Leseprobe Die verführerische Lady und der Lord

Kapitel 1

Ein sehr winterlicher Nachmittag in London

Januar 1823

„Ich schätze, Ihr bevorzugt das White’s“, sagte Henry Winslow schleppend.

Robert Carlisles Blick wanderte vom Rauch, der kräuselnd von der Spitze seiner Zigarre in die Luft aufstieg, zu dem Mann, der im Raucherraum des Brooks’s neben ihm in einem Ledersessel saß. Das knisternde Feuer vor ihnen vertrieb die Kälte des Winters, der draußen vor den großen Fenstern mit grauen Wolken mit Schnee drohte.

„Ich bevorzuge es, hier bei den echten Lenkern Englands zu sein“, korrigierte Robert beiläufig. „Geschäftsmänner, Kaufmänner, Händler, Importeure – die Männer, die England in Gang halten.“

„Hört, hört!“ Winslow hob sein Glas und keuchte leise, als er einen Schluck trank.

Robert steckte sich die Zigarre zwischen die Zähne, ehe Winslow sein selbstzufriedenes Lächeln sehen konnte. Tatsächlich bevorzugte er das Boodle’s, wo man beim Spielen mehr Talent brauchte, die Einsätze höher waren und interessantere Frauen durch den Hintereingang eingelassen wurden. Doch er hatte kein Problem damit, dem Mann für seine Wahl des Clubs zu schmeicheln, da er Henry Winslow brauchte.

Besser gesagt: Er brauchte Winslow Shipping and Trade.

Er lehnte sich in den Sessel zurück und streckte die Beine zum Kamingitter aus, um ganz den selbstbewussten Geschäftsmann zu geben, obwohl er verdammt angespannt war. Er hatte zwei Jahre lang auf diese Gelegenheit gewartet. Zwei Jahre lang war er kalkulierte Risiken eingegangen, um sein Vermögen und seine Verbindungen zu vergrößern, hatte unsichere Schiffsanteile aus Indien und dem Fernen Osten erworben, nur um sich unter den Männern bewegen zu können, die die Auktionen veranstalteten, und hatte ganze Lagerhäuser voller Waren an- und verkauft, um sich unter den Kaufleuten einen Namen zu machen … und all das gipfelte in diesem Moment. Um zusammen mit dem größten Handelsunternehmen im gesamten British Empire neue Pläne zu schmieden.

Er wollte verdammt sein, wenn er sich diese Gelegenheit entgleiten ließe.

Er sagte so ungezwungen wie möglich: „Ich hörte, dass Sie Ihre Handelsrouten ausweiten.“

„Ha!“ Winslow schnippte die Asche seiner eigenen Zigarre auf den Boden. „Wo habt Ihr das gehört?“

„Ich habe gute Kontakte.“ Die besten sogar. Und Winslow wusste das auch, sonst hätte er ihn gar nicht erst hierher eingeladen. „Außerdem hörte ich, dass Sie dafür nach einem Partner suchen.“

„In der Tat.“ In Winslows Augen funkelte die Anerkennung für Roberts Direktheit. „Ich möchte mit neuem Blut Schwung in mein Unternehmen bringen. Ich suche jemanden, der den Ansporn und die Ambition hat, sich einen Namen zu machen.“ Er erhob sich aus dem Sessel und trat ans Feuer, um sich die Freiheit zu nehmen, mit dem Messingschürhaken die Flammen anzufachen. „Ich habe ein außergewöhnliches Unternehmen und brauche für die Leitung außergewöhnliche Männer.“

Robert lächelte angespannt. Außergewöhnlich, durchaus.

Henry Winslow mochte ein arroganter Angeber sein, doch als Englands erfolgreichster Geschäftsmann hatte er auch alles Recht dazu. Er war der alleinige Eigentümer vom Winslow Shipping and Trade und damit einer der wenigen bedeutenden Kaufleute, die es geschafft hatten, reicher als zuvor aus dem Krieg hervorzugehen. Alles nur mit Entschlossenheit, der Bereitschaft, Vermögen zu riskieren, und gutem, altem Glück. Winslow war ein Titan, was Reichtum und Einfluss anging, und er hatte noch nie zuvor einen Partner in seine Geschäfte einbezogen, doch Robert hatte sein Unternehmen gründlich studiert und wusste, dass er der perfekte Mann dafür war.

Und diese Partnerschaft wäre die Erhörung all seiner Gebete.

„Ich biete eine begrenzte Beteiligung an, wie Ihr wisst“, sagte Winslow mit geschwellter Brust; eine Geste, die eher besitzergreifend als stolz wirkte. „Einen kleinen Anteil. Vielleicht sieben Prozent.“

Robert verengte die Augen. Sehr viel kleiner, als er gehofft hatte. Doch es würde ausreichen. Fürs Erste. „Sie haben noch nie zuvor einen Partner eingebunden. Warum jetzt?“

Winslow starrte ins Feuer. „Es sind Veränderungen notwendig. Ein Mann, der nicht erkennt, dass es Zeit ist, Gewohnheiten zu ändern, kann sich auch gleich zur Ruhe setzen.“ Er stieß mit dem Schürhaken gegen die Holzscheite, was einen Funkenregen aufsteigen ließ. „Doch was den Zeitpunkt angeht – Töchter.“ Er atmete schwer aus und schüttelte den Kopf. „Wie soll ein Geschäftsmann sicherstellen, dass seine Familie vom Erbe profitiert, wenn er nur Töchter hat?“

Robert antwortete nicht. Sein eigener Vater hatte sich nie mit solchen Fragen aufgehalten. Stattdessen hatte Richard Carlisle Wert auf Charakter, Fleiß und Hingabe zur Familie gelegt und sein Söhne niemals für wertvoller als seine Tochter gehalten. Sie waren alle seine Kinder und alle gleichermaßen in der Lage, sich seinen Stolz zu verdienen.

Und Robert war fest entschlossen, genau das zu tun. Er würde ein Mann werden, auf den sein Vater stolz sein könnte, und er würde sich von nichts und niemandem aufhalten lassen.

„Vielleicht wird eine von ihnen einen Gentleman heiraten, den Sie ins Unternehmen holen können.“ Um seiner selbst willen betete Robert, dass die beiden Töchter Winslows zahnlose, kahlköpfige Jungfern über dreißig waren, die niemals einen ambitionierten Emporkömmling heiraten würden, der ihm diese Gelegenheit wegschnappen könnte.

„Nein, nicht in mein Unternehmen. Keine Schwiegersöhne“, knurrte Winslow, während er den Schürhaken wegstellte und dann die Hände aneinander rieb, um den Ruß loszuwerden. „Ihr kennt meine Töchter nicht, oder, Carlisle?“

Robert schüttelte den Kopf. Üblicherweise handelte es sich bei seiner weiblichen Gesellschaft eher um Witwen mit Erfahrung, statt um die alten Jungfern eines Kaufmannes.

„Ich fürchte, ihr Ruf eilt ihnen voraus.“ Winslow verschränkte die Hände im Rücken und starrte mit vorgestrecktem Bauch in die Flammen hinunter. „Ihre Mutter starb, als die beiden noch jung waren; erst zehn und elf. Ich schätze, ich hätte eine Stiefmutter für sie finden sollen, die sie zu anständigen jungen Damen hätte erziehen können, so wie es sich meine verstorbene Frau gewünscht hat. Doch das Geschäft bedurfte meiner Aufmerksamkeit und ich hatte kaum genug Zeit, eine Gouvernante zu finden, geschweige denn eine Frau.“ Er hielt inne und räumte dann ein: „Und um die Wahrheit zu sagen, wollte das ein Teil von mir auch gar nicht. Es hätte sich angefühlt, als würde ich versuchen, meine geliebte Beatrice zu ersetzen.“

Dafür hatte Robert Verständnis. Genau deshalb würde seine eigene Mutter nie wieder heiraten.

„Doch wenn ich mir jetzt meine Töchter ansehe …“ Winslow seufzte lange und leidvoll. „Ich bedauere diese Entscheidung.“

„Nehmen sie beide an der Ballsaison teil?“, fragte Robert neugierig. Höfliches Geplauder wurde von ihm erwartet. Außerdem war es unerlässlich, Winslow besser kennenzulernen, damit sich später keine Überraschungen ergaben.

„Ja.“ Das einzelne Wort klang grimmig und verdrießlich. „Doch es ist für die beiden die siebte und die fünfte Saison und ich fürchte, dass es zu spät sein könnte.“

Robert blinzelte verblüfft. Fünfte und siebte? Du lieber Himmel. Er hatte noch nie von jungen Damen gehört, die so häufig an einer Ballsaison teilnehmen mussten, um einen Ehemann zu finden. Insbesondere bei Frauen, die erben würden. Selbst wenn die beiden jeweils zwei Köpfe hätten, müssten die Mitgiftjäger dem Mann die Türen einrennen.

„Haben Eure beiden Brüder nicht im vergangenen Jahr geheiratet?“, fragte Winslow, da er wie jeder andere Mann in Mayfair wusste, dass die Carlisle-Brüder einer nach dem anderen vor den Traualtar getreten waren. Robert war der letzte aus einem Trio, das immer als Verderben der heiratswütigen Mütter des ganzen Landes gegolten hatte.

„Ja.“ Und möge Gott ihren Junggesellenseelen gnädig sein.

Oh, sie schienen beide recht glücklich zu sein. Insbesondere Sebastian wirkte so entspannt wie schon seit Jahren nicht mehr, was alles seiner Ehefrau Miranda zu verdanken war. Sie war gewiss nicht die perfekte Duchess, doch es hatte sich herausgestellt, dass sie zwar nichts von dem verkörperte, was Sebastian von einer Ehefrau erwartet hatte, doch alles, was er von einer Frau brauchte. Sein Bruder war glückselig zum Feind übergelaufen und so vernarrt in sie wie ein anhänglicher Welpe. Und seit sie schwanger war, überhäufte er sie bloß noch mehr mit Aufmerksamkeit.

Sein jüngerer Bruder Quinton war kaum besser. Dank seiner Ehefrau Annabell versank er bis zum Hals in der Arbeit mit Pächtern, Höfen, Vieh und Nutzpflanzen, und doch war er noch nie so sehr auf seine Zukunft fokussiert gewesen und froh damit, an eine Frau gekettet zu sein, die ihm in Verstand und Charme mehr als ebenbürtig war.

„Habt Ihr vor, Euch ihnen anzuschließen?“ Winslow nahm von einem Diener ein neues Getränk entgegen.

Robert steckte sich die Zigarre zwischen die Zähne und schüttelte entschieden den Kopf. „Ich habe es nicht eilig, mich in Gefangenschaft zu begeben.“

Seine Mutter hatte da allerdings andere Pläne. Elizabeth Carlisle war ganz außer sich vor Glück, jetzt, da drei ihrer vier Kinder verheiratet waren, sie bereits zwei Enkelkinder hatte und ein weiteres auf dem Weg war – was bedeutete, dass sie fest entschlossen war, auch Robert dieses Eheglück zu bringen; selbst wenn ihn das umbringen sollte.

Er liebte seine Mutter sehr. Doch auch wenn er beinahe alles getan hätte, um sie glücklich zu machen, überschritt ein Heiratsantrag eindeutig die Grenze. So wie er niemals vorhatte, ein schlechtes Geschäft einzugehen, würde er auch keine Ehe eingehen. Insbesondere, da so ein Eheschluss in seinen Augen ohnehin bloß eine weitere geschäftliche Abmachung war, die verhandelt und vertraglich gebunden wurde. Doch aus dieser kam ein Mann nicht mehr heraus, wenn sie schlecht lief.

„Habt Ihr in der vergangenen Ballsaison nicht General Morgans Tochter den Hof gemacht?“, fragte Winslow. Anscheinend war Robert nicht der Einzige, der für dieses Treffen seine Recherchen angestellt hatte.

„Ja“, räumte er einen Hauch reumütig ein. „Aber wir haben in beiderseitigem Einverständnis davon Abstand genommen.“

Und so war es besser für sie beide. Diana war anschließend vom jüngsten Sohn des Duke of Wembley der Hof gemacht worden und Robert hatte erkannt, dass er lieber Junggeselle bleiben wollte. Sie hatten ihr Werben ohne Groll beendet und waren gute Bekannte geblieben. Sehr zu seiner Erleichterung, da er keine Lust darauf gehabt hätte, bei Morgengrauen ihrem Bruder Garrett mit Pistolen bewaffnet beim Duell gegenüberzustehen.

„Sie können sich gewiss sein, dass eine Ehe nicht in meiner Zukunft liegt und ich dem Unternehmen meine volle Aufmerksamkeit schenken werde.“ Robert tauschte sein leeres Glas gegen ein volles, das ihm vom Diener angeboten wurde, und erklärte: „Immerhin hatte ich das große Glück, als zweitgeborener Sohn zur Welt zu kommen.“

Winslow lachte so laut, dass er sich einen irritierten Blick von Lord Daubney einfing, der in der Ecke saß und die Times las.

„Ein zweitgeborener Sohn mit einem glücklich verheirateten, älteren Bruder – sehr glücklich verheiratet, wenn Sie verstehen“, führte er aus. Diese Andeutung entlockte Winslow ein weiteres Lachen. „Ich bin ein Mann, dem keinerlei Gefahr droht, einst Erbe zu werden, daher droht mir auch nicht die Gefahr, mir eine Ehefrau nehmen zu müssen.“

Doch er war ein Mann, der dringend eine Partnerschaft brauchte. Und zwar speziell mit diesem Unternehmen. Die Interessen von Winslow Shipping ersteckten sich um den ganzen Globus und es gab erfolgreiche Projekte in Indien, dem Fernen Osten und auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Das Unternehmen war schon jetzt das größte Einzelunternehmen im ganzen Empire und würde in den kommenden Dekaden exponentiell wachsen. Eine Partnerschaft mit Winslow zu ergattern, wäre, als würde man das Goldene Vlies finden. Die beste Gelegenheit beim besten Unternehmen.

Und es war der beste Weg, um im Gedenken an seinen Vater zu beweisen, dass er des Namens Carlisle würdig war. Alles darunter wäre ein Scheitern.

Natürlich hatte er deshalb seine Pläne für diese Partnerschaft vor seiner Familie geheim gehalten. Es war ihnen ohnehin schon unbehaglich, dass er sich für die Geschäftswelt als Lebensweg entschieden hatte, statt einen der Wege einzuschlagen, die zweitgeborenen Söhnen üblicherweise offenstanden. Doch er hatte nichts für das Recht oder die Medizin übrig, und es mangelte ihm an Disziplin für das Militär sowie moralischer Standhaftigkeit für die Kirche. Er hatte weder vor, Leben zu beenden, noch Seelen zu retten.

Der andere Grund für sein Geheimnis war natürlich die Tatsache, dass die anderen Familienmitglieder ihn immer noch für Richard Carlisles Tod verantwortlich machten. Er wusste, dass dem so war, denn er gab sich selbst noch immer die Schuld dafür.

Er schob die Übelkeit erregenden Schuldgefühle ob der Gedanken an diese schreckliche Nacht vor zwei Jahren beiseite und lehnte sich vor, eifrig darauf bedacht, die Bedingungen auszuhandeln. „Dann ziehen Sie also in Betracht …“

Plötzlich war draußen Krach zu hören. Wütende Schreie und Spott mischte sich in das immer lauter werdende Hufgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster.

„Was in aller Welt?“ Winslow legte die Stirn in Falten und trat an das hohe Fenster.

Robert erhob sich ebenfalls aus seinem Sessel und begab sich zu ihm, wobei er seinen Zigarrenstummel ins Feuer warf. Lord Daubney ließ seine Zeitung sinken, als er endlich alle Hoffnung darauf fahren ließ, sie noch zu lesen, kam herbeigeeilt und gesellte sich zu den Männern, die sich am Fenster versammelt hatten und das Spektakel unten auf der Straße beobachteten.

Daubney murmelte fassungslos: „Ein Phaeton – gelenkt von einer Frau?“

„Auf der St. James’s Street!“ Der Besitzer des Clubs war ganz aufgebracht.

„Das ist keine Frau“, stellte ein anderer Gentleman mit einem Kopfschütteln fest. „Das ist der Satansbraten.“

Robert sah zu, während die Kutsche vorbeiraste. Oh, das war definitiv ein Satansbraten.

Er hatte noch nie mit dieser Frau gesprochen, geschweige denn sie jemals gesehen, doch er kannte sie aus nutzlosem Tratsch. Doch sie musste es einfach sein. Keine andere Dame hätte so etwas gewagt. Es war die berüchtigte Frau, die sich eine Freude daraus machte, die biederen, alten Herren in Adelskreisen zu erzürnen. Und allem Anschein nach war sie genauso wunderschön und dreist, wie in den Gerüchten behauptet wurde. Wäre sie auf einem Ball aufgetaucht, würden sich etliche Gentlemen gegenseitig zerfleischen, um die Aufmerksamkeit dieser dunkelhaarigen Schönheit zu erringen. Doch hier auf der Straße, vor Londons exklusivstem Herrenclub, wo eine respektable Frau ohne männliche Begleitung niemals auch nur einen Fuß vor die Tür gesetzte hätte, verspotteten die Gentlemen sie.

Robert konnte sich das bewundernde Lächeln nicht verkneifen, obwohl er aus erster Hand wusste, welche Gerüchte nach einer solch haarsträubenden Tat auf sie einprasseln würden.

„Und das ist der Grund, warum meine Tochter schon ihre siebte Ballsaison bestreitet“, murmelte Winslow leise vor sich hin, während die anderen Männer zu ihren Sesseln zurückkehrten, jetzt, da das Spektakel vorüber war.

„Wie bitte?“

„Das, Carlisle“, erklärte er, während er den Rücken straffte, um das Gewicht der Demütigung zu tragen, und sich vom Fenster wegdrehte, „ist meine Tochter Mariah.“

„Der Satansbraten?“, rief Robert entgeistert, ehe er sich bremsen konnte. Seine Gedanken rasten, während er versuchte, sich an den Namen aus den Gerüchten zu erinnern. Dann traf es ihn wie ein Schlag – Mariah Winslow.

Winslow Shipping and Trade.

Himmel.

Winslow hatte die Lippen fest aufeinandergepresst, anscheinend weniger beleidigt von dem Schimpfnamen, mit dem sie gebrandmarkt worden war, als von seiner Tochter selbst. „Und neben ihr saß ihre Schwester Evelyn, die ebenso entschlossen in den Sumpf der Skandale hineinsteuert.“

Das war wohl eine Erklärung für all diese Ballsaisons ohne Heiratsanträge. Und dieser jüngsten Darstellung nach zu urteilen, würde es auch in diesem Jahr keine geben. Wenn die Carlisle-Brüder die Plage von Mayfair waren, dann waren diese beiden Frauen ihre weiblichen Entsprechungen. Zwei junge Damen, die es irgendwie schafften, der gehobenen Gesellschaft eine lange Nase zu machen, und es dennoch kreativ vermieden, ihren Ruf völlig zu ruinieren.

„Ich habe ihrer Mutter auf dem Totenbett versprochen, dass ich anständige Damen aus ihnen machen würde, doch ich bin gescheitert“, klagte Winslow mit einem düsteren Stirnrunzeln. „Insbesondere bei Mariah. Sie interessiert sich kein bisschen für gesellschaftliche Veranstaltungen, den Haushalt, Mode oder Blumen … all diese Dinge, die andere junge Damen mögen.“ Er machte eine abweisende Handbewegung. „Stattdessen würde sie lieber im Heuerbüro arbeiten und ihre Zeit an den Kaien mit Hafenarbeitern oder Matrosen verbringen, wenn sie nicht ihr Geld an Straßenkinder verschwendet.“

Robert hatte Mitgefühl mit dem Mann, doch er kam nicht umhin, seine Töchter ein wenig zu bewundern. Sie gehörten definitiv nicht zu den langweiligen Frauen, die den erdrückenden Regeln des Heiratsmarktes folgten wie Lämmer, die zur Schlachtbank geführt wurden. Sie sollten sich glücklich schätzen, den Fesseln der Häuslichkeit entkommen zu sein, die jungen Damen von der Gesellschaft angelegt wurden. Man erwartete von ihnen nur, Feste zu veranstalten, Erben zur Welt zu bringen und sich mit Stickarbeiten und Wasserfarbmalerei aufs Land zurückzuziehen.
„Mariah braucht einen Ehemann, mit dem sie sich als anständige Frau niederlassen kann“, murmelte Winslow, während er sich den verspannten Nacken rieb. „Doch ich habe keine weiblichen Verwandten, die sie vorstellen könnten, und daher keine Chance auf angemessene Verehrer für sie.“

Robert hob sein Glas an die Lippen und murmelte trocken: „Zu schade.“ Es fiel ihm schwer, den Mann zu bemitleiden, wo seine Töchter doch praktisch vor Freiheitsgefühl gestrahlt hatte, als sie vorbeigerast waren.

Winslow wandte sich mit durchdringendem Blick zu Robert um. „Doch Ihr schon.“

Er verschluckte sich an seinem Cognac. „Was?“

„Ich brauche einen Partner, der Verbindungen in Adelskreise hat und kühn genug ist, sie auch zu benutzen“, sagte er frei heraus und legte damit all seine Karten auf den Tisch. „Bittet Eure Verwandten, Mariah durch diese Ballsaison zu geleiten, dann werde ich Euch eine Partnerschaft garantieren. Zwanzig Prozent Beteiligung, wenn ihr ein respektabler Gentleman bis zum letzten Tag der Parlamentssitzungen einen Antrag macht.“

Robert starrte ihn an. Der Mann war wahnsinnig.

Doch er meinte es völlig ernst.

„Eine Partnerschaft“, haspelte Robert, um sicherzugehen, dass er die Worte richtig verstanden hatte, „wenn ich im Gegenzug Ihre Tochter verheirate?“

Winslow nickte knapp, wobei ihm Frustration aus jeder Pore zu strömen schien.

Robert starrte ihn ungläubig an. Dieses Angebot war grotesk. Ein Test, um seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, wäre nicht abwegig gewesen. Aber das? Herr im Himmel.

„Da scheint ein Missverständnis vorzuliegen“, sagte er schleppend, während er sich ein Grinsen abrang und sich Mühe gab, seinen Ärger nicht zu zeigen. Obwohl die Partnerschaft jetzt auf dem Tisch lag, hatte er das Gefühl, sie würde ihm durch die Finger gleiten. „Sie verwechseln mich wohl mit einer Heiratsvermittlerin.“

Winslow schüttelte den Kopf. „Mariahs Verhalten muss sich ändern. Es ist zu ihrem Wohl und ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Einen Ehemann für sie zu finden, ist der beste Weg, um sie vor sich selbst zu schützen.“ Er fixierte Robert mit einem durchbohrenden Blick. „Und Ihr seid der richtige Mann dafür.“

Das war ganz und gar nicht die Art, auf die er sich beweisen wollte. Doch er war versucht, anzunehmen; sehr sogar. Insbesondere, wenn Winslow es so darstellte.

Auf eigene Faust würde Mariah Winslow gewiss keinen guten Ehemann finden, und er würde nur das tun, was andere Männer schon seit Jahrhunderten für ihre weiblichen Verwandten taten – sicherstellen, dass sie in eine gute Ehe gingen. Und ja, es ging darum, sie vor sich selbst zu schützen. Wenn sie so weitermachte wie bisher, würde es die geringste ihrer Sorgen sein, dass sie unverheiratet bliebe, denn ihr Verhalten könnte sie zu einer gesellschaftlich Ausgestoßenen machen. Und es wäre wirklich eine Schande, wenn dem Satansbraten so etwas zustieße.

Für sie ging es um eine dringend nötige Ehe, für ihn um eine Partnerschaft … Er wäre ein Narr, sich da sein Gewissen in die Quere kommen zu lassen. Und doch nagte das ungewisse Gefühl an ihm, dass er damit beim Verfolgen seiner Ziele einen Schritt zu weit gehen könnte.

„Sieben Monate Zeit, um eine angemessene Partie zu finden, scheinen mir für einen Mann mit Euren Verbindungen angemessen zu sein“, sagte Winslow mit herausforderndem Ton, da er sein Zögern offensichtlich falsch gedeutet hatte. „Falls Ihr denn wirklich darüber verfügt, so wie Ihr es behauptet.“

Er kniff die Augen zusammen. „Dessen können Sie sich gewiss sein.“

„Kommt morgen um elf zu meinem Haus, dann bekommt Ihr die Chance, das unter Beweis zu stellen.“

Oh, diese Herausforderung würde er problemlos meistern. Winslows Tochter mochte zwar ein Satansbraten sein, doch sie war auch die Erbin eines Handelsunternehmens und von unvergleichlicher Schönheit. Er hatte seine Mutter, die ihm würde helfen können: eine verwitwete Duchess, die sich von einer Ballsaison gewiss mehr erhoffte, als die immergleichen Veranstaltungen zu besuchen. Ein paar Bälle, Teegesellschaften und neue Kleider, dann würde selbst Mariah Winslow schon im März Heiratsanträge erhalten. Spätestens im April. Die Partnerschaft würde ihm gehören und dann konnte er sich endlich des Namens Carlisle als würdig erweisen.

„Einverstanden“, sagte Robert. „Ich werde Sie nicht enttäuschen.“

Winslow hob argwöhnisch eine Augenbraue, noch während sich die beiden Männer die Hand darauf gaben.

Doch Robert war zuversichtlich. Er hatte Vertrauen in sich und die kupplerischen Fähigkeiten seiner Mutter. Wenn selbst Sebastian und Quinton binnen drei Monaten ins Eheglück aufbrechen konnten, wie schwer mochte es dann sein, den Satansbraten bis zum Ende der Saison zu verheiraten?

Kapitel 2

Mariah Winslow presste ein Ohr an die Tür des Arbeitszimmers, doch sie konnte nichts von der Unterhaltung ihres Vaters und ihrer Schwester ausmachen. Oder vielmehr die Standpauke, die er der armen Evelyn zweifellos hielt. Mit einem Seufzen ließ sie sich auf den Stuhl im Flur sinken, um darauf zu warten, dass sie an der Reihe war.

Ein neuer Morgen, eine neue Tirade von Papa … so zuverlässig wie die Gezeiten der Themse. In jüngster Zeit schienen sie wirklich jeden Morgen damit zu verbringen, dass ihr Vater von Evelyn und ihr verlangte, sich wie anständige junge Damen zu verhalten. Sie versprachen jedes Mal, sich zu benehmen, ohne auch nur einen Hauch von Reue für ihre gesellschaftlichen Sünden zu empfinden.

Dieses Mal befürchtete sie jedoch, dass Evie zu weit gegangen sein könnte.

Mit Hugh Whitbys Phaeton die St. James’s Street entlangzurasen, war ihnen wie eine gute Idee vorgekommen. Wagemutig und kühn, hatte Evie ihr versichert, um das Herz zum Pumpen zu bringen und die Langeweile eines Winternachmittags zu vertreiben. Etwas, wobei wir uns lebendig fühlen, hatte Evie flehentlich betont. Mariah liebte ihre Schwester sehr und es fiel ihr schwer, Evie etwas zu versagen. Wusste sie doch stets, wie sehr sie der Tod ihrer Mutter auch fünfzehn Jahre später noch belastete. Und ihr abenteuerlustiges Wesen war einfach ansteckend. Wie hätte sie da also ablehnen können? Immerhin wäre ihre jüngere Schwester womöglich in Gott weiß welche Schwierigkeiten geraten, wenn sie ihr nicht gefolgt wäre. Daher hatte sie eingewilligt und sie hatten sich auf ein irrwitziges Abenteuer begeben, das sich als genauso belebend erwiesen hatte, wie Evie es versprochen hatte.

Und doch würde Mariah sich nie verzeihen, sollte Evelyn von ihrem Vater streng für etwas bestraft werden, woran sie teilgenommen hatte.

Die Grenzen des Anstands auszutesten, war das eine, doch wenn sie beide jemals zu weit gingen, würde es ernste Konsequenzen geben. Evie könnte fortgeschickt werden; höchstwahrscheinlich auf Miss Pettigrews Schule für die Bildung und vornehme Erziehung junger Damen, die eher von skandalösen Töchtern besucht wurde, deren Familien sie bis nach Cornwall ins Exil schicken wollten, statt von jungen Damen, die sich Bildung und vornehme Erziehung erhofften. Wie sollte Mariah es ertragen, ohne ihre Schwester hier in London zu bleiben, insbesondere, da ihr Vater kaum noch Zeit mit ihr verbrachte, wenn es nicht darum ging, sie für undamenhaftes Verhalten zu tadeln?

Das war nicht immer so gewesen. Einst war Mariah wie sein Schatten gewesen, war ihm zum Hafen gefolgt und hatte mehr Zeit im Heuerbüro als zu Hause verbracht. Doch dann hatte er sie aufs Internat geschickt, und bei ihrer Rückkehr hatte sich alles verändert. Sie sehnte sich zwar immer noch danach, an der Seite ihres Vaters zu sein, doch er war der festen Überzeugung, sie müsse das Leben einer feinen Dame führen. Und anständige Damen arbeiteten nicht im Handel.

Weshalb Mariah sich einen feuchten Kehricht dafür interessierte, eine Dame zu werden. Sie wollte – und zwar schon immer – eine echte Partnerin von Winslow Shipping werden. Und sie war fest entschlossen, genau das zu erreichen.

Die Tür zum Arbeitszimmer öffnete sich, Evelyn kam heraus und sah so reuelos aus wie eh und je.

Mariah erhob sich hastig. „Ist er sehr wütend?“

„Ich sollte schon mal meine Sachen packen, damit ich zu Miss Pettigrews Schule aufbrechen kann“, antwortete Evie, indem sie nüchtern die Worte ihres Vaters wiederholte.

Ein wissendes Lächeln umspielte Mariahs Lippen. „Die übliche Drohung also?“

Mit einem abgelenkten Stirnrunzeln nickte Evie. Dann nahm sie Mariahs Hände in ihre und Sorge legte sich finster über ihr Gesicht. „Es tut mir so leid, Mariah! Er gibt dir die Schuld.“

Natürlich tat er das. Doch damit lag er auch nicht gänzlich falsch. Denn lag es als ältere Schwester nicht in ihrer Verantwortung, Evie von Gefahren fernzuhalten?

Evies Unterlippe bebte vor Schuldgefühlen. „Er sprach davon, dich dieses Mal zu bestrafen; streng zu bestrafen.“

„Es ist schon in Ordnung.“ Sie drückte beschwichtigend Evies Hände. „Was soll er schon machen? Ich bin zu alt, um übers Knie gelegt zu werden.“

Vermutlich würde er ihr verbieten, in den kommenden zwei Wochen Zeit an der Gatewell Schule im Stadtteil St. Katharine zu verbringen, wo sie den Großteil ihrer Zeit und des ihr zur Verfügung stehenden Geldes dafür opferte, die Schule geöffnet zu halten, Lehrerinnen in die Klassenräume zu holen und Essen in die hungrigen Bäuche der Kinder zu bringen. Oh, sie liebte St. Katharine! In derselben Gemeinde war ihre Mutter geboren und aufgewachsen. In den schmalen, gewundenen Straßen war Mariah als kleines Mädchen oft mit ihr zusammen unterwegs gewesen. Jetzt spürte Mariah jedes Mal eine Verbindung zu ihrer Mutter, wenn sie durch diese Straßen lief. Ihre Mutter wirkte so fern, jetzt da Mariah sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, wie sie ausgesehen hatte. Sie kannte ihre wunderschönen Züge nur von dem Portrait im Arbeitszimmer ihres Vaters. Doch in St. Katharine konnte sie sich noch so klar und deutlich an ihre Mutter erinnern, als würde sie immer noch neben ihr gehen.

Es würde ihr gewiss nicht gefallen, der Schule fernzubleiben, doch es wäre eine angemessene Strafe für sie und Whitby, der ihr in der Schule assistierte und ihre Hilfe vermissen würde. Immerhin war er ein Komplize, da er überhaupt zugelassen hatte, dass sie sich seinen Phaeton ausliehen.

„Mariah“, rief ihr Vater, „ich will dich jetzt sprechen.“

„Viel Glück!“ Evie gab ihr einen Kuss auf die Wange und eilte dann in ihr Zimmer, wie sie es nach jedem morgendlichen Gespräch mit ihrem Vater tat. Sie würde vorgeblich für Cornwall packen, nur um dann beim Abendessen begnadigt zu werden, da ihr Vater es sich immer anders überlegte.

Mariah atmete tief durch, betat das Arbeitszimmer und blieb vor dem großen Schreibtisch ihres Vaters stehen. Sie faltete zerknirscht die Hände vor sich und wartete auf die rituelle Standpauke.

„Dieses Mal, meine Liebe, bist du zu weit gegangen.“

Sie widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen.

Er würde sie nicht derart tadeln, wenn sie ein Mann wäre. Nein, dann würde er sich stolz damit brüsten, dass sein Sohn mit den besten Kutschenfahrern der Oberschicht mithalten konnte. Doch wenn er sie mit dem gleichen Respekt und Stolz behandeln würde wie einen Sohn, hätte sie viel zu viel mit dem Unternehmen zu tun, um überhaupt erst nach Wegen zu suchen, einen drögen Nachmittag erträglicher zu machen.

Sie schluckte den bitteren Frust herunter. Mit fünfundzwanzig sollte sie längst eine Partnerin im Unternehmen sein und sich damit den Traum erfüllen, den sie bereits als kleines Mädchen hegte. Sie wollte eine ernstzunehmende Rolle in der Führung des Familienunternehmens haben. Sie wollte im Gewerbe der Kaufleute mitarbeiten, das einen so großen Anteil des Lebens ihres Vaters ausmachte und sie immer noch mit ihrer verstorbenen Mutter verband. Stattdessen sah er in ihr nichts als eine junge Miss, die wie eine Puppe in Fell und Seide gekleidet werden musste und damit zufrieden sein sollte, ihre Tage mit albernen Teegesellschaften und langweiligen Bällen zu verschwenden.

Doch so war Mariah nicht. Sie war noch nie so gewesen. Ein offener Blick auf sie hätte ihm das verraten können.

Allerdings sah ihr Vater sie dieser Tage überhaupt nicht mehr wirklich. Höchstens, wenn sie vor ihm stand, um sich ihre Standpauke abzuholen. So wie gerade jetzt. Doch statt ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken, betrachtete er ihr Verhalten bloß als eine weitere, rebellische Tat.

Er schüttelte den Kopf. „Mit einem Phaeton auf der St. James’s Street.“

„Ich hatte das Gespann gut unter Kontrolle“, entgegnete sie. „Das kannst du nicht bestreiten.“

„Ja, du bist gut gefahren.“ Für einen Augenblick glaubte sie, Stolz in seinen Augen aufflackern zu sehen. „Doch du bist keine Teilnehmerin bei den Ealing Races. Du bist eine junge Dame aus einer respektablen Familie …“

Sie sank in sich zusammen. Nein, es war wohl doch kein Stolz gewesen.

„… die sich auf skandalöse Weise öffentlich zur Schau gestellt hat, indem sie über die St. James’s Street gerast ist …“

„Ich habe mich nicht zur Schau gestellt“, korrigierte sie ihn leise, aber nachdrücklich. Himmel! Er ließ es klingen, als sei sie eine Darstellerin, die über die Bühnenbretter von Covent Garden stolzierte.

„… und dabei hast du sowohl dein Leben als auch das deiner Schwester aufs Spiel gesetzt, inklusive eures Rufs.“

„Unser Ruf ist nicht ruiniert.“ Das war die eine Sache, auf die sie stets achtete. Ganz egal, wie kühn ihre Eskapaden waren, sie tänzelte stets auf der Linie zwischen Dingen, die müßigen Tratsch auslösten, und Taten, die tatsächlich ruinös wären. Oh, die Dandys und Klatschbasen der sogenannten Oberschicht sollten ruhig hinter ihrem Rücken tratschen, so viel sie wollten. Als wüsste sie nicht, dass das längst der Fall war; als wüsste sie nicht, dass man ihr den Spitznamen Satansbraten verpasst hatte. Es könnte ihr nicht egaler sein, was diese Wichtigtuer von ihr hielten.

Doch wenn sie ihren Ruf ruinierte, könnte sie damit auch den Ruf des Unternehmens ruinieren, und sie würde niemals etwas tun, das Winslow Shipping schaden könnte. Sie liebte das Unternehmen ebenso sehr wie ihr Vater es liebte, und sie wollte nichts lieber, als Seite an Seite mit ihm daran zu arbeiten, das Unternehmen für die nächste Winslow-Generation voranzubringen, die ein Geschäft fortführen würde, das ihr Großvater begründet hatte. Sie machte sich keine Illusionen, das Unternehmen einst selbst führen zu können. Als Frau wäre sie dazu niemals in der Lage. Doch eine Partnerschaft war im Bereich des Machbaren. Sie könnte als Partnerin das Tagesgeschäft leiten und dann würde es sich tatsächlich ganz und gar um ein Familienunternehmen handeln.

Falls ihr Vater ihr das je erlauben würde.

„Wie willst du jemals einen respektablen Ehemann finden, wenn du dich weiterhin wie eine wilde Kreatur ohne Sinn für ihren eigenen Stand verhältst?“, fragte ihr Vater mit Verzweiflung in der Stimme.

Sie unterdrückte den Wunsch, ihm zu sagen, dass sie auf einen unrespektablen Ehemann hoffte, denn mit so einem Kommentar würde sie gewiss wieder auf Miss Pettigrews Schule landen, zusammen mit Evie.

„Wie willst du irgendwelche Einladungen für die bevorstehende Ballsaison erhalten, wenn du dich so verhältst?“, fragte er mit einem Ton, der ihr zu verstehen gab, dass er keine Antwort hören wollte. „Eine Dame aus der Oberschicht würde niemals eine Person zu ihrer Soiree einladen, die sich nicht beherrschen kann.“

Oh, zum Teufel mit diesen Einladungen! Ein biederer, langweiliger Ball war wirklich der letzte Ort, an dem Mariah sich wiederfinden wollte. Was sollte es sie kümmern, falls die Gesellschaft sie gänzlich ausgrenzen würde? Würde sie es überhaupt bemerken? Es war ja nicht so, als würden Mitglieder der Oberschicht das Foyer mit Visitenkarten und Einladungen fluten. Man betrachtete die Winslows bloß als Emporkömmlinge, die in die geheiligten Hallen der Aristokratie eindrangen. Man konnte zwar den Einfluss der Firma oder des Familienvermögens nicht ignorieren, sehr wohl aber sie. Und daher tat man genau das.

Doch diesen Teil der Rede ihre Vaters kannte Mariah bereits auswendig, denn er schien sie in jüngster Zeit einmal pro Woche zu halten, und noch häufiger, seit es auf die neue Ballsaison zuging. Eine weitere Saison, während der sie sich seiner Hoffnung nach in die unerforschten Gewässer der Gesellschaft vorwagen, dort ihre Spuren hinterlassen und sich optimalerweise noch einen schicken Ehemann schnappen würde. Mariah interessierte sich keinen Deut dafür. Doch diese Kluft zwischen ihnen schien größer zu werden, je näher die Saison rückte.

Das Ganze war nie ein Thema gewesen, bevor sie auf Miss Pettigrews Schule geschickt worden war, wo sie eine gute Bildung erhalten hatte … wenn sie sich nur dafür interessiert hätte, wie man Dinnerpartys veranstaltete, mit Wasserfarben malte und Klavier spielte. Sie hatte sich echte Bildung angeeignet, indem sie Tutoren insgeheim dafür bezahlt hatte, die albernen, geplanten Unterrichtsthemen zu ignorieren und ihr stattdessen nützliche Fähigkeiten beizubringen. Das Resultat war eine Bildung gewesen, die sie bestens auf Erfolg in der Geschäftswelt vorbereitet hatte; und ein entschieden mangelhaftes Talent am Klavier.

Doch ihr Vater verweigerte sich dagegen, sie mit ihm zusammenarbeiten zu lassen. Er wollte bloß wissen, wie sie ihre Ballsaison zu verbringen gedachte, wann sie heiraten würde und wann sie ihm Enkelkinder schenken wollte. Jedes Mal, wenn sie ihn im Büro überraschte, um sich in die Arbeit zu stürzen und ihm zu zeigen, wie fähig sie war, sagte er ihr stets, dass die Docks kein Ort für eine Dame seien, und schickte sie prompt nach Hause.

Daher hatte sie es sich im vergangenen Herbst zum Ziel gemacht, ihrem Vater zu zeigen, dass sie mehr als eine geistlose Miss war. Sie wollte endlich seine Aufmerksamkeit erringen, ohne dass es darum ging, sie zu einer perfekten Dame zu formen. Sie wollte ihm zeigen, wie wichtig ihr das Unternehmen war.

Und bislang …

„Mariah, du blamierst dich und diese Familie.“

Bislang lief es nicht gut. Wenn es so weiterging, würde er ihr womöglich nie die ersehnte Partnerschaft anbieten.

Doch er hatte sie auch noch niemandem außerhalb der Familie angeboten. Das machte ihr Hoffnung. Denn womöglich wusste er, dass sich eine Winslow am besten eignete, um Winslow Shipping and Trade zu führen. Sie hing mit Herz und Seele an diesem Unternehmen und es war eine der wenigen verbliebenen Verbindungen zu der schönen Zeit vor dem Tod ihrer Mutter. Dessen würde sich ihr Vater gewiss auch noch bewusst werden.

Wenn nicht … nun, dann würde sie ihn schlicht auslaugen, bis er nachgab. Bei mittelalterlichen Burgen hatten Belagerungskriege immerhin auch ihre Wirkung gezeigt. Und sie konnte sich kein mittelalterlicheres Relikt als Henry Winslow vorstellen.
„Daher habe ich beschlossen, einige Veränderungen vorzunehmen.“

Mariah blickte ruckartig zu ihm. Das war neu.

Üblicherweise ging es in diesem Teil der Rede um seine Drohung, ihr das Geld zu streichen, ihr zwei Wochen Hausarrest zu erteilen oder sie in ein Kloster zu schicken, obwohl sie treue Anhänger der Church of England waren …

Doch dieses Mal gab es keine leeren Drohungen. Dieses Mal starrte er sie über seinen Schreibtisch hinweg an, mit dem gleichen Funkeln in den Augen, mit dem er sich sonst wirtschaftlichen Kontrahenten stellte.

„Ich habe dir in den vergangenen Monaten zugehört“, sagte er. „Du meinst, das Unternehmen braucht frisches Blut und wir brauchen eine neue Generation, die uns in die Zukunft führt.“

„Wirklich?“ Hoffnung flatterte in ihrem Bauch. Sie konnte es kaum glauben!

„Und ich habe entschieden, dass du recht hast. Es muss Veränderungen geben, die dem Unternehmen weiterhelfen und gleichzeitig den Wünschen deiner Mutter treu bleiben.“ Er bewegte sich auf die Tür zu. „Begleite mich.“

Er lief mit großen Schritten aus der Tür. Sie fasste neben ihm Tritt, fühlte sich aber, als würde sie fliegen! Ihre Füße berührten kaum den Perserteppich unter ihr, so sehr freute sie sich darauf, endlich – endlich! – diese Gelegenheit zu bekommen.

„Ich habe so viele wundervolle Ideen, die wir besprechen können“, sprudelte es aus ihr heraus, während es ihr vor überschwänglicher Begeisterung schwerfiel, weiter zu atmen. Es war die gleiche atemberaubende Begeisterung wie bei der rasanten Fahrt mit dem Phaeton – oh, nein, es war so viel besser!

„Natürlich“, sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung, während sie die Marmortreppe hinaufstiegen. „Doch zuerst gibt es da einen neuen Mitarbeiter, den ich dir vorstellen möchte.“

„Ach, ja?“, fragte sie verdutzt, während sie ihm durch den Flur zum Salon folgte. „Wen?“

Doch das war ihr herzlich egal! In diesem Moment wollte sie niemanden kennenlernen. Nicht, während ihre Brust vor Glück brannte. Sie wollte lieber den ganzen Weg bis zum Büro des Unternehmens in der Wapping High Street hüpfen und tanzen und …

Ihr Vater lächelte stolz: „Den Mann, den ich als meinen Partner ausgewählt habe.“

Mariah erstarrte, während ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Ein Partner? Unmöglich. Das konnte einfach nicht wahr sein! Ein Partner

Der nicht sie war.

Sie war fassungslos und wie betäubt und konnte kaum mehr tun, als in der Tür zu stehen und ihrem Vater hinterherzuschauen, der durch den Raum stolzierte und den Mann begrüßte, der dort wartete. Ihre Sicht verschwamm hinter Tränen der Wut und sie zwang sich, weiter zu atmen, während dieser wahrgewordene Alptraum über sie hereinbrach und ihre Taubheit langsam von einer durchdringenden Trostlosigkeit abgelöst wurde; und von Trauer. Es war die gleiche schreckliche Trauer, die sie schon nach dem Tod ihrer Mutter überwältigt hatte.

„Carlisle.“ Ihr Vater schüttelte dem Mann begeistert die Hand, ohne zu bemerken, welches Elend er über seine Tochter gebracht hatte. „Schön, Euch hier zu haben.“

„Es ist mir eine Freude.“ Der Mann lächelte, als er die Hand ihres Vaters losließ, dann stellte er sich breitbeinig hin, legte sich eine Faust ins Kreuz; ein Bild von männlicher Kontrolle und Gelassenheit. Als hätte er das Recht, dort zu stehen, sich in ihr Leben zu drängen und sie der Aufmerksamkeit ihres Vaters zu berauben.

Der bedeutete ihr, näherzukommen. „Lasst mich Euch meine Tochter vorstellen.“

Doch Mariah hielt an der Tür ihre Stellung; ausnahmsweise einmal weniger aus Starrsinn, sondern weil sie nicht die Kraft fand, vorzutreten, ohne schluchzend zusammenzubrechen. Stattdessen presste sie sich eine Hand an die Brust und zwang sich, weiter zu atmen.

„Meine älteste Tochter Mariah.“ Ihr Vater runzelte die Stirn, als sie nicht herbeigeeilt kam, um den Gast zu begrüßen, wie es eine anständige Dame des Hauses getan hätte; um diesen Mann liebenswürdig in ihrem Zuhause willkommen zu heißen, und in einer Position innerhalb des Unternehmens, die ihr hätte gehören müssen.

Das konnte sie einfach nicht. Niemals.

Sie blinzelte ihre Tränen weg, hob das Kinn und starrte den Fremden mit kühler Verachtung an, während ihr Herz zerbarst, als wäre es aus Eis. Sie war zu stolz, um preiszugeben, wie sehr sie dieses Treffen zugrunde richtete. Sie war immerhin eine Winslow. Selbst wenn ihr Vater vergessen hatte, was das bedeutete.

„Mariah, dies ist Lord Robert Carlisle.“ Ihr Vater klopfte ihm auf die Schulter. „Der Mann, der mein Partner werden möchte, um die besten Handelsrouten der Welt für uns zu beanspruchen!“

Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Ein Partner. Womit wollte er sich das verdient haben? Als sie den Blick über ihn schweifen ließ, sah sie nichts, was sie glauben ließ, dass dieser Mann qualifizierter wäre als sie. Und überdies war sie eine Winslow. Ihr Blut und die Geschichte verliehen ihr das Recht, an der Seite ihres Vaters zu stehen. Während dieser Mann nichts anderes war als ein opportunistischer Eindringling.

Er mochte gut gekleidet sein, in seinem dunkelblauen Kaschmirjackett, einer cremefarbenen Krawatte mit schlichtem Knoten und schwarzer Hose. Er hatte seine Kleidung mit großer Sorgfalt ausgewählt, um auszusehen, als würde er sich nicht viel aus Kleidung machen. Sie hätte ihn als Dandy bezeichnet, wären da nicht die leicht abgewetzten Stiefel, die zeigten, dass er tatsächlich mit einem Pferd zum Haus geritten war, statt sich in einer Kutsche bringen zu lassen. Also kein Dandy, aber ganz gewiss ein Korinther. Einer dieser körperlich attraktiven und stilbewussten jungen Gecken, bei deren charmantem Lächeln die alten Hennen aus Adelskreisen schwach wurden.

Doch wenn sie seit ihrer Rückkehr nach London eines gelernt hatte, dann war es, dass Dandys, Korinther und Gecken sehr wenig Intelligenz in sich vereinten; und gewiss nicht das Maß an Geschäftssinn, das Winslow Shipping für eine florierende Zukunft brauchte, oder das Engagement, das nur ein Familienmitglied besaß.

„Miss Winslow.“ Carlisle kam zu ihr und verbeugte sich huldvoll. „Es ist eine Freude, Sie kennenzulernen.“

Eine Freude. Das war eine Lüge, wenn sie je eine gehört hatte. Sie knickste steif und knapp, dann ignorierte sie absichtlich seinen Titel: „Mr. Carlisle.“

Daraufhin funkelte Heiterkeit in seinen Augen, als wüsste er, welche finsteren Gedanken über ihn in ihr lauerten.

„Sie wollen also ein Geschäftsmann sein?“, fragte sie kühl, mit dem gleichen affektierten Ton, den Miss Pettigrew in der Schule benutzt hatte, um die Mädchen zurechtzuweisen.

„Ich habe mal reingeschnuppert.“

„In den Handel?“, hakte sie nach. Wusste der Mann überhaupt, wie das Tagesgeschäft im Kaufmannsgewerbe ablief? Wenn sie ihn so ansah, bezweifelte sie, dass er auch nur einen einzelnen Tag am Hafen oder in Lagerhäusern gearbeitet hatte. Doch sie hatte dort gearbeitet, in den wenigen, wertvollen Wochen, nachdem sie aus der Schule zurückgekehrt war, und bevor ihr Vater beschlossen hatte, dass eine Reederei kein Ort für eine Dame war.

Er zuckte bescheiden mit den Schultern. „Ein bisschen.“

„Verzeihen Sie, wenn ich Ihr bisschen Kompetenz in Frage stelle.“ In seinen Augen flammte etwas auf, und dieses Mal war es keine Erheiterung. „Aber wie mir scheint, hat mein Vater unter all den Menschen, die er hätte wählen können …“

„Mariah, lass den Mann in Ruhe“, wies ihr Vater sie mit einem warnenden Unterton an. Und in seinem Blick lag eine noch viel deutlichere Warnung. Er wandte sich an Carlisle und erklärte: „Mariah hat schon immer einen Beschützerinstinkt für das Unternehmen, wie ein Wachhund.“

Carlisle lächelte sie an. Er war es eindeutig gewohnt, sich mit diesem charmanten Grinsen seinen Weg durch die Welt zu bahnen; und in die Betten der Frauen. Sieh an – ein Korinther und ein Lebemann; in Winslow Shipping and Trade. Hatte ihr Vater den Verstand verloren?

„Das ist schon in Ordnung“, sagte Carlisle, ließ mit dem Blick aber nicht von Mariah ab. Als wüsste er, dass sie ihn als Widersacher betrachtete. „Kein Problem.“

„Gut“, sagte ihr Vater, während er Mariah ein liebevolles, aber frustriertes Lächeln zuwarf. „Denn Ihr seid ja genau wegen meiner Tochter hier.“

Mariah klappte der Unterkiefer herunter. Wie in aller Welt sollte das ihre Schuld sein? „Ich verstehe nicht.“

„Glaubst du wirklich, ich hätte dir nicht zugehört?“ Er lief zum Tantalus in der Ecke des Raumes und holte eine Flasche Bourbon heraus, dann deutete er damit in Carlisles Richtung. „Du hast mir in letzter Zeit das Ohr damit abgekaut, was das Unternehmen braucht, wie wir unser Kapital voll ausnutzen können, wo wir neue Handelsrouten aufbauen sollten …“ Er füllte zwei Gläser, reichte Carlisle eines davon und behielt das andere. „Dass ich einen Partner beteiligen sollte.“

Mariah ließ nicht zu, dass sich die Demütigung als Röte auf ihren Wangen zeigte, verschränkte die Hände vor ihren Röcken und sagte leise: „Damit meinte ich mich.“

Das erregte Carlisles Aufmerksamkeit. Sein Blick zuckte zu ihr und er kniff kurz die Augen zusammen.

Ihr Vater tat es ihm gleich. Für einen flüchtigen Moment glaubte sie die Sehnsucht auf seinem Gesicht zu sehen, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, gefolgt von Schuldgefühlen.

Doch dann war der Augenblick fort und er schüttelte den Kopf. „Ein Handelsunternehmen ist kein Ort für eine Dame.“

„Aber es ist der richtige Ort für eine Winslow“, setzte sie leise nach. „Ein Familienunternehmen sollte von Familienmitgliedern geführt werden.“

„Und eine Tochter schuldet es ihrer Familie, eine anständige Dame zu sein.“ Ihr Vater verlor die Geduld. „Keine Geschäftsfrau.“

„Das muss sich doch nicht ausschließen“, argumentierte sie ruhig, obwohl ihr Verzweiflung die Eingeweide verknotete. Sie würde nicht widerstandslos aufgeben. „Die Familie sollte das Unternehmen führen, nicht irgendwelche Außenseiter. Das ist es, was Großvater wollte.“

„Und ich habe versprochen, dich zu einer anständigen Dame zu erziehen“, entgegnete ihr Vater. „Das ist es, was deine Mutter wollte.“

Seine Worte fuhren so mühelos durch sie hindurch, wie ein Messer durch Butter. Sie zuckte zusammen und konnte nicht mehr antworten.

Sie wandte den Kopf ab, als die Tränen drohten, über ihre Wangen zu rinnen, und blinzelte erbittert. Sie würde ihrem Vater niemals diese Schwäche zeigen.

„Und ich möchte genau das erreichen“, versprach ihr Vater. „Das, was das Beste für dich und für die Firma ist. Weshalb ich mich für Carlisle entschieden habe.“ Er verbarg den Verdruss über den Streit, den sie gerade vor dem Mann ausgetragen hatten, indem er sich ein Lächeln abrang und mit Carlisle anstieß. Das Klirren hallte durch den stillen Raum und fuhr an Mariahs Wirbelsäule hinab. „Er ist der beste Mann, um beides zu erreichen. Wenn er sich beweisen kann.“

Wenn. Hoffnung stieg in ihr auf. Dann war die Partnerschaft noch nicht final? „Wie?“

„Indem er mich bei einem neuen Grundbesitzprojekt unterstützt“, antwortete ihr Vater. Er richtete einen intensiven Blick auf sie, mit dem er ihr offensichtlich zu verstehen gab, dass er keine Widerworte duldete. „Und indem er dir eine anständige Ballsaison ermöglicht.“

Sie keuchte ob dieser unerwarteten und schier absurden Idee. „Wie bitte?“

„Meine Mutter ist die verwitwete Duchess of Trent“, erklärte Carlisle hilfsbereit. „Ihr Vater dachte, ihre Unterstützung würde Ihnen in dieser Ballsaison zugutekommen.“

„Die verwitwete Duchess“, wiederholte sie, ohne zu wissen, wie ihr tauber Körper diese Worte formen konnte. Ihr Blut wurde zu Eis und ließ sie an Ort und Stelle erstarren.

Dann war Lord Robert Carlisle also der Sohn eines Dukes. Jetzt ergab es Sinn, dass ihr Vater ihn als Partner ausgewählt hatte; auf schreckliche, furchteinflößende Weise.

„Meine Mutter liebt es, junge Damen bei ihrer Saison zu unterstützen“, fuhr Carlisle mit einem Lächeln fort, da er nicht wusste, dass sie durchschaut hatte, warum die Wahl auf ihn gefallen war. „Als ich hörte, dass Sie keine weiblichen Verwandten haben, die Sie in die Gesellschaft einführen konnten, war ich mir sicher, dass sie Sie würde unterstützen wollen.“

„Ich verstehe.“ Und das tat sie; klar und deutlich. „Wie klug von dir, Papa“, sagte sie leise, während frische Tränen in ihren Augen brannten. Welche Rolle spielte es, wie tief – oder flach – Carlisles Geschäftssinn war, wenn sich seine Verbindungen bis ins House of Lords erstreckten? Und auch noch direkt zu einem Duke. Ihr Vater tat gewiss, was das Beste für das Familienunternehmen war, indem er die Familie eines Hochadligen mit ins Boot holte.

„Zwei Fliegen mit einer Klappe.“ Ihr Vater schaute sie zufrieden an, als hätte er die Lösung für sämtliche Probleme dieser Welt gefunden; in Gestalt des schneidigen, goldblonden Robert Carlisle. Ihr Vater hob sein Glas, um auf diese Lösung anzustoßen. „Winslow Shipping verjüngt sich mit einem dringend nötigen Partner und du erhältst endlich eine anständige Londoner Ballsaison.“

Doch sie wollte keine Ballsaison. Sie wollte einen Platz im Unternehmen einnehmen und die Gelegenheit bekommen, Seite an Seite mit ihrem Vater zu arbeiten. Doch dieser … Eindringling war einfach hier hereinspaziert, mit seinen saphirblauen Augen und einem Duke als Bruder, um ihr diesen Traum wegzunehmen.

„Und zu welchem Zweck?“, fragte sie leise. Sie war zu wütend und zu frustriert, um klar zu denken.

Ihr Vater blinzelte, als wäre die Antwort offensichtlich. „Eine Ehe, natürlich.“

Der Boden schien unter ihr nachzugeben und ihr Atem stockte. Sie griff nach einem nahen Stuhl, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen.

„Das kann nicht dein Ernst sein“, flüsterte sie, da sie in ihrer Überraschung kaum ihre Stimme wiederfand.

„Es ist mein voller Ernst.“ Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Deine jüngsten Eskapaden haben mir bewiesen, dass ich dich nicht anständig erzogen habe, doch ich werde als dein Vater nicht länger versagen.“

Sie starrte ihn fassungslos an. Glaubte er das wirklich – dass er versagt hatte? Dabei hatte sie doch nur seine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen.

„Nein“, flüsterte sie und ihr Herz brannte ob dieses schmerzlichen Missverständnisses, „du hast nicht versagt. Das war ganz und gar nicht, was ich …“

„Und ich werde deine Mutter nicht enttäuschen“, fügte er entschieden hinzu. „Sie wollte, dass ihre Töchter zu den feinen Damen werden, die sie als Tochter eines Kapitäns niemals hatte werden können. Und genau das möchte ich um ihretwillen: anständige Damen mit respektablen Ehemännern.“

„Aber ich möchte das nicht“, protestierte sie schwach. Ihre Stimme war kaum lauter als ein Atemzug. Himmel, es tat so weh, sich den Wünschen ihrer Mutter zu widersetzen! Doch die hatte sich auch gewünscht, dass ihre Töchter glücklich wurden, und nichts würde ihr mehr Glück bescheren, als an der Seite ihres Vaters zu arbeiten.

„Carlisle wird das möglich machen, für dich und um deiner Mutter willen“, fuhr er fort. Mariah wusste nicht, ob er sie nicht gehört oder beschlossen hatte, sie zu ignorieren. „Abmachungen wurden getroffen. Es ist festgelegt.“

„Papa, ich werde dabei nicht mitmachen“, verkündete sie ruhig und rang sich eine gleichmäßige Stimme ab, obwohl sie sich verraten fühlte und Wut in ihr tobte. Außerdem bereitete es ihr mehr Kummer, sich ihm offen zu widersetzen, als sie sich eingestehen wollte, denn eigentlich wollte sie ihn doch nur stolz machen.

„Du hast keine Wahl.“

Mit einem Anflug von Übelkeit kam ihr die Erkenntnis, dass dies die ernste Strafe war, vor der Evie sie gewarnt hatte. Sie wurde in die Hölle der Gesellschaft verbannt.

„Du wirst dich voll und ganz für diese Ballsaison engagieren – Vorstellungen, Bälle, Frühstückseinladungen, Soireen … all das –, was immer Carlisle und die Duchess für dich auswählen.“ Er hielt starr ihren Blick. „Sonst werde ich dir dein Geld streichen.“

Die Luft wurde ihr aus der Lunge gepresst. Ihr Geld und damit all ihre Möglichkeiten, der Gatewell Schule und den Kindern von St. Katharine zu helfen, die genauso bedürftig waren, wie einst ihre Mutter. Wenn Mariah die Schule verlor … du liebe Güte … dann würde sie ihre Mutter erneut verlieren!

„Das würdest du nicht tun“, flüsterte sie. Aus Hilflosigkeit hatte sie die Hände zu Fäusten geballt. Eine machtlose Frustration brach über sie herein, genau wie damals, als sie ins Internat geschickt wurde, fort von Evie, ihrem Vater und allem, was ihr lieb und teuer war.

Ihr Vater sagte nichts mehr, sondern wandte sich ab und stürzte den Rest seines Bourbon in einem großen Schluck herunter. Es war unmöglich zu sagen, ob das Flackern in seinen Augen von Schuldgefühlen oder Entschlossenheit sprach.

Mariah starrte ihn an. Ihre Brust brannte so schmerzhaft, dass ihr jeder Herzschlag stechend durch den Körper fuhr, als würde ein Hammer auf Glas treffen. Oh, dieses Mal hatte sie seine Aufmerksamkeit erregt, doch das Ergebnis war ganz und gar nicht, wie sie es sich erhofft hatte. Statt sie an seiner Seite arbeiten zu lassen, hatte er die Kluft zwischen ihnen in einen tiefen Abgrund verwandelt.

Und das auch noch vor den Augen eines Fremden. Carlisle hatte immerhin den Anstand, den Mund zu halten und auf seinen Bourbon zu blicken, statt sie zu beobachten; oder sich über seinen Sieg zu freuen.

Ein leises Kratzen war von der Tür zu hören. „Entschuldigen Sie, Sir.“

Bentley, der Butler, der den Haushalt für ihre Familie führte, so lange Mariah denken konnte, trat in den Raum.

„Was gibt es?“ Ihr Vater schien für die Störung dankbar zu sein.

„Da steht ein Besucher vor der Tür, Sir.“ Bentley blickte argwöhnisch zwischen den drei Personen hin und her und spürte offensichtlich die Anspannung, die wie dicker Londoner Nebel im Raum lag. „Mr. Ledford aus dem Heuerbüro.“

„Darum muss ich mich leider kümmern.“ Ihr Vater stellte sein Glas ab und deutete auf sie und Carlisle. „Ich werde nur für einen Augenblick fort sein. Ihr beide müsst ohnehin über die bevorstehende Ballsaison sprechen. Warum fangt ihr nicht gleich damit an?“

Als ihr Vater den Raum verließ, schaute Mariah ihren Widersacher aus zusammengekniffenen Augen an und richtete all ihre Wut und ihre Frustration auf ihn. Dann breitete sich langsam ein berechnendes Lächeln in ihrem Gesicht aus …

Ja, warum nicht?

Kapitel 3

Robert musterte Mariah Winslow über den Rand seines Glases hinweg, während er noch einen Schluck von seinem Bourbon trank. Nachdem er diesen geistigen Wettstreit zwischen den Familienmitgliedern miterlebt hatte, brauchte er eindeutig noch einen Drink.

Er hatte schon erwartet, dass der Satansbraten nicht davon begeistert sein würde, sich von den Regeln der Gesellschaft einschränken zu lassen, doch damit hatte er ganz sicher nicht gerechnet. Oder damit, dass sie geglaubt hatte, Winslow würde sie als Partnerin in Betracht ziehen. Es mochte ein Familienunternehmen sein, doch der Begriff bezog sich in der Regel auf Söhne und Schwiegersöhne. Es gab nur wenige Fälle, in denen Töchter in einem Unternehmen mehr als nur ein Aushängeschild waren. Und das geschah nur in kleinen Unternehmen; und ganz sicher nicht in Geschäftsfeldern, in denen man mit Matrosen und Hafenarbeitern in Kontakt stand.

An Winslows Stelle hätte er wahrscheinlich dasselbe getan. Doch er konnte ihre Frustration nachvollziehen.

Er ließ langsam das Glas sinken. „Sie wollen also eine Partnerin im Unternehmen Ihres Vaters werden.“ Es hatte keinen Zweck, um das Thema herumzutänzeln, wenn es so spürbar in der Luft hing wie der fallende Schnee jenseits der Erkerfenster.

„Ja.“ Sie verschränkte die Hände im Rücken, wobei sie sich damit wohl eher davon abhalten wollte, ihm die Augen auszukratzen, statt sittsam zu wirken. „Und Ihr glaubt, Ihr könnt mich verheiraten?“

„Ja.“ Mit der Hilfe seiner Mutter, seiner Schwester, des Schicksals, günstiger Winde und ununterbrochener Gebete. „Ich werde definitiv mein Bestes dafür geben.“

Ihre Lippen kräuselten sich amüsiert und er spürte ein warnendes Kribbeln in den Kniekehlen. „Ich auch.“ Sie schaute ihn mit ihren grünen Augen recht unschuldig an, doch irgendetwas sagte ihm, dass sie von zwei völlig verschiedenen Dingen sprachen. Sie neigte nachdenklich den Kopf. „Lord Robert Carlisle … woher kenne ich diesen Namen?“

„Mein Vater war der verstorbene Duke of Trent.“ Er vermied es, das Gesicht zu verziehen. Er verwies nicht gern auf seine Verbindung zu diesem Titel, da er lieber für seine eigenen Erfolge bekannt sein wollte.

„Nein, das ist es nicht.“ Sie musterte ihn unverhohlen mit ihren katzenhaften Augen. Als würde sie vor einem Kampf ihren Gegner einschätzen.

„Meine Mutter nimmt an vielen gesellschaftlichen Veranstaltungen teil. Vielleicht sind Sie ihr dabei begegnet.“

„Oh, das ist es ganz sicher nicht. Ihr müsst wissen, dass ich keine Zeit für Frivolitäten habe.“ Sie verlor ihr Lächeln nicht, doch es wirkte wie versteinert. Was bei ihren sinnlichen Lippen wirklich verdammt schade war. Ein Mann könnte es genießen, diese Lippen stundenlang zu küssen. „Ich bin zu sehr damit beschäftigt, das Handelsgewerbe zu beobachten, um auf Bällen herumzutanzen.“

„Natürlich“, murmelte er, da er sich sicher war, dass sie nicht viel Zeit auf solchen Veranstaltungen verbrachte. Er würde sich daran erinnern, wäre er ihr dort begegnet … eine dunkle Rose inmitten der pastellfarbenen Gänseblümchen von unverheirateten Damen. Und sie hatte eindeutig Dornen. „Dann vielleicht meine Brüder.“

„Wie bitte?“ Sie blinzelte ob dieses unerwarteten Themenwechsels.

„Die Carlisle Brüder“, erklärte er ein wenig reumütig. „Wir haben uns in jüngeren Jahren einen Ruf gemacht. Dadurch müssen Sie von mir gehört haben.“

„Vielleicht.“ Sie schnaubte abschätzig. „Aber ich weiß ganz sicher, dass Euch niemand als guten Geschäftsmann gelobt hat.“

Oh ja, spitze Dornen. Doch sie müsste schon mehr als diese kleinen Sticheleien auffahren, wenn sie ihn verletzen wollte. „Ihr Vater scheint zu glauben, dass mein Geschäftssinn dem Unternehmen weiterhelfen kann.“

„Mein Vater glaubt, dass er Euch benutzen kann, um Einfluss im Parlament zu erlangen“, korrigierte sie ihn leise, aber unverblümt.

Er leerte den Bourbon, um seinen verletzten Stolz zu verbergen. „Ich weiß.“

Überraschung flackerte in ihren Augen auf. Sie hatte ihn offensichtlich für zu naiv oder zu dumm gehalten, um den wahren Grund zu erkennen, aus dem er für Winslow so wichtig war. Doch das hatte er von Anfang an durchschaut.

Er lief zum Tantalus hinüber und schenkte sich nach. „Mein Bruder Sebastian, der aktuelle Duke of Trent, sitzt in mehreren bedeutenden Parlamentsausschüssen, inklusive des Ausschusses, der den Handel und die Zölle regelt. Wie auch der Duke of Chatham, der Vater meines Schwagers, des Marquess of Chesney, der ihn eines Tages im Parlament ablösen wird.“ Er nahm sich ein zweites Kristallglas und goss zwei Fingerbreit Bourbon hinein. „Und meine Familie unterhält eine enge Freundschaft mit dem Duke of Strathmore, wenngleich sich die Interessen des Dukes eher um das Militär denn um den Handel drehen, doch man weiß ja nie, wann mal private Schiffe in militärischen Dienst gestellt werden oder wann man mal Kaufleute braucht, um die Armee mit Vorräten zu versorgen.“

Auch wenn er sich nie dazu herablassen würde, die Verbindungen auszunutzen, die er hier so hochtrabend aufzählte, fand er seine Freude daran, ihr die Meinung auszutreiben, er sei jemand, der sich seines eigenen Wertes nicht bewusst wäre. Er hatte oft über die Macht nachgedacht, die in diesen Verbindungen steckte, als er über Winslow Shipping recherchiert hatte.

Er fuhr fort: „Mein Cousin Ross Carlisle, der Earl of Spalding, ist aktuell ein hochrangiger Diplomat am Court of St. James, und mein Bruder Quinton befindet sich auf bestem Wege dazu, als Abgeordneter für Cumbria ins Parlament einzuziehen, solange die Dorfbewohner nicht vorher noch beschließen, ihn zu teeren und zu federn.“ Er kam mit den beiden Gläsern zu ihr zurück. „Alles in allem würde ich sagen, dass diese Verbindungen einen Anteil von zwanzig Prozent wert sind.“ Er hielt ihr das zweite Glas entgegen, ohne mit dem Blick aus ihren Augen zu weichen. „Würden Sie zustimmen?“

Genugtuung erfasste ihn, als er Verärgerung in ihren Augen aufblitzen sah. Wenn diese kleine Hexe einen Kampf ohne Handschuhe führen wollte, würde er ihr einen bieten, der selbst Gentleman Jackson aufhorchen ließe. Diese Partnerschaft war seine beste Aussicht darauf, den Geist seines Vaters zur Ruhe zu betten und für seine Sünden zu büßen, und niemand würde sich ihm in den Weg stellen. Niemand. Erst recht kein grünäugiger Drachen, ganz egal, wie kurvig ihr geschmeidiger Körper war, oder wie verführerisch diese beerenroten Lippen, die an jeder anderen Frau zu voll ausgesehen hätten, doch bei ihr saftig und reif wirkten.

Ihr Blick zuckte argwöhnisch zum Bourbon. „Habt Ihr den vergiftet?“
„Als würde ich so einen edlen Bourbon aus Kentucky ruinieren.“ Er hob eine Augenbraue, als wäre er beleidigt. „Halten Sie mich für einen Heiden?“

Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. Es war der erste aufrichtig amüsierte Gesichtsausdruck, den er von ihr gesehen hatte, seit sie in diesen Raum gekommen war; und er stand ihr überraschend gut.

Doch das Lächeln verblasste rasch wieder und sie nahm kühl das Glas entgegen. „Immerhin wisst Ihr gute Spirituosen zu schätzen“, murmelte sie zähneknirschend und trank einen Schluck. „Die meisten Engländer sind sich zu fein für Bourbon und geben lieber doppelt so viel für halb so guten Cognac aus.“

Er hob sein Glas und prostete ihr leger zu. „Ich bin keiner dieser Männer.“

Daraufhin funkelten ihre Augen, als könnte sie doch noch ein wenig Respekt für ihn aufbringen. „Mein Vater handelt mit dem feinsten Bourbon. Einer der Vorteile, wenn man mit den Amerikanern Handel treibt. Und außerdem bekommen wir den besten Kaffee und Kakao.“

„Und die besten Zigarren“, fügte er wissend hinzu. „Winslow Shipping hat im vergangenen Jahr mehr als sechstausend Pfund mit amerikanischen Zigarren umgesetzt.“

„Beeindruckend.“ Ihre Zungenspitze schoss hervor, als sie auf unschuldige Weise einen Tropfen Bourbon ableckte, der noch an ihrer Oberlippe gehangen hatte, doch er spürte, dass diese kleine Geste wie flüssiges Feuer durch seinen Körper fuhr. Beim Luzifer.

Wenn er bis August keinen Ehemann für sie fand, konnte das nur daran liegen, dass der Teufel selbst sie ihm für seine eigenen lüsternen Freuden aufheben wollte.

„Ich habe das Unternehmen Ihres Vaters studiert, Miss Winslow, und ich weiß, auf welche Waren er sich spezialisiert hat, welche Länder seine Schiffe ansteuern und bei welchen Händlern er in sämtlichen Anlaufhäfen einkauft. So wie ich die besten Abnehmer in England kenne, bei denen er diese Waren gewinnbringend verkaufen kann, und wie wir diese Profite optimal nutzen, sobald wir sie haben. Ich versichere Ihnen, dass er in mir einen guten Partner gefunden hat.“

„Aber Ihr seid kein Winslow.“ Sie musterte ihn über den Rand ihres Glases hinweg, während sie es sich nachdenklich an die Lippen hielt. „Sagt mir, Lord Robert …“

„Robert reicht“, korrigierte er. Er hasste diesen Titel und zog es vor, sich abseits davon einen Namen zu machen. „Oder Carlisle, wenn Ihnen das lieber ist. Im Geschäft haben Höflichkeitsfloskeln nichts zu suchen.“ Oder im Krieg. Und ihm kam das Gefühl, dass er mitten in ein Gefecht gestolpert war.

„Carlisle“, wiederholte sie angewidert, was ihn beinahe zum Lachen brachte, da ihre Abneigung so offensichtlich war. Nicht, dass es eine Rolle spielte, was sie von ihm hielt. Ein freundschaftlicher Umgang würde die Saison für sie beide gewiss angenehmer gestalten, doch er würde auch durchs Höllenfeuer gehen, um sich zu beweisen, wenn das nötig sein sollte. „Vertretet Ihr dieselbe Meinung wie mein Vater? Dass die Geschäftswelt den Männern vorbehalten sein sollte und Damen sich mit nichts Anspruchsvollerem als Wasserfarbmalerei beschäftigen sollten?“

„Ich glaube nicht, dass Ihr Vater so denkt“, murmelte er, während er an Winslows Worte darüber dachte, die Wünsche seiner verstorbenen Frau zu erfüllen und Damen aus seinen Töchtern zu machen. Und er konnte die Frustration des Mannes deutlich nachempfinden, jetzt, da er seine Tochter kennengelernt hatte.

„Und?“, hakte sie nach.

Er konnte nicht verhindern, dass seine Lippe angesichts ihrer Verbissenheit zuckte. „Mit dieser Einstellung würde man unter den Frauen der Familie Carlisle kein langes Leben führen.“

Sie kniff kurz die Augen zusammen und verriet ihm damit, dass sie mit seiner Antwort nicht zufrieden war. „Glaubt Ihr, dass es so sein sollte?“

Er trat langsam einen Schritt auf sie zu. Auf unerklärliche Weise fühlte er sich von ihrem Kampfeswillen angezogen. Er strebte wie eine Motte zum Licht, ohne sich bremsen zu können, wenngleich er wusste, dass ihn das Feuer wahrscheinlich verzehren würde. „Ich glaube, Miss Winslow“, stellte er leise, aber nachdrücklich klar, da er in diesem Punkt keine Missverständnisse zwischen ihnen verursachen wollte, „dass Damen in beinahe jeder Angelegenheit mit Männern mithalten können …“

„Beinahe?“, wiederholte sie.

Gütiger Himmel. War der Satansbraten auch noch eine Reformerin? Je mehr er über sie erfuhr, desto mehr begriff er, welch monumentale Aufgabe ihm Winslow damit übertragen hatte, dass er einen Ehemann für sie finden sollte.

„Beinahe“, wiederholte er und dachte an die Eskapaden mit seinen Brüdern während ihrer Schreckensherrschaft. Manches davon war ganz gewiss nicht für Damen angemessen gewesen; oder auch für die meisten Männer. „Die Geschäftswelt eingeschlossen. Ich bezweifle nicht, dass Sie eine gute Partnerin abgeben würden.“

Das überraschte sie, dem Flackern ihrer grünen Augen nach zu urteilen. „Nun, dann gebt Ihr Euch geschlagen …“

„Aber ich wäre ein besserer Partner.“

Damit hatte er sie überwältigt, und zwar lange genug, um mit einem weiteren Schritt die Distanz zwischen ihnen zu verringern. Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es zur Seite, bevor sie beschließen konnte, ihm den Inhalt über den Kopf zu schütten. Auch das wäre eine wahre Verschwendung guten Bourbons gewesen.

„Ich werde mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen“, sagte er ihr freiheraus. Er schien sich eher ihren Respekt zu verdienen, wenn er ihr direkt sagte, wie die Dinge standen, statt sie subtil zu vermitteln, und dem fügte er sich gern. Er fand es sehr erfrischend, mit einer Frau so unverblümt reden zu können. „Nicht einmal für Sie.“

Keiner von ihnen regte sich in der folgenden Stille, keiner wollte zurückweichen.

Während sie sich so gegenüberstanden, fiel ihm auf, dass sie beinahe gleich groß waren. Sie musste kaum den Kopf zurücklegen, um ihn anzusehen, und ihre Lippen waren beinahe auf der gleichen Höhe wie seine … diese Lippen, die jetzt in ihrer verärgerten Grimasse fest zusammengepresst waren. Wie diese sinnlichen Lippen wohl schmecken mochten, die ihn mit ihrer dunklen Röte und ihrer Fülle an reife Kirschen erinnerten? Auf unerklärliche Weise zugleich herb und süß? Oder so bitter wie ein vergifteter Apfel?

„Dann fürchte ich, Ihr werdet eine schwierige Aufgabe vor Euch haben“, flüsterte sie. Möge Gott ihm beistehen, er lehnte sich vor, um jedes Wort aufzunehmen.

„Nicht allzu schwierig“, entgegnete er. Seine tiefe Stimme klang weitaus belegter, als er es beabsichtigt hatte. Doch diese Teufelsbraut ließ ihn alle möglichen Dinge sagen, die er nicht hatte sagen wollen, inklusive: „Sie sind wunderschön.“

Sie öffnete überrascht den Mund. Er gluckste beinahe, während er sie so ansah. Er hatte sie ausnahmsweise einmal sprachlos gemacht.

Auch wenn er damit eine Ohrfeige riskierte, konnte er sich nicht davon abhalten, die Hand nach einer der tiefschwarzen Strähnen auszustrecken, die an beiden Seiten ihr Gesicht einrahmten, und sie zwischen Daumen und Zeigefinger zu reiben. Als er spürte, wie glatt sie war, verkrampften sich seine Eingeweide. Wie schwarze Seide. Woraufhin er sich sofort fragte, ob sich ihre nackte Haut unter seinen Fingern genauso seidig anfühlen würde.

Ihr stockte der Atem und ihre geweiteten Augen richteten sich auf seinen Mund, wo ihr Blick an seinen Lippen hängenblieb.

Wollte die kleine Hexe etwa, dass er sie küsste? Diese Lippen, dieses Haar … wie viele Männer hatten sich schon von ihr verzaubern lassen und genau das getan? Und wie viele hatten es überlebt?

„Intelligent und gerissen“, raunte er.

Sie stand reglos da, unter seiner Berührung, abgesehen von einem nervösen Schlucken, das ein sanftes Geräusch erzeugte und in ihm den Wunsch weckte, seine Lippen genau dort an ihrem Hals zu platzieren, um es auch zu spüren. Und auch den rasenden Puls wollte er spüren, den er in der Mulde an ihrem Schlüsselbein sehen konnte. War es Erregung, die ihre Sinne geschärft und ihren Herzschlag beschleunigt hatte, oder Wut?

Es war ihm egal. Er sehnte sich längst nach weit intimeren Berührungen als dem Streicheln ihres Haars, das er sich so schamlos erlaubt hatte.

„Und eine Erbin“, raunte er. „Welcher Mann könnte da widerstehen?“

Sie blinzelte, als der Zauber brach. „Eine Erbin?“, wiederholte sie mit atemloser Stimme, die bewies, was sein Streicheln in ihr ausgelöst hatte. „Ist es das, was Ihr denkt?“

„Natürlich.“ Was würde sie tun, wenn er es wagte, mit seinem Daumen über ihre Unterlippe zu fahren? Würde die kleine Hexe vor Lust seufzen oder angreifen und die Zähne in sein Fleisch schlagen?

„Hat Papa es Euch denn nicht erzählt?“ Ein überraschtes Lachen stieg aus ihrer Kehle empor. „Ich habe keine Mitgift.“

Sein Kiefer verkrampfte sich, als sich ihr trällerndes Lachen wie ein Messer in seinen Bauch bohrte. Er ließ die Hand sinken. Keine Mitgift, bei ihrem Ruf … Himmel. Nun hatte sie doch zugebissen.

Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Die erste Regel im Geschäftsleben: Gehe nie eine Abmachung ein, bevor du alle Bedingungen kennst.“ Ein siegessicheres Funkeln strahlte in ihren Augen. „Alle Bedingungen.“

Er ignorierte ihr Necken und bemühte sich darum, sie nicht ungläubig anzustarren. „Sie haben keine Mitgift?“

„Nicht einen Penny.“ Mit dem Grinsen einer Katze, die den Kanarienvogel verspeist hat, schnappte sie sich ihr Bourbonglas und lief davon. „Keine von uns Winslow-Töchtern hat eine. Oh, mein Vater ist wohlhabend genug, um einen guten Ehevertrag auszuhandeln, doch er glaubt nicht an Mitgiften.“ Sie hielt vor dem Kamin inne. „Das ist seiner Meinung nach Bestechung zur Eheschließung.“ Sie stützte sich am Kaminsims ab, gestikulierte mit dem Glas, streckte die Brust heraus und gab eine Imitation von Henry Winslow. „‚Wenn ein Mann mein Geld will, soll er bei mir arbeiten, um es sich zu holen!‘“

Eine recht gute Imitation, wie er widerwillig einräumen musste, als ihn die bittere Erkenntnis traf, was ihm da wirklich bevorstand.

„‚Wenn er meine Tochter will, dann sollte Geld keine Rolle spielen.‘“ Sie hob das Glas zu einem Toast, während sie ihre tiefste Stimme benutzte und ihrem Vater dabei erschreckend ähnlich klang: „‚Und wenn er mein Geld und meine Tochter will, dann ist er ein gieriger Mistkerl, der beides nicht verdient!‘“

Sie beendete die Imitation, indem sie das Glas durch die Luft schwenkte und den restlichen Bourbon in einem einzigen Schluck herunterstürzte. Und das war ebenso beeindruckend wie die Imitation.

Er applaudierte ihrer Vorführung langsam, während er zu ihr lief: „Sehr schön.“ Er verkniff sich den Kommentar, dass sie bessere Chancen darauf hatte, eine erfolgreiche Schauspielerin zu werden, als eine Partnerschaft zu erlangen, da er sich an diesem Nachmittag keine Schläge einfangen wollte. „Doch der Mann, den Sie heiraten, wird immer noch bei Winslow Shipping einsteigen. Sein Anteil am Unternehmen dient als Ihre Mitgift.“

„Nein.“ Ihr Blick wurde ernst; sämtliche Neckerei war verschwunden. „Mein Vater wird niemals einen Schwiegersohn ins Unternehmen holen. Ihr müsst wissen, dass mein Großvater genau das mit dem Mann getan hat, der meine Tante heiratete. Er hat ihm ihre Mitgift und einen großen Anteil am Unternehmen gegeben, nur um dann dabei zuzusehen, wie er zu einem Trinker und Spieler wurde. Er hat meine Tante gegen ihre Familie aufgehetzt, dann die Ehe und beinahe auch das Unternehmen ruiniert, bevor wir ihn rausdrängen konnten. Bis zum Tag ihres Todes hat meine Tante nie wieder mit meinem Vater gesprochen.“ Sie schüttelte den Kopf, als würde sie um all das trauern, was ihre Familie verloren hatte. „Vielleicht wird Papa irgendwann einlenken und mir eine Mitgift geben, doch in der anderen Sache wird er niemals nachgeben.“

Das Loch, in dem er saß, wurde immer tiefer, und ihn erfasste das Gefühl, dass ihm die Partnerschaft durch die Finger glitt. „Dann wird Ihr Ehemann warten, bis Ihr Vater stirbt, um seinen Anteil zu erhalten.“ Er griff jetzt nach Strohhalmen. Ihm war alles recht, um seine Gelegenheit zu sichern. „Sie werden immer noch erben, Mitgift hin oder her.“

„Unwahrscheinlich. So wie ich meinen Vater kenne, hat er die Firma vermutlich irgendeinem entfernten Verwandten vermacht, den niemand von uns kennt, nur damit Winslow Shipping nicht irgendwelchen Mitgiftjägern in die Hände fällt.“

Ja, genau das würde Henry Winslow tun. Genau deshalb hatte Robert so großes Interesse daran, sein Partner zu werden – Winslows Erfolg, seine Gerissenheit, sein Glaube, dass ein Mann sich beweisen musste – jetzt wurde all das zum zweischneidigen Schwert.

„Macht es Ihnen zu schaffen, dass er es Ihnen so schwer gemacht hat, einen Ehemann zu ergattern?“, presste er heraus, da er in seiner wachsenden Frustration nach Anteilnahme suchte.

„Tatsächlich bin ich in dieser Sache seiner Meinung“, entgegnete sie in vollem Ernst. „Es wäre schrecklich, sich fragen zu müssen, was meinem Ehmann wichtiger ist: mein Geld oder ich. So kann ich mir sicher sein, dass er mich will.“ Sie seufzte leise, als hätte sie oft darüber nachgedacht. „Ihr seht also, dass es nicht so leicht wird, wie Ihr dachtet, mich zu verheiraten. Ihr werdet Verehrer finden müssen, die mir den Hof machen wollen, weil sie mich mögen, und, nun ja …“ Sie zuckte mit den Schultern, als wäre es offensichtlich. „Ich mache es den Menschen schwer, mich zu mögen.“

„Oh, davon bin ich überzeugt“, murmelte er.

Sie lachte mit aufrichtiger Heiterkeit, und das Geräusch erfüllte ihn wie eine warme Sommerbrise.

Frustration rumorte in ihm. Wenn diese verflixte Frau wollte, konnte sie mühelos einen Mann finden, der sie um ihrer Schönheit und ihres Verstandes willen heiraten würde. Ganz egal, ob es eine Mitgift gab. Ihr Scharfsinn allein könnte einem Mann auf Jahre hinaus eine glückliche Herausforderung sein.

Doch er wusste auch, wie klein die Chance war, eine Liebeshochzeit für eine Frau zu finden, die mit den Fingerspitzen am Rand der Gesellschaft hing.

„Wollen Sie denn keinen Ehemann?“, hakte er nach. „Eine Familie und ein eigenes Zuhause?“

„Ich hätte lieber Winslow Shipping.“ Ihre Stimme war so intensiv, dass sie bebte. „Das Unternehmen ist meine Familie und so sehr ein Teil von mir, wie es ein Kind wäre.“ Sie atmete tief durch und er wusste, dass sie ihm ihre Gefühle aufrichtig begreifbar machen wollte. „Ich wollte meinem Vater schon helfen, das Unternehmen zu führen, als ich noch ein kleines Mädchen war; seit ich zum ersten Mal bei den Anlegern war. Ich war wie gebannt von all den Schiffen, den Matrosen und den Trägern, die dort arbeiteten. Papa hat mir alles gezeigt, mich auf all die kleinen Details aufmerksam gemacht und mir erklärt, wie der Handel funktioniert. Es war magisch, und ich habe es nie vergessen.“

Von jedem anderen hätte er so eine Rede als dichterisch und naiv empfunden. Doch sie sprach die Worte mit subtiler Autorität und aufrichtiger Hingabe. Sie war keine einfältig lächelnde Debütantin, die sich vom Glanz der Ballsaison blenden ließ; sie war durch und durch eine Frau, die genau wusste, was sie wollte. Er hätte sich an diesen harten Kanten schneiden müssen, doch sie faszinierte ihn deswegen bloß umso mehr.

„Ich werde nicht zulassen, dass Ihr mir den Platz an meines Vaters Seite wegnehmt“, sagte sie so ruhig, als würde sie vom Wetter erzählen. Regen fällt nach unten, Winter sind kalt … Ich werde Euch nicht gewinnen lassen. „Der beste Partner für Winslow Shipping ist eine Winslow. Das war schon immer so und wird immer so sein.“

Nach dieser Erklärung streckte er den Arm an ihrer Schulter vorbei, um sein Glas auf dem Kaminsims abzustellen, lehnte sich vor und brachte sein Gesicht auf ihre Höhe. Er war ihr so nah, dass er die goldenen Sprenkel in ihren smaragdgrünen Augen sehen und den exotischen Duft nach Orange und Zimt riechen konnte, der an ihrer Haut haftete. Er berührte noch einmal ihr Haar, und als er die Hand wieder zurückzog, strich er ihr mit den Knöcheln über die Wange, wobei er jedoch darauf achtete, außer Reichweite ihres Bisses zu bleiben.

„Sie haben keine Wahl“, rief er ihr ins Gedächtnis. Ein leichter Anflug von Röte färbte ihre Wangen, und er kam nicht umhin, ob dieser Reaktion zu lächeln. Dass sie so stark auf eine so leichte Berührung reagieren konnte … erstaunlich. „Wenn Sie nicht von Ihren Geldmitteln abgeschnitten werden wollen, müssen Sie während dieser Saison tun, was man von Ihnen verlangt.“

Ihre Unterlippe schoss trotzig hervor. „Papa wird zur Vernunft kommen und einlenken. Das tut er immer.“

Er fixierte den Blick auf ihre Lippen. Wenn sie nicht vorsichtig war, könnte ein Mann versucht sein, ihr das ungehorsame Grinsen mit dem eigenen Mund von den Lippen zu wischen; und er würde es sehr genießen. „Dieses Mal nicht. Er erwartet von Ihnen, aus ganzem Herzen an der Saison teilzunehmen und entschlossen nach einem Ehemann zu suchen. Wenn Sie nicht kooperieren, werden Sie verlieren.“

„Und Ihr auch“, entgegnete sie. Ihr sanfter Atem war würzig süß, als er über seine Lippen strich, und ließ ein elektrisierendes Kribbeln durch seinen Körper ziehen. „Denn dann werdet Ihr Euren Test nicht bestehen und die Partnerschaft nicht erhalten.“

Da er nicht länger widerstehen konnte und gewillt war, den Biss zu riskieren, fuhr er ihr mit dem Daumen über die Unterlippe.

Sie keuchte und ihre Lippen öffneten sich vor Überraschung. Doch sie zog sich nicht zurück.

Von ihrem Trotz ermutigt und von dem Feuer in ihr bezaubert, fuhr er langsam mit der Fingerspitze am Umriss ihrer vollen Lippen entlang. Als sie erbebte, wurde das elektrisierende Kribbeln in ihm zu einem sehnsüchtigen Verlangen. Er hatte noch nie zuvor eine Frau so dringend küssen wollen wie in diesem Augenblick.

„Ich bin bereit, das Risiko einzugehen“, sagte er schleppend und mit tiefer Stimme, dann hob er herausfordernd eine Augenbraue. „Sie auch?“

Sie starrte ihn an, als würde sie ihre Optionen abwägen und keinen Ausweg aus den Plänen ihres Vaters finden. In ihren Augen glänzten unvergossene Tränen der Wut. Als sie flüsterte, strich jedes Wort als warmer Hauch über seine Finger: „Ich werde niemals aufgeben.“

In ihm stieg Bewunderung für ihre Beharrlichkeit auf und er raunte: „Ich wäre auch enttäuscht, wenn Sie es täten.“

Er ließ die Hand an seine Seite sinken und trat zurück. Oh, definitiv nur, um sich davon abzuhalten, sie erneut zu berühren, wobei er sie dieses Mal vermutlich erwürgt hätte. Er machte auf dem Absatz kehrt und lief davon.

„Ich mag an diesem Fiasko von einer Ballsaison teilnehmen müssen“, rief sie ihm nach, als er zur Tür lief, „doch ich muss es Euch gewiss nicht leicht machen.“

„Von Ihnen, Miss Winslow“, entgegnete er mit einem schweren Seufzen, das ihrer Hartnäckigkeit geschuldet war, und vielleicht auch der Verärgerung, die sie in ihm entfachte, „hätte ich nichts anderes erwartet.“

Mit dieser Kriegserklärung neigte er höflich den Kopf und verließ den Raum.

***

Mariah murmelte immer noch vor sich hin, wie schon auf der ganzen einstündigen Kutschfahrt von Mayfair nach St. Katharine, als sie die Stufen vor dem massiven Steinbau der Gatewell Schule für Seewaisen erklomm. Sie verfluchte Robert Carlisle, seine Verbindungen ins Parlament und sämtliche seiner Vorfahren, deren Fortpflanzung in ihm gegipfelt hatte; ein Mann, der sie so wütend machte, dass sie kaum noch klar hatte sehen können, als er so arrogant aus dem Salon stolziert war.

Diese Dreistigkeit! So in ihr Leben zu stürmen und ihr das Unternehmen zu rauben. Ihren Vater gegen sie zu wenden; ihr eine Ballsaison mit dem Ziel einer Hochzeit aufzuzwingen … oh, diese Demütigung … und es zu wagen, sie auf diese Weise zu berühren!

Nun, das war womöglich gar nicht so schlimm gewesen. Nur dass hinter dieser sanften Berührung der Teufel selbst stand und sich hämisch darauf freute, ihre Seele zu rauben.

Sie wischte sich über die Augen, als sie durch den Irrgarten aus Gängen und Räumen eilte, in dem sich sowohl die Schule als auch eine Unterkunft für die Kinder befand, deren Väter auf See oder bei der Arbeit an den Kais umgekommen waren. Dieses solide Haus mit dem durchhängenden Dach und den brüchigen Mauern hatte ihr stets Trost gespendet. Wie auch das Wissen, dass sie Kindern half, die genau wie ihre Mutter den eigenen Vater auf See verloren hatten. Jedes Mal, wenn Mariah dieses Gebäude betrat, spürte sie das Lächeln ihrer Mutter, als würde sie vom Himmel aus zuschauen.

Doch an diesem Tag konnte ihr selbst die Schule keinen Frieden bringen.

Sie gab sich alle Mühe, das Bild von Carlisles Grinsen aus ihrer Erinnerung zu verdrängen, das sie immer noch wütend machte, während sie die Hintertreppe hinunterrannte und auf der Suche nach Mrs. Smith in die Küche eilte. Diese Frau war in der Schule gleichzeitig Haushälterin und Köchin. Ihr lag eine wütende Tirade über Carlisle auf der Zunge, so giftig, dass sie die Tünche von der Wand ätzen würde, sobald sie die Worte entfesselte.

Doch sie hielt in der Tür inne. Mrs. Smith zog gerade ein Blech mit frischen Keksen aus dem Ofen und Hugh Whitby saß auf einem Hocker am Tisch und rollte kleine Teigkugeln, während er ein interessantes Gerücht zum Besten gab.

Als sie ihre beiden engsten Freunde sah, entfuhr ihr ein qualvolles Schluchzen.

Mrs. Smith hob den Blick und ließ das Blech scheppernd auf den Tisch fallen. „Mariah!“ Sie war augenblicklich von Sorge erfasst. „Meine Liebe, was ist denn …“

Doch Whitby war bereits aufgesprungen, zu ihr geeilt, hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt und half ihr sanft auf einen der Stühle. Als sie dort angekommen war, schluchzte sie bereits unkontrolliert. All die Wut und das Gefühl von Verrat von der Begegnung mit diesem schrecklichen Mann am Morgen brachen in hemmungslosen Wogen des Elends aus ihr hervor.

„Mariah?“ Whitby wurde angesichts ihrer Tränen ganz blass, was seine himmelblauen Augen und sein fuchsrotes Haar noch mehr hervorstehen ließ, als er sich vor sie kniete und ein Taschentuch aus seiner Westentasche zog. „Was ist geschehen?“

Sie putzte sich mit dem Taschentuch die Nase und stieß eine Beschreibung der Ereignisse des Morgens aus, wobei sie sorgfältig die Berührungen diese Lebemannes ausließ.

Als sie fertig war, hatten sich ihre Schultern gestrafft und ihre Brust fühlte sich leichter an. Es ging ihr besser, wie jedes Mal, wenn sie ihre Last mit ihren Freunden teilen konnte. Doch sie war nicht so naiv, den Sturm abzutun, der vermutlich in den kommenden Monaten über sie hereinbrechen würde.

„Robert Carlisle?“, wiederholte Whitby ungläubig, während er sich wieder auf seinen Hocker sinken ließ, und Mrs. Smith ihr eine Tasse Tee hinstellte.

Sie schnaubte. „Sie kennen ihn?“

„Meine Brüder haben ihn in Eaton kennengelernt. Sie haben alle möglichen Geschichten über die Carlisles erzählt und dass sie ständig vom Aufsichtsschüler gerügt wurden.“ Er grinste mit einem albernen Lächeln, das ganz von großen Zähnen und Grübchen dominiert war und irgendwie genauso schlaksig wirkte wie der Rest von ihm. „Ich weiß nicht, warum sie nie der Schule verwiesen wurden.“

Sie packte das Taschentuch fester. Das war der Mann, den ihr Vater in die Führung von Winslow Shipping holen wollte?

„Natürlich glaube ich nicht all diese Geschichten.“ Whitby schüttelte den Kopf, während er logisch schlussfolgerte: „Ich meine, wie soll eine Kuh in eine Kutsche passen?“

Ihre tränenden Augen weiteten sich.

„Und was diese chinesischen Akrobaten angeht, also, ich glaube nicht, dass es von denen in England überhaupt so viele gibt. Ganz sicher nicht genug, um ein ganzes Pfarrhaus zu füllen!“

Mariahs Herz geriet aus dem Takt.

„Also wirklich, Mr. Whitby“, tadelte Mrs. Smith sanft, als sie einen Teller mit warmen Keksen auf den Tisch stellte. „Solche Geschichte will Mariah bestimmt nicht hören.“

Gewiss nicht!

„Sie wollte mehr über den Charakter des Mannes erfahren“, erklärte die Haushälterin, „und sich seiner guten Absichten versichern.“

„Robert Carlisle?“, platzte es aus Whitby heraus. „Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt irgendwelche …“

„Whitby!“, rief Mariah flehentlich. Er war ihr ein enger Freund, doch wenn er nicht den Mund hielt, würde sie ihm womöglich einen Keks hineinstopfen, um ihn verstummen zu lassen. Sie ächzte und legte den Kopf in die Hände. „Was soll ich nur tun?“

„Ist schon gut.“ Mrs. Smith legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie. „Am Ende wird alles gut ausgehen. Das werden Sie schon sehen.“

Mariah schüttelte den Kopf, nahm sich die Teetasse, hielt sie zwischen den zitternden Händen und genoss die tröstliche Wärme. „Wie denn? Ich werde gegen meinen Willen von einem entsetzlichen Mann in die Ballsaison gezwungen.“ Von einem Mann, der anscheinend unschuldige Kühe in Kutschen zwängte und Horden von Akrobaten in Pfarrhäuser. Nur Gott konnte wissen, was das für sie bedeuten würde. „Ich sitze in der Falle. So oder so verliere ich die Partnerschaft.“

Whitbys Gesichtsausdruck wurde sanft und mitfühlend. Er wusste, wie sehr sie davon träumte, das Unternehmen als nächste Winslow-Generation in die Zukunft zu führen und erneut die Nähe zu ihrem Vater zu spüren, die sie vor so langer Zeit erlebt hatte. Doch sie vermutete, dass Whitby trotz seines unumstößlichen Optimismus nicht wirklich glaubte, dass es so kommen würde.

„Sie müssen sich dem nicht fügen, Mariah“, sagte er ihr.

„Wenn ich es nicht tue, wird mir das Geld gestrichen“, rief sie ihm leise ins Gedächtnis. „Und wenn ich das Geld verliere …“ Sie deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf das Haus, das sie umgab. „Dann wird auch Gatewell Geld verlieren. Und wir können nicht mal auf einen Viertelpenny verzichten.“

„Ich werde meinen Vater bitten …“

„Nein.“ Sie drückte liebevoll seine Hand. „Ihr Vater war schon unglaublich großzügig.“ Dem Baron gehörte das Gebäude und er erlaubte der Schule, das Haus zu nutzen, solange es instandgehalten wurde. Ohne Whitbys Vater müsste die Schule umziehen. Doch ohne ihre Geldmittel müsste sie ganz zumachen. „Das ist mein Problem, und ich werde eine Lösung finden.“

Whitbys jungenhaftes Gesicht wurde sehr ernst, was sehr untypisch für ihn war, während er sich einen der Kekse in den Mund steckte und nachdenklich darauf herumkaute. Seine Gedanken mussten rasen, auf der Suche nach einer Lösung für ihr Problem. Das mochte sie an Whitby am meisten: Er war über die Maßen loyal.

Mrs. Smith setzte sich Whitby gegenüber auf einen Stuhl, griff nach der Teigschüssel und hielt ihre bemehlten Hände beschäftigt, indem sie Kugeln rollte. Und das war es, was Marian an Mrs. Smith am meisten mochte: ihr unerschütterlicher Glaube daran, dass Tee und Kekse jedes Dilemma lösen konnten. „Wissen Sie, vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie Sie glauben.“

„Weil es noch schlimmer sein könnte?“, seufzte sie kläglich.

Mrs. Smith verzog die Lippen zu einem Ausdruck mütterlicher Missbilligung. „Sie hatten nie eine echte Ballsaison.“

„Ich hatte sechs“, rief Mariah ihr mit Verdruss ins Gedächtnis.

„Nein, meine Liebe.“ Sie legte eine Teigkugel aufs Blech und schob die Schüssel in Whitbys Richtung, um erneut seine Hilfe zu bekommen, wobei Mariah vermutete, dass sie damit vor allem die schon abkühlenden Kekse vor ihm retten wollte. „Sie hatten noch nie eine anständige Ballsaison, so, wie Sie es verdient hätten.“

Sie entgegnete abwehrend: „Meine Saisons waren in Ordnung.“

„Sie hatten keine Einladungen, keine Kleider, keinen einzigen Verehrer …“

„Danke“, knurrte Mariah sarkastisch.

„Und Sie hätten all das verdient. Sie sollten als Cinderella ihr eigenes Märchen erleben.“ Mrs. Smith seufzte verträumt. „Jetzt haben Sie die Gelegenheit, anständig in die Gesellschaft eingeführt zu werden, und das auch noch unter der Anleitung einer Duchess! Sie bekommen eine Chance, die besten der heiratswürdigen Gentlemen kennenzulernen, die schönsten Veranstaltungen zu besuchen, vielleicht gar mit einem Duke Walzer zu tanzen …“

Darüber musste Mariah lachen.

„Was ist daran so amüsant? Ein Duke sollte sich glücklich schätzen, mit einer so wunderschönen Dame wie Ihnen tanzen zu können.“ Als Mariah die Augen verdrehte, versetzte Mrs. Smith Whitby unter dem Tisch einen Tritt. „Sagen Sie ihr, wie schön sie ist, Mr. Whitby.“

„Was?“ Whitby schreckte aus seinen eigenen Gedanken auf, hob den Blick und blinzelte.

„Ist Mariah nicht wunderschön?“, half Mrs. Smith nach.

Er warf Mariah einen Blick zu und blinzelte erneut. „Oh, ja sicher.“ Dann nahm er sich noch einen Keks.

Mariah lächelte. Whitby blieb sich stets treu.

Sie nahm ihm den Keks aus der Hand, als er ihn sich gerade in den Mund stecken wollte, brach ihn in der Mitte durch und reichte ihm eine Hälfte. Er grinste sie an und verschlang sein Stück, während sie langsam an ihrem knabberte.

„Und was soll schon passieren?“ Mrs. Smith legte die letzte Teigkugel aufs Blech und drückte dann mit einem Löffel sämtliche der Kugeln ein wenig flach. „Im schlimmsten Fall wird es langweilig. Und im besten Fall …“ Sie zuckte mit den Schultern und stieß sich vom Tisch ab, um das Backblech zum Ofen zu bringen. „… könnten Sie einen Ehemann finden.“

Mariah verschluckte sich.

„Natürlich nur, wenn Sie das auch wollen, und einen, der Sie liebt“, lenkte Mrs. Smith rasch ein während Whitby der hustenden Mariah auf den Rücken klopfte. „Niemand kann Sie gegen Ihren Willen in eine Ehe zwingen; nicht einmal Ihr Vater.“

Sehr wahr. Doch es fühlte sich beinahe so an, als könnte er das.

„Aber einen Mann kennenzulernen, den Sie womöglich wirklich heiraten wollen …“, überlegte Mrs. Smith, während sie sich Tee nachschenkte. „Wäre das nicht wundervoll?“

Whitby grinste. „Mariahs Hochzeit? Also das wäre eine gesellschaftliche Veranstaltung, für die ich sogar bezahlen würde!“

Mariah warf einen finsteren Blick und ihren Keks in seine Richtung. Er fing das Stück und steckte es sich in den Mund.

Mrs. Smith seufzte schwer. „Es sind schon seltsamere Dinge geschehen.“ Sie holte ein Blech mit fertiggebackenen Keksen aus dem Ofen und transferierte sie einzeln mit einem Löffel auf das Gitter, wobei sie Whitby auf die Finger schlug, wann immer er nach einem griff. „Außerdem könnte das zu Ihrem Vorteil sein.“

„Wie das?“ Sie konnte sich kein Szenario ausmalen, in dem es irgendwie von Vorteil wäre, wie eine Kreatur aus der Tower Menagerie gaffenden Männern vorgeführt zu werden.

„Sie könnten Ihrem Vater damit beweisen, dass Sie willens sind, zu tun, was er verlangt, statt zu rebellieren, und womöglich möchte er genau das von einer Geschäftspartnerin.“

„Ich habe nicht rebelliert“, murmelte sie und riskierte es, selbst den Löffel zu spüren zu bekommen, als sie nach einem der warmen Kekse griff. „Aber selbst Cinderella hat rebelliert; erst gegen ihre böse Stiefmutter und dann indem sie vorgab, jemand zu sein, der sie nicht war.“ Sie wedelte mit dem Keks in Mrs. Smiths Richtung, um ihr Argument zu unterstreichen. „Glauben Sie wirklich, der Prinz hätte mit ihr getanzt, wenn er gewusst hätte, dass sie bloß ein Küchenmädchen ist? Und danach hat sie vorgegeben, die pflichtbewusste Stieftochter zu sein, nur um zu verbergen …“

Sie hielt plötzlich inne und ihr Blick zuckte zwischen ihren beiden Freunden hin und her, als ihr eine herrliche Idee in den Sinn kam. Eine herrlich teuflische Idee!

„Oh, das ist es“, schnurrte sie beinahe, während sie sich den Keks nachdenklich an die Lippen gelegt hatte. „Genau das werde ich tun …“

„Wie bitte?“ Mrs. Smith verzog misstrauisch den Mund.

Mariah warf ihr ein listiges Lächeln zu. „Ich werde genau das tun, was Sie vorgeschlagen haben.“

Argwohn verfinsterte ihren Gesichtsausdruck. „Inwiefern?“

Indem ich vorgebe, eine pflichtbewusste Tochter zu sein. Natürlich würde sie dabei auf einem schmalen Grat wandeln. Nach außen würde sie vorgeben, den Plänen ihres Vaters zu folgen; würde an der Ballsaison teilnehmen und tun, was immer Carlisle und seine Mutter von ihr verlangen mochten, damit ihr Vater keinen Makel finden konnte. Doch insgeheim würde sie währenddessen Carlisle so sehr in die Speichen fallen, dass es ihm unmöglich werden würde, auch nur einen Verehrer für sie zu finden. Wenn dann der August käme, ohne einen einzigen Heiratsantrag, würde ihm die Partnerschaft verwehrt werden und sie könnte unverheiratet glücklich werden, ohne ihre Geldmittel zu verlieren. Und dann würde sie eine neue Gelegenheit bekommen, um ihrem Vater zu beweisen, dass sie ihm bei der Leitung des Unternehmens helfen sollte.

Oh, das war schlicht perfekt!

Mit einem heiteren Lachen verkündete sie: „Ich werde genau wie Cinderella sein!“

Nur dass ihre gute Fee sie nicht in eine Prinzessin, sondern in eine Geschäftspartnerin ihres Vaters verwandeln würde. Und sie würde dafür sorgen, dass es Carlisle sein würde, der sich Schlag Mitternacht in einen Kürbis verwandelte.

„Whitby“, bat sie mit sprudelnder Begeisterung in der Stimme, „erzählen Sie mir alles, was Sie über die Carlisles wissen.“

„Alles?“ Er blinzelte überrascht, weil jemand tatsächlich einmal darum bat, seine Geschichten hören zu dürfen.

Sie lächelte und reichte ihm ihren letzten Keks. „Alles.