Leseprobe Die verbotene Liebe des Earls

Kapitel Eins

Schottland, November 1811

Benedicta Elizabeth Norah Winslow de Montfort, die zehnte Duchess of Wake, schlich auf Zehenspitzen, so leise es eben in Stulpenstiefeln möglich war, auf die Dienstbotentreppe zu.

Im Haus war es – abgesehen vom gelegentlichen Knarzen des alten Holzes – still, wie man es um drei Uhr früh auch erwartet hätte. Die einzigen Anwesenden – außer den Dienern – waren Bennas Cousin Michael und sein verachtenswerter Freund, der Viscount Fenwick.

Seit dem Tod ihres Bruders David vor zwei Wochen hatte sich ihr Leben drastisch geändert. Obwohl sie in den letzten drei Jahren, seit er den Titel geerbt hatte, nicht viel von ihm gesehen hatte, vermisste sie ihn. Zudem war durch die Ankunft ihres Cousins Michael de Montford, des Earls of Norland, der nun ihr gesetzlicher Vormund war, ihre glückliche, vorhersehbare Routine zerstört worden.

Erst vor zwei Wochen hatte er Wake House übernommen, doch seine Veränderungen waren bereits tiefgreifend – und höchst unwillkommen.

Er hatte Diener durch Leute ersetzt, die er von seinem eigenen Anwesen in Northumberland mitgebracht hatte. Nicht nur Boten und Stallburschen, sondern auch altgediente Angestellte wie Mrs Hotchkiss, die Haushälterin, und Clavering, den Butler.

Benna sah kaum noch ein vertrautes Gesicht, wenn sie durchs Haus und über die Ländereien ging.

Und nun sprach Michael davon, den alten Tom ersetzen zu wollen, den Stallmeister, der für Benna mehr wie ein liebgewonnener Onkel, denn ein Diener war. Tom war auf dem Anwesen aufgewachsen und einst wild und barfüßig mit Bennas Vater herumgerannt, als der Duke selbst noch ein Junge gewesen war.

Die Vorstellung, dass Tom nicht länger zu ihrem Leben gehören sollte, war einfach unerträglich.

Die zweite Veränderung, die Michael angekündigt hatte, hatte mit Benna selbst zu tun. Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie tun und lassen können, was sie wollte. Sie war stets damit zufrieden gewesen. Was ihren sie liebenden Vater betroffen hatte, hatte Benna ihn mühelos um den Fingen wickeln können. Der Duke hatte sich zwar gewünscht, die einzige Tochter seiner geliebten Frau hätte ihrer verstorbenen Schönheit mehr geglichen als seiner eigenen hochgewachsenen, schlaksigen und bleichen Gestalt, doch er hatte Benna nie das Gefühl gegeben, sie sei eine Enttäuschung für ihn.

Weil Pferde nach dem Tod seiner Frau die einzige Leidenschaft des Dukes gewesen waren, fand er nichts Falsches daran, dass Benna mehr Zeit in den Ställen verbrachte als im Schulzimmer.

Seit sie im Alter von zwölf Jahren das Lieblingspferd ihres Vaters kompetent und geduldig behandelte, nachdem es sich am Sprunggelenk verletzt hatte, erteilte der Duke ihr während seiner häufigen Abwesenheiten von Wake House das Kommando über die Stallungen.

David, dem nach dem Tod ihres Vaters die undankbare Aufgabe zugefallen war, sich um Benna zu kümmern, war nicht annähernd so erfreut über ihre Reithosen oder ihre fünfzehn widerspenstigen Pferde. Und auch nicht über die Tatsache, dass ihr bester, nein, ihr einziger Freund der staubige alte Stallmeister von Wake House, Tom Barnum, war.

„Vater hat dir viel zu lange deinen Willen gelassen, Benna, und nun bist du nicht mehr zu bändigen“, hatte David geschrien, als er das letzte Mal zu Besuch gekommen war. Es war drei Monate vor seinem Tod bei einem schrecklichen Jagdunfall gewesen.

„Ich warne dich, Benna, ich werde mich nicht von deinen Wutanfällen beeindrucken lassen, wie Papa es getan hat. Du stellst dich besser darauf ein, dir nächstes Jahr in London einen Ehemann zu suchen, mein Mädchen. Ich werde nicht zulassen, dass du nach meiner Hochzeit weiterhin in deinem lächerlichen Aufzug die Ställe unsicher machst und dich benimmst wie einer meiner Stallburschen.“

Davids Verlobte, Lady Louisa, ein sogenannter Diamant erster Güte, war eine Frau, der Benna noch nie begegnet war. Als sie gefragt hatte, wann ihr die Unvergleichliche vorgestellt werden würde, hatte die Antwort ihres Bruders sie tief getroffen. „Ich bin zu beschämt, sie zu Besuch hierher einzuladen und sie deinem ungezogenen Benehmen auszusetzen. Du bist über die Jahre verwildert, Benna, doch bis ich meine Braut nach Hause bringe, werde ich dich schon an der Kandare haben.“

Schon damals hatte Benna es zutiefst bereut, die Porzellanstatuette nach ihm geworfen zu haben. Nicht etwa, weil sie das schreckliche Ding mochte – es war eine rührselige Darstellung einer Gänsemagd mit ihrer sie anbetenden Schar Vögel -, sondern weil dieser flammende Streit nun die letzte Erinnerung war, die sie an David hatte.

Nun war er fort und sie das Oberhaupt ihrer schrumpfenden Familie. Dank eines alten und ungewöhnlichen Überbleibsels im königlichen Patent des Wake-Herzogtums hatte Benna den Titel der Duchess von ihrem Bruder geerbt, obwohl alles weitere an ihren Cousin Michael gegangen war, der nun ihr Erbe und Vormund war. Sie brauchte weniger als eine Woche unter Michaels Herrschaft, um herauszufinden, dass er sich weder von ihren Launen noch von ihrer Sturheit beeindrucken ließ.

Zum ersten Mal waren sie am Tag nach Davids Begräbnis aneinandergeraten. Benna war ins Studierzimmer ihres Cousins geplatzt, das nach dem Tod ihres Bruders eigentlich ihr Studierzimmer hätte sein sollen, und hatte eine Abschrift von Davids Testament zu sehen verlangt. Als Minderjährige war Benna von der Teilnahme an der Testamentseröffnung ausgeschlossen worden, die nur in Anwesenheit von Michaels und Davids neuem Anwalt stattgefunden hatte. Warum ihr Bruder sich von der Londoner Kanzlei Norris und Ridgewick abgewandt hatte, deren Anwälte bereits ihrem Vater und Großvater gedient hatten, entzog sich Bennas Kenntnis.

Michael war über ihre Forderung sichtlich amüsiert gewesen und hatte höhnisch gegrinst. „Dir steht überhaupt nichts zu, mein liebes Kind, doch ausnahmsweise möchte ich deine Neugier stillen und dir gestatten, das Testament deines Bruders einzusehen.“

Benna war entsetzt gewesen von dem, was sie gelesen hatte. Die Treuhandbedingungen – sie würde erst über das Vermögen verfügen können, wenn sie fünfundzwanzig Jahre alt wäre – hatten sie nicht überrascht, da ihr Vater sie entworfen hatte.

Aber warum in Gottes Namen David, der nach dem Tod ihres Vaters ihr Vormund geworden war, ausgerechnet Michael für diese Rolle erwählt hatte, würde sie nie erfahren.

Ihr Bruder hatte gewusst, wie sehr Benna ihren arroganten, viel zu dominanten Cousin verachtete, und dennoch hatte er Michael die vollständige Gewalt über ihre Person und ihre Zukunft übergeben.

Am Morgen nach diesem ersten Zusammenstoß mit Michael war Benna wie üblich früh in die Stallungen gegangen, um mit ihrem neuen Jagdpferd zu trainieren. Als sie am Stall ankam, stellte sie fest, dass Michaels verachtenswerter Diener Diggle dort stand und den Zugang blockierte.

„Seine Lordschaft will dich sehen, Kleine.“

Benna stand wie vom Donner gerührt da. Nie hatte ein Diener sie so unverschämt angesehen oder so respektlos mit ihr gesprochen.

„Sie werden mich in meinem eigenen Zuhause mit Respekt anreden oder Sie können Ihre Sachen packen und verschwinden!“

Diggle hatte nur gelacht. Und als Benna versuchte, sich an ihm vorbeizuschieben, hatte er sie mit seiner Hand, die so groß war wie die bronzene Sonnenuhr im Garten, am Arm gefasst.

„Ich soll dich zu ihm bringen.“

Dann hatte der Grobian sie den ganzen Weg zum Studierzimmer gezerrt, wo Michael die Unverfrorenheit besaß, sie auf dem Teppich vor seinem Schreibtisch stehen zu lassen wie ein ungezogenes Kind, während er herunterratterte, was er das neue Gesetz nannte.

Keine Tage mehr, die Benna im Stall verbrachte, keine Reithosen mehr, keine Jagdausritte und absolut kein Reiten ohne einen seiner Stallburschen an ihrer Seite.

„Und schließlich“, sagte er mit einem hasserfüllten Grinsen, „zumindest für den Augenblick, wirst du einen angemessenen Aufzug tragen, wenn du zu reiten wünschst. Ich habe eine Schneiderin bestellt, die herauskommen und deine Maße nehmen wird.“

Benna hatte Michael direkt in die Augen gesehen und langsam gesagt: „Fahr. Zur. Hölle!“, dann war sie in den Stall zurückgekehrt und ihrem üblichen Tagesablauf nachgegangen.

Als sie am nächsten Tag wieder ausreiten wollte, stellte sie fest, dass ihr neuer Wallach Spitfire verschwunden war.

Benna hatte ihren Cousin gemeinsam mit Viscount Fenwick im Frühstückszimmer angetroffen.

„Tom sagt, du hast Spitfire verkauft?!“

Michael war zusammengezuckt. „Es besteht kein Grund zu schreien.“

„Es besteht jeder Grund!“, hatte sie zurückgeschrien. „Diese Pferde sind mein Eigentum!“

„Ich fürchte, du irrst dich, meine Liebe. Oder soll ich dir noch einmal das Dokument zeigen, das mir die Macht über dich und jeden Gegenstand auf diesem Anwesen verleiht?“

„Warum tust du das?“ Benna hatte sich des flehenden Untertons geschämt, der sich in ihre Stimme geschlichen hatte.

„Jedes Mal, wenn du dich mir widersetzt, werde ich ein Pferd verkaufen“, hatte er in einem kühlen, überlegenen Ton gesagt, der die Wut anfachte, die ohnehin bereits in ihr brannte.

„Wenn ich du wäre, meine liebe Cousine“, hatte er hinzugefügt und dabei auf ihre Hand geblickt, die sich zu einer Kristallvase auf dem kleinen Beistelltisch bewegte, „würde ich jeden Gedanken daran, mir das an den Kopf zu werfen, vergessen.“

Benna hatte ihre Hand sinken lassen und sich auf die Zunge gebissen, um nichts mehr zu sagen. Als sie aus dem Raum gestürmt war, hatte sie ihren Cousin und Fenwick lachen hören. In nur zwei Wochen hatte Michael sieben ihrer Pferde verkauft.

Schließlich hatte Benna ihre morgendlichen Ausritte aufgegeben, da sie sich weigerte, mit einem von Michaels unsäglichen Stallburschen zu reiten. Sie hatte jedoch einen Weg gefunden, das Embargo zu umgehen, indem sie sich des Nachts hinausschlich. Doch auch dieses Vergnügens wurde sie beraubt, als der Mond abnahm. Aus Angst, auch noch die letzten ihrer Pferde zu verlieren, trug sie nun am Tage ein Kleid. Sie speiste mit ihrem Cousin und dessen abscheulichem Freund und lernte unter der Anleitung eines langweiligen Vikars, den Michael aus Northumberland mitgebracht hatte.

Ein Gesprächsfetzen riss sie aus ihren zornigen Gedanken. „… großer Gott, Norland, das kann nicht dein Ernst sein!“

Benna erkannte die schleppende Stimme Viscount Fenwicks. Sie erstarrte auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock.

„Herrgott, Fenwick!“ Michael klang so laut, dass Benna annahm, die Männer befänden sich auf der anderen Seite einer Vertäfelung, die als Geheimtür zur Dienstbotentreppe genutzt wurde. „Wenn du nicht verdammt noch mal leise redest, kann man dich bis London hören.“

„Wie alt ist die Göre überhaupt?“, fragte Fenwick, dessen Stimme bereits leiser wurde, als die Männer sich entfernten.

