Leseprobe Die ungewollte Braut des Lords

3. Kapitel

Das Kloster des Zerbrochenen Engels, Spanien, 1819

„Ich möchte nicht als alte Jungfer sterben“, erhob sich eine klagende Stimme.

Isabella Mercedes Sanchez y Vaillant, ihren Mitschülerinnen bekannt als Isabella Ripton, genannt Bella, beugte sich über ihre Näharbeit und wünschte, die Ohren vor der folgenden Unterhaltung verschließen zu können. Sie kannte sie auswendig. Es handelte sich um ein tägliches Ritual, das so regelmäßig wiederkehrte wie alle anderen Rituale im klösterlichen Alltag. Isabella war jedes einzelne leid, besonders jedoch dieses. Es nützte niemandem etwas, es führte ihnen nur immer wieder ihre ausweglose Situation vor Augen.

„Und ich möchte nicht Nonne werden.“

Jetzt würde Paloma sich einschalten und so etwas sagen, wie, man müsse Vertrauen haben und was für eine hübsche Braut Dolores doch sein würde. Damit streute sie nur Salz in die Wunden, aber das merkte sie gar nicht. Paloma war genauso begriffsstutzig wie gutherzig.

Bella stach mit der Nadel in das verschlissene weiße Leinen. Sie hasste das Nähen. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen, doch sie saß hier für noch mindestens eine Stunde fest. Sie musste einen ganzen Stapel verschlissener Laken ausbessern, damit sie noch ein wenig zu gebrauchen waren. Als Buße für irgendetwas. Weil sie gerannt war. Oder wegen Pietätlosigkeit. Wahrscheinlich, weil sie überhaupt gewagt hatte, zu atmen.

„Du musst Vertrauen haben, Dolores“, sagte Paloma freundlich. „Dein Vater wird dich bald abholen lassen, da bin ich mir ganz sicher. Warum auch nicht? Du wirst eine so hübsche Braut sein. Jeder Mann wäre stolz auf dich.“

Bella presste die Kiefer aufeinander. Es ging nicht um Dolores’ Schönheit. Es ging um Geld, um den Stolz der Familie. Genau aus diesem Grund hielten sich alle Mädchen noch immer im Kloster auf, obwohl die Schulzeit längst hinter ihnen lag und der Krieg seit Jahren zu Ende war.

Spanien mochte ja von den Franzosen befreit sein, es saß sogar wieder ein spanischer König auf dem Thron, keine Marionette von Napoleon und auch nicht sein Bruder, aber es war nicht mehr dasselbe Land wie vor dem Krieg. Viele der großen Familien standen am Rande des Ruins. Manche, weil sie sich auf die Seite der Franzosen und der spanischen Verräter geschlagen hatten; andere, weil sie ihr ganzes Vermögen dafür aufgewendet hatten, um eine Privatarmee für den Guerillakrieg aufzustellen, und wieder andere, weil ihr Besitz – und damit die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen – zerstört worden war.

Die blaublütigen Familien der im Kloster verbliebenen Mädchen waren zu arm, um sich eine große Mitgift für ihre Töchter leisten zu können, und zu stolz, um zuzulassen, dass sie unter ihrem Stand heirateten. Es sei denn, der zukünftige Ehemann war über alle Maßen reich, und selbst dann weigerten sich manche Familien, ihr adeliges Blut mit dem irgendeines neureichen Bauern zu vermischen und auf diese Weise zu verunreinigen.

Ehe sie ihren Töchtern ein solches Schicksal zumuteten, ließen sie sie lieber in einem abgelegenen Kloster in den Bergen schmoren – unerwünscht, vergessen, verlassen.

Die Söhne des verarmten Adels allerdings nahmen sich natürlich die Töchter genau dieser neureichen Bauern zur Braut. Deren Blut war zwar alles andere als edel, aber der Familienname der Hochwohlgeborenen durfte nicht aussterben, und das Geld der Braut würde wieder zu einem Familienvermögen führen.

Bella hatte Paloma das schon ein Dutzend Mal erklärt, doch Paloma lächelte stets nur und sagte: „Wir müssen alle Vertrauen haben.“

Sie würde eine gute Nonne abgeben, dachte Isabella. Oder eine Heilige. Die Heilige Paloma der verschwundenen Mitgift. Palomas Bruder hatte ihre Mitgift verspielt, und jetzt weigerte er sich, sie nach Hause zurückkehren zu lassen. Alles sei anders seit Papas Tod, hatte er geschrieben. Es gebe keinen standesgemäßen Ehemann für sie, und sie sei im Kloster besser aufgehoben, in dieser friedvollen Umgebung, an die sie sich gewöhnt habe.

Bella nahm sich wütend ein weiteres verschlissenes Laken vor. Friedvolle Umgebung, dass sie nicht lachte! Am liebsten hätte sie Palomas Bruder hier eingesperrt, damit er diese friedvolle Umgebung einmal zu spüren bekam. Endlose Gebete, endlose, sich immer wiederholende, langweilige Gespräche und endloses, endloses Nähen.

Sie fing an zu nähen. Ihr fielen stets nur die Flickarbeiten zu, die anderen Mädchen und die Nonnen fertigten vorwiegend erlesene Stickereien an. Das Kloster war berühmt dafür; Bischöfe in ganz Spanien und sogar in Rom trugen Messgewänder und benutzten Altartücher, die hier in diesem abgeschiedenen Bergkloster bestickt worden waren.

 

Vor der Krönung König Ferdinands hatten die Mädchen hauptsächlich für ihre Aussteuer genäht. Jetzt arbeiteten sie fast nur noch an Altartüchern und Messgewändern, genau wie die Nonnen auch.

Die Mutter Oberin sagte immer, Isabella hätte eben andere Begabungen. Die anderen Mädchen dachten, dass sie das nur sagte, weil sie Bellas Tante war. Bella und die Mutter Oberin wussten es jedoch besser.

„Ich wünschte, ich hätte dein Gottvertrauen, Paloma“, meinte Dolores jetzt. „Ich fürchte, wenn wir alt und runzlig sind, sitzen wir immer noch hier und verbringen unsere Tage schnarchend wie Schwester Beatriz.“

„Das mag für dich gelten, Dolores“, fuhr Alejandra sie an. „Ich jedenfalls werde nicht im Kloster verrotten. Mein Vater verhandelt gerade mit einer sehr vornehmen Familie aus Cabrera.“

Dolores machte ein beleidigtes Gesicht und fädelte ihre Nadel ein. „Der einzige infrage kommende Mann in Cabrera – von adeligem Geblüt, meine ich – ist der alte vizconde, der schon zweimal verheiratet war, über sechzig ist und sich verzweifelt einen Erben wünscht. Wenn er derjenige ist, mit dem dein Vater verhandelt, tust du mir leid.“

Alejandra zuckte mit den Achseln. „Ich würde lieber einen alten Mann heiraten, als Nonne zu werden.“ Die Mädchen blickten zu Schwester Beatriz hinüber, aber die alte Nonne schnarchte friedlich weiter und hatte nichts mitbekommen. „Außerdem“, fuhr Alejandra fort, „wie mein Vater sagte, ist er sehr reich, und alte Männer sterben bald. Dann bin ich frei und kann tun, was ich will.“

Ein anderes Mädchen meldete sich zu Wort. „Es heißt, der alte vizconde hätte die Syphilis, und deshalb hätte er auch mit keiner seiner Frauen einen Sohn zeugen können.“

Die Mädchen tauschten verstohlene Blicke.

„Das kann nicht sein. Mein Vater würde mich mit keinem Mann verheiraten, der die Syphilis hat“, sagte Alejandra in das allgemeine Schweigen hinein. „Das würde er nie tun.“

Die anderen nickten und murmelten zustimmend. Dennoch hatten sie alle davon gehört, dass ein Mann von der Syphilis geheilt werden konnte, wenn er bei einer Jungfrau lag …

„Nein, Papa würde so etwas nie tun“, wiederholte Alejandra. „Da bin ich mir ganz sicher, dazu hängt er viel zu sehr an mir.“ Doch ihre Zuversicht war eindeutig ins Wanken geraten, und ihre Bemerkung entsprang eher einem Wunsch als einer Gewissheit.

Die Entscheidung würde bei ihrem Vater und dem vizconde liegen, nicht bei ihr. Sie hatte als Tochter dorthin zu gehen, wo sie ihrer Familie von größtem Nutzen war. Und die Zeiten in Spanien waren verzweifelt und aussichtslos.

„Wenn er das tut, musst du dich weigern“, meinte Bella.

„Mich weigern?“, rief Alejandra erschrocken aus. „Meinem Vater gegenüber ungehorsam sein? Bist du von Sinnen? Das könnte ich niemals!“

„Warum denn nicht?“

„Warum nicht?“, wiederholte Alejandra. „Weil ich es einfach nicht kann!“ Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Ich war ihm gegenüber noch nie ungehorsam. Nie!“

Bella machte einen Knoten in ihren Faden. „Dann wäre es doch gut für ihn, wenn er einmal eine ganz neue Erfahrung machte.“

Die Mädchen starrten sie schockiert an.

„Wie würde er deiner Meinung nach wohl reagieren?“, fragte Bella.

„Er würde mich umbringen!“, erwiderte Alejandra und erschauerte.

„Würde er dich umbringen oder einfach nur verprügeln?“

„Einfach nur? Er würde mich windelweich schlagen!“

„Von einer Tracht Prügel erholt man sich wieder. Ein alter vizconde mit Syphilis jedoch …“ Bella ließ sie diesen Gedanken erst einmal verdauen. „Hat dein Vater dich jemals geschlagen?“

„Noch nie“, gab Alejandra stolz zurück.

„Warum glaubst du dann, er würde es jetzt tun?“

Alejandra wirkte erst überrascht, dann nachdenklich. „Es ist meine Pflicht meiner Familie gegenüber, mich gut zu verheiraten.“

„Es ist die Pflicht deines Vaters, einen anständigen Ehemann für dich zu finden“, konterte Bella.

Alejandra nagte an ihrer Unterlippe. „Ich weiß nicht … Papa wäre so enttäuscht von mir.“

Bella schnaubte. „Er wird es überleben. Vielleicht bekommt er ja sogar Respekt vor dir“, meinte sie achselzuckend. „Es ist nicht meine Sache, was du tun wirst, aber wenn ich du wäre, würde ich mich weigern.“

„Deswegen gerätst du ja auch ständig in Schwierigkeiten“, entgegnete Alejandra.

