Leseprobe Die Verführung des Duke of Hartford

Kapitel 1

Bellview Manor, Chiswick, England 1818

Es war die denkbar unerfreulichste Nachricht.

Elliot George Ashbrook, der neunte Duke of Hartford, wollte heiraten oder zumindest kundtun, dass er gedachte, eine Familie zu gründen. Darüber würden all die Mütter heiratsfähiger Töchter in helle Begeisterung ausbrechen und umgehend mit kaum verhohlenem Eifer die Jagd auf den vornehmen und gefragten Junggesellen eröffnen. Monatelang käme die Gerüchteküche der feinen Gesellschaft nicht zur Ruhe, und in allen Zeitungen wäre dieser unerwartete Schritt des Dukes ein Thema. Denn bisher galt er in den besseren Kreisen als ausgemachter Lebemann und Wüstling.

Miss Emma Amelia Fitzgerald presste eine Faust gegen ihre Brust, als könnte sie damit den Schmerz lindern, der plötzlich ihr Herz erfüllte. Elliot wollte auf Brautschau gehen. Sie war im Begriff gewesen, an die Tür zum Arbeitszimmer zu klopfen, doch nun ließ sie die Hand sinken. Zuerst musste sie ihre Fassung wiedererlangen, bevor sie ihrem Bruder und seinem Gast unter die Augen trat. Auf keinen Fall sollte der Duke die Tränen in ihren Augen sehen oder den Schmerz auf ihren Zügen, die allgemein als ausdrucksvoll bezeichnet wurden. Schließlich war sie es gewesen, die vor mehreren Jahren seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Obwohl sie ihre damalige Entscheidung nicht bereute und ihre gegenwärtige Situation bedenken musste, wünschte sie sich insgeheim, er möge seinen Antrag wiederholen. Denn das war nie geschehen, und ihr Stolz, ihre Zweifel und Furcht hatten sie davon abgehalten, auf ihn zuzugehen. So waren die Jahre vergangen, acht, um genau zu sein, und sie musste davon ausgehen, dass er sie wegen ihrer Verletzungen als Ehefrau für untauglich hielt.

„Ich wusste gar nicht, dass du solide werden willst“, sagte ihr Bruder, Anthony Fitzgerald, soeben im Arbeitszimmer. „Ich dachte, dafür sei dir deine Freiheit viel zu wichtig.“

„Ich glaube, es wird Zeit“, erwiderte Elliot in leicht affektiertem Ton. „Schließlich bin ich neunundzwanzig, und ich werde auch nicht jünger. Ich werde meine Absichten auf Lady Wiles’ Ball in zwei Wochen bekanntgeben.“

Seit fast einem halben Jahr hatte sich Elliot nicht mehr in Bellview Manor sehen lassen, und Emma, die noch immer vor der Tür stand, fand, dass seine Stimme voller, tiefer und selbstbewusster klang.

Sie hörte das ungläubige Schnauben ihres Bruders. „Du meinst es wirklich ernst. Ich kann es kaum glauben. In den vergangenen Jahren hast du dich wie ein eingefleischter Lebemann benommen. Die gute Gesellschaft wird schockiert und begeistert zugleich sein. Hast du jemand Bestimmten im Auge?“

Der Duke dachte nach. „Vielleicht Lady Sutton“, sagte er schließlich. „Sie scheint mir die geschliffenste Debütantin in dieser Saison zu sein. Ich hatte das Vergnügen, mit ihr zu tanzen, und fand sie recht angenehm und intelligent.“

„Und nicht zu vergessen: strahlend schön und makellos.“

Makellos. Genau das, was Emma nach ihrem schrecklichen Kutschenunfall nicht mehr war. Ihr Bruder machte sich deswegen immer noch Vorwürfe, weil ihre Aussichten auf eine vorteilhafte Heirat dadurch gesunken waren. Und weil der Unfall ihr den Mann genommen hatte, den sie geliebt hatte und, wie sie zugeben musste, noch immer liebte – eben den Duke.

Als sie sich unsterblich in ihn verliebt hatte, war er allerdings noch kein Duke gewesen.