„Sie wird in ein paar Wochen siebzehn.“

„Das ist ein wenig jung, nicht wahr? Glaubst du nicht, die Vermögensverwalter werden …“

Benna presste ihr Ohr gegen das Holz, doch sie vernahm nur noch ein entferntes Murmeln und das Geräusch einer sich schließenden Tür. Sie mussten in die Bibliothek gegangen sein. Und sie hatten über sie gesprochen.

Benna kaute auf ihrer Unterlippe und starrte auf die Kerze in ihrer Hand.

Geh in dein Zimmer!, befahl die Stimme der Vernunft.

Sie wusste, dass sie darauf hören sollte. Stattdessen öffnete sie jedoch die Tür einen Spaltbreit, vergewisserte sich, dass niemand auf dem Flur war, und huschte in Richtung der Bibliothek davon. Einige Meter vor der Doppeltür, die in die Bibliothek führte, betätigte sie eine kleine Klinke, die die Tür zu einem schmalen Flur öffnete, der seitlich an der Bibliothek verlief und zu einem der größeren Priesterlöcher führte. Das Haus war voll davon. Die Diener kannten dieses Versteck natürlich, aber niemand wusste um das eigentliche Geheimnis des Raums: Es war eigentlich ein doppeltes Priesterloch – zwei geheime Räume hintereinander.

Das Hauptloch war groß genug, um für ein Feldbett, einen Stuhl und einen Tisch Platz zu bieten. An der Rückseite des Raumes befand sich ein Teil der Vertäfelung, der aufschwang, wenn man unten schob. Indem sie sich seitwärts drehte, konnte sie sich in den zweiten Raum zwängen, der weitaus kleiner als der erste war, kaum mehr als ein Schrank mit einem einzelnen Stuhl darin.

Benna hatte diesen Raum durch Zufall entdeckt. Als Mädchen hatte sie gern Zeit in dem gemütlichen kleinen Zimmer verbracht. Eines Tages war ihr das Buch heruntergefallen, in dem sie gerade gelesen hatte. Als sie sich danach hinabbeugte, hatte sie die Vertäfelung berührt.

Das war vor Jahren gewesen und nie hatte sie ein Anzeichen dafür gesehen, dass jemand anderes den Raum nutzte. Nicht einmal ihrem Bruder hatte sie von seiner Existenz erzählt.

Benna ließ ihre Kerze im größeren Priesterloch und tastete sich ins innere Heiligtum vor. An der Wand befand sich ein Stück Holz, das ein Astloch verbarg. Langsam schob Benna es zur Seite.

„… ja, natürlich weiß ich das, altes Haus.“ Fenwicks Stimme war so laut, dass es sich anhörte, als wäre er neben sie ins Priesterloch getreten. „Was ich immer noch nicht verstehe, ist, wie du den armen alten David dazu gebracht hast, das Mädchen zusammen mit allem anderen in deine Hände zu geben.“ Er kicherte laut. „Stinkt ziemlich nach den Prinzen im Tower, nicht wahr? Ich wage zu behaupten, dass Davids alte Diener etwas dagegen gehabt hätten, dass du ihr Vormund wirst, wenn du David nicht davon überzeugt hättest, sie rauszuschmeißen und deinen Mann einzustellen. Zu blöd für das Treuhandvermögen, nicht wahr?“, spottete er.

Benna runzelte die Stirn. Was meinte er, zu blöd für das Treuhandvermögen? Inwiefern zu blöd?

Fenwick saß in einem Sessel nicht weit vom Kamin entfernt mit dem Rücken zu ihr. Das Guckloch befand sich in einer sorgfältig ausgewählten Position. Michael saß ihm direkt gegenüber.

„Darüber musst du nichts wissen, lieber Dickie“, sagte ihr Cousin. Sein Blick war auf etwas gerichtet, das Benna nicht sehen konnte, und auf seinem gut aussehenden Gesicht lag ein kalter, emotionsloser Ausdruck, der ihr einen Schauder über den Rücken jagte. „Alles, was ich von dir will, ist, dass du die Angelegenheit bezeugst.“

„Du kennst mich, alter Junge, Freunden in Not helfe ich immer gern.“

Michaels volle Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Er drehte sich um, bis er seinen Freund ansah, und blickte direkt in die Richtung des Guckloches. „Deine Hilfsbereitschaft ist eine der Eigenschaften, die ich am liebsten an dir mag, Fenwick.“

Obwohl sie das Gesicht des Viscounts nicht sehen konnte, erkannte sie daran, wie seine Schultern sich versteiften, dass er keinen Wert auf die Doppeldeutigkeiten des anderen legte. „Du musst nicht hässlich werden, Norland. Ich würde dir sowieso helfen, ob du nun von der anderen Sache wüsstest oder nicht.“

„Nur um das klarzustellen, Dickie, alter Junge“, beruhigte er, „ich wollte niemanden in den Schmutz ziehen. Apropos, wie läuft sie denn, diese andere Sache, wie du es so malerisch beschreibst? Ist es immer noch so lukrativ wie es war, als dein lieber verschiedener Bruder, äh, Geld für Gott und das Vaterland abgezogen hat?“

„Wir sind nicht hier, um über mich zu reden“, sagte Fenwick beleidigt. „Wann soll ich wieder hier sein?“

„Oh, ich werde bereit für dich sein, bevor du gehst, mein Lieber.“ Michael hob ein Glas und nahm einen Schluck. „Es hat sich herausgestellt, dass die Art der lieben Benna mir ziemlich in die Hände spielt. Das letzte Mal, dass sie irgendwohin gegangen ist, war in Begleitung meines Onkels, und sie war noch ein kleines Mädchen gewesen. Niemand aus unserer Familie hat sie in den letzten Jahren zu Gesicht bekommen. Natürlich werden die Leute in der Stadt sie sehen, aber sie werden nur eine große, magere, flachsblonde Frau zu Gesicht bekommen. Niemand wird in der Lage sein, sie genauer zu beschreiben. Sie hat keine Freunde und alle örtlichen Mütter hat sie schockiert und auf Abstand gehalten, indem sie sich wie ein Mann kleidet und benimmt. Und am besten von allem ist, dass Gerüchte über ihre heftigen Wortgefechte mit ihrem Bruder kursieren. Ich habe bereits fünf Zeugen, die aussagen werden, dass sie seit Davids Ableben noch unberechenbarer und instabiler geworden ist.“ Er grinste schief. „Dank des in Stein gemeißelten Testaments meines Cousins David werden Norris und Ridgewick nichts in der Hand haben, wenn sie es wagen sollten, mich herauszufordern. Sie mögen ihre Klauen in das Treuhandvermögen schlagen können, aber meine kleine Cousine gehört mir allein.“

Benna stieß zitternd die Luft aus und zwang sich, erneut einzuatmen.

Michael schlürfte grinsend seinen Brandy. „Seit über einem Jahr streue ich nun bereits das Gerücht über ihre geistige Unberechenbarkeit. Wenn die Hochzeit bekannt wird, werde ich als Held aus der Geschichte hervorgehen, da ich mich selbst für die Zukunft der Familie de Montfort opfere. Und sobald die liebe kleine Benna davon überzeugt wurde, dass …“

Fenwick schnaubte. „So klein ist sie nicht. Sie mag eine Bohnenstange sein, aber sie ist fast so groß wie du, Norland. Was willst du mit ihr machen, wenn du fertig bist?“, fragte er listig. „Das eine, worüber sich alle in der Gegend einig sind, ist, dass sie eine ausgezeichnete Reiterin ist – viel besser als der arme David. Es wird nicht so leicht sein, sie ebenfalls tödlich verunglücken zu lassen.“

Benna biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut nach Luft zu schnappen.

Michael presste die Lippen zusammen. Seine Augen funkelten gefährlich. „Du hütest besser deine Zunge, Fenwick. Ich würde nur ungern jemanden darum bitten, sie dir aus dem Mund zu schneiden.“

Einen Moment lang hörte man nur das Knistern des Feuers. Michael fixierte Fenwick mit kalten blauen Augen. Benna hatte keine Ahnung, wohin der Blick des Viscounts ging. Es war Fenwick, der das Schweigen schließlich brach. „Ich verstehe immer noch nicht, wie du sie auf Vordermann bringen willst. Das wird wohl ein hartes Stück Arbeit, nach dem, was ich gesehen habe.“

„Benna ist zu lange verhätschelt worden, zuerst von ihrem Vater und dann von David.“ Michaels Züge verfinsterten sich, bis sein hübsches Gesicht zu einer grausamen Maske geworden war. „Keine Sorge, mein lieber Fenwick, ich werde sie mühelos zurechtstutzen. Außerdem wird es kaum eine Rolle spielen, was sie sagt oder tut.“

Fenwick kicherte. „Hast du noch ein As im Ärmel?“

Michael sah seinen sogenannten Freund mit schiefgelegtem Kopf an. Seine Miene war alles andere als freundlich. „Du bist so neugierig, was meine Angelegenheiten angeht, lieber Dickie. Doch ich glaube, du musst nicht alles wissen. Du musst nur nüchtern genug sein, um am Montag aufrecht zu stehen.“

Fenwick erwiderte nichts, doch seine Knöchel, die an der Hand, mit der er sein Glas umklammert hielt, weiß hervortraten, verrieten Benna, wie wenig es ihm gefiel, so verächtlich angesprochen zu werden.

„Sobald wir verheiratet sind, wird Diggle Benna an einen Ort bringen, an dem sie absolut sicher sein wird.“

„Ach ja? Wohin?“

„Das hat dich nicht zu interessieren. Sagen wir, ich habe einen Ort, an dem ich sie verstecken kann, bis ich sie brauche.“

Bennas Atem gefror ihr in der Lunge. Fenwick kicherte und Benna hörte in seinem wiehernden Lachen eine widerwillige, nervöse Bewunderung. Der Viscount hob sein Glas. „Auf dich, Norland. Ich hoffe, dass ich nie einem herzloseren Bastard begegne.“

Benna schob die hölzerne Abdeckung über das Guckloch und rutschte an der Wand hinab auf den Fußboden.

Großer Gott, sie hatte immer gedacht, Michael sei einfach nur verachtenswert, doch sie hatte nie geglaubt, dass er sich zu Mord herablassen würde. Alle hatten geglaubt, Davids Tod sei ein Unfall gewesen. Sein Pferd war sterbend neben Davids Leiche gefunden worden. Der Schädel ihres Bruders war an der Steinmauer zerbrochen, die er offenbar zu überspringen versucht hatte.

Nach Fenwicks nicht sehr subtiler Aussage war sie nachdenklich geworden. Hatte Michael Davids Tod arrangiert? Hatte ihr Bruder sein eigenes Todesurteil unterzeichnet, als er sein Testament erneuert und Michael die Kontrolle nicht nur über Benna, sondern damit auch über das Fürstentum gegeben hatte?

Falls Michael plante, sie zu einer Heirat mit ihm zu zwingen und sie dann wegzusperren, war die Vorstellung, dass er auch ein Mörder war, nicht so weit hergeholt.

Es musste schwierig gewesen sein, einen Mann während einer Jagd mit vielen Teilnehmern zu ermorden. Weitaus leichter wäre es, eine zurückgezogen lebende Duchess zu töten, die ihr abgelegenes Anwesen seit ihrem zwölften Lebensjahr nicht mehr verlassen hatte. Dass sie ihr Leben all die Jahre nach ihrem Geschmack geführt hatte, hatte nun offenbar zu einer Situation geführt, die es Michael nur allzu leicht machte, Benna verschwinden zu lassen. Sie wusste nicht, wo Michael sie zu verstecken plante, doch sie hatte eine Ahnung. Selbst ein Tollpatsch wie sie wusste von diesen ruhigen Landsitzen, die weit entfernt von Ortschaften und viel bereisten Straßen lagen. In denen wurden unangenehme oder peinliche Familienmitglieder wie ungewollte Möbelstücke gelagert, fernab der neugierigen Blicke der Gesellschaft. Tatsächlich erinnerte sie sich an Gerüchte über eine Tante ihrer Mutter, die irgendwo weggesperrt worden war. Was war mit dieser Frau passiert? Benna kannte nicht einmal ihren Namen. Lebte sie noch? Erinnerte sich irgendwer an sie? Interessierte es überhaupt jemanden?

Sie hörte ein seltsames Geräusch und bemerkte, dass ihre Zähne klapperten – nicht vor Kälte, sondern vor Angst.

Großer Gott, was soll ich nur tun? Wem kann ich mich anvertrauen? Wer würde mir überhaupt glauben und mir helfen?

Heiße Tränen rannen ihr über die Wangen. Wütend wischte sie sie mit ihrem Handballen fort. Es war bereits Mittwochmorgen und er hatte gesagt, dass er sie irgendwann am Montag heiraten wollte.

Benna schluckte und erstickte beinahe an ihrer Angst. Mir bleiben weniger als sechs Tage, um ihn aufzuhalten.

Kapitel Zwei

Cornwall, 1817

Sechs Jahre später

Benna schaufelte den letzten Rest des uralten verrottenden Strohs aus dem Stall in die wacklige Schubkarre und hielt dann inne, um zu Atem zu kommen.

Der Geruch frischen Pferdemistes störte sie nicht, doch die Ställe des Earls of Trebolton stanken nach Feuchtigkeit, Vernachlässigung und Verfall. Es war klar, dass sie seit Jahren nicht gesäubert worden waren.

Alle in der Gegend wussten, dass der neue Earl schrecklich knapp bei Kasse war, weshalb er den jungen Ben Piddock als Stallmeister, Pferdepfleger, Kutscher und Stalljungen in Personalunion eingestellt hatte.

Dank Lord Trebolton war Benna der König – oder die Königin – ihres kleinen Reiches, zu dem Dutzende schmutzige Ställe gehörten, eine Sattelkammer mit von Spinnweben überzogenem brüchigem Leder, eine nicht mehr funktionstüchtige Schmiede und zwei riesige leere Stalltrakte. Außerdem gab es noch fünf Pferde, von denen vier uralte Kutschpferde waren, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten, geschweige denn einen Wagen ziehen, und ein mürrisches Maultier namens Hector.

Die Stallungen von Trebolton wieder zum Leben zu erwecken, war eine Aufgabe, mit der man ein Dutzend Angestellte hätte beschäftigen können. In dem Monat, seit sie für den Earl zu arbeiten begonnen hatte, hatte sie kaputte Stalltüren repariert, morsche Pfosten und Querbalken an den Koppeln erneuert, gebrochene und fehlende Dachziegel ersetzt und sich um einen Haufen weiterer kleiner Dinge gekümmert. Es war harte Arbeit – härter als alles, was sie in den sechs Jahren getan hatte, seit sie Wake House verlassen hatte -, doch Benna liebte ihre Arbeit.

Von deinem Arbeitgeber ganz zu schweigen.

Benna zog eine Grimasse, als sie die vertraute, aber unwillkommene Stimme in ihren Gedanken hörte. Obwohl sie Geoffrey Morecambe seit beinahe einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, war die Stimme ihres ehemaligen Arbeitgebers eine besonders hartnäckige Begleiterin in ihrem Kopf geworden.

Sie wusste, dass sie das Phantom Geoffrey nicht in ihre Unterhaltungen einbeziehen sollte. Selbst in der Realität war es sinnlos gewesen, mit ihm zu streiten, und Diskussionen innerhalb des eigenen Verstandes waren auch nicht gerade ein Zeichen geistiger Gesundheit. Aber es war ja nicht so, als hätte sie irgendjemanden sonst, mit dem sie reden könnte …

Und wenn ich den Earl anziehend finde?, gab sie zurück. Es ist nicht so, dass ich irgendwelche Pläne hätte, dem nachzugehen.

Das ist genauso gut wie beim letzten Mal, als du dich von Vernarrtheit hast leiten lassen.

Danke, Geoffrey, ich brauche wohl kaum eine Erinnerung an dieses Desaster.

„Hallo? Ben? Bist du hier drinnen? Ben?

Benna schreckte auf. Die Stimme kam von der Stallgasse und nicht aus ihrem Kopf und gehörte der ältesten Nichte des Earls, Lady Catherine.

„Verflixt und zugenäht!“, flüsterte Benna.

„Mein Onkel braucht dich, Ben.“ Lady Catherines Stimme kam durch die düstere Gasse auf sie zu. Benna stand erstarrt und konnte sich nicht zu einer Reaktion durchringen. Brauchte Lord Trebolton sie wirklich oder benutzte Catherine den Namen ihres Onkels nur wie Jäger einen Köder benutzten, um Wild anzulocken?

„Er sagt, es sei wichtig, Ben.“

Benna knirschte mit den Zähnen. „Bin sofort da, Mylady“, rief sie mit der tiefen, grimmigen Stimme, die zu ihrer zweiten Natur geworden war, weil sie sich schon so viele Jahre als Mann ausgab. Benna lehnte die Mistgabel an die Wand, wischte ihre schmutzigen Hände an ihrer Wollhose ab und griff nach ihrem Mantel, den sie über ihr feuchtes, verschwitztes Hemd und ihre Weste zog. Zum Schluss band sie sich ihr rotweiß kariertes Halstuch um und schob sich das Haar aus der Stirn, bevor sie ihre abgewetzte, verstaubte Kappe aufsetzte.

Sie verzog verächtlich das Gesicht, als sie einen Hauch ihres eigenen Körpergeruchs einatmete, der dem uralten Mist und dem schimmligen alten Stroh ähnelte, das sie gerade geschaufelt hatte. Sie brauchte ein Bad, dringend!

Benna traf Lady Catherine vor dem Stalleingang, wo sie offenbar auf sie wartete, da sie nicht willens war, das von Spinnen und Ratten bevölkerte Gebäude zu betreten, in dem sich das Objekt ihrer Begierde befand: Benna.

„Guten Tag, Lady Catherine.“ Benna lupfte mit höflicher, aber unnahbarer Miene ihren Hut. Die Nichte des Earls war um die vier Jahre jünger als sie. Lady Catherine hatte dasselbe dunkle Haar und die helle Haut wie ihr Onkel, doch ihre blauen Augen und die spitze Nase hatte sie von ihrer Mutter geerbt, einer Frau, die so zurückgezogen lebte, dass Benna sie erst einmal gesehen hatte. Mit neunzehn Jahren hätte Lady Catherine sich in ihrer zweiten Londoner Saison befinden sollen, statt dem großen, schlaksigen Stallmeister ihres Onkels hinterherzusteigen.

Lady Catherine musterte Bennas Körper mit einer Inbrunst, die sie beide erröten ließ. Selbst nach all den Jahren hatte Benna sich noch nicht an die Aufmerksamkeit gewöhnt, die ihr von anderen Frauen entgegengebracht wurde.

„Komm mit!“, befahl Lady Catherine sichtlich beleidigt von Bennas Gleichgültigkeit. Benna blickte auf ihre Arbeitsstiefel hinab. „Ich bin von Schlamm bedeckt, Mylady. Soll ich nicht …“

„Nein, du kommst jetzt mit!“ Lady Catherine drehte sich auf dem Absatz um und schritt wenig damenhaft über den von Unkraut überwucherten Weg von den Stallungen zum Haus hinauf.

Benna folgte ihr und ließ die Füße schleifen, um etwas von dem Dreck an ihren Sohlen loszuwerden.

Lord Treboltons Haus war ebenso vernachlässigt wie die Stallungen. Wie es aussah, war das Originalgebäude während der frühen Tudorzeit errichtet und dann so oft vergrößert worden, dass es nun eine architektonische Mischung war, die sich über einen halben Hektar erstreckte.

Der Weg von den Stallungen zum Haus führte durch mehrere voneinander abgetrennte Gärten, die um diese Jahreszeit alle überwuchert und schlafend dalagen.

Lady Catherine lief ein paar Schritte vorweg und schwang dabei die Hüften so übertrieben, dass Benna seufzte.

Flirtende Frauen waren kein neues Problem. Benna hatte beinahe jeden Abend liebestolle Schankmädchen und Huren abwehren müssen, während sie als Postjunge gearbeitet hatte.

Doch Lady Catherines Werben befand sich auf einem ganz anderen Niveau. Bisher hatte sie zwar ihre Finger bei sich behalten, doch Benna fürchtete, dass das Verhalten der anderen Frau die Aufmerksamkeit des Earls auf sie lenken und sie schließlich ihre Stellung verlieren könnte. Sie wollte diese Arbeit nicht verlieren, weil sie in so vielerlei Hinsicht perfekt für sie war. Erstens war Lenshurst Park abgelegen und weit, weit weg von Schottland. Zweitens war der Earl ein liebenswürdiger Mann, der zu abgelenkt war, um ihr viel Aufmerksamkeit zu schenken. Und drittens beschäftigte er keinen Haufen von Angestellten, die sich fragen könnten, warum ein Hänfling mit limitierter Erfahrung eine so üppige Stellung wie die des Stallmeisters des Lords bekommen hatte.

Als sie die grauen Schieferstufen zum Haus hinaufstiegen, schob sich Benna an Lady Catherine vorbei, um die Tür zu öffnen. Auf dem Anwesen gab es so wenige Bedienstete, dass niemand Zeit hatte, die Tür zu öffnen oder Nachrichten zu überbringen, weswegen der Earl heute seine Nichte damit beauftragt hatte.

Lady Catherine nickte Benna knapp zu und schwebte ins Haus wie eine große Dame. Benna musste sich ein Lächeln verkneifen. Sowohl Catherine als auch ihre jüngere Schwester Mariah waren beinahe liebenswürdig naiv. Soweit Benna wusste, war keines der Mädchen bisher weiter herumgekommen als bis zum Marktplatz in Redruth.

Lady Catherine führte sie zwei Treppen hinauf und dann einen langen Flur entlang, auf dessen Boden abgetretene, zerlumpte Teppiche lagen. Vor einer hübsch geschnitzten Holztür, die trocken und spröde war und nach einem guten Schluck Öl schrie, blieben sie stehen. Nach beinahe sechs Jahren als Bedienstete fielen ihr solche Dinge auf.

„Er erwartet dich“, sagte Lady Catherine und warf Benna einen hochmütigen Blick zu, bevor sie davonrauschte. Der Inbegriff einer großen Dame, die die Arbeit eines Boten erfüllen musste.

Benna nahm ihre Kappe ab und kratzte an der Tür, wie es die Diener im Wake House immer getan hatten. Der Duke hatte laute, störende Geräusche verabscheut, weswegen die Bediensteten Filzpantoffeln über ihren Schuhen getragen hatten. Sie blickte auf ihre zu großen Stiefel aus zweiter Hand hinab und runzelte die Stirn. Nun, daran konnte sie jetzt nichts ändern.

Das gedämpfte „Herein“ erklang hinter der Tür.

Lord Treboltons Studierzimmer war unerwartet vollgestopft, dunkel und unordentlich. Die einzigen Fenster gingen nach Osten hinaus und erlaubten einen Blick auf die Stallungen. Die Möbel und Vorhänge waren ebenso abgenutzt wie alles auf dem Anwesen. Nun, alles abgesehen von dem Mann, der hinter dem großen, zerschrammten Tisch saß.

„Einen Moment, bitte“, murmelte er, während seine Feder übers Papier kratzte.

Nimm dir alle Zeit, die du brauchst, hätte Benna gern gesagt. Stattdessen weidete sie sich an seiner männlichen Perfektion.

Jago Crewe, der neunte Earl of Trebolton, war der attraktivste Mann, dem sie in ihrem dreiundzwanzigjährigen Leben begegnet war. Er sah sogar noch besser aus als Geoffrey Morecambe, ein Mann, der einen großen Teil seines Geldes deshalb besaß, weil er aussah wie Apollo.

Der Earl war vielleicht zwei Zentimeter größer als Benna und sein Körper war schlank und doch kräftig gebaut. Sein Haar war so dunkelbraun, dass es gegen seine blasse Haut schwarz wirkte. Ein kräftiger Kiefer, eine gerade Nase und großzügige Lippen formten sich zu einem klassisch schönen Gesicht. Doch es waren seine Augen, die seine wahre Schönheit ausmachten: schläfrig, mit dichten Wimpern und von der Farbe kräftigen nussbraunen Ales. Doch Lord Trebolton war weit mehr als irgendein großartiger mythischer Gott. Er war ein echter Held.

Benna hatte gesehen, wie er am Tag des Stolleneinsturzes der Redruth-Mine im Alleingang sechs Menschenleben gerettet hatte. Zu seiner körperlichen Perfektion und seinen edlen Eigenschaften war er ausnehmend höflich und freundlich zu allen Menschen.

Hört sich nach einem langweiligen Hund an, gab Geoffrey zu bedenken.

Benna dachte, dass der Earl of Trebolton von allen Menschen, denen sie begegnet war, einem Helden aus einem Märchenbuch am nächsten kam.

Es war interessant, dass sein warmer Ausdruck sich nur abkühlte, wenn eine Dame der hiesigen Gesellschaft sich ihm an den Hals warf – was in beinahe lächerlicher Regelmäßigkeit geschah. Es schien, als wäre jede eifrige Mutter einer Tochter im heiratsfähigen Alter im letzten Monat unter dem Vorwand, die zurückgezogen lebende Lady Trebolton zu besuchen, nach Lenshurst gekommen. In Wirklichkeit hatten sie alle nur einen Blick auf den neuen Earl werfen wollen, einen Mann, der zwei Jahrzehnte aus Cornwall fort gewesen war.

Ausnahmsweise war Benna dankbar, dass sie sich als Mann ausgab, denn das war vermutlich alles, was sie davon abhielt, sich wie all die anderen vernarrten Frauen zu verhalten, die wie Tauben um ihn herumflatterten.

Man könnte denken, du hättest mittlerweile gelernt, nicht auf ein schönes Gesicht hereinzufallen, meine Liebe.

Halt einfach die Klappe und hau ab, Geoffrey!

Niemals, meine liebste Benna, ich werde dich für immer begleiten …

Manchmal fürchtete Benna, dass das die Wahrheit war. Sie riss ihre Gedanken von der Vergangenheit los – und ihren hungrigen Blick von ihrem Arbeitgeber – und sah sich weiter in dem überfüllten, düsteren Raum um.

Zu ihrer Rechten, vor dem Kamin, lag ein Schachbrett. Die Figuren standen darauf und offenbar war ein Spiel im Gange.

Benna liebte Schach und hatte es oft mit David gespielt, als der noch nicht zu abgehoben gewesen war, um mit seiner kleinen Schwester zu spielen. Später hatte sie mit Geoff gespielt, doch der hatte irgendwann keine Lust mehr gehabt, nachdem sie ihn mehrfach vernichtend geschlagen hatte.

Schwarz war an der Reihe und Benna spielte im Kopf die nächsten Züge für jede Seite durch.

„Man nennt das Spiel Schach.“

Sie blickte auf und sah, dass der Earl sie beobachtete. In seinen Brillengläsern spiegelte sich das Licht und verbarg seine Augen.

„Ja, Mylord, ich weiß.“

Er hob seine eleganten schwarzen Brauen, bis sie unter den glänzenden Locken verschwanden, die ihm in die Stirn fielen. „Du spielst Schach?“

„Ja, habe ich aber schon länger nicht mehr.“

„Nun“, sagte er und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Sein normalerweise ernster Gesichtsausdruck war nun verblüfft. „Was für eine tolle Überraschung. Seit ich nach Hause zurückgekehrt bin, suche ich nach jemandem, mit dem ich mich messen kann.“

„Ich bin nicht besonders gut“, log sie.

„Ich auch nicht.“

Irgendwie glaubte sie ihm nicht.

„Vielleicht sollten wir eine Partie wagen, um herauszufinden, wer von uns schlechter ist“, sagte er neckend. Benna starrte ihn an. Sicher scherzte er?

Er schien über ihren entsetzten Blick amüsiert und ließ das Thema fallen. „Warum setzt du dich nicht, Ben? Ich habe im letzten Monat kaum mit dir gesprochen. Erzähl mir, wie es mit meinem Stall vorangeht.“

Benna zögerte. Was konnte sie über die Ansammlung wackliger Gebäude sagen, das ihm gefallen würde?

„Ist schon gut“, sagte er und interpretierte ihr Zögern korrekt. „Sei einfach ehrlich.“

„Zwölf Ställe sind repariert und bezugsfertig, natürlich gehört Asclepius der größte“, fügte sie hinzu. Sie bezog sich dabei auf Lord Treboltons Pferd, ein großartiges Tier, das seinem Herrn sowohl in seiner dunklen Farbe als auch in seinem königlichen Gebaren glich. „Ich habe die Zäune um die Ausläufe herum repariert und auch um den großen Reitplatz. An der Sattelkammer, der Schmiede, den restlichen Ställen und Ausläufen arbeite ich noch.“

Im Blick des Earls lag Anerkennung. „Du bist ein Wirbelwind, Ben. Ich hätte nie erwartet, dass auch nur ein Teil dessen so schnell bewerkstelligt werden könnte. Ich schäme mich, dass mir entgangen ist, dass du bei deiner monumentalen Aufgabe gar keine Hilfe hast.“ Er lächelte schief. „Ich habe keine andere Entschuldigung als die Ablenkung des Lebens. Als Erstes werde ich deinen Lohn erhöhen. Und dann darfst du einen Pfleger und einen Stalljungen einstellen, die dir zur Hand gehen. Als mein Stallmeister kannst du dir deine Angestellten aussuchen.“

Benna wusste, dass er nur helfen wollte, aber das Letzte, was sie wollte, waren weitere Bedienstete in ihrer Nähe.

„Danke, Mylord, das ist sehr großzügig. Doch ich komme sehr gut allein zurecht – zumindest solange wir nicht mehr Pferde haben.“

„Ich schätze deine Bemühungen, meinetwegen sparsam zu sein, Ben, aber ich fürchte, meine Entscheidung steht fest.“ Er sprach die Worte in seinem üblichen leisen Ton, doch Benna bemerkte den Stahl hinter dem Samt. Der Earl mochte in den letzten zwanzig Jahren ein bescheidener Landarzt gewesen sein, doch er war durch und durch Aristokrat. Lord Trebolton erwartete von seinen Angestellten Gehorsam. Er hatte nur einen sanfteren Weg, ihn einzufordern.

Nach fünf Jahren Befehlen von Geoffrey war es angenehm und leicht, für den Earl zu arbeiten. Benna senkte ihr Kinn. „Ja, Mylord.“

Er belohnte sie mit einem seltenen betörenden Lächeln, nach dem sich Benna fühlte wie nach ihrem ersten Gin.

„Was mich zum zweiten Punkt bringt: meine Nichten.“

„Äh, Entschuldigung, Sir, sagtet Ihr, Eure Nichten?“

„Ja. Keines der Mädchen ist mehr geritten, nachdem sie zu groß für ihre Ponys geworden waren. Mein Bruder hat ihnen nie Ersatz beschafft.“ Bei dieser Enthüllung verzog er den Mund. „Du hast einen ausgezeichneten Sitz und daher möchte ich dir noch weitere Pflichten auferlegen und dich bitten, den Mädchen ein paar Reitstunden zu geben. Es ist eher eine kleine Auffrischung nach der langen Zeit. Und Pferde brauchen sie ebenfalls.“

Pferde für seine Nichten auszuwählen, wäre kein Problem. Aber Reitunterricht? Doch wieder konnte Benna sehen, dass er es sich gut überlegt hatte.

„Es wird mir ein Vergnügen sein, geeignete Pferde für sie auszusuchen, Mylord.“ Das zumindest war keine Lüge.

„Ich muss in drei Tagen geschäftlich nach Truro. Normalerweise würde ich reiten, statt mit der Kutsche zu fahren, doch ich werde ein paar Besorgungen machen müssen und möchte, dass du den Wagen bereithältst.“

„Natürlich, Mylord.“

Die Reisekutsche der Treboltons war lange nicht mehr benutzt worden und es war eine Herausforderung, das Gefährt innerhalb von drei Tagen betriebsbereit zu haben.

„In Truro gibt es eine Agentur, wo du ein paar Kandidaten für die neuen Posten befragen kannst. Es gibt ebenfalls ein kleines Auktionshaus, in dem du Pferde für meine Nichten, ein sanftes Tier für die Countess, ein Pferd für den Einspänner und einen guten Ersatz für unsere uralten Kutschpferde bekommen kannst. Die sollten lieber ihren Ruhestand genießen, als dieses alte Ungetüm von einer Kutsche umherzuziehen.“

„Ja, Mylord.“

Lord Trebolton erhob sich und kam hinter seinem Schreibtisch hervor.

Benna sprang auf und der Earl legte ihr eine langfingrige elegante Hand auf die Schulter. Es war eine Geste, die besser zu Vater und Sohn als zu Arbeitgeber und Bedienstetem gepasst hätte.

Seine hypnotisierenden samtbraunen Augen befanden sich nur wenige Zentimeter über ihren. „Ich möchte, dass du weißt, wie sehr ich deine harte Arbeit schätze, Ben. Nun, da ich eine Vorstellung davon habe, wie es um das Anwesen steht, musst du nicht mehr so viel Last auf deinen Schultern tragen.“

Obwohl der Earl den Titel vor beinahe einem Jahr geerbt hatte, war er erst vor ein paar Monaten nach Lenshurst Park gekommen. Er drückte Bennas Schulter leicht. „Zögere nicht, mir von jeglichen anderen Bedürfnissen zu erzählen, die du vielleicht hast.“

Wenn er nur wüsste, um welche deiner Bedürfnisse er sich wirklich kümmern sollte … Geoff kicherte.

„Äh, danke, Mylord“, sagte Benna. Ihre Stimme klang sogar noch tiefer als normal. Sein Griff auf ihrer Schulter wurde fester. „Ich fürchte, ich muss dir noch eine letzte Pflicht auferlegen.“ Sein perfektes Gesicht wurde ernst. „Ich muss dich warnen, dass es beschwerlich und vielleicht gefährlich wird.“

Benna starrte ihn an. „Mylord?“

Sofort wurde seine Miene wieder weich und er lachte. Ein letztes Mal drückte er ihre Schulter und ließ dann seine Hand sinken. „Ich ziehe dich nur auf, Ben. Ich möchte, dass du heute Abend zu einer Partie Schach hier heraufkommst. Sagen wir, um halb zehn?“

Großer Gott, er wollte, dass sie in sein Studierzimmer kam und Zeit mit ihm verbrachte? Allein … Zusammen …

Spöttisches Gelächter erklang in ihrem Kopf. Reiß dich zusammen, du Idiotin, er hält dich für einen Mann und ist nicht in dich vernarrt.

„Ben?“ Die Brauen des Earls hatten sich besorgt zusammengezogen.

„Äh, halb zehn, Mylord. Ja, heute Abend.“

„Ausgezeichnet, bis später.“

Benna drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in einer Art Benommenheit. Ihre Schulter brannte, wo der Earl sie berührt hatte, als hätte er ihre Haut versengt.

***

Jagos Finger kribbelten vom Gefühl der überraschend zarten Schulter unter seiner Hand.

Er wusste, dass Ben Piddock schmal war, doch dass er so leicht gebaut war, war ihm nicht klar gewesen. Herrgott, wie konnte ein solcher Hänfling so hart arbeiten?

Jago hatte nicht viel mit dem jungen Mann gesprochen, seit er ihn vor einem Monat eingestellt hatte, doch er beobachtete ihn oft von seinem Studierzimmer aus, dessen Fenster auf die Ställe hinausgingen.

Dieses Zimmer war eines der wenigen im Haus mit einer so unschönen Aussicht. Es war Teil der Wohnung des Verwalters gewesen, als Jago noch ein Junge gewesen war und die Grafschaft sich einen solchen Luxus noch hatte leisten können.

Tag um Tag hatte Jago gesehen, wie der braune Lockenkopf sich über diese oder jene Aufgabe gebeugt, neue Pfosten eingeschlagen und alte, morsche entfernt hatte. Er war geschickt wie ein Eichhörnchen auf dem Schieferdach herumgeklettert und hatte mit der Kraft von drei Männern gearbeitet.

Gerade erst gestern hatte er Ben beobachtet, wie er einen uralten Trog in mühseligen Schritten zum Stall schleifte. Er hatte das alte Maultier Hector benutzt, ein launisches Tier, das bei jeder Gelegenheit nach Ben trat und biss.

Jago gefiel der Gedanke, dass er bereits vor Wochen Hilfe für Ben eingestellt hätte, wenn er mit dem desaströsen Anwesen, das er geerbt hatte, nicht so beschäftigt wäre.

Seine Lippen zuckten, als er sich an das erschrockene Gesicht des Jungen erinnerte, als er ihn gefragt hatte, ob er zum Schachspielen wiederkommen würde. Er hatte entsetzt gewirkt, als hätte Jago von ihm verlangt, nackt nach Redruth zu rennen.

Jago hielt inne. Irgendetwas an Bens erschrockenem Gesicht war ihm so vertraut vorgekommen. Es war nicht das erste Mal, dass er den Eindruck hatte, den Jungen schon einmal gesehen zu haben. Das Gefühl schien zu wachsen, obwohl er der Frage nicht näher kam, wo er das Gesicht schon einmal gesehen hatte.

Er verwarf den zermürbenden Gedanken.

Warum er Ben zum Schachspielen eingeladen hatte? Nun, er nahm an, dass das ein seltsames Verhalten für einen Earl war – mit seinen Bediensteten zu spielen. Doch es war genau das, was er in den letzten zwanzig Jahren getan hatte, wann immer ihm der Sinn danach stand. Jago fand Spiele weitaus interessanter als Dinnerpartys und leeres Geplapper – zwei Dinge, denen er sich in der Zukunft vermehrt stellen musste, wenn er wieder Teil der Gesellschaft wurde.

Doch nur weil ihm dieses neue Leben aufgezwungen worden war, hieß das nicht, dass er sein altes gänzlich aufgeben musste. Er konnte verdammt noch mal mit seinem Stallmeister Schach spielen, wenn er es wollte. Er wollte verdammt sein, wenn er alles aufgab, was er mochte, nur weil er jetzt das Oberhaupt einer verarmten, verfallenden Grafschaft war. Apropos … Jago blickte auf die Stapel von Dokumenten, Papieren und Kontenbüchern, die auf seinem Schreibtisch verteilt lagen.

Die Earls of Trebolton hatten in der Vergangenheit stets in der Bibliothek residiert. Doch als Jago nach Lenshurst Park zurückgekehrt war, hatte er entdeckt, dass der einst großartige Raum seiner Möblierung, der Vorhänge, Kunstwerke und vieler Bücher beraubt worden war.

Dort hatte eine viel zu schlechte Atmosphäre geherrscht, um darin zu arbeiten, weshalb er den schweren Mahagonischreibtisch und den Sessel seines Bruders in das leere Studierzimmer hatte bringen lassen.

Es war nicht der einzige leere Raum auf Lenshurst Park gewesen, es gab derer Dutzende. Die meisten davon waren in einem Haus mit einhundertdreißig Räumen Schlafzimmer. Sie alle waren ihrer Einrichtungsgegenstände beraubt worden.

Jago bemerkte, dass er unbewusst seine Fäuste geballt hatte. Es war ein Anzeichen für die Anspannung, die er verspürte, wann immer er in diesen Tagen über seinen Familiensitz nachdachte. Langsam streckte er seine Finger auf der Armlehne des schweren Sessels aus. Es war ein Sessel, in dem er nie geglaubt hätte, eines Tages zu sitzen. In Jagos Erinnerung hatten dieser Sessel, dieses Haus und alles darin seinem Bruder gehört. Selbst jetzt, ein Jahr nach Cadans Tod, war es noch schwierig zu glauben, dass all das nun ihm gehörte.

Doch Cadan war schon lange unter der Erde. Sein älterer Bruder, der Held seiner ersten achtzehn Lebensjahre und ein Fremder in den achtzehn danach, war nun tot.

Als Jago vom Ableben seines Bruders erfahren hatte, war er das erste Mal seit achtzehn Jahren nach Lenshurst Park heimgekehrt. Er war noch einen Monat nach dem Begräbnis geblieben, hatte dann aber zu seiner Arztpraxis im Dorf Trentham zurückkehren müssen.

Die Witwe seines Bruders, Claire, hatte ihn angefleht, nicht zurückzugehen. „Hier ist alles so durcheinander, Jago, und die Mädchen, nun, sind recht wild geworden und ich habe sie nicht mehr unter Kontrolle. Und das Haus ist so …“ Dann hatte sie zu weinen begonnen. Jago hatte es ihr nicht verdenken können. Das Anwesen war ein Desaster. Doch so mitleidig er auch gewesen war, er hatte nicht bleiben können.

„Ich hoffe, du verstehst das, Claire. Ich bin im Umkreis von mehreren Meilen der einzige Arzt und kann Trentham nicht einfach verlassen.“ Neun lange Monate hatte er gebraucht, um einen Nachfolger für das kleine Dorf zu finden, in dem er fünf glückliche Jahre verbracht hatte. In diesen Monaten war er häufig nach Cornwall gereist, um sich um die dringendsten Angelegenheiten zu kümmern, doch es war nie genügend Zeit geblieben, um in die unordentlichen Kontenbücher und Berge von Rechnungen einzutauchen.

Als Cadan starb, hatte Jago seine Schwägerin seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Nicht seit der Nacht, in der er Lenshurst Park mit nichts als einem kleinen Koffer in der Hand verlassen hatte.

Er war schockiert gewesen von den Veränderungen, die mit Claire über die Jahre vonstattengegangen waren. Als Jago Cornwall verlassen hatte, war Claire gerade neunzehn geworden. Selbst damals, als sie gerade einmal zwei Jahre miteinander verheiratet gewesen waren, hatten Cadan und Claire sich bereits verachtet.

Jago wusste, dass es hauptsächlich die Schuld seines Bruders gewesen war, dass ihre Ehe so miserabel verlief. Cadan hatte es immer bedauert, dass finanzielle Engpässe ihn zur Heirat mit einer Frau aus der Kaufmannsklasse gezwungen hatten. Er hatte Claire das nie vergessen lassen.

Es war ein außergewöhnlich unglücklicher Haushalt gewesen und sein Bruder hatte viel zu viel Zeit in London verbracht, wo er das Vermögen seiner Ehefrau verspielte.

Und so war es Jago zugefallen, sich mit der einsamen jungen Frau anzufreunden und ihr Trost zu spenden. Er und Claire waren Freunde geworden, obwohl er nie den Eindruck hatte, sie gut zu kennen.

Jago hatte gehofft, dass sie Erfüllung in ihren Kindern finden würde. Als er jedoch nach Hause zurückgekehrt war, hatte er erfahren, dass sowohl Cadan als auch Claire ihre beiden Töchter ignoriert und sich selbst überlassen hatten. Zudem hatte seine Schwägerin eine schreckliche Abhängigkeit zu Laudanum entwickelt. Jago war entsetzt gewesen, als er erfuhr, wie viel sie davon täglich konsumierte. Er hatte sie damit konfrontiert und ihr geholfen, ihren Konsum schrittweise zu reduzieren. Zum Glück hatte sie seine Hilfe angenommen, statt sich zu weigern.

„Ich danke dir für deine Hilfe und bin froh, dass du genug Anteil nimmst, um mir Unterstützung anzubieten. Ich möchte dir helfen, meine Töchter zu erziehen, Jago“, hatte sie gesagt, als er sie mit ihrer Abhängigkeit konfrontierte. „Ich werde tun, was ich kann, um meine Sucht hinter mir zu lassen.“

Was das Anwesen anging, hatte Jago geglaubt, dass er schließlich das ganze Ausmaß der finanziellen Probleme erfasst hatte. Doch gerade erst letzte Woche hatte er den Brief einer Bank gefunden – nicht von ihrer Hausbank -, der unter Rechnungen, Mahnungen und anderen Papieren gelegen hatte. Der Brief bezog sich auf ein Darlehen, das bald getilgt werden musste. Ein großes Darlehen. Wenn er nur an den Betrag dachte, wurde ihm schlecht.

Jago warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. Es war zwei Uhr und er saß bereits seit neun Uhr an diesem Schreibtisch. Es war Zeit für etwas Vergnüglicheres.

Er stand auf und ging zu dem Tisch, der unter den Fenstern mit den rautenförmigen Tudorscheiben stand. Darauf lagen die Pläne für das neue Krankenhaus von Redruth. Allein der Anblick der Zeichnungen beruhigte seine angespannten Nerven.

Jago hatte in dem Moment, in dem er von Cadans Tod erfahren hatte, gewusst, dass seine Tage als Landarzt gezählt waren. In dem Krankenhaus, das er entwarf, würde er selbst niemals arbeiten. Es war unerhört, dass sich ein Aristokrat mit etwas Sinnvollem beschäftigte, egal wie sehr er in Geldnöten war.

Doch während es einem Earl nicht gestattet war, eine berufliche Laufbahn zu verfolgen, durfte er sich in Menschenliebe üben. Stephen Worth, der reiche Amerikaner, der kürzlich Jagos gute Freundin Elinor geheiratet hatte, hatte Jago gebeten, ihm beim Entwurf des Krankenhauses zu helfen. Es würde in Großbritannien seinesgleichen suchen: ein Krankenhaus, das von einem Arzt entworfen wird, der die Heilkunst im Sinn hatte und nicht nur das Geld.

Wann immer Jago sich dem wachsenden Projekt widmete, fielen die erdrückenden Probleme der Grafschaft von ihm ab. Er korrigierte gerade die Vorstellung eines Architekten von einer Krankenhausapotheke, als ein Räuspern ihn erschreckte.

Er drehte sich um und erblickte Nance, seinen uralten Butler, der im Türrahmen stand.

„Ich bitte um Verzeihung, Mylord, aber ich habe mehrmals geklopft und keine Antwort bekommen.“ Nance war schon Butler auf Lenshurst Park, als Jago noch ein Junge gewesen war. Der arme alte Kauz verdiente eine Pension und ein Cottage.

Leider hatte Jago weder das eine noch das andere für seinen betagten Diener, also lächelte er ihn stattdessen entschuldigend an. „Ich fürchte, ich war in Gedanken versunken, Nance. Möchten Sie etwas?“

„Lady Trebolton ist mit Mrs Valera im Gelben Salon und bittet um einen Moment Eurer Zeit, Mylord.“

Bei dem Namen Valera zuckte Jago zusammen.

Es hätte ihn nicht überraschen sollen, dass Gloria Valera – ehemals Gloria Bennett – hier war. Schließlich hatte sie bereits mehrmals ihre Karte für ihn hinterlassen, seit er nach Lenshurst Park gekommen war. Ihre hartnäckigen Besuche beim Hausherrn schickten sich nicht, doch Ria hatte sich noch nie um irgendwelche Regeln außer ihren eigenen gekümmert.

Jago hatte sich davor gefürchtet, sie nach all den Jahren wiederzusehen. Man könnte sagen, dass er ihr ausgewichen war. Er war beschämt von seiner eigenen Feigheit und kam zu dem Schluss, dass es an der Zeit war, ihr gegenüberzutreten.

„Danke“, sagte er zu Nance, dessen verschnupfter Blick plötzlich recht scharf war. „Ich werde sofort gehen.“

Jago wusste, dass Nance sich an seine frühere Vernarrtheit in Ria erinnerte. Sein Butler wusste ebenfalls, dass die schöne Frau der Grund gewesen war, weshalb Cadan und Jago sich vor all den Jahren entzweit hatten. Der Gedanke, dass dieser ganze alte Skandal wieder aufgewühlt werden würde, gefiel ihm gar nicht, doch ihm war klar, dass er nichts dagegen tun konnte.

Viel zu schnell erreichte er den Gelben Salon. Er setzte ein Lächeln auf und öffnete die Tür zu dem Zimmer, das ganz in blassrosa und gelbgold gehalten war und ihm immer schlechte Laune bereitete.

Seine Schwägerin saß mit dem Gesicht zur Tür und das Erste, was Jago bemerkte, war ihre Haut, die noch blasser war als sonst.

„Claire, meine Liebe, wie geht es dir heute?“

„Es geht mir gut, Jago. Schau, wer uns besucht.“ Sie lächelte ihn nervös an und wandte ihren Blick dann dem lodernden Feuer im Kamin zu, das sie in diesem erdrückenden Salon stets am Brennen hielt.

Gloria saß mit dem Rücken zu ihm und sie betrachtete offenbar etwas, das auf dem Kaminsims stand. Sie hatte schon immer eine Schwäche für dramatische Auftritte gehabt und drehte sich nun langsam um. Die Zeit schien stillzustehen, als er den Blick aus ihren vertrauten grünen Augen erwiderte. Jago stieß den Atem aus, was die Frauen sicher gehört hatten.

Üppige rote Lippen verzogen sich auf eine Art, die ihm schon immer den Atem geraubt hatte und es offenbar auch heute noch taten.

„Hallo, Jago.“ Ria glitt auf ihn zu. Ihre schräg stehenden Augen funkelten wie Smaragde und ihr Haar hatte die Farbe glimmender Kohlen. Ihr Gesicht war genauso atemberaubend wie vor all den Jahren.

Gerade außerhalb seiner Reichweite blieb sie stehen und zwang ihn, die Entfernung zu ihr zu überbrücken, wenn er ihre ausgestreckte Hand nehmen wollte.

„Mrs Valera, welche eine Freude, Sie zu sehen“, schwindelte er und beugte sich über ihre Hand. Ihre behandschuhten Finger verspannten sich.

„Mrs Valera? Nun, wir standen uns einst so nahe wie Bruder und Schwester, Jago.“

Bruder und Schwester? Jago schnaubte. Wohl kaum. Sie senkte ihre Lider mit den kastanienbraunen Wimpern. „Für gewöhnlich nanntest du mich Ria.“ Für gewöhnlich hast du eine Menge Dinge mit mir angestellt, erinnerte ihn ihr schelmischer grüner Blick.

„Ich wusste nicht, dass du und Claire euch kennt“, sagte er und versuchte, seine Schwägerin in die Unterhaltung einzubeziehen. Schließlich war es ihr Salon und sie die Herrin des Hauses, was Ria offenbar zu ignorieren wünschte.

„Oh ja, die Countess und ich sind alte Freundinnen, nicht wahr, Mylady?“, fragte Ria und ließ sich anmutig auf einen Stuhl in Jagos Nähe sinken.

„Mrs Valera war freundlich genug, mich häufig zu besuchen“, sagte Claire und wich Rias Frage aus.

Jago unterdrückte ein Lächeln über die sanfte Zurückweisung seiner Schwägerin und setzte sich neben sie auf das Sofa.

Rias leichtes Lächeln verriet, dass Claires Antwort sie eher amüsiert als brüskiert hatte. „Das ist wahr, Mylady, und dennoch seid Ihr nie nach Stanford Hall gekommen. Ich hoffe, Ihr – Ihr beide – werdet das bald nachholen. Ihr müsst wirklich kommen und Euch mein schönes kleines Landhaus ansehen.“

Ihr schönes kleines Landhaus gehörte zu den größten Anwesen in Cornwall.

Als Claire nur lächelte, sagte Jago: „Ich freue mich darauf, es eines Tages zu sehen.“

Ria ging dazu über, Jago den Klatsch der letzten achtzehn Jahre zu erzählen, und tat dabei ihr Bestes, die Countess von der Unterhaltung auszuschließen.

So zurückhaltend, wie Claire immer gewesen war, fragte sich Jago, wie viel sie über die sinnliche rothaarige Sirene wusste, die einst jedem Mann in Cornwall den Kopf verdreht hatte, ob jung oder alt, arm oder reich, verheiratet oder nicht.

Der einzige Mann, der sich nicht von ihr hatte bezirzen lassen, war erstaunlicherweise Cadan gewesen. Tatsächlich hatte er jede Gelegenheit genutzt, um sie vor Jago schlechtzumachen.

Sie ist die Bastard-Nichte unseres Vikars, Jago. Es ziemt sich wohl kaum für den Sohn eines Earls, ihr nachzustellen wie jeder Diener und Laufbursche in der Gegend.

Das war das erste Mal gewesen, dass Jago seinem Bruder wegen Gloria Bennett einen Schlag verpasst hatte.

Er riss seinen Blick von der gefährlichen Perfektion ihres herzförmigen Gesichtes los und sah Claire an, die seit seinem Erscheinen noch blasser geworden war.

„Soll ich nach Tee läuten?“, fragte er, als Ria lange genug zu reden aufhörte. Claire öffnete ihren Mund.

„Nein, meinetwegen nicht“, sagte Ria, bevor Claire antworten konnte. „So gern ich auch bleiben und mit Euch Tee trinken würde, Mylady.“ Sie warf der Countess ein falsches Lächeln zu und wandte sich dann wieder an Jago. „Ich bin nur vorbeigekommen, um den lieben Jago willkommen zu heißen. Ich weiß, dass Ihr mit einer Eurer ältesten Freundinnen nicht auf Förmlichkeiten bestehen möchtet.“ Sie senkte ihre Wimpern und ein zarter Pfirsichton floss über ihre hohen Wangenknochen.

Er hatte ihre erstaunliche Fähigkeit vergessen, ein Erröten oder Tränen herbeizuführen, wann immer sie es wollte. Selbst mit neunzehn war sie schon eine Naturgewalt gewesen. Gott allein wusste, welche neuen Fähigkeiten sie in der Zeit seitdem gelernt hatte.

„Ich weiß nicht, ob du es gehört hast, Jago, aber ich bin jetzt Witwe.“ Ihre volle Unterlippe zitterte und sie blinzelte schnell, als müsste sie ihre Gefühle im Zaum halten.

Beinahe hätte Jago Beifall geklatscht, stattdessen sagte er: „Mein aufrichtiges Beileid.“

„Obwohl ich kein Schwarz mehr trage, werde ich meinen lieben Henry für immer betrauern.“

Ihren lieben Henry? Selbst in Trentham hatte er Geschichten darüber gehört, wie Ria ihren ältlichen reichen Ehemann an der Nase herumgeführt hatte – einen Mann, dessen Tod sie als eine der reichsten Frauen Englands zurückgelassen hatte.

„Ich habe in all den Jahren oft an dich gedacht, Jago, und ich habe so bedauert, dass …“ Sie biss sich auf die Lippe, als hätte sie gern mehr gesagt, doch dann wanderte ihr Blick zu Claire, dem Grund für ihre Zurückhaltung.

Die Countess bemerkte die Geste und errötete.

Jago stand auf. „Lass mich dich zur Tür begleiten“, bot er an. Ihre Spielchen langweilten ihn bereits und es ärgerte ihn, wie sie Claire behandelte.

„Oh, ja. Nun, seht mich nur an. Ich plappere, obwohl ich doch schon längst auf dem Heimweg sein sollte. Wie lieb von dir, mich daran zu erinnern, Jago.“

Jago ignorierte ihren Blick und lächelte warmherzig auf seine Schwägerin hinab. „Ich bin gleich zurück, Claire.“

Ria wartete, bis sie im Flur standen, bevor sie ihre Hand unter seinen Arm schob. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie erfreut ich war, als ich hörte, dass du zurück bist, Jago“, sagte sie und drängte sich dichter an ihn als nötig war.

„Sicher nicht. Du weißt, dass es mir immer an Vorstellungskraft gemangelt hat.“

Sie kicherte derb. „Oh, Liebling, du bist doch nicht immer noch böse auf mich, oder?“

Mitten in der Eingangshalle blieb Jago stehen. Zinnoberrotes, bernsteinfarbenes und grünes Licht strahlte durch die Buntglasfenster neben der Tür auf ihr wunderschönes Gesicht. Genau wie die Fenster, die ein Relikt aus der Zeit vor Heinrich VIII. waren, als Lenshurst ein Kloster gewesen war, war Gloria Valera ein Kunstwerk. Doch an ihr war nichts Heiliges. Eher das Gegenteil. Sie war eine unheilige Bedrohung für den Seelenfrieden eines jeden Mannes.

„Böse?“, wiederholte Jago und blickte dabei in Augen, die einem Mann seine Seele rauben konnten, selbst wenn er gut darauf achtgab. „Warum sollte ich denn böse sein, Gloria? Weil ich deinetwegen meinen besten Freund getötet habe?“

Jagos Zorn verblüffte ihn. Es war achtzehn Jahre her. Achtzehn Jahre! Wann würde er seinen Zorn und seine Scham überwinden, die ihn überkamen, wenn er an Brians Tod dachte?

Ria sah nur amüsiert aus. „Oh nein, Liebling, das meinte ich nicht. Ich meinte, weil ich dich dazu gebracht habe, dich in mich zu verlieben und dann dein kleines Jungenherz gebrochen habe.“ Sie lachte kehlig. Jago musste sich auf die Zunge beißen, als er mit ihr die Vordertreppe hinunterging.

Ihr livrierter Diener öffnete die Kutschentür und Jago geleitete sie hinein. Sie nahm sich Zeit, um es sich mit den trägen Bewegungen einer Katze auf dem cremefarbenen Ledersitz bequem zu machen. Sie senkte die Wimpern und ihr Gesicht drückte Verlangen aus, als sie Jagos Blick begegnete.

„Ich bin so froh, dass du wieder hier bist, Jago.“

„Ich bin nicht mehr der Mann, der ich vor achtzehn Jahren gewesen bin, Ria.“

Sie lächelte, weil er ungewollt ihren Kosenamen benutzt hatte. Ihr heißer Blick glitt mit einer schockierenden Intimität über seinen Körper. „Nun, dafür danke ich Gott, Liebling. Ich habe kein Interesse an einem bloßen Jungen.“

Jago war nicht prüde. Er hatte über die Jahre mehrere Geliebte gehabt, sich aber nie emotional auf sie eingelassen. Dafür hatte Ria vor Jahren gesorgt. Er war kein Dummkopf und wusste, dass seine Erscheinung Frauen, vor allem jüngere und leichter zu beeindruckende Frauen, zu dem Glauben verleitete, er sei eine Art Märchenheld.

Deshalb wählte er stets ältere, erfahrenere Liebhaberinnen, denen er vorab erklärte, was er wollte, und dass er lediglich an einvernehmlicher sexueller Befriedigung interessiert war.

Bei den wenigen Gelegenheiten, in denen Frauen Anzeichen zu großer Zuneigung gezeigt hatten, hatte Jago das Arrangement sofort beendet. Er hatte kein Interesse an Liebe und Leidenschaft. Nicht mehr.

Und er hatte absolut nicht die Absicht, sich ein zweites Mal in Rias trügerisches Netz locken zu lassen. Doch obwohl er all das wusste, reagierte sein Körper auf das erotische Versprechen in ihren Augen, und er wurde langsam hart.

„Ich spiele keine Spielchen mit dir, Ria. Was willst du?“, fragte er abweisend, als sie nicht aufbrach.

„Dann will ich nicht länger um den heißen Brei herumreden. Ich glaube, wir beide könnten sehr gut füreinander sein.“

„Ach ja?“

Ihre Augen funkelten ob der Zurückweisung, doch ihr Lächeln wich ihr nicht aus dem Gesicht. „Ich weiß, wie es um das Anwesen steht, mein Lieber.“ Sie schwieg, als würde sie darauf warten, dass er zugab, pleite zu sein. Als er nichts sagte, fuhr sie fort: „Ich habe, was du brauchst, Jago. Und du hast, was ich brauche.“ Sie warf ihm einen heißen, lüsternen Blick zu.

Jago wusste, dass es nicht er war, den sie begehrte, sondern seinen Titel. Selbst als sie erst sechzehn gewesen und er ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte Ria bereits gewusst, was sie wollte: Reichtum und Ansehen. Ersteres hatte sie bereits zur Genüge angehäuft. Doch Ansehen, nahm er an, war weitaus schwieriger zu bekommen.

So außergewöhnlich und wohlhabend sie sein mochte, war sie doch immer noch das Kind eines Hausmädchens und die Witwe eines Mannes, der in den Londoner Armutsvierteln geboren und aufgewachsen war.

Dass sie sich leicht einen Titel erkaufen könnte, bezweifelte Jago nicht. Doch der wäre höchstwahrscheinlich an einen uralten, syphiliskranken Spielsüchtigen gebunden, der gesellschaftlich noch mehr geächtet wäre als sie selbst.

Jago mochte sich nicht in der besseren Gesellschaft bewegen, doch nicht, weil sie ihm verschlossen war, sondern weil er einfach kein Interesse daran hatte.

Schnaubend schloss er die Tür mit mehr Kraft, als nötig gewesen wäre. „Immer noch dieselbe alte Ria, bereit, alles und jeden zu opfern, um ihren Willen zu bekommen.“

Sie legte ihre zierlichen Finger auf das halb geöffnete Fenster. „Es wäre kein großes Opfer, dich zu heiraten, Jago.“

Der Wunsch, ihr zu sagen, dass er von seinem eigenen Opfer gesprochen hatte, war stark, doch er hielt seinen Mund. So sehr er sie auch verachtete, konnte Jago nicht gänzlich ignorieren, was sie angeboten hatte. Er wollte nicht heiraten, doch ihm drängte sich der Gedanke auf, dass er das möglicherweise tun müsste. Vielleicht war es besser, die Teufelin zu heiraten, die er bereits kannte, als eine Fremde. Doch er bezweifelte es.

Statt beleidigt zu sein, weil Jago nicht mit Schmeicheleien reagiert hatte, lächelte sie. „Werde kein Opfer deines Stolzes, Jago. Geld ist nicht alles, was ich mit in die Ehe bringen würde. Wenn du neugierig bist, was ich meine, würde ich dir gern eine … Kostprobe geben.“

Er stieß ein bellendes Lachen aus und war von der sofortigen Reaktion seines Körpers mehr abgestoßen als von dem Angebot selbst. „So hartnäckig wie eh und je.“

„Hartnäckigkeit ist eine Tugend, Jago.“

„Ich wusste nicht, dass du dich für Tugend interessierst, Ria.“

Sie kicherte. „Es war so schön, dich nach all der Zeit wiederzusehen, Jago. Warte nicht zu lange, mir einen Besuch abzustatten.“

Jago trat von der Kutsche zurück. „Guten Tag, Mrs Valera.“

Gleich aussehende rothaarige Kutscher in grüngoldener Livree trieben die Zugpferde an und die Kutsche schoss nach vorn. Es war eine glänzende schwarze Monstrosität, die von vier schwarzen Pferden gezogen wurde, die beeindruckend genug waren, um des Teufels eigene Kutsche zu ziehen.

Kapitel Drei

Schottland, 1811

Sechs Jahre zuvor

,,Was willst du damit sagen, du bereitest meine Kutsche nicht vor?“

Der Stallbursche Bannock, ein weiterer neuer Angestellter ihres Cousins, musterte sie von oben bis unten missfällig. Benna konnte es ihm nicht verdenken. In dem gerüschten Tageskleid, das Michael sie zu tragen zwang, sah sie aus wie eine Närrin.

„Ich möchte mit Tom sprechen!“ Benna war so wütend, dass sie die Worte kaum hervorbrachte.

„Der alte Knacker arbeitet nicht mehr hier … Euer Gnaden.“

Was?!

Bannock nickte grinsend.

„Was ist passiert?“

„Hat geklaut.“

„Das ist eine verdammte Lüge!“, schrie Benna. „Ich möchte mit ihm sprechen, jetzt!“ Bannock wich vor ihrer Wut zurück, erholte sich jedoch schnell. „Nun, das geht nicht. Er ist noch vor dem Morgengrauen verschwunden, knapp vor dem Sheriff.“

„Wohin?“

„Keine Ahnung. Er kann froh sein, dass Seine Lordschaft ihm den Sheriff nicht hinterhergehetzt hat.“

Benna konnte sich nicht mehr an den Weg ins Frühstückszimmer erinnern, wo sie Michael bei seinem gewohnt üppigen Mahl anzutreffen erwartete. Sie schwang die Tür zu dem gemütlichen sonnigen Raum auf und empfand eine grimmige Genugtuung, als sowohl Michael als auch Fenwick zusammenzuckten.

„Nun, guten Morgen, Ben…“

„Wie kannst du es wagen, Tom des Diebstahls zu bezichtigen und ihn hinauszuwerfen?! Wie kannst du nur?!“

Michael schenkte ihr ein Lächeln, das in ihr den Wunsch hervorrief, ihm ins Gesicht zu schlagen. „Nicht vor unserem Gast, meine Liebe.“

„Er ist nicht mein Gast. Und das hier ist mein Haus und ich bin die Herrin darüber. Ich spreche, mit wem ich will, wie ich will und wann ich will!“

Michaels Lächeln schwand nicht, doch Wut verdunkelte seine Augen. „Der alte Mann wurde erwischt, als er das Sattelzeug deines Bruders verkauft hat.“

„Das ist eine gottverdammte Lüge!“, tobte Benna.

Michael machte eine diskrete Geste und die beiden Diener – Männer, die Michael mitgebracht hatte - zogen sich zurück.

„Wo ist er?“ Benna presste die Worte durch zusammengebissene Zähne.

„Wenn ihm sein Leben lieb ist, ist er meilenweit fort. Und das ist weitaus besser als das, was er eigentlich verdient hat.“

„Wer hat gesagt, er hätte Sattelzeug gestohlen?“

„Das spielt wohl keine Rolle“, sagte er kühl. „Aber wenn du es unbedingt wissen musst: Es war Diggle, der ihn erwischt hat.“

„Diggle!“ Benna schnaubte. „Warum überrascht mich das nicht?“

Am liebsten hätte sie sich auf ihren grinsenden Cousin geworfen und ihm die Augen ausgekratzt. Nur unter Aufbietung aller Kraft erinnerte sie sich daran, wie sie diese schrecklichen Neuigkeiten überhaupt erst erfahren hatte.

„Einer deiner Trottel, Bannock, hat sich geweigert, meine Kutsche für mich bereit zu machen.“

„Wenn du irgendwohin mit der Kutsche fahren möchtest, begleite ich dich gern, meine Liebe.“ Er wandte sich wieder seinem Teller zu und bestrich eine Scheibe Brot mit Butter, während Fenwick grinste und aussah, als würde er eine besonders unterhaltsame Pantomime verfolgen.

Benna sah den Narren finster an und wandte ihren Blick dann wieder ihrem Cousin zu. „Es ist nur so, dass ich nicht möchte, dass du mich begleitest, mein Lieber.“

Fenwick schnaubte und erntete einen missfälligen Blick vom Earl.

„Es ziemt sich nicht für dich, ohne Begleitung umherzufahren.“

„Ich hätte jemanden, der mich begleiten könnte, wenn du die arme Garvey nicht hinausgeworfen hättest.“

„Garvey? Ich nehme an, du meinst diese uralte geistlose Zofe, die dir gestattet hat, derart wild und ungepflegt herumzulaufen.“

„Garvey war zufällig die Amme meiner Mutter, Mylord.“

„Nun, dann war es an der Zeit, sie in den Ruhestand zu schicken, Euer Gnaden. Du darfst mit der Kutsche in die Stadt fahren, wenn du Mrs Blanchard zur Begleitung mitnimmst.“

Mrs Blanchard war eine grässliche Frau, die eines Morgens in Bennas Zimmer erschienen war und ihr erklärt hatte, sie sei ihre neue Zofe. Benna war sich sicher, dass die Frau Michaels Bett wärmte, und hatte ihr verboten, ihre Räume je wieder zu betreten.

„Mrs Blanchard ist eine Schnüfflerin, die meine Sachen durchsucht.“

Michael lachte. „Was um alles in der Welt könnte ein kleines Mädchen wie du zu verbergen haben?“

Benna ignorierte die abscheuliche Frage. „In dieser Angelegenheit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, Michael. Ich werde Diggles unerhörter Anklage auf den Grund gehen.“ Benna drehte sich auf dem Absatz um und schwang die Tür mit so viel Wucht auf, dass sie gegen die Wand knallte.

***

Der Mond schien gerade hell genug, dass Benna die Hasenohren fertigstellen konnte. Sie hatte vor ein paar Jahren mit dem Schnitzen begonnen, nachdem Tom ihr geraten hatte, sich etwas zu suchen, um ihre endlose Energie loszuwerden.

Seitdem arbeitete sie sich durch das Tierreich. Als sie vor einem Monat diese Schnitzerei begann, hatte sie sich darauf gefreut, ihre Fertigkeiten an einem so ehrgeizigen Projekt zu testen.

Nun, da sie seit mehr als zwei Wochen unter Michaels Fuchtel stand, zitterten ihre normalerweise ruhigen Hände und die für die Figur erforderlichen Feinheiten schienen außerhalb ihrer Fähigkeiten zu liegen.

Bevor sie sich versehentlich einen Finger abschnitt oder die Schnitzerei komplett ruinierte, klappte sie ihr Taschenmesser zu und schob es zusammen mit der kleinen Figur in die Tasche ihres Mantels.

Ein schneller Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass es drei war. Sie wartete bereits seit zwei Stunden. Sie stampfte auf und rieb ihre Hände aneinander. In der frostigen Nachtluft bildete ihr Atem weiße Wolken.

Benna blickte sich mit schwindender Hoffnung in dem leeren Dickicht um. Wenn Tom heute Nacht nicht hierherkam, dann wusste sie auch nicht …

„Euer Gnaden.“

Benna stieß ein beschämendes Quieken aus und fuhr herum. „Tom!“ Sie überbrückte die kurze Distanz zwischen ihnen und warf sich in seine Arme. Einen Augenblick lang erstarrte sein stämmiger Körper ob ihres ungewöhnlichen Verhaltens, doch dann tätschelte er ihr mit seinen großen Händen den Rücken. Obwohl Tom ein paar Zentimeter kleiner war als sie, hatte er schwere Knochen und war rund wie ein Fass.

„Ist ja gut, Euer Gnaden“, murmelte er an ihrer Schulter.

Widerstrebend trat Benna zurück und wischte sich die Tränen der Erleichterung von den Wangen.

„Dafür besteht kein Grund, Lady Benna“, sagte er in seinem grummeligen Ton. Als sie den Namen aus ihrer Kindheit hörte, lächelte sie. „Ich hatte schon Angst, dass du nicht kommen würdest. Wo lebst du nun? Dieser verfluchte Diggle ist derjenige, der …“

„Scht, Mylady, äh, Euer Gnaden“, korrigierte er sich schnell. „Es ist nicht gut für Euch, wenn Ihr Euch so aufregt, Mädchen.“

„Es tut mir so leid, Tom. Ich freue mich nur so sehr, dich zu sehen. Ich dachte, du hättest vielleicht …“ Stirnrunzelnd blickte sie auf einen abgewetzten Kleidersack zu seinen Füßen. „Was ist das?“ Sie hob die Stimme. „Gehst du fort?“

„Ich muss gehen, Euer Gnaden. Doch zuerst möchte ich mit Euch sprechen.“ Sein faltiges altes Gesicht schien in sich zusammenzufallen. „Etwas Schlimmes geht vor sich, Lady Benna. Es ist hier einfach nicht mehr sicher – nicht für Euch. Ich möchte Euch nicht verlassen, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.“

Benna war vor Erleichterung fast benommen, als sie seine Worte hörte. Sie war doch nicht allein.

„Ich habe meinen Cousin gestern Abend belauscht. Deshalb bin ich heute früh in den Stall gegangen und habe festgestellt, dass er dich entlassen hat. Er will mich dazu zwingen, ihn zu heiraten, Tom. Und dann will er mich irgendwo wegsperren, bis er … nun, ich weiß nicht genau, wie seine weiteren Pläne aussehen“, gestand sie. „Es hat irgendetwas mit dem Treuhandvermögen zu tun, nehme ich an.“

Tom sah nicht überrascht aus. „Ach, Mädchen“, sagte er. Die Worte klangen beinahe wie ein Stöhnen.

„Ich weiß, dass er mich lieber umbringen würde, aber das kann er nicht, ohne dass er dabei mein Vermögen verliert.“ Sie zog eine Grimasse. „Oder etwas in der Art. Ich war eine solche Närrin, Tom. Ich habe nie aufgepasst, wenn David mir früher etwas erklärt hat. Ich erinnere mich einfach nicht an die Bedingungen, die an das Treuhandvermögen geknüpft sind. Und Michael ist mein Vormund, also nehme ich an, dass sich alles unter seiner Kontrolle befindet.“ Sie runzelte die Stirn. „Oder glaubt er, dass alles in seinen Besitz übergeht, wenn er mich heiratet?“ Benna schüttelte den Kopf. „Ich kenne das Gesetz nicht, doch du kannst dir sicher sein, dass er es tut.“

Tom kaute auf seiner Unterlippe. „Nun, ich weiß auch nichts darüber, Mädchen. Aber Ihr habt doch diese Tante und noch ein paar andere Cousins und Cousinen. Könnt Ihr nicht …“

„Sie sind von Michael abhängig und würden mir sowieso niemals glauben. Was habe ich schließlich für Beweise? Nein, ich muss von hier verschwinden, und zwar schnell! Wo kann ich mich verstecken, Tom?“

„Aber das ist Wahnsinn, Lady Benna. Sicher gibt es doch irgendeinen Verwandten oder vielleicht einen Freund der Familie …“

„Du weißt, wie es hier läuft. Das letzte Mal, dass ich irgendwohin gegangen bin, ist Jahre her. Seit Papas Tod haben wir abgesehen von David, Michael und ein paar ihrer Freunde keinen Besuch gehabt. Und selbst die habe ich gemieden wie die Pest.“ Sie lachte und klang dabei mehr als nur ein bisschen hysterisch. „Ich begreife erst jetzt, dass dieser Lebenswandel dazu geführt hat, dass ich nun schrecklich angreifbar bin.“ Sie stöhnte. „Mein Gott, Tom! Er will all das in weniger als einer Woche tun, und ich habe keine Ahnung, was ich dagegen tun kann, außer abzuhauen. Und wen habe ich noch, jetzt, wo du auch fort bist?“

Er nickte. „Ich gehe zu meinem älteren Bruder“, sagte er. „Wollt Ihr mitkommen?“

„Ich denke, das ist der erste Ort, an dem Michael nach mir suchen wird. Und nach dir, falls ich direkt nach dir verschwinde.“

„Ja, sicher habt Ihr recht. Wir können woanders hingehen, nach London vielleicht. Ich suche mir Arbeit und kümmere mich um unseren Lebensunterhalt, während Ihr … nun, tut, was Ihr tun müsst.“

Der Gedanke an das, was er suggerierte, war erschreckend. Doch nicht so furchtbar, wie Michael zu heiraten.

Bennas Gedanken rasten. Mit der Angst vor Michael, die wie eine Wolke über ihrem Kopf hing, konnte sie einfach nicht klar denken. Sie begegnete Toms besorgtem Blick. „Ich glaube, das ist eine gute Idee. Papas frühere Anwälte Norris & Ridgewick sind in London. Ich bin dem alten Herrn einmal begegnet – Mr Norris -, als er vor ein paar Jahren aus London hierherkam. Er hat mit uns gegessen. Sicher erinnert er sich an mich. Ich weiß, dass David sein neues Testament von jemand anderem hat aufsetzen lassen, doch ich habe das Gefühl, dass mein Treuhandvermögen noch immer von Norris & Ridgewick verwaltet wird. Obwohl ich das nicht sicher weiß. Glaubst du, wir können davonkommen, ohne dass mein Cousin uns erwischt?“

„Er wird nach einem alten Mann und einer jungen Frau suchen, nicht nach einem alten Mann und einem Jungen.“

Benna blinzelte. „Was meinst du?“

„Erinnert Ihr Euch, als Ihr mit mir zu der Auktion in Edinburgh gefahren seid?“

Wie könnte sie das je vergessen? Es war das letzte Mal gewesen, dass sie Wake House verlassen hatte. Ihr Vater hatte sie mit zu ihrer gebrechlichen Großmutter genommen, die Benna nicht mehr gesehen hatte, seit sie ein Kleinkind gewesen war. Doch bevor sie ankamen, war die alte Dame verstorben. Während der Duke mit der Beerdigung beschäftigt war, hatte Benna Reithosen angezogen und sich mit Tom davongeschlichen. Sie waren zur Auktion gegangen, wo niemand bemerkt hatte, dass sie ein Mädchen war. Nicht gerade eine erbauende Erkenntnis für eine Dreizehnjährige, dass sie so leicht als Junge durchging, aber …

„Glaubst du wirklich, das könnte klappen?“, fragte sie Tom.

„Ihr müsstet Euer Haar schneiden.“ Er musterte sie nachdenklich. „Und dann ist da noch die Farbe.“ Er meinte das charakteristische Flachsblond, das sie von ihrem Vater geerbt hatte.

„Erinnerst du dich an Miss Taverner?“, fragte Benna.

Tom machte ein säuerliches Gesicht. „Oh ja, die …“

Miss Taverner war eine grässliche Gouvernante gewesen, die nach drei Monaten den Dienst des Dukes verlassen hatte, nachdem Benna sie ein wenig dazu ermuntert hatte. Die Frau hatte ihre Haare pechschwarz gefärbt, wodurch sie ein bisschen wie eine Leiche ausgesehen hatte.

„Das würde gehen“, stimmte Tom zu. „Aber färbt es vielleicht nicht zu dunkel. Und Ihr könntet behaupten, jünger als siebzehn zu sein, was die Abwesenheit eines Bartes erklären würde. Ich denke, für fünfzehn würdet Ihr durchgehen. Oh, und was ist hiermit?“ Er griff in seine Tasche und zog ein kleines Holzkästchen hervor. „Hier“, sagte er und klappte seine Brille auseinander. „Setzt die auf.“

Benna schob die Brille auf ihre Nase. „Herrgott“, sagte sie, als ihr von der Vergrößerung schwindlig wurde. Tom grinste. Die Konturen seines Gesichts waren verschwommen. „Ihr seht gar nicht wie Ihr aus, Euer Gnaden.“

„Du musst aufhören, mich so zu nennen, Tom. Es ist zu verräterisch.“ Sie blinzelte hinter den dicken Brillengläsern. „Die Brille mag eine gute Verkleidung sein, aber ich glaube nicht, dass ich gehen kann, ohne irgendwo dagegen zu laufen.“ Sie nahm sie ab und gab sie Tom zurück.

„Oh, nun, es war die stärkste Brille, die der Optiker hatte. Wir können eine besorgen, die nicht so schlimm ist. Ich habe ein paar Kröten gespart.“ Er klopfte sich auf die Tasche, in der er wohl sein Geld aufbewahrte. „Aber nicht genug, damit Ihr weiterhin ein behagliches Leben führen könnt, Euer … äh, Junge. Könnt Ihr irgendwie …“ Kopfschüttelnd brach er ab. „Gott, ich kann nicht glauben, was ich da sage! Wenn der alte Duke noch hier wäre, würde er …“

„Wenn mein Vater hier wäre, hätte ich dieses Problem nicht. Aber das ist er nicht mehr, Tom. Und was du sagst, ergibt sehr wohl Sinn, wenn man meine Optionen betrachtet. Ich muss weg von Michael, und zwar bald. Geld habe ich keines, fürchte ich, aber ich habe einen Haufen Schmuck, den ich verkaufen kann.“ Sie runzelte die Stirn. „Wenn ich einen Weg finde, es aus dem Tresor zu holen.“

Tom nickte mit abwesendem Blick. „Was glaubt Ihr, wie lange Ihr Euch verstecken müsst? Und wie soll das enden?“

„Ich weiß es nicht“, gestand sie. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich länger als ein paar Wochen verkleiden muss.“

„Glaubt Ihr, diese Anwälte können helfen? Was, wenn sie glauben, dass Ihr zu Eurem Vormund zurückkehren solltet, weil das Gesetz es so will?“

Daran hatte Benna nicht gedacht. Würde Mr Norris sich verpflichtet fühlen, sie zu Michael zurückzuschicken? Welche Beweise hatte sie für die Pläne ihres Cousins? Benna schob die schrecklichen Fragen beiseite. Sie schienen sich zu vermehren wie Kaninchen, während sie einfach nur dastand.

„Darüber kann ich mir später Gedanken machen. Irgendwen muss es doch geben, an den ich mich wenden kann, wenn nicht Mr Norris. Ich muss nur nachdenken. Und das kann ich nicht hier tun. Vielleicht wache ich morgen schon auf und befinde mich auf dem Weg zu irgendeinem scheußlichen Ort mit vergitterten Fenstern und …“

„Sieh mal an, wen wir hier haben – einen Verurteilten und seine Komplizin.“

Benna schrie auf und fuhr herum. Diggle stand am Ende des unebenen Pfades, der ins Dickicht führte, und grinste von einem Ohr zum anderen. Benna sah sich panisch um.

„Nein, Kleines, ich bin allein.“ Diggle kicherte hässlich. „Brauche wohl kaum Hilfe, wenn ich einen alten Vogel und ein mageres Küken rupfen will.“ Er kam auf sie zu.

Tom streckte einen Arm aus und schob Benna unsanft hinter sich. „Lauft, Euer Gnaden!“

„Nein, Euer Gnaden“, spottete Diggle, griff in seinen graubraunen Mantel und zog einen Knüppel hervor. „Du bleibst schön hier, Schätzchen.“ Diggle war ein stämmiger Mann, doch er bewegte sich so schnell, dass Benna ihm mit ihrem Blick kaum folgen konnte. Sein Arm schnellte in die Höhe und die Keule sauste mit einem Übelkeit erregenden dumpfen Geräusch auf Toms Kopf nieder.

„Tom!“, schrie Benna, als der alte Mann wie ein gefällter Baum zu Boden ging. Sie sank neben Toms reglosem Körper auf die Knie und beugte sich über ihn, bis sie einen warmen Lufthauch auf ihrer Wange spürte. Beinahe hätte sie vor Erleichterung geweint. „Wir müssen ihn schnell zu einem Arzt bringen, oder …“ Eine große Hand legte sich auf ihre Schulter und zog sie auf die Füße, als wäre sie eine Lumpenpuppe. „Nein, ich glaube, wir lassen der Natur einfach ihren Lauf, Euer Gnaden.“

„Lass mich gehen, du … du Tier!“ Benna wand sich und Diggle drehte ihr den Arm auf den Rücken und hielt ihn dort fest. Sie schrie auf, als er ihren Ellbogen nach oben zog und Schmerz ihre Schulter durchzuckte.

„Gutes Mädchen“, lobte er, als sie stillhielt. Benna wimmerte. Ihr freier Arm hing an ihrer Seite herab. Da spürte sie etwas Hartes in ihrer Manteltasche.

Ihr Taschenmesser.

„Wenn du nun einfach brav mit mir kommst, werde ich das Seil in meiner Tasche nicht benutzen.“

„Ich wehre mich nicht“, versprach Benna ergeben, während sich ihre Hand um den Holzgriff schloss und die Klinge aufschnappen ließ. Kichernd ließ Diggle ihren Ellbogen los. „So ist es brav, Mädchen.“

Benna schwang ihren freien Arm mit aller Kraft zurück. Diggle gab ein Grunzen von sich, als die Klinge etwas Warmes, Weiches traf. Benna hörte ein gurgelndes Geräusch und Diggles Hand verschwand gänzlich von ihrem Arm. Sie stolperte nach vorn und drehte sich dann um. Das Bild ihres Messers, das in Diggles Kehle steckte, würde sie ihr Leben lang begleiten. Seine Augen waren weit aufgerissen und er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Seine Finger tasteten krampfhaft nach dem Messergriff, den er jedoch nicht zu fassen bekam, obwohl er in seinem eigenen Hals steckte. Zu ihren Füßen gab Tom ein Stöhnen von sich. Ohne Diggle aus den Augen zu lassen, sank Benna wieder neben Tom auf die Knie.

„Kann schlecht sehen“, zischte Tom blinzelnd. Seine Pupillen waren riesig.

„Ich muss dich zu einem Arzt bringen.“ Benna schob ihre Hände unter seine Schultern und versuchte ihn anzuheben. „Hilf mir, Tom, ich kann dich nicht heben, ohne …“

Er stöhnte und Benna sah, dass Blut aus seinem Ohr sickerte.

„Oh Gott.“ Entsetzt starrte sie auf das Ohr hinab, das nun stärker blutete. Statt ihn weiter hochzuhieven, ließ sie ihn wieder zu Boden sinken. „Tom? Kannst du mich hören?“

„H…hört mir zu, Mädchen.“ Die Worte waren kaum zu hören. „Bitte …“

„Ich höre zu.“

Er schluckte mehrmals. „Nehmt meinen Mantel, meinen Hut und meine Tasche. Durchsucht auch Diggles Taschen. Nehmt alles mit, was einen Wert hat.“

„Aber …“

„Keine Widerrede!“

Sie biss sich fest genug auf die Lippe, dass sie Blut schmeckte, und nickte.

„Habe nicht viel … Zeit.“ Er hustete und schrie vor Schmerz mitleiderregend auf. „Süden. Geht nach Süden. Wenn Ihr Hilfe braucht, schreibt meinem Bru… Aaah!“ Sein Rücken wölbte sich in einem Krampfanfall, der seinen gesamten Körper erfasste. Sein Gesicht war im Todeskampf verzerrt.

„Tom?“, kreischte Benna und schüttelte seine steife, reglose Gestalt. Statt zu antworten, sackte er schlaff in ihren Armen zusammen. Benna drückte seine Schultern. „Tom?“ Sie schüttelte ihn. „Tom!“

Doch der alte Mann bewegte sich nicht mehr.