Schwester Beatriz stieß einen unwirschen Laut aus und setzte sich auf. „Was ist das? Plappernde Mäuler? Nähen, Mädchen, nähen!“ Sie klatschte energisch in die Hände, und die Mädchen beugten sich über ihre Näharbeiten. Eine Weile herrschte Stille, und die Nadeln schienen zu fliegen. Es dauerte nicht lange, da war die alte Nonne wieder eingeschlafen.

„Vielleicht kommt Bellas Mann ja bald, um sie abzuholen“, sagte Paloma in munterem Tonfall, um das Thema zu wechseln, und Bella stöhnte insgeheim auf. Sie wusste, was als Nächstes kommen würde.

Alejandra schnaubte verächtlich. „Wer? Etwa der, den sie erfunden hat?“

„Sie hat ihn nicht erfunden, nicht wahr, Bella?“ Paloma drehte sich zu Bella um.

Die antwortete nicht. Darüber hatten sie schon hundert-, wenn nicht tausendmal diskutiert. Anfangs hatte sie sich mit Händen und Füßen gegen diese Unterstellung gewehrt, doch jetzt, nach all den Jahren, glaubte sie beinahe selbst, das Ganze nur geträumt zu haben. Allerdings lagen die Hochzeitsurkunden im Schreibtisch der Mutter Oberin, alle eigenhändig von ihm unterschrieben. Lucien Alexander Ripton, Lieutenant.

„Natürlich hat sie das!“, beharrte Alejandra. „Ihr großer englischer Lieutenant mit den breiten Schultern und dem schönen, engelsgleichen Gesicht!“, spottete sie. „Ein Engel, verheiratet ausgerechnet mit Isabella Ripton?“ Alle Mädchen lachten.

Bella nähte verbissen weiter. Sie verstand ja, warum sie sie verspotteten. Vielleicht wäre sie auch so angriffslustig gewesen, wenn sie einen alten vizconde mit Syphilis hätte heiraten müssen.

Außerdem war es ihre eigene Schuld. Sie hätte ihnen gar nicht erst davon erzählen sollen. Nach der überstürzten Hochzeit hatten Lieutenant Ripton und ihre Tante beschlossen, Isabella den Namen Ripton annehmen zu lassen, so wie es bei englischen Ehefrauen üblich war, im Gegensatz zu den Spanierinnen, die ihren Namen nach der Hochzeit behielten. Unter diesem Namen sollte Bella auch im Kloster leben.

Ihre Tante hatte ihr aufgetragen, niemandem zu verraten, dass sie verheiratet war, weder der damaligen Mutter Oberin noch den anderen Nonnen noch ihren Mitschülerinnen. Sie meinte, wenn Cousin Ramón auftauchen und nach Isabella Mercedes Sanchez y Vaillant fragen sollte, der Tochter des Conde de Castillejo, dann konnte die Mutter Oberin ihm wahrheitsgemäß mitteilen, dass es im Kloster kein Mädchen dieses Namens gab, so wahr ihr Gott helfe.

Es war eigenartig, aber auch aufregend, einen neuen Namen zu haben.

Und natürlich war Cousin Ramón erschienen, und die Mutter Oberin hatte ihm versichert, dass es kein Mädchen im Kloster gab, das so hieß. Die gute alte Mutter Oberin – so aufrichtig und ahnungslos, so sichtlich betroffen über seine Geschichte von einem jungen Mädchen, das von zu Hause ausgerissen und ganz allein in Spanien in diesen gefährlichen Zeiten unterwegs war. Wer wusste schon, was dem armen unschuldigen Kind zugestoßen war! Schrecklich, ganz schrecklich! Sie hatte sofort angeboten, für die sichere Heimkehr des verschwundenen Mädchens zu beten, und da hatte selbst Cousin Ramón ihr glauben müssen.

Also hatte Isabella anfangs niemandem erzählt, dass sie verheiratet war, und als die alte Mutter Oberin gestorben und Bellas Tante ihre Nachfolgerin geworden war, war Bellas Sicherheit gewährleistet – so sicher man eben in Kriegszeiten sein konnte.

Doch ein paar Jahre später war der Krieg in Spanien zu Ende. Napoleons Günstling war vertrieben worden, Ferdinand wurde zum König von Spanien gekrönt, und plötzlich tauchten alle möglichen Verwandten auf, um Mädchen abzuholen. Im ganzen Kloster wurde über nichts anderes mehr gesprochen als über Aussteuern und Einigungen, über arrangierte Verlobungen und geplante Hochzeiten. Die Mädchen waren alle in heller Aufregung, nervös und voller romantischer Erwartungen.

Mit fast sechzehn hatte Isabella immer noch unter unreiner Haut und einem fast nicht vorhandenen Busen gelitten. Als selbst die jüngeren Mädchen anfingen, sie gönnerhaft zu behandeln und zu bemitleiden, ertrug sie es nicht länger. Eines Nachts erzählte sie tuschelnd ihrer Freundin Mariana von Lieutenant Ripton, ihrem großen, dunklen Engländer, der schön war wie ein Engel. Er hatte einen Mann getötet, um sie zu beschützen, und sie dann geheiratet, um sie vor ihrem bösen Cousin Ramón zu retten. Jetzt, wo der Krieg zu Ende war, würde er bestimmt bald kommen und sie nach England mitnehmen.

Aber Mariana hatte Isabellas Geheimnisse einem anderen Mädchen zugeflüstert, und schon bald wusste jede im Kloster davon – und natürlich hatte ihr niemand geglaubt. Die magere, unauffällige Isabella Ripton, heimlich verheiratet mit einem gut aussehenden Engländer? Als ob ihr das jemand abgenommen hätte!

Ihr Name? Na gut, sie hatte einen englischen Nachnamen, aber das hatten viele andere Spanier auch. Das bewies gar nichts.

„Hat er schon mal ein Bild von dir gesehen – eines, auf dem du so aussiehst, wie du wirklich bist?“

„Warum sollte er ein Mädchen heiraten, das wie ein Junge aussieht?“

„Er weiß, wie ich aussehe. Er hat mich auserwählt“, pflegte Bella, ihnen stolz zu entgegnen. Sie hoffte nur, dass die Pickel verschwunden wären und ihre Brüste sich entwickelt hatten, bis er kam, um sie abzuholen. „Da musste nichts arrangiert werden.“

„Aber du weißt so gut wie nichts über ihn. Er könnte ja auch irgendein Kleinbauer sein!“

„Er war Offizier, also kann er gar kein Kleinbauer sein. Und er ist groß, stark und furchtlos. Der schönste Mann, den ich je gesehen habe.“

„Schön?“ Die Mädchen lachten.

„Schön wie ein Erzengel!“, beharrte Bella. „Schön und furchteinflößend. Wie der Engel mit dem Racheschwert! Wartet nur, bis er kommt, dann werdet ihr ja sehen.“

Manche Mädchen fuhren dann fort, zu spotten, andere wiederum seufzten und beneideten Bella insgeheim.

Nachts in ihrer kleinen Zelle, auf dem schmalen, harten Bett, gab sich Bella ihren Träumen von Lieutenant Ripton hin …

Lieutenant Ripton lag irgendwo lebensgefährlich verletzt, und Bella fand ihn, pflegte ihn aufopfernd, bis er wie durch ein Wunder wieder genas und sich Hals über Kopf in sie verliebte.

Lieutenant Ripton wurde vom Feind angegriffen, und Bella stand an seiner Seite; sie kämpften gemeinsam, und als der Feind schließlich die Flucht ergriff, drehte er sich zu ihr um und sagte: „Isabella, ohne dich wäre ich jetzt tot. Ich liebe dich.“

So viele tollkühne Heldentaten vollbrachte sie in ihren Träumen, und nach jeder einzelnen sagte Lieutenant Ripton: „Isabella, ich liebe dich.“

Lieutenant Ripton würde sie so gut kennen wie keine Menschenseele auf der Welt. Und er würde sie lieben, aufrichtig lieben. Sie würde diese Liebe von ganzem Herzen erwidern, und sie würden für immer und ewig miteinander glücklich sein.

Tag für Tag, Woche für Woche hatte Bella darum gebetet, dass Lieutenant Ripton kam oder wenigstens schrieb, doch sie sah und hörte nichts von ihm.

Trotzdem verteidigte sie sich und ihn nach wie vor mit aller Vehemenz – er war schön wie ein Engel, er war in Gefechte verwickelt, er war ein Held, er spielte eine zu wichtige Rolle und war deshalb im Moment unabkömmlich, aber er würde kommen und sie zu sich holen, ja, das würde er!

Allmählich wurde ihre Haut immer reiner. Ihr Busen blieb enttäuschend klein, und anhand eines eingeschmuggelten Spiegels erkannte sie, dass sie niemals eine Schönheit sein würde, nicht einmal hübsch. „Interessant“ war noch eine wohlwollende Beschreibung für ihre Gesichtszüge.

Aber Lieutenant Ripton kam nicht, und als die Jahre vergingen, schwand ihr Traum von einem schönen Ehemann, der sie liebte, lieben musste, dahin.

Sie musste sich der grausamen Wahrheit stellen. Genau wie die Väter und Brüder der anderen Mädchen, die im Kloster geblieben waren, hatte Lieutenant Ripton ihr Geld genommen und sie im Stich gelassen. Er war auch nicht viel besser als Ramón. Er war vielleicht freundlicher vorgegangen, aber im Endeffekt blieb das Ergebnis das gleiche.

In manchen Nächten weinte Bella heimlich um ihre zerbrochenen Träume. Aber Tränen nutzten auch nichts, also wischte sie sie fort und sah durch das hohe vergitterte Fenster hinauf zum Sternenhimmel.

Da draußen gab es eine Welt, und sie wollte ein Teil dieser Welt sein.

Die anderen Mädchen neckten sie weiterhin und zogen sie auf wegen ihres erfundenen Ehemanns. Und Bella verteidigte ihn immer noch, behauptete immer noch hartnäckig, er hätte einen triftigen Grund, warum er nicht kam – man hatte ja schließlich auch seinen Stolz –, aber niemand glaubte ihr, nicht einmal Bella sich selbst. Es war einfach Routine, wie alles, was sich im Kloster abspielte.

Sie sagte zu Alejandra: „Du könntest mit mir kommen, wenn du möchtest.“

„Wohin mitkommen?“

„Ich verlasse das Kloster.“ Verblüfftes Schweigen folgte auf ihre Ankündigung.

„Kommt er …“, fing Paloma an.

„Nein. Niemand kommt mich holen, Paloma.“ Bella warf einen Blick zu Schwester Beatriz hinüber, die immer noch schlief, und senkte ihre Stimme. „Ich gehe trotzdem fort.“

„Das wird die Mutter Oberin nicht erlauben“, wandte Alejandra ein.

Bella zuckte mit den Achseln. „Sie kann mich nicht aufhalten. Ich bin eine verheiratete Frau, und in zwei Wochen werde ich einundzwanzig.“ Und wenn die Mutter Oberin versuchte, sie aufzuhalten, würde Bella eben über die Klostermauer klettern. Es wäre nicht das erste Mal, und die Mutter Oberin wusste das.

Alejandra rümpfte die Nase. „Ich glaube dir nicht. Was willst du denn machen? Wovon willst du leben? Wer wird dich beschützen? Es ist gefährlich …“

„Ich werde mich selbst versorgen“, erklärte Bella. „Und ich werde selbst auf mich aufpassen. Ich habe nicht vor, hierzubleiben und ewig darauf zu warten, dass mich jemand rettet. Im Leben geht es nun einmal nicht zu wie im Märchen.“

„Isabella Ripton!“, rief eine Stimme von der Tür her.

Alle Mädchen zuckten schuldbewusst zusammen.

„Isabella“, wiederholte Schwester Josefina, als sie den Raum betrat. Sie war die jüngste und hübscheste der Nonnen, selbst kaum älter als die Mädchen, fröhlich und lebhaft, aber sich dennoch unbeirrbar an ihre Gelübde haltend. „Mach dich ein wenig zurecht, dein Haar ist völlig zerzaust. Die Mutter Oberin möchte, dass du sofort in ihr Büro kommst. Du hast einen Besucher!“

„Einen Besucher? Wen?“ In den acht Jahren hatte Bella noch nie Besuch gehabt. Nicht, seit Ramón auf der Suche nach ihr gekommen und unverrichteter Dinge wieder abgezogen war. Und warum hätte er nach all diesen Jahren zurückkehren sollen?

Schwester Josefina lächelte. „Kannst du dir das nicht denken?“

Bella schüttelte ratlos den Kopf.

„Ein Engländer.“

Bella erstarrte.

Schwester Josefina nickte. „Groß, dunkel und schön wie ein Erzengel.“

Bella war wie gelähmt, sie brachte kein Wort hervor und konnte nicht einmal einen klaren Gedanken fassen.

„Ein sehr ernster und sehr männlich aussehender Erzengel.“ Schwester Josefina seufzte. Eine zarte Röte breitete sich auf ihren Wangen aus.

Lieutenant Ripton war hier?

„Isabella?“, fragte Schwester Josefina.

Bella zuckte zusammen. Alle starrten sie an. Sie riss sich zusammen. „Ich sagte euch doch, dass er kommen wird“, brachte sie mühsam hervor und ging auf die Tür zu.

„Richte deine Frisur“, erinnerte Schwester Josefina sie, und Bella wollte die losen Strähnen zurückstecken, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten.

„Ihre Frisur?“, rief Alejandra aus. „Sie kann doch nicht in diesem Kleid gehen!“

„Warum nicht?“ Bella blickte verwirrt an sich hinunter. Sie sah genauso aus wie immer, eher sogar noch etwas ordentlicher als sonst. Sie strich ihr Haar zurück.

„In dieser …“, Alejandra fuchtelte mit den Händen, „… dieser Klosterkleidung! Sie hat ihren Ehemann seit acht Jahren nicht gesehen, da kann sie doch nicht so gehen!“

„Ja, sie braucht irgendetwas Hübsches“, stimmte Dolores zu.

Bella zeigte auf ihr schlichtes, in Dunkelbraun- und Grautönen gehaltenes Kleid. „Ich besitze nichts Hübsches.“ Sie war ohne jegliches Gepäck im Kloster eingetroffen und war seither von den Nonnen gekleidet worden. Das hatte ihr nie etwas ausgemacht. Bis jetzt.

„Du nicht, aber ich“, sagte Alejandra. Sie drehte sich zu Schwester Josefina um. „Schwester, lassen Sie uns Bella hübsch machen für ihren Ehemann. Bitte, Schwester, wir brauchen auch nicht lange.“

„Ja, bitte, bitte, Schwester!“, riefen die anderen Mädchen.

Die junge Nonne blickte zwischen den eifrigen Mädchen und Isabella in ihrer tristen Kleidung hin und her. „Aber dann beeilt euch“, sagte sie. „Die Mutter Oberin wartet.“

 

Luke saß Isabellas Tante an deren Schreibtisch gegenüber und zwang sich, äußerlich ganz ruhig zu bleiben. Sie war inzwischen die Mutter Oberin und schien es nicht eilig zu haben. Er hatte seine Pferde draußen vor dem Kloster in der Obhut eines schmuddeligen Jungen zurückgelassen. Es herrschten immer noch schlechte Zeiten in Spanien, und in den Bergen wimmelte es zweifelsohne nach wie vor von Banditen. Die meisten von ihnen fingen schon in jungen Jahren an, zu stehlen.

„Sie wird gleich hier sein, Lieutenant Ripton.“ Isabellas Tante ist in den letzten Jahren stark gealtert, dachte Luke. Ihr Gesicht unter der strengen Nonnenhaube war schmaler geworden, ihre blasse, von feinen Falten durchzogene Haut spannte über den hohen Wangenknochen. Der Krieg hatte auch von ihr seinen Tribut gefordert.

„Lord Ripton“, verbesserte er sie. Sie zog die Augenbrauen hoch, und er erklärte: „Ich habe den Titel von meinem Onkel geerbt, der bei einem Schiffsunglück ertrunken ist.“

„Mir war nicht bewusst, dass Sie der Erbe einer …?“

„Ich habe eine Baronie geerbt. Damit war eigentlich auch nicht zu rechnen, aber die beiden Söhne meines Onkels sind mit ihm zusammen ertrunken, und so gingen der Titel und die Besitztümer auf mich über.“

„Die Besitztümer?“, fragte sie behutsam nach. Wie auch immer diese Ehe zustande gekommen war, bei jeder Verbindung ging es in erster Linie immer noch um Blut und Vermögen. Schließlich war sie Isabellas Tante.

Luke hatte jedoch nicht vor, sich darüber auszulassen. „Es genügt, wenn ich sage, dass ich nicht auf Isabellas Vermögen angewiesen bin. Wie geht es ihr?“

„Isabella geht es gut. Sie ist inzwischen erwachsen, in zwei Wochen wird sie einundzwanzig. Ich bin mir sicher, sie wird überrascht sein, Sie nach dieser langen Zeit wiederzusehen.“ Ihr Tonfall klang scharf bei den letzten Worten.

Das ärgerte Luke. Er zog den Brief hervor, den er erhalten hatte, und kam ohne Umschweife zur Sache. „In diesem Brief wird mein Antrag auf eine Annullierung der Ehe abgelehnt. Unter anderem steht dort, ‚aufgrund von Informationen, die uns von der Mutter Oberin des Klosters der Engel übermittelt wurden‘.“ Er legte ihr den Brief vor. „Vor acht Jahren sagten Sie mir, dass einer Annullierung nichts im Wege stehen würde!“

Sie hielt seinem Blick stand. „Damals wusste ich auch noch nicht, dass Isabella keine Jungfrau mehr war.“

Keine Jungfrau? Verdammt! Dann hat sie dieser Schurke doch … Luke war sich sicher gewesen, sie noch rechtzeitig gerettet zu haben, aber offensichtlich war dem nicht so. Etwas anderes fiel ihm plötzlich ein, und er runzelte die Stirn. „Sagen Sie nicht, dass sie …“

„Nein, die Sache hatte keine unglücklichen Folgen“, erwiderte die Mutter Oberin ernst. „Isabella selbst hat mir von dem Überfall erzählt – sie litt danach unter Albträumen, wissen Sie. Aber was geschehen ist, ist geschehen, und somit …“ Sie hob resigniert die schmalen Hände.

Luke nickte. „Wie hat Isabella die Nachricht aufgenommen?“

„Isabella ist eine Dame, von ihrer Geburt, aber auch ihrer Erziehung her.“

Mit anderen Worten, Isabella hatte sich so wie er in ihr Schicksal gefügt. Nun gut.

Die Mutter Oberin faltete die Hände und sah Luke fragend an. „Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus, Lord Ripton?“

„Wir brechen umgehend nach England auf.“

Die elegant geschwungenen Augenbrauen verschwanden beinahe unter ihrem Nonnenschleier. „Umgehend?“

„Morgen früh“, räumte er ein. Wahrscheinlich musste Isabella noch packen. Aber je eher er aus diesem verfluchten Land wieder verschwinden konnte, desto besser.

Die Nonne neigte anmutig den Kopf. „Dann wird das Isabellas letzte Nacht im Kloster sein. Wir werden ein kleines Abschiedsdinner für sie geben. Sie sind selbstverständlich eingeladen.“

Stille breitete sich aus. Luke trommelte leise mit den Fingern auf die Tischplatte. Die Mutter Oberin betrachtete ihn nachdenklich. Er hörte auf zu trommeln. Wo zum Teufel steckte Isabella? Sie ließ sich reichlich viel Zeit.

Die Mutter Oberin begann, ihm die Geschichte des Klosters zu erzählen und welche Bewandtnis es mit dem zerbrochenen Engel hatte. Sie warf ihm einen nicht zu deutenden Blick zu, als er schon zum dritten Mal seine Sitzhaltung veränderte.

Still zu sitzen, war nicht gerade Lukes Stärke. Geschichten über ein Kloster waren es ebenfalls nicht, wenigstens nicht diese Art von Geschichten.

Die Mutter Oberin wechselte das Thema und kam auf seine Braut zu sprechen. Seine Braut.

„Isabella ist wirklich ein gutes Mädchen. Etwas hitzköpfig und impulsiv vielleicht – aber das war ihr Vater als Junge auch. Sie wird ausgeglichener werden, wenn sie erst einmal Aufgaben für Erwachsene übertragen bekommt. Das ist das Problem – sie ist für das Klosterleben nicht geschaffen. Sie neigt einfach nicht zu innerer Einkehr.“

Luke ebenfalls nicht. Er sah sich in dem Raum um. Gott, er wäre verrückt geworden, wenn man ihn acht Jahre lang an diesem Ort festgehalten hätte!