Damals waren sie Nachbarn und Freunde, und alles schien so einfach zu sein, ihr Platz in der Welt war sicher und klar umrissen. Es galt als selbstverständlich, dass sie Elliot heiraten und mit ihm eine Familie gründen würde, doch innerhalb weniger Augenblicke wurde ihr das alles geraubt, und ihr blieben nur gebrochene Knochen und Hoffnungslosigkeit. Ihr einziger Trost war nun die Aussicht darauf, alles hinter sich zu lassen und nach Boston zu reisen.

„Makellosigkeit bedeutet mir nichts, aber es schadet auch nichts, dass sie einen sehr netten Anblick bietet.“

Bei diesen Worten verspürte Emma eine gewisse Erleichterung.

Anthonys Antwort konnte sie nicht verstehen und war daher versucht, das Ohr an die Tür zu pressen. Zu lauschen war eine grobe Ungezogenheit, doch sie beruhigte ihr Gewissen damit, dass sie sich erst wieder fangen musste, bevor sie ihrem Bruder und dem Duke unter die Augen trat. Zu ihrem Leidwesen musste sie sich eingestehen, dass sie für einen Augenblick mit dem Gedanken gespielt hatte, sich ins Musikzimmer an ihr Klavier zu flüchten. Doch ein Feigling war sie noch nie gewesen und würde angesichts dieser entscheidenden Begegnung auch nicht damit anfangen.

„Sehen wir uns nächste Woche auf Lady Waverlys Hausparty?“, fragte Elliot.

Emma erstarrte. Schon seit Wochen war dieses skandalträchtige Ereignis in aller Munde. Die jährlichen Hauspartys und Maskenbälle der Countess waren berühmt–berüchtigt, und nur die verruchtesten Lebemänner und die anrüchigsten Frauen nahmen daran teil. Doch wie Emma im Laufe der Jahre aus den Skandalblättern erfahren hatte, war es auch vorgekommen, dass vornehme Damen sich mit Perücken und Masken ausstaffiert eingeschlichen und damit ihren Ruf ruiniert hatten.

„Dort wirst du keine Ehefrau finden, das weißt du ja wohl“, sagte Anthony.

Sein Freund lachte leise. „Dort geht’s mir nur ums Vergnügen“, raunte er mit betont verruchter Stimme. „Die Partys der Countess sind immer ein Spaß, und bevor ich meine Heiratsabsichten verkünde, will ich mir noch ein, zwei willige Damen gönnen.“

Ein, zwei willige Damen? Der Duke war wirklich durch und durch verdorben. Aber der beste Freund ihres Bruders. Und der Mann, den Emma noch immer von ganzem Herzen liebte.

„Wozu die Mühe? Letztes Jahr hast du den Maskenball noch nicht einmal mit einer Dame am Arm verlassen, wenn ich mich recht entsinne. Und die beiden Jahre davor auch nicht.“

Der Duke brummte unwillig. „Dieses Jahr werden bestimmt genügend abenteuerlustige Schönheiten dort sein, die meinem erlesenen Geschmack entsprechen.“

Sie hörte das Klirren von Gläsern.

„Wie geht es Emma?“

Sie erschrak, als sie ihren Namen hörte.

„Will immer noch nicht heiraten und stattdessen eine ausgedehnte Reise nach Amerika machen. Ich weiß nicht, was sie in dieses unzivilisierte Land zieht.“

In der eintretenden Stille hob Emma erneut die Hand, um an die Tür zu klopfen, strich jedoch stattdessen über ihr Tageskleid aus hellblauem Musselin, als wollte sie nicht vorhandene Falten glätten. Dann holte sie tief Luft, schloss die Augen und ließ ihr Aussehen Revue passieren. Sie betastete ihr ausnehmend schönes rotes Haar, um sicherzugehen, dass sich keine Strähnchen aus ihrem kunstvollen Chignon gelöst hatten. So konnte sie ihm gegenübertreten. Wieder schickte sie sich an zu klopfen und wieder hielt sie inne, als der Duke weitersprach: „Willst du denn nicht, dass sie fährt?“

Bildete sie es sich nur ein, oder klang Elliots Stimme tatsächlich verstimmt?

