst. „Ich fürchte, dieser Mord kommt zu einer krisenhaften Zeit in der Geschichte unserer Nation. Unsere Armeen schlagen sich auf der Halbinsel nicht so gut, wie es zu wünschen wäre, und es gibt besorgniserregende Anzeichen dafür, dass die diesjährige Ernte ausfallen könnte. Die Menschen sind beunruhigt. Haben Sie eine Ahnung, was ein solcher Skandal in unserem Land anrichten könnte?“
Devlin drehte sich um. In seinen sonderbaren gelben Augen lag ein befremdlicher Glanz. „Zumindest kann ich mir sehr gut vorstellen, was er im Hinblick auf Prinnys ohnehin schwindende Beliebtheit anrichten könnte.“
Jarvis griff erneut nach der Karaffe, schenkte sich einen Brandy ein und nahm dann nachdenklich einen langen Schluck. „Ich fürchte, es geht hier nicht nur um den Prinzen. Haben Sie gehört, was man sich erzählt? Dass nicht nur der alte König verrückt ist? Die Leute sagen, das ganze Haus Hannover sei mit diesem Makel behaftet.“
Obwohl Jarvis nicht die Absicht hatte, es zu erwähnen, steckte natürlich noch mehr dahinter. In letzter Zeit waren ihm beunruhigende Berichte über gefährliche Gerüchte und verstohlenes Geflüster zugetragen worden. Manche Leute behaupteten, dass das Haus Hannover mehr als nur verrückt sei, dass es verflucht wäre – und somit auch England, solange jemand aus diesem Haus auf dem Thron säße.
Der Viscount wirkte ein wenig gelangweilt. „Dann schlage ich vor, Sie weisen den örtlichen Untersuchungsrichter an, den Mann, der heute Abend diesen Mord begangen hat, so schnell wie möglich aufzuspüren.“
„Nach Aussage unseres hochgeschätzten hiesigen Untersuchungsrichters hat die junge Marchioness of Anglessey Selbstmord begangen.“
Devlin schwieg einen Moment lang, dann sagte er: „Eine beachtliche Leistung nach dem, was ich gesehen habe.“
„Eben.“ Jarvis nahm noch einen Schluck von seinem Brandy. „Leider haben die Leute, die sich normalerweise mit solchen Angelegenheiten befassen, einfach zu viel Angst davor, jemanden aus der besseren Gesellschaft zu verärgern, um uns wirklich von Nutzen zu sein. Wir brauchen einen Mann, der sowohl intelligent als auch erfinderisch ist und der sich nicht scheut, die Wahrheit aufzuspüren, egal, was sie auch enthüllen mag.“
Devlin war kein Narr. Seine Lippen bogen sich zu einem vagen, verächtlichen Lächeln. „Dann beauftragen Sie einen Bow Street Runner mit dem Fall. Verdammt, heuern Sie die ganze Truppe an.“
„Hätten wir es hier mit einem gewöhnlichen, mordenden Verbrecher von der Straße zu tun, würde das wohl genügen. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass hier etwas vor sich geht, das sehr viel schwerwiegender ist. Wir brauchen jemanden, der Teil unserer Lebenswelt ist. Jemanden, der unsere Kreise versteht und ebenso weiß, wie man der Spur eines Mörders folgt.“ Jarvis machte eine bedeutungsvolle Pause. „Sie haben das doch schon einmal gemacht. Warum tun Sie es nicht wieder?“
Devlin drehte sich zur Tür um. „Verzeihen Sie. Ich bin nur nach Brighton gereist, um ein paar Tage mit meinem Vater zu verbringen. Morgen werde ich wieder zurück in London erwartet.“
Jarvis wartete, bis sich die Hand des Viscounts um den Türknauf schloss, dann sagte er: „Bevor Sie gehen, sollten Sie sich noch etwas ansehen. Etwas, das Ihre Familie genaugenommen in direkten Zusammenhang mit der Tat bringt.“
Das ließ ihn innehalten, so, wie Jarvis es vorausgesehen hatte. Der Viscount drehte sich ruckartig um. „Was?“
Jarvis stellte sein Glas ab. „Ich zeige es Ihnen.“
Der Tod war Sebastian nicht fremd. Sechs Jahre voller Kavallerieangriffe, bei denen Säbel niederfuhren und ihre Opfer aufschlitzten, und voller geheimer Einsätze im feindlichen Lager hatten ihm schmerzvolle Erinnerungen beschert, deren Bilder ihn noch immer in seinen Träumen heimsuchten. Er musste sich zwingen, Jarvis durch die Tür zu folgen, die zum Privatzimmer des Prinzen führte.
Das Feuer im Kamin war bis auf die glühenden Kohlen heruntergebrannt, trotzdem war es im Raum noch warm. Der süßliche Duft des Todes erfüllte die stickige Luft. Als Sebastian über den bunt gemusterten Teppich ging, hallten seine Schritte dumpf im Zimmer wider. Guinevere Anglessey lag auf der Seite und war halb von dem Sofa gerutscht, auf das der Prinz sie in seiner Aufregung fallen lassen hatte. Sebastian stand vor ihr und ließ seinen Blick über die weichen Konturen ihrer Stirn und Wangen und über ihre fein geschwungenen Lippen gleiten.
Sie war blutjung, höchstens einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt. Einmal hatte er sie in Begleitung ihres Mannes auf einer Dinnerparty getroffen, die Hendon ausgerichtet hatte. Er erinnerte sich an eine schöne Frau mit einem scharfen Verstand und dunklen, traurigen Augen. Ihr Ehemann, der Marquis of Anglessey, war schon fast siebzig Jahre alt.
Sebastian warf einen Blick zurück zu Jarvis, der im Türrahmen stehengeblieben war und ihn aufmerksam beobachtete. „Es ist immer tragisch, wenn ein so junger Mensch stirbt“, sagte Sebastian mit fester Stimme. „Aber trotzdem geht mich die Angelegenheit nichts an.“
„Sehen Sie sich die Marchioness genauer an, Mylord.“
Widerwillig blickte Sebastian auf die Frau hinab, die vor ihm lag. Der smaragdgrün schimmernde Satin ihres Abendkleides fiel locker über ihre Schultern, die Bänder waren gelöst und das Mieder heruntergeschoben worden – beinahe bis zu den Spitzen ihrer vollen, ebenmäßigen Brüste. Aus dieser Perspektive konnte er von dem juwelenbesetzten Dolch, der aus ihrem Rücken ragte, nur den verzierten Knauf sehen. Aber er hatte eine gute Sicht auf die Halskette, die sich im Dunkeln um ihren Hals schmiegte.
Sein Blick verengte sich und sein Atem stockte, als er sich neben die Frau hockte. Er streckte die Hand aus, als wolle er die Halskette berühren, aber dann ballte er die Finger zur Faust und presste sie an seine Lippen.
Es handelte sich um ein antikes Stück, das aus Silber in Form einer von einem Kreis umschlossenen Triskele gearbeitet und mit einer glatten Scheibe des geheimnisvollen blauen Gesteins unterlegt worden war, das man oft in den mysteriösen alten Steinkreisen in Wales fand. Es gab eine Legende, die besagte, dass diese Halskette einst von den Druidenpriesterinnen von Cronwyn getragen worden war. Es hieß, die Halskette sei im Laufe der Jahrhunderte von einer Frau zur anderen weitergegeben worden, wobei das Schmuckstück selbst seine nächste Trägerin auswählte, indem der Stein sich in der Hand der richtigen Frau erwärmte und zu pulsieren begann.
Diese Halskette hatte Sebastian schon als Kind fasziniert. Er war immer auf den Platz neben seiner Mutter geklettert und hatte ihrer sanften, melodischen Stimme gelauscht, während sie ihm die alte Geschichte erzählte. Er konnte sich daran erinnern, wie er das seltsam gearbeitete Stück in der Hand gehalten und sich gewünscht hatte, es würde sich bei ihm erwärmen und zu pulsieren beginnen. Das letzte Mal hatte er die Kette gesehen, als seine Mutter sie um den Hals getragen hatte. Das polierte Silber hatte hell in der Sonne geglänzt, als sie ihm vom Deck der hübschen, kleinen Zweimastyacht zum Abschied zugewunken hatte. Ein Freund hatte das Boot eines Sommertages für einen Vergnügungsausflug angeheuert, als Sebastian elf Jahre alt gewesen war.
An diesem Nachmittag war es ungewöhnlich heiß gewesen und vom Meer her hatte nur eine leichte, kühle Brise geweht. Doch dann war das Wetter rau geworden, dunkle Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und der Wind hatte aufgefrischt. Der Zweimaster geriet bei dem starken Wellengang ins Schwanken und ging mit allen, die an Bord waren, unter.
Den Leichnam der Countess of Hendon – und die Halskette, die sie an diesem Tag getragen hatte – wurden niemals gefunden.