Er erinnerte sich an Isabellas Angst, als er sie vor all diesen Jahren hierhergebracht hatte. Sie war auf einmal in Panik geraten und hatte ihn angefleht, sie nicht dort zu lassen, sondern sie mitzunehmen. Natürlich war das unmöglich gewesen. Er sah sie noch vor sich als übel zugerichtetes kleines Ding mit den großen Augen, sein kleiner aus dem Nest gefallener Jungvogel. Hatte sie sich in den letzten Jahren zu einem schönen Schwan gemausert? Hoffen durfte man ja.

Acht Jahre … Wo war die Zeit nur geblieben? Er konnte es immer noch nicht glauben, dass sie nun tatsächlich seine Ehefrau sein würde bis ans Ende ihres gemeinsamen Lebens.

„Und dann ist da noch die Sache mit dem Nähen.“ Die Mutter Oberin hielt inne, und Luke merkte, dass sie seine Konzentration auf die Probe stellen wollte.

„Mit dem Nähen?“, wiederholte er und bemühte sich, interessiert zu wirken. Wo blieb das Mädchen bloß? Er wollte die Sache schnell hinter sich bringen, wollte seine Braut sehen, alles Weitere in die Wege leiten und dann diesem verwünschten Land so rasch wie möglich den Rücken kehren. Er ertappte sich dabei, dass er die Stelle genau unterhalb seiner linken Schulter rieb, und hörte damit auf.

„Hoffentlich erwarten Sie keine erlesenen Stickereien von Ihrer Frau.“

„Erlesene Stickereien?“, echote er verständnislos.

„Unser Kloster ist berühmt für seine Stickereien“, erwiderte die Mutter Oberin mit leisem Vorwurf in der Stimme. „Weltberühmt.“

Als ob er von solchen Dingen eine Ahnung gehabt hätte! „Ich gratuliere“, sagte er höflich. Wo war dieser Fratz nur? Trödelte das Mädchen absichtlich? Hatte es vielleicht andere Pläne? Die Heirat mit irgendeinem Spanier, zum Beispiel? Nein. In dieser von Nonnen bewachten Festung in den Bergen hätte sie unmöglich jemanden kennenlernen können. Obwohl die Spanier dazu neigten, solche Dinge zu arrangieren …

„Isabella hat es leider nie gelernt, feine Näharbeiten anzufertigen.“

„Es interessiert mich nicht, ob sie nähen kann oder nicht“, gab er ungehalten zurück. Im Moment fragte er sich eher, ob sie überhaupt einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Wo war sie?

Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er vielleicht befürchtet, er wäre nervös. Aber das war natürlich Unsinn. Da war nichts, weswegen man hätte nervös sein sollen. Es war unwiderlegbar, sie waren verheiratet. Es gab kein Zurück. Für immer aneinander gefesselt.

Wenn er sich jetzt etwas kribbelig fühlte, dann hatte das nichts damit zu tun, dass er seine Frau nach acht Jahren wiedersehen sollte. Es lag nur daran, dass er sich in diesem grässlichen Land aufhielt. Er musste weg von hier. Auf der Stelle!

„Ich hoffe doch sehr, dass Sie sich für das interessieren, worauf sich Ihre Frau gut versteht“, meinte die Mutter Oberin streng. Luke kam sich vor, als würde er wie ein Kind zurechtgewiesen. „Interesse für die täglichen Angelegenheiten einer Gemahlin zu zeigen, stärkt die Ehe. Eine vernachlässigte Frau ist eine unglückliche Frau.“

Verdammt! Ausgerechnet eine Nonne belehrte ihn über die Ehe. „Isabella lässt sich ziemlich viel Zeit“, stellte er kühl fest. „Gibt es ein Problem?“

Sie warf ihm einen nachdenklichen Blick zu und griff nach ihrer kleinen Glocke, aber ehe sie läuten konnte, klopfte es an der Tür.

Luke zuckte zusammen, als hätte jemand einen Pistolenschuss abgegeben. Er richtete sein Halstuch und strich sich das Haar zurück.

„Herein“, rief die Mutter Oberin, und dann schwang die schwere Eichentür langsam auf.

Ein kleines, dünnes Mädchen in einem überladen wirkenden Rüschenkleid trat ein; sein kunstvoll gelocktes Haar war hochgesteckt und mit einer Spitzenmantilla versehen. Das Gesicht war mit Puder blass geschminkt, der kleine Mund leuchtete rot und die Wangen glühten in derselben Farbe. Das Mädchen knickste und warf ihm einen scheuen Blick aus riesigen goldbraunen Augen zu. Er erinnerte sich an diese Augen. Das also war seine Braut.

 

Luke erhob sich höflich und hoffte, dass man ihm seine Enttäuschung nicht anmerkte.

4. Kapitel

Das also war ihr Ehemann. Isabella versuchte, ihn nicht unverhohlen anzustarren.

Er war noch schöner, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Vor acht Jahren hatte sie ihn mit den Augen eines Kindes gesehen; er war ihr Retter gewesen, und sie musste zugeben, dass er in ihren Vorstellungen allmählich die Gestalt des Engels auf der Statue angenommen hatte. Schließlich hatte sie ihn ja nur einen Tag gekannt.

Aber jetzt war sie kein Kind mehr und er … er war atemberaubend. Groß und dunkel, die Haut von der Sonne braun gebrannt, ein dunkler Goldton auf den hohen Wangenknochen. Seine Nase war kühn und gerade, sein Mund ernst und schön. Und seine Augen … so dunkel, dass sie beinahe schwarz wirkten, aber sie wusste von damals, dass sie dunkelblau waren, das dunkelste Blau, das sie je gesehen hatte. Doch von diesem Blau war nichts mehr zu erkennen.

All die Nächte, in denen sie von ihm geträumt hatte … Und nun das. Er war nicht mehr derselbe.

Sie hatte ihn sehr groß und stark in Erinnerung, mit einer geschmeidigen, eleganten Art, sich zu bewegen. Jetzt kam er ihr noch größer vor, irgendwie … massiger, seine Schultern und seine Brust wirkten breiter. Ein Mann, kein Junge mehr, mit der Haltung eines Soldaten – nein, eines Jägers. Sprungbereit, angespannt, wachsam.

Bei genauerem Hinsehen nahm sie noch andere Veränderungen an ihm wahr. Das Strahlende und die Spannkraft der Jugend waren verschwunden und hatten einen Ausdruck von Härte und Verbitterung zurückgelassen. Und Zynismus, dachte sie beim Anblick des gut geschnittenen, aber harten Mundes.

Der Krieg hatte bei ihnen allen Spuren hinterlassen.

Lieutenant Ripton mochte schön wie ein Engel sein – ein sehr ernster Engel, wie Schwester Josefina gesagt hatte –, aber in seinem Blick lag eine Dunkelheit, die nicht mehr das Geringste mit einem Engel zu tun hatte. Höchstens mit einem zerbrochenen Engel.

Diese Augen, die in ihrer Erinnerung gefunkelt hatten, betrachteten sie jetzt ausdruckslos und abschätzend.

Sie schluckte und hielt den Kopf höher, denn sie wusste, was er in ihr sehen würde, wusste, dass sie nicht zueinanderpassten. Die Mädchen hatten sich alle Mühe gegeben, sie so schön wie möglich aussehen zu lassen. Es war nicht deren Schuld, dass sie aussah, wie sie nun einmal aussah. Sie wusste, dass sie niemals eine Schönheit sein würde. Sie wünschte sich verzweifelt, dass er sie wenigstens hübsch fand.

Doch sie sah ihm an, dass dem nicht so war.

Lieber Gott, es war wieder genau wie bei Papa und Mama; Papa, der schöne Adler, der hoch am Himmel seine Kreise zog, und Mama, die unscheinbare kleine Taube, die sich vor Liebe zu einem Ehemann verzehrte, der sie nie eines zweiten Blickes würdigte.

Mamas Worte kamen ihr ungewollt wieder in den Sinn. Hüte dein Herz, mein Kleines, denn Liebe ist Schmerz. Liebe ist nichts als Schmerz.

Lieutenant Ripton war immer noch der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Den Mädchen würde es die Sprache verschlagen.

Und sie, Isabella, war nicht ihre Mutter.

„Isabella, wie geht es Ihnen?“, fragte er und seine Stimme klang tief. O ja, sie erinnerte sich an diese Stimme und daran, wie sie in ihr nachzuklingen schien, auch wenn er jetzt wie ein höflicher Fremder zu ihr sprach.

Es gelang ihr, eine ehrerbietige Antwort zu geben – irgendetwas Banales, davon war sie überzeugt. Aber genau deshalb werden Kindern gute Manieren beigebracht, dachte sie zusammenhanglos, damit sie instinktiv das Richtige erwiderten, wenn ihnen einmal nicht einfiel, was sie sagen sollten.

Er verneigte sich und beugte sich über ihre Hand.

Sein dunkles dichtes Haar war ordentlich nach hinten gekämmt. Sie hatte es ständig vom Wind zerzaust in Erinnerung. Jetzt wirkte es beinahe … widerwillig gebändigt. Sie hätte es gern berührt und mit ihren Fingern wieder in Unordnung gebracht, so wie es früher gewesen war. Die Mutter Oberin hätte wohl der Schlag getroffen.

Aber vielleicht würde es Lieutenant Ripton auch nicht gefallen. In seinem Blick lag keine Wärme, so wie damals. Doch möglicherweise war er ebenfalls nur nervös.

Er drückte die Lippen auf Isabellas Handrücken, ein flüchtiges und trockenes Gefühl, das schon wieder vorbei war, ehe sie es überhaupt richtig wahrnehmen konnte. Einen Handkuss konnte man das wohl kaum nennen.

Und es war ganz eindeutig nicht die Art von Kuss, von dem sie all die Jahre geträumt hatte. Das Ganze erinnerte eher an die Begegnung zweier völlig Fremder, als an eine glorreiche Wiedervereinigung. Er hatte sie noch nicht einmal angelächelt.

Ich habe ihn allerdings auch nicht angelächelt, sagte sie sich. Es lag an ihrer Nervosität, nur an ihrer Nervosität.

Sie beobachtete ihn, als er sich wieder aufgerichtet hatte, und versuchte, die Veränderungen in sich aufzunehmen, die mit ihm vorgegangen waren, die Verwandlung von einem Jüngling in einen Mann. Er war immer noch jung, jünger als sie erwartet hatte. Sie war sich sicher, dass er noch keine dreißig war. Als Kind hatte sie ihn für viel älter gehalten.

„Wie alt sind Sie?“, entfuhr es ihr.

„Wie bitte?“, fragte er, und im selben Moment hörte Isabella die Mutter Oberin seufzen. Diese Isabella Ripton, ständig musste sie ins Fettnäpfchen treten.

Schade, dachte Isabella. Sie wollte das wirklich wissen, und es war nicht unhöflich, danach zu fragen. Schließlich war er ihr Ehemann. Ihr Ehemann!

„Wie alt sind Sie?“ Sie wollte alles über ihn wissen.

„Achtundzwanzig.“

„Also waren Sie zwanzig, als wir geheiratet haben.“ Jünger als sie jetzt.

„Genauer gesagt: neunzehn. Ich wurde erst ein paar Wochen später zwanzig.“

Sie nickte. Das erklärte, warum er so verändert war; er war noch beinahe ein Junge gewesen, als sie geheiratet hatten, ein unglaublich hübscher Jüngling voller Lebensfreude. Jetzt war er ein Mann, noch immer unfassbar gut aussehend, aber die Erfahrungen des Krieges hatten ihn gezeichnet.

Sie verspürte ein plötzliches Gefühl der Enge in der Brust, als würde ihr Herz anschwellen. Dieser Mann, dieser ernste, schöne Mann würde ihr Ehemann sein. War ihr Ehemann.

Ihre Jungmädchenträume hatten sich also doch nicht in nichts aufgelöst, es hatte sich nur eine schützende Hülle darumgelegt. Jetzt stand er da, groß, ernst, schön, und musterte sie genauso eingehend wie sie ihn. So viele Erinnerungen an ihn erwachten wieder zum Leben, allein durch seine körperliche Nähe.

Sie verschlang ihn mit Blicken. Lieutenant Ripton, ihr Lieutenant Ripton war endlich gekommen, um sie zu holen! Er hatte sie nicht vergessen. Er war hier.

„Sie sind erwachsen geworden“, stellte er fest und sah sie mit seinen dunklen Augen an. Sie erkannte seine langen Wimpern wieder, diese langen, langen Wimpern. Sie hatte immer gedacht, dass es nicht gerecht war, wenn ein Mann so lange Wimpern hatte. Sie verschlugen ihr den Atem, diese Wimpern …

Ihre geheimsten Hoffnungen und Träume aus der Mädchenzeit regten sich wieder in ihr, wie Blumen, die lange unter dem kalten Schnee des Winters geschlafen hatten und nun neu austrieben und die zarten Blüten der Sonne entgegenreckten.

Ja, er betrachtete sie. Was dachte er dabei? Gefiel ihm, was er sah? Und was genau sah er?

Wieder wünschte sie, sie hätte ein ordentliches Kleid gehabt, eins, das ihr richtig gut passte und das ihr gefiel, anstatt dieses überladene Rüschenkleid. Sie hatte es von Paloma leihen müssen, alle anderen waren ihr zu kurz gewesen.

Sie überlegte angestrengt, was sie sagen sollte, irgendetwas Kluges, Interessantes, das diesen großen, ernsten Mann dazu brachte, sie anzusehen, sie zu sehen und nicht dieses alberne aufgetakelte Püppchen, das die Mädchen aus ihr gemacht hatten.

„Wie war … wie war der Krieg?“, fragte sie und wand sich innerlich wegen dieser ungeschickten Frage. Am liebsten wäre sie hinausgegangen und hätte mit dieser Begegnung noch einmal ganz von vorne angefangen.

Er wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster zum Hof. „Wie Sie sehen, habe ich überlebt.“ Plötzlich schien es etwas kühler im Zimmer zu werden.

Soviel zu diesem Thema, dachte sie. Sie hätte lieber nach seiner Reise fragen sollen. Das tat man, wenn jemand eine lange anstrengende Reise hinter sich hatte.

Er war wirklich ein Fremder. Sie hatte geglaubt, ihn zu kennen, weil er so lange in ihren Träumen existiert hatte, aber dieser Mann war nicht ihr Märchenprinz, nicht der Lieutenant Ripton aus ihren Träumen. Er war ein anderer, ein kalter, zurückhaltender Fremder. Sie wusste gar nichts über Lieutenant Ripton. Und nun war er gekommen, um sie abzuholen.

„Warum jetzt?“, fragte sie, ohne nachzudenken.

„Isabella!“, tadelte die Mutter Oberin vorwurfsvoll.

„Wie bitte?“ Lieutenant Ripton bedachte sie mit einem kühlen, gelassenen Blick, der sie wohl dazu bringen sollte – dessen war sie sich plötzlich sicher –, ihre Frage zurückzunehmen und das Thema zu wechseln.

Dieser Blick ärgerte sie. Vor allem, weil er aus Augen mit so schönen langen Wimpern kam. Solchen Augen stand es nicht zu, so kalte Blicke zu werfen.

Sie öffnete den Mund.

„Isabella, es reicht!“, mahnte die Mutter Oberin und setzte ihr berühmtes Untersteh-dich!-Gesicht auf. Normalerweise brachte es Isabella und jedes andere Mädchen im Kloster sofort zum Schweigen.

Doch Isabella war kein Schulmädchen mehr. Das hier war ihr Ehemann, und sie hatte ein Recht darauf zu erfahren, warum er sie endlose acht Jahre im Kloster gelassen hatte. Und warum er plötzlich wieder auftauchte, als sie schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, ihn jemals wiederzusehen.

„Warum sind Sie erst jetzt gekommen, um mich abzuholen, Lieutenant Ripton?“

„Ich bin nicht länger Lieutenant. Ich habe die Armee als Captain verlassen“, korrigierte er sie. „Und vorletztes Jahr habe ich den Titel und den Besitz meines Onkels geerbt und bin nun Lord Ripton. Das bedeutet, dass Sie jetzt Lady Ripton sind.“

Diese Information berührte sie nur am Rande. Danach hatte sie ihn nicht gefragt. „Und doch habe ich in den letzten Jahren nichts von Ihnen gehört. Der Krieg ist schon seit einigen Jahren vorbei, warum haben Sie also mit Ihrem Kommen bis jetzt gewartet?“ Hatte das vielleicht etwas mit seinem Titel zu tun gehabt? Ein Dienst für die Krone? Eine Kriegsverletzung, die lange Jahre nicht verheilt war? Aber eigentlich schien er in hervorragender körperlicher Verfassung zu sein.

Er runzelte die Stirn, als ergäbe ihre Frage keinen Sinn. „Warum jetzt?“, wiederholte er schroff. „Weil ich erst jetzt erfahren habe, dass der Antrag auf Annullierung abgelehnt worden ist.“

Die Worte trafen sie wie ein Schlag. „Annullierung?“

„Ganz recht, Annullierung“, wiederholte er, als wäre sie schwer von Begriff.

„Sie haben versucht, die Ehe annullieren zu lassen? Unsere Ehe? Und dann haben Sie erfahren, dass das nicht möglich ist?“

„Richtig.“ Er sah sie fragend an, und die Falten auf seiner Stirn vertieften sich.

Sie starrte ihn an. Wie nüchtern er das vorbrachte! Ihre eben noch neu erwachten Träume und Hoffnungen zerschlugen sich, als ihr plötzlich alles klar wurde. „Also sind Sie erst jetzt gekommen, weil Ihnen nichts anderes übrig blieb. Weil Sie aus dieser Ehe nicht mehr herauskommen und – ach ja, natürlich! – weil Sie jetzt Lord Ripton sind und einen legitimen Erben brauchen. Habe ich recht?“

Er nickte steif. „Ja, aber …“

„Und um diesen Erben zu bekommen, brauchen Sie eine Ehefrau. Da dachten Sie, stimmt, ich hatte vor acht Jahren ja mal eine, aber, wo … Wo habe ich sie nur gelassen? Ach ja, in einem Kloster, wo sie sich in der Obhut von Nonnen befindet und niemandem zur Last fallen kann. Und jetzt, da Sie mich nicht mehr loswerden können, sind Sie gekommen, um mich abzuholen wie ein Paket, das Sie auf irgendeinem Regal abgelegt und dort völlig vergessen hatten. Habe ich recht?“

Heiße Tränen der Demütigung brannten in ihren Augen, doch sie kämpfte dagegen an. Lieber wollte sie sterben, als ihn spüren zu lassen, wie sehr er sie verletzt hatte.

Das wollte sie auch keinem anderen zeigen. Ach, wie hatte sie vor Kurzem noch geprahlt … Dieses Triumphgefühl, mit dem sie das Nähzimmer vorhin verlassen hatte! Ihr Prinz war endlich gekommen.

Doch nur, weil er vergeblich versucht hatte, sie loszuwerden.

Er schwieg eine ganze Weile. „Ich kann verstehen, dass Sie aufgebracht sind, aber …“

„Bitte, entschuldigen Sie mich. Ich fühle mich … nicht ganz wohl.“ Einen letzten Rest von Würde aufbringend, verließ sie eilig das Zimmer.

 

Bella rannte durch die stillen Flure. Man würde ihr eine Buße auferlegen, wenn sie beim Rennen ertappt wurde, doch das war ihr gleich. Sie war kein Schulmädchen mehr. Sie musste fort von hier, nachdenken, verstehen …

Sie war auf dem Weg zu ihrem Lieblingsplatz, einem kleinen Innenhof am anderen Ende des Klosters, schattig im Sommer und sonnendurchflutet im Winter. Der richtige Ort zum Nachdenken, hatte die Mutter Oberin einmal gesagt, als sie Bella dort angetroffen hatte.

Auch damals hatte sie geweint. Verzweifelt, weil sie immer wieder kämpfen und die Ehre ihres abwesenden Ehemanns verteidigen musste. Seine Ehre …

Der Gedanke löste eine weitere Flut zorniger, bitterer Tränen aus, als sie sich auf die kalte Steinbank setzte, auf der sie schon so oft ihren Kummer ausgeweint hatte.

Die anderen Mädchen hatten von Anfang an recht gehabt. Die dumme, dickköpfige Isabella Ripton hatte acht Jahre gebraucht, um die Wahrheit zu sehen, die die anderen schon von Anfang an erkannt hatten. Er hatte sie gar nicht gewollt. Er hatte sie ihrem Schicksal überlassen. Und er hatte versucht, ihre Ehe annullieren zu lassen.

Vergeblich.

Ihr war schlecht. Sie war am Boden zerstört. Wütend. Er dachte, er könnte einfach kommen und sie abholen. Isabella, das Paket. Auf einem Regal abgelegt, bis er sich wieder an sie erinnerte.

Weil er einen Erben brauchte.

Er brauchte nicht sie, nur eine Ehefrau.

Er wollte nicht sie, nur einen Erben.

All die Jahre, in denen sie sich so um ihn gesorgt hatte. Was für eine Närrin sie doch gewesen war!

Sie wischte sich energisch die Tränen von den Wangen. Ihre Finger waren rosa und verschmiert – Palomas Schminke. Sie zog ein Taschentuch aus dem Mieder ihres Kleides und rieb damit über ihr Gesicht, um den Reispuder und das Rouge zu entfernen. Warum hatte sie sich bloß von den Mädchen seinetwegen wie eine alberne Puppe herrichten lassen? Von ihm aus hätte sie genauso gut in Sack und Asche gehen können.

Die Demütigung fraß sich durch ihr Inneres wie ein wütendes Tier. Sie fühlte sich krank. Wie töricht von ihr, sich so auftakeln zu lassen, bereit für eine romantische Wiedervereinigung.

So viele Male hatte sie in diesem kleinen sonnigen Hof gesessen und sich an ihre Hochzeit erinnert. Um bei der Wahrheit zu bleiben: An sehr vieles davon erinnerte sie sich nicht, nur dass sie in der kleinen Dorfkirche vor dem Pfarrer gestanden hatte, der die Trauung auf Latein vollzogen hatte. Sie wusste noch, dass sie Lieutenant Riptons Hand gehalten hatte; seine so groß und warm und ihre eigene so klein und kalt. Es war kühl in der Kirche gewesen, und er hatte mit dem Daumen leicht über ihre Hand gestrichen, ein stummes Versprechen, dass alles gut werden würde, genauso wie er es ihr auch schon auf der Waldlichtung versprochen hatte …

Der Pfarrer stellte eine Frage und genau in dem Moment, als Lieutenant Ripton antwortete, fiel ein Sonnenstrahl durch eins der schmalen Kirchenfenster auf sein Gesicht und er sah aus wie ein Engel.

Er hatte sie angesehen und gelächelt, nur mit seinen Augen, und sie hatte sich so geborgen gefühlt, als ruhte ein Segen auf ihr. Dieser goldene Sonnenstrahl, dessen war sie sich sicher gewesen, war ein Zeichen, dass ihre Heirat gesegnet worden, dass sie vorherbestimmt war.

Törichte, verträumte Närrin …

Wenn die anderen herausfanden, dass er versucht hatte, die Ehe annullieren zu lassen … Wie sehr würden sie sie bemitleiden. Das konnte sie nicht ertragen!

Es hatte einmal Getuschel gegeben über die Cousine eines der Mädchen, deren Ehe annulliert worden war, weil die junge Frau ihrem Ehemann nicht gefiel. Sie wurde in Schande zurück nach Hause geschickt.

Wie viel schlimmer war es, wenn der Ehemann eine Annullierung beantragte – und ihm diese dann verweigert wurde? Nichts als Scham und Schande und keine Hoffnung auf Entrinnen. Sie würde zu einer dieser Geschichten werden, die sich die Mädchen hinter vorgehaltener Hand erzählten. Die größtmögliche öffentliche und niemals endende Demütigung.

„Isabella?“, ertönte die Stimme der Mutter Oberin vom Eingang zum Innenhof her.

Bella wischte sich hastig über die Augen und drehte sich zu ihr um. Sie rechnete fest damit, gescholten zu werden, doch es war zwar äußerlich die Mutter Oberin, die auf sie zukam, aber im Herzen die Tante, die mitfühlend und liebevoll die Arme nach ihr ausstreckte. „Ach, mein Liebes!“

Isabella schmiegte sich in die Umarmung und brach erneut in Tränen aus.

„Liebes, ich dachte, du hättest es gewusst“, sagte die Mutter Oberin, als Isabellas Tränen endlich langsam versiegten. Sie reichte ihr ein sauberes Taschentuch. „Wisch dir die Augen trocken und putz dir die Nase.“

„Wie meinst du das, ich hätte es gewusst? Wie hätte ich das wissen sollen?“ Isabella schnäuzte sich geräuschvoll.

„Lord Ripton hat recht; es war von Anfang an geplant, die Ehe annullieren zu lassen.“

„Ist das wahr?“, flüsterte Isabella.

Ihre Tante nickte. „Ich dachte, du hättest das gewusst.“ Sie drückte ihre Nichte mitleidig an sich. „Aber ich weiß, an jenem Tag stürzten sehr viele Eindrücke auf dich ein, und du warst noch ein Kind, daher ist es sicher verständlich, dass du nicht alles in Gänze begriffen hast.“

„Aber …“ Isabella schluckte gegen den Kloß in ihrer Kehle an.

„Lord Ripton hat dich nur geheiratet, um dich vor einer Zwangsehe mit Ramón zu bewahren.“

Isabella nickte. „Das wusste ich. Aber es war trotzdem eine richtige Trauung. Oder etwa nicht?“

„Natürlich war sie rechtskräftig, doch zu der Zeit war sie nur eine Maßnahme, um dich zu schützen. Seine Absicht – unsere Absicht – war, die Ehe annullieren zu lassen, wenn du einundzwanzig sein würdest.“ Sie tätschelte Isabellas Hand. „Er wollte dir die Freiheit schenken, deine Wahl selbst treffen zu können, Liebes.“

„Warum hast du mich nicht gewarnt?“, fragte Isabella gekränkt. „Du musst doch … Hast du denn nicht gewusst, was ich für ihn empfinde – empfand?“

Ein reumütiger Ausdruck huschte über die Züge der Mutter Oberin. „Ich konnte natürlich sehen, dass du eine Art Schulmädchenschwärmerei für ihn entwickelt hattest, nicht sonderlich überraschend, wenn man von einem jungen Mann gerettet wird und von einem so gut aussehenden noch dazu. Ich glaubte jedoch, dass du dieser Schwärmerei eines Tages entwachsen würdest, und so kam es auch.“ Sie betrachtete Isabella mit einer Mischung aus Sorge und Zweifeln. „Oder?“

„Ja“, erwiderte diese dumpf. Ja, so ist es, sagte sie sich. Sie empfand gar nichts mehr für ihn – nicht mehr.

Ihr war beinahe übel vor Scham und Erniedrigung. Wie töricht, sich über ein Arrangement aufzuregen, das schon vor acht Jahren beschlossene Sache gewesen war. In ihrer Dummheit hatte sie das nur einfach vergessen.

All die Träume, all diese hoffnungslos romantischen Geschichten, die sie über ihren Ehemann erzählt hatte! Alles nur törichte, eitle und kindische … Lügen.

Sie starrte nach unten auf die abgetretenen Pflastersteine des Innenhofs und wünschte, in den Erdboden darunter versinken zu können.

„Wie dem auch sei“, fuhr die Mutter Oberin fort, „kurz nach deiner Ankunft hier wusste ich, dass eine Annullierung nicht mehr infrage kam.“

„Woher wusstest du das?“

„Liebes, du hattest mir doch selbst von dem Überfall erzählt.“

„Ja, aber … Was hat das damit zu tun? Lag es daran, dass Lieutenant Ripton den Mann getötet hat? Weil der Mann ein Deserteur war und …“

„Nein, Liebes, es lag daran, dass der Mann … nun ja … Er hat dich kompromittiert und dir deine Unschuld genommen. Deshalb konnte es keine Annullierung geben.“

„Aber es war doch gar nicht Lieutenant Ripton, der …“

„Nein, natürlich nicht. Aber nach dieser Sache hätte dich kein anderer Mann – kein Gentleman, meine ich – mehr zur Frau haben wollen.“

Isabella runzelte die Stirn. „Lieutenant Ripton ist ein Gentleman.“

„Das ist er in der Tat und nun auch noch einer mit einem Adelstitel – du musst dir wirklich angewöhnen, ihn Lord Ripton zu nennen –, daher sollten wir wirklich dankbar sein, dass er in dieser Angelegenheit so viel Nachsicht zeigt.“

Isabella spielte mit ihrem Taschentuch. Jetzt sollte sie also dankbar sein, weil er bereit war, über ihren schrecklichen Makel hinwegzusehen – weil er gar keine andere Wahl hatte. Dankbar, weil er gekommen war, sein mit einem Makel behaftetes Paket abzuholen, das kein anderer Gentleman mehr haben wollte!

Dankbar dafür, dass sie in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht hatte, dass sie mit einem Mann mitgehen musste, der sie eindeutig nicht haben wollte, aber bereit war, sie mit Nachsicht zu behandeln.

Törichte Isabella Ripton, die von Liebe geträumt hatte, obwohl das Schicksal gerade einmal Nachsicht für sie bereithielt.

Sie wickelte sich das Taschentuch so fest um die Finger, dass es schmerzte. Nun würde sie in dieser unerwünschten Ehe genauso eingeschlossen sein wie all die Jahre hinter Klostermauern.

„Isabella? Hast du verstanden, was ich dir eben gesagt habe?“

Isabella nickte, als hätte sie sich mit dem Gedanken ausgesöhnt, doch ihre Tante ließ sich nicht täuschen.

„Es ist eine gute Ehe“, beharrte sie. „Lord Ripton hat nicht den gleichen Rang wie dein Vater, aber er ist ein Gentleman mit einem Titel, ein guter Mann aus guter Familie, und er hat hervorragende Dienste im Krieg geleistet.“

„Woher weißt du von seinen Diensten im Krieg?“

Ihre Tante schnaubte. „Glaubst du etwa, ich hätte keine Erkundigungen über den Mann eingezogen, der meine Nichte geheiratet hat?“ Sie erhob sich. „Um Gottes willen, Isabella, mach nicht so ein tragisches Gesicht! Du wirst ein reiches, privilegiertes Leben an der Seite eines freundlichen, gut aussehenden Mannes führen. Du wirst auf elegante Bälle in London gehen und wundervolle Kleider tragen. Das ist weit mehr als das, worauf die meisten Mädchen hier hoffen dürfen, und jedes von ihnen würde sofort mit dir tauschen, wenn das möglich wäre. Jetzt nimm dich zusammen. Lord Ripton möchte dich sprechen.“

„Jetzt?“ Isabella tastete erschrocken nach ihrer Frisur. Sie musste einen schrecklichen Anblick bieten.

Aber Nonnen hatten grundsätzlich keinen Sinn für Eitelkeiten. „Ja, jetzt. Du hast ihn schon lange genug warten lassen.“

 

Luke lief im Kreuzgang auf und ab. Er war einigermaßen bestürzt über Isabellas Reaktion. Ganz offensichtlich hatte sie sich … Hoffnungen gemacht, was ihn betraf. Romantische Hoffnungen.

Frauen passierte das oft – sie warfen einen Blick auf sein Gesicht und sahen einen ganz anderen Menschen vor sich, als er eigentlich war, eine Art Helden nach dem Vorbild von Lord Byron, einen Mann zum Träumen und Schwärmen. Einen, um den sich alle ihre Fantasien drehten.

Er war wahrlich nicht geeignet, die Fantasien irgendeines jungen Mädchens zu beflügeln.

Er dachte daran, wie kreidebleich sie bei der Erkenntnis geworden war, dass er versucht hatte, die Ehe annullieren zu lassen. Er stieß einen leisen Fluch aus. Ein Mädchen, das beide Eltern im Krieg verloren hatte; das aus Angst vor einer Zwangsheirat mit einem verhassten Cousin von zu Hause geflohen war; das brutal überfallen worden und verzweifelt genug gewesen war, in eine Scheinehe mit einem Fremden einzuwilligen – wie konnte sich so ein Mädchen immer noch romantische Hoffnungen machen, sogar noch acht Jahre nach dem Vorfall?

Ihrer Reaktion nach zu urteilen, hatte sie es gekonnt. Und Luke musste jetzt irgendwie damit umgehen.

Es wäre grausam, sie in ihren Hoffnungen noch zu bestärken. Je eher sie begriff, dass diese Ehe ein eher zweckmäßiges Arrangement war, desto besser. Es war vielleicht nicht das, was ihnen beiden vorgeschwebt hatte, aber mit der richtigen Einstellung konnten sie das Beste aus der Situation machen und eine Ehe führen, die auf … Zufriedenheit beruhte.

Nach allem, was sie erlebt hatte, würde sie sicher tief im Innern zugeben, dass es so besser war. Fantasien und romantische Träume waren eine gefährliche Form der Selbsttäuschung, eine Falle für diejenigen, die unachtsam waren.

Das Leben war hart und Äußerlichkeiten konnten täuschen – und taten das auch. Schreckliche Dinge passierten, selbst den Menschen, die das gar nicht verdienten. Vor allem Menschen, die es nicht verdienten. Das musste sie doch eigentlich wissen.

Und wenn nicht, dann würde Luke es ihr schon klarmachen. Denn das Leben war nun einmal kein Märchen.

„Lord Ripton?“

Luke drehte sich um. „Mutter Oberin?“

„Isabella ist jetzt bereit, mit Ihnen zu sprechen.“

 

Er fand sie auf einer steinernen Bank in einem kleinen Innenhof.

„Es tut mir leid, dass wir Sie so aus der Fassung gebracht haben“, sagte er. „Mir war nicht klar, dass Sie keine Ahnung von der Annullierung hatten. Es war eigentlich kein Geheimnis.“

„Ich weiß“, erwiderte Isabella mit erstickter Stimme. Sie wandte das Gesicht ab.

„Es hatte nichts mit Ihnen persönlich zu tun.“

„Auch das weiß ich. Die Mutter Oberin hat es mir erklärt.“

Luke nickte. Ihm war nicht wohl, weil sie offensichtlich immer noch unglücklich war, aber er war entschlossen, ihr das zu sagen, was er ihr zu sagen hatte. „Doch nur, weil alles nicht so gekommen ist, wie wir es geplant hatten, heißt das noch lange nicht, dass es sich nicht zum Guten entwickeln kann. Solange wir wissen, was wir zu erwarten haben.“ Er holte tief Luft und fügte hinzu: „Und was wir nicht zu erwarten haben.“ Sie sagte nichts, und er fasste ihr Schweigen als Zustimmung auf, fortzufahren. „Zum Beispiel wäre es töricht von uns, die Art von Liebe zu erwarten, über die die Dichter schreiben. So wird unsere Ehe nicht sein.“

Sie sagte immer noch nichts.

„Ich hoffe jedoch, dass wir Freunde werden“, sprach er weiter. „Die Ehe ist eine Partnerschaft, und wenn wir zusammenarbeiten, können wir ein Leben voller …“ Er suchte nach dem richtigen Wort. „Ein Leben voller Zufriedenheit, ja, vielleicht sogar Glück führen. Ist das nicht ein erstrebenswertes Ziel?“ Sie antwortete nicht und er berührte ihre Schulter. „Isabella?“

Endlich drehte sie sich zu ihm um, ihre Augen waren verweint. Ihre kunstvolle Frisur hatte sich völlig aufgelöst, die Schminke in ihrem Gesicht war grotesk zerlaufen. Seltsamerweise erinnerte sie ihn wieder an das geschundene kleine Mädchen, das er geheiratet hatte, und, ohne nachzudenken, legte er ihr tröstend den Arm um die Schultern. „Nun, nun, meine Liebe, so schlimm wird es nicht werden, das verspreche ich Ihnen. Ich passe gut auf Sie auf, machen Sie sich keine Sorgen.“

„Das tue ich auch nicht“, entgegnete sie steif und rieb sich die Wangen. Ihre Hände waren schmal, braun und sie trug keinen Ring.

Luke tastete nach dem Ring in seiner Tasche. Nach dem Ring seiner Mutter. Trotz all ihrer Vorbehalte gegenüber dieser Ehe hatte sie ihn gefragt, ob er einen Ehering hätte. Auf seinen verständnislosen Blick hin hatte sie ihm schließlich ihren mitgegeben.

Er nahm Isabellas Hand. „Ich habe Ihnen einen Ehering mitgebracht.“

„Aber ich habe doch immer noch den Ring, den Sie mir damals geschenkt haben.“ Sie zog ihn aus ihrem Ausschnitt, seinen alten Siegelring, der an einem verschlissenen Band hing. Luke wusste noch, wie er ihn ihr damals gegeben hatte, als der Pfarrer danach gefragt hatte. Er war ihr damals zu weit gewesen und war es jetzt noch immer.

„Dieser hier wird Ihnen besser passen.“

„Wollen Sie den Siegelring zurückhaben?“ Sie schloss besitzergreifend die Finger um seinen alten Ring, und Luke verstand.

„Nein, behalten Sie ihn.“ Wieder griff er nach ihrer Hand, streifte ihr den goldenen Ehering über den Finger und küsste dann aus einem Impuls heraus ihre Handfläche.

Isabella erschauerte und entzog ihm hastig ihre Hand. „Sie kennen mich nicht einmal.“

„Und dennoch sind wir verheiratet.“

„Viele Ehen beginnen auf diese Weise“, ließ ihre Tante sich vom Eingang zum Innenhof her vernehmen. „Zum Beispiel die Ehe deiner eigenen Eltern, Isabella.“

„Das hier ist etwas anderes“, gab Isabella zurück.

„In der Tat“, stimmte Luke zu. „Das hier ist unsere Ehe und wir machen daraus, was wir wollen.“ Er drückte kurz ihre Hand und ging davon.

 

Isabella rieb sich die Augen. Er war so freundlich gewesen. So verständnisvoll. Es wäre ihr lieber gewesen, er hätte sie geschlagen, dann hätte sie es leichter ertragen können …

Die Demütigung war grenzenlos. Alles ihre eigene Schuld, denn Isabella Ripton war dumm, dumm, dumm! Da träumte sie wie ein törichtes Schulmädchen vor sich hin, anstatt auf das zu achten, was in der Wirklichkeit geschah.

Wäre er doch nur nicht so nett gewesen! Viel leichter wäre es ihr gefallen, zornig auf ihn zu sein, ihm Vorwürfe machen zu können. Er jedoch hatte ihr in den letzten acht Jahren Schutz durch seinen Namen gewährt, und nun wurde es Zeit, dass sie ihre Schulden bei ihm beglich.

Er hatte ihr ein Leben in Sicherheit und Zufriedenheit angeboten. Die Mutter Oberin hatte recht – und das war längst nicht alles. Sie würde ihren Platz in der englischen Gesellschaft einnehmen. Sie würde hübsche Kleider besitzen und auf Bälle gehen …

Sie biss sich auf die Unterlippe. Sie machte sich nichts aus Kleidern und Bällen. Aber das spielt keine Rolle, sagte sie sich. Es war nicht richtig von ihr, hier herumzusitzen und in Selbstmitleid zu ertrinken, während die arme Alejandra vielleicht gezwungen sein würde, einen schrecklichen alten vizconde mit Syphilis zu heiraten. Und die anderen heirateten womöglich nie.

Sie hatte Glück. Es gab so viele Gründe, warum sie eigentlich überglücklich hätte sein müssen, dass Lord Ripton gekommen war, um sie abzuholen.

Eine einzelne Träne rann ihr langsam über die Wange. Wütend wischte sie sie fort. Sie war die Tochter ihres Vaters und würde nicht wegen irgendetwas weinen, das man nicht ändern konnte.

Sie war kein Kind mehr, das mit seinem Schicksal haderte. Sie war eine Frau und würde ihr Glück selbst in die Hand nehmen.

 

Der schmutzige kleine Junge erschien wieder wie aus dem Nichts, als die Klosterpforte hinter Luke ins Schloss fiel. „Wollen Sie Ihre Pferde jetzt, señor?“

Luke dachte nach. „Wie weit ist es bis zum Dorf?“

„Nur ein paar Schritte“, versicherte der Junge.

„Gibt es dort ein Gasthaus?“

Der Junge musste lachen über diese Frage. „Das nächste Gasthaus befindet sich mehr als zehn Meilen von hier, señor. Aber wenn Sie etwas trinken wollen … oder ein Bett für die Nacht suchen?“

„Ein Bett.“

„Dann müssen Sie mit zu mir nach Hause kommen“, erwiderte der Junge. „Ich heiße Miguel Zabala und bin der Mann in unserer Familie.“

Er war klein, dünn und kaum zehn Jahre alt, aber Luke lachte trotzdem nicht. „Bring mich dorthin, dann sehen wir weiter“, forderte er den Jungen auf.

Schon bald merkte er, dass Miguels „paar Schritte“ eine großzügige Untertreibung gewesen waren, doch es machte Luke nichts aus, den schmalen ungepflasterten Weg entlangzuwandern. Der Junge hüpfte neben ihm her und plapperte ohne Punkt und Komma; teilweise über das, was es entlang des Weges zu sehen gab, teilweise über seine Ansichten über das Leben und die verschiedenen Menschen, die er bisher kennengelernt hatte.

Luke hörte nur mit halbem Ohr zu.

Isabellas Reaktion auf seine Ankunft war ein wenig beunruhigend gewesen. Ihm war klar, dass sie diese Ehe genauso wenig wünschte wie er. Sein Titel hatte sie nicht im Mindesten beeindruckt. Nun ja, sie war schließlich die Tochter eines conde.

Sie hatte ihn sofort durchschaut. Er brauchte einen Erben. Daran war nichts Verwerfliches, es war seine Pflicht seinem Familiennamen gegenüber. Da sie selbst einen uralten Namen trug, musste sie das eigentlich verstehen.

Unabhängig davon hatte man ihr im Kloster sicherlich Pflichtbewusstsein eingebläut, vor allem was die Pflichten einer Ehefrau anging – lieben, ehren und gehorchen. Sie waren jetzt aneinandergekettet und mussten das Beste daraus machen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Isabella mit ihrer Situation auszusöhnen, denn er hatte nicht vor, sich mit den Wutausbrüchen einer widerstrebenden Braut abzugeben.

Sein eigenes Interesse an ihr war bestenfalls mäßig – schließlich hatte sie sich nicht sonderlich vorteilhaft präsentiert in diesem schrecklichen altmodischen Kleid mit all den Rüschen, mit der Frisur und der vielen Schminke. Doch das spielte keine Rolle. Er wollte ihr keinen Anlass bieten, diese Ehe zu bereuen. Er würde sie gut behandeln und ihr ein treuer Ehemann sein. Und wenn dann irgendwann Kinder kamen, empfanden sie vielleicht sogar so etwas wie Liebe füreinander. Das war bei vielen Menschen so.

Er musste an ihre seltsamen goldbraunen Augen denken, die ihn inmitten dieser Schicht aus Puder und Schminke an einen zornigen kleinen Falken erinnerten, der sich in einem bunten Blumenstrauß verbarg. Sie mochte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert haben, aber ihre Augen waren noch genau so, wie er sie in Erinnerung hatte, vor allem wenn sie vor Zorn funkelten oder sich im Schmerz mit Tränen füllten.

Dieser Teil von ihr war vollkommen ungekünstelt, das war noch immer das tapfere kleine Mädchen, das er damals geheiratet hatte. Nach acht Jahren waren Veränderungen wohl unvermeidlich; er würde die junge Frau erst kennenlernen müssen, zu der sie inzwischen geworden war. Und sie würde sich an den Mann gewöhnen müssen, der er inzwischen war.

Ein Neuanfang für sie beide, schon an diesem Abend beim Essen.

Er und der Junge umrundeten einen felsigen Steilhang, und ein kleines Dorf kam in Sicht, eine Handvoll Hütten, die sich an die Flanke des Berges schmiegten und einen ärmlichen Eindruck machten.

Miguel zeigte auf die kleinste und armseligste Hütte von allen. „Ich werde meiner Mutter Bescheid sagen, dass Sie kommen“, sagte er und eilte voraus.

Luke fand sich in Gedanken damit ab, die Nacht in Gesellschaft von Wanzen und Flöhen verbringen zu müssen. Im Krieg hatte er Schlimmeres erlebt.

Als er die Hütte erreichte, stand die Mutter bereits in der offenen Tür. Sie wirkte ziemlich jung, noch keine dreißig, und zwei kleine Kinder schmiegten sich scheu an ihre Röcke. Miguel, der sich inzwischen das Gesicht gewaschen hatte, machte alle miteinander bekannt, dann führte er Luke um die Hütte herum, damit dieser sehen konnte, wie gut sich Miguel seiner Pferde angenommen hatte.

Sie waren in einem offenen Unterstand angebunden und mit frischem Stroh und Wasser versorgt worden. Das Zaumzeug hing an Nägeln an der Wand, und Miguel hatte die Pferde auch gründlich trockengerieben. Luke nickte anerkennend, und Miguel führte ihn zurück zur Hütte. An der Tür verbeugte Miguel sich mit einladender Geste und ließ Luke eintreten.

Drinnen war es ziemlich düster, doch sobald Lukes Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah er, dass sie trotz aller Ärmlichkeit sehr sauber und ordentlich war. Den einzigen Geruch, den er wahrnehmen konnte, war der von Essen, irgendein Eintopf mit Knoblauch und Kräutern. Im Krieg hatte er an wesentlich ungastlicheren Orten übernachten müssen.

„Hier können Sie schlafen“, erklärte Miguel, zog einen Vorhang beiseite und zeigte auf ein Strohlager auf einem leicht erhöhten Podest. Es war groß genug für zwei, eine handgewebte Decke lag darüber. Lukes lederne Reisetasche stand daneben.

Man hatte ihm das einzige Bett im Haus angeboten, das der Mutter. Und wahrscheinlich auch das der Kinder. „Nein, nein, das kann ich unmöglich …“, begann er.

„Das Bettzeug ist sauber, señor, ich habe es erst heute frisch gewaschen und in der Sonne getrocknet. Das Stroh ist ebenfalls frisch und duftet gut“, erklärte die Frau. „Die Kinder werden Sie nicht stören – sie werden mucksmäuschenstill sein. Wenn es Ihnen lieber ist, können wir auch draußen schlafen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und rang die Hände vor ihrer Schürze.

„Eine bessere Unterkunft gibt es im ganzen Dorf nicht“, versicherte Miguel ihm. Vier große braune Augenpaare beobachteten Luke ängstlich.

Sie brauchten sein Geld. Dringend.

„Sehr schön“, willigte Luke ein. „Und es würde mir nicht im Traum einfallen, auch nur einen von euch draußen schlafen zu lassen.“ Er nickte den beiden kleinen Lockenköpfen zu, die hinter ihrer Mutter hervorspähten und sich daraufhin sofort wieder zurückzogen. Luke holte seine Uhr aus der Tasche. „Gibt es hier vielleicht heißes Wasser?“

„Das braucht er sicher, um Tee zu kochen“, erklärte Miguel seiner Mutter und seinen Geschwistern, um zu zeigen, dass er sich mit den Gebräuchen der Engländer auskannte.

„Keinen Tee“, widersprach Luke und strich sich über das Kinn. „Ich muss mich rasieren.“

Eine Stunde später machte Luke sich wieder auf den Weg zum Kloster. Er hatte sich umgezogen, rasiert und gewaschen, so gut es in dem beengten Raum der Hütte möglich gewesen war. Jede seiner Bewegungen war von den ernsten Blicken zweier dunkelhaariger kleiner Mädchen beobachtet worden, die keine Ahnung davon hatten, welche Bedeutung ein zugezogener Vorhang für einen Engländer hatte.

Das kleine Familienoberhaupt hatte er beauftragt, Wein, Brot, Fleisch und was ihm sonst noch einfiel, einzukaufen, nur um den Jungen und sein ununterbrochenes Plappern loszuwerden. Die Familie konnte die Lebensmittel wahrlich gut gebrauchen.

Doch als er nun wieder den Pfad zum Kloster zurückging, gesellte Miguel sich zu ihm. „Sie sehen sehr gut aus, señor. Und Sie duften auch so gut. Machen Sie einer der jungen Damen den Hof?“

„Nein“, erwiderte Luke.

Miguel sah ihn verblüfft an. „Aber warum haben Sie sich dann rasiert?“

„Sie ist bereits meine Ehefrau“, erklärte Luke.

Der Junge blinzelte ihn an. „Ist sie eine schlechte Ehefrau?“

„Nein.“

„Warum haben Sie sie dann zu den Nonnen ins Kloster geschickt?“

„Das ist eine komplizierte Geschichte.“

Miguel ging eine Weile schweigend neben ihm her. „Mein Vater hat uns verlassen, als ich noch klein war und die Mädchen gerade erst geboren worden waren.“

Luke warf dem Jungen einen Blick zu. „Und er ist nie wieder zurückgekommen?“

„Nein.“ Miguel trat einen Stein vom Pfad und hörte zu, wie er den Hang hinunterkollerte.

„Ist er gestorben?“

„Nein, er lebt in Bilbao. Er hat eine andere Frau gefunden, die ihm besser gefiel als Mama. Haben Sie auch eine andere Frau gefunden, die Ihnen besser gefällt, señor?“

„Nein.“ Luke beschleunigte seine Schritte. Das unschuldige Plappern des Jungen weckte irgendwie Schuldgefühle in ihm. Was lächerlich war, denn es gab keinen Grund, warum er ein schlechtes Gewissen haben musste.

„Also sind Sie gekommen, um sie abzuholen und mit ihr nach England zurückzukehren.“

„Das ist richtig.“

„Kenne ich sie vielleicht, señor? Ich kenne einige der jungen Damen im Kloster. Wie heißt sie denn?“

Luke fand nichts dabei, dem Jungen ihren Namen zu nennen. „Señora Ripton.“

„Bella Ripton?“ Auf Miguels Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. „Aber das ist meine Freundin!“ Doch dann erstarb sein Lächeln und er blieb abrupt stehen. „Sie haben Bella ins Kloster gesteckt und sie dort gelassen? Sie wohnt da schon, seit mein Vater weggegangen ist!“

Der vorwurfsvolle Blick des Jungen ärgerte Luke. Verdammt, warum sahen ihn alle so an, als wäre dieser ganze Schlamassel allein seine Schuld? Er sollte doch eigentlich der Held sein! Erst hatte er ihr das Leben gerettet, dann hatte er sie geheiratet. Er hätte sie nicht heiraten müssen. Es war nur die einzige Möglichkeit gewesen, sie vor einer Zwangsheirat mit ihrem bösartigen Cousin Ramón zu schützen. Er selbst hatte nicht den geringsten Vorteil davon gehabt.

Doch irgendwie war das in Vergessenheit geraten, und nun galt er als der Mann, der seine Ehefrau zurückgelassen hatte. Dabei hatte er das gar nicht getan. Oder vielleicht doch, aber nicht vorsätzlich. Nun ja, vorsätzlich schon, aber das war doch zu ihrem eigenen Besten gewesen!

Nur – wie sollte man das einem zehnjährigen Jungen erklären?

Oder einem fast einundzwanzigjährigen Mädchen? Er läutete an der Klosterpforte.