„Nein“, antwortete ihr Bruder. „Wir alle möchten sie in einem eigenen Heim mit Mann und Kindern sehen. Vater und ich haben darüber gesprochen. Er will ihr die Reise verbieten.“

Warum wollte ihr Vater ihr vorschreiben, wie sie zu leben hatte?, dachte Emma wütend. Schließlich war sie volljährig. Es war ja auch nicht so, als würde sie zu fremden Leuten fahren. Ihre ältere Schwester Elizabeth hatte einen amerikanischen Unternehmer geheiratet und lebte glücklich und zufrieden mit ihm in Boston. Sie hatte Emma zu sich eingeladen in der Hoffnung, ihre Schwester würde in Elizabeths Bekanntenkreis wieder ein wenig glücklicher werden. Das bezweifelte Emma zwar, dennoch fand sie die Vorstellung aufregend, England auf unbestimmte Zeit zu verlassen. Doch ihre Familie war über ihren Entschluss nicht erfreut gewesen.

„Wie sind ihre Chancen, eine einigermaßen gute Partie zu machen?“

„Mit fünfundzwanzig? Praktisch gleich null. Aber da gibt es noch etwas“, fügte ihr Bruder zögernd hinzu. „Lord Coventry hat den Wunsch geäußert, sie zu heiraten, und unser Vater hat zugestimmt. Emma weiß noch nichts davon.“

Sie wurde starr vor Schreck. Diese Ungeheuerlichkeit war tatsächlich neu für sie.

„Coventry! Der Mann ist doch mindestens sechzig“, bemerkte der Duke und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu: „Meinst du, sie wird ihn nehmen? Du weißt ja, dass sie ihre eigenen Ansichten hat.“

„Sie ist einfach verdammt halsstarrig und überspannt!“, entgegnete ihr Bruder.

„Aber der alte Earl ist doch wirklich nicht akzeptabel. Mit eurer Entscheidung würde Emma niemals glücklich werden. Und ich bin weiß Gott auch nicht glücklich damit“, fügte Elliot schroff hinzu, als würde ihn die Erkenntnis selbst überraschen.

„Eine gute Verbindung für sie zu arrangieren, ist schwerer, als ich dachte. Und Emma macht es uns nicht einfacher.“

„Du weißt doch, dass mehr dahintersteckt. Sie leidet immer noch unter …“

Bei der Erwähnung ihres Unfalls krampfte sich Emma der Magen zusammen. Um das für sie unerträgliche Gespräch zu beenden, klopfte sie entschlossen an und trat zögernd ein.

„Anthony, mein Lieber, ich –“ Sie verstummte demonstrativ. „Durchlaucht, ich wusste ja nicht, dass Sie hier sind.“

Mit diesen Worten wandte sich Emma ihm zu. Sein Anblick überwältigte sie geradezu. Die hochgewachsene Gestalt strahlte Kraft und geschmeidige Anmut aus. Sein dunkles Haar war makellos gepflegt, und seine wunderschönen goldenen Augen ließen sie nicht mehr los. Als er sich über ihre Hand beugte, bemerkte sie, dass er lange, dunkle, seidige Wimpern hatte. Der Druck seiner Finger war stark und fest, und sie war froh, als er sie losließ, denn bei der flüchtigen Berührung lief ihr ein Schauer den Rücken hinunter. Elliot galt als ehrgeizig und zielstrebig und war als brillanter Geschäftsmann bekannt, was die gute Gesellschaft schockierend fand. Denn ein Duke brauchte nichts weiter zu tun, als eben ein Duke zu sein. Selbst nachdem er acht Jahre in den gehobenen Kreisen zugebracht hatte, war Elliot für die Presse und die Öffentlichkeit noch immer ein Rätsel. Außerdem galt er leider als recht zurückhaltend und abweisend.

Besonders mir gegenüber, dachte Emma.

Dennoch überkam sie eine erschreckende Sehnsucht, und das Herz tat ihr weh. Diese Gefühle überkamen sie, wann immer sie sich in seiner Nähe aufhielt.

Seine arrogant hochgezogene Augenbraue und das leicht belustigte Grinsen zeigten, dass er ihre Unwahrheit durchschaut hatte. Als dann sein Blick zu ihrem Gehstock hinunter wanderte, krampfte sich ihr der Magen zusammen. Auf den Stock schauten alle immer zuerst. Als nächstes registrierten sie ihr Hinken, und schon kamen die mitleidige Miene und die bedeutsam gesenkte Stimme, als sei Emma ein geistig verwirrter Mensch, mit dem man behutsam umgehen musste. Wie erbärmlich sie sich dabei fühlte. Es gab nur wenige Menschen, die ohne diesen mitleidigen und neugierigen Unterton mit ihr sprachen.

„Wie überaus erfreulich Sie wiederzusehen, Miss Fitzgerald.“

Wie formell er sich gab. Als hätten sie niemals zusammen im Teich gebadet; als hätte er ihr nicht das Angeln beigebracht und sie einmal geküsst und ihr damit das Herz gestohlen.

Erleichtert stellte sie fest, dass seine Stimme jetzt normal klang, und sein Blick wieder auf ihrem Gesicht ruhte. Nicht, dass er sie jemals als Invalidin behandelt hätte, doch sie hatten sich eine ganze Weile nicht mehr gesehen, und sie hatte noch nie vorhersagen können, wie er sich ihr gegenüber verhalten würde. „Sechs Monate ist es jetzt her“, sagte sie ein wenig schnippisch und schämte sich gleich darauf für ihren vorwurfsvollen Ton.

„Ach, tatsächlich?“, fragte er leicht belustigt. Seine Augen waren golden wie die eines Löwen, verblüffend und einzigartig. Schon immer hatte eine tiefe Ruhe in seinem Blick gelegen, die sie nicht begreifen konnte, und zu der sie keinen Zugang fand. Tausend Geheimnisse lagen in diesem Blick. Emma hatte sich immer gefragt, ob sie es sich nur einbildete oder ob tatsächlich etwas Gefährliches darin schlummerte. Jetzt starrten sie einander an, bis Emmas Bruder hüstelte. Da errötete sie und schaute rasch weg.

„Verzeih mir die Störung, Anthony, aber ich habe Pfarrer Marbury, seine Frau und seine entzückende Tochter zum Dinner eingeladen. Ich hoffe, das ist dir recht.“

Ihr Bruder sah sie mit finsterem Blick an. „Muss ich dabei sein? Du weißt doch, wie Miss Marbury ist … immer so übertrieben zuvorkommend.“

Es geschah ihm recht, dachte Emma, weil er so gemein gewesen war und ihren Vater wieder einmal bekniet hatte, einen Ehemann für sie zu suchen. Und zwar gegen ihren ausdrücklichen Wunsch, ledig zu bleiben. „Ich bin sicher, sie wird ein sehr charmanter Gast sein.“ Dann wandte sich Emma an Elliot: „Soll ich der Haushälterin Bescheid sagen, dass Sie auch an dem Essen teilnehmen werden, Durchlaucht?“

„Ich kann die Einladung leider nicht annehmen, da ich schon eine Verabredung habe, die ich nicht absagen kann.“

„Selbstverständlich.“ Sie bedachte ihn mit einem leichten Lächeln, das sich verkniffen anfühlte. „Wenn ich kurz mit Anthony unter vier Augen sprechen könnte?“

„Ich wollte ohnehin gerade gehen“, erwiderte Elliot gelassen, neigte kurz den Kopf und ging hinaus.

Nachdem sich die Tür hinter dem Duke geschlossen hatte, ging Emma zu dem mit blauem Damast bezogenen Sofa hinüber, ließ sich darauf nieder und platzierte ihren Stock sorgfältig neben sich. Dann blickte sie ihren Bruder einige Sekunden lang an. So peinlich es ihr auch war zuzugeben, dass sie gelauscht hatte, durfte sie doch nicht zulassen, dass er und ihr Vater über ihr Leben bestimmten, als hätte sie keine eigenen Pläne und Hoffnungen.

Die Mitglieder ihrer Familie taten nichts, was nicht ihrer eigenen Bequemlichkeit diente, und so war es offensichtlich, dass sie Emma los sein wollten. Plötzlich war sie traurig. „Ich habe immer versucht, euch trotz meiner Einschränkungen nicht zur Last zu fallen“, sagte sie.

Anthony schaute sie vorwurfsvoll an. „Du bist meine Schwester, und ich liebe dich, Emma. Ich habe dich nie als Last empfunden und werde es auch niemals tun. Du redest dummes Zeug.“

„Warum hast du mir dann nicht erzählt, dass Papa mit Lord Coventry über eine Heirat gesprochen hat? Ging es dir da nicht um deine eigene Bequemlichkeit? Du wirst ja wohl kaum annehmen, dass ich etwas für den Earl empfinde.“

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Ich will doch nur das Beste für dich“, sagte er mit leiser, eindringlicher Stimme. „Unsere ganze Familie will das.“

„Dann solltet ihr mich mein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen führen lassen, Anthony.“

„Willst du denn keine eigene Familie, Emma? Und Kinder?“

Plötzlich erfüllte eine tiefe Sehnsucht ihr Herz, und die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Sie wünschte sich eine Familie, Liebe, Behaglichkeit, Sicherheit und Glück. Darin unterschied sie sich nicht von anderen Frauen, doch auf dem Grund ihrer Seele schlummerte seit Jahren noch ein anderes Verlangen. Es wuchs und drängte, je mehr sie sich mit ihrem Gebrechen abgefunden hatte. Dieser Teil von ihr sehnte sich nach dem Abenteuer, nach Abwechslung von der entsetzlichen Eintönigkeit ihres Lebens. Oftmals kämpften diese widerstrebenden Bedürfnisse in ihr miteinander und hinderten sie daran, sich mit ihrer Lage abzufinden. Eine Ehe mit Coventry, den sie nicht liebte und von dem sie nur Mitleid und Geringschätzung zu erwarten hatte, war jedenfalls nicht das, was sie sich für ihr Leben ersehnte. „Nicht mit Coventry“, entgegnete sie ihrem Bruder.

Anthony runzelte die Stirn. „Er ist erst zweiundvierzig. Und er mag dich trotz … trotz …“ Mit einem unwilligen Schnauben brach er ab.

Emma erhob sich. „Trotz meiner Narben, die er noch nicht einmal gesehen hat? Trotz meines Hinkens? Trotz der Tage, an denen ich so starke Krämpfe in den Beinen habe, dass ich den Rollstuhl benutzen muss? Trotz der Tatsache, dass ich vielleicht niemals Kinder bekommen kann?“

Anthonys Miene wurde hart. „Er wird morgen bei dir vorsprechen. Ich erwarte, dass du höflich zu ihm bist und ihm eine faire Chance gibst.“

„Ich weiß nicht, ob ich morgen zu sprechen bin.“

„Du benimmst dich unvernünftig.“

„Das stimmt nicht“, entgegnete sie entschieden. „Der letzte Bewerber, den Papa und du mir aufgedrängt habt, gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass ich im Falle einer Heirat mit ihm auf dem Land zu bleiben hätte, fernab der guten Gesellschaft. Er hat sich schon für mich geschämt, bevor ich seinen Antrag überhaupt angenommen hatte. Auf keinen Fall will ich mit jemandem leben müssen, der auf mich herabsieht und mich bemitleidet. Kannst du mir versprechen, dass Lord Coventry anders wäre?“

Bevor ihr Bruder antworten konnte, ging die Tür auf und ihre Tante Beatrice kam hereingerauscht. Trotz ihrer kleinen, rundlichen Statur wirkte sie hochelegant in ihrem dunkelgrünen Reitdress und dem dazu passenden Hut, der von einer eingefärbten Feder gekrönt wurde. Der Blick ihrer leuchtend blauen Augen schweifte durchs Zimmer. „Wie schön, dass ihr beide hier seid! Ich komme gerade aus Bath, wo eure Eltern noch bei ihrer Kur sind. Als ich hörte, dass Lord Coventry um deine Hand anhalten will, dachte ich mir, du könntest meine Unterstützung brauchen, meine Liebe.“

„Nicht du auch noch, Tante Beatrice“, seufzte Emma verzweifelt.

Ihre Tante warf ihr einen fragenden Blick aus ihren munteren Vogelaugen zu. „Aber das ist doch eine großartige Neuigkeit, oder?“

„Nein. Ich lege keinen Wert darauf, dass Lord Coventry mir den Hof macht.“

„Aber er ist ein Earl!“

„Ach Gott, ich bin es ein wenig leid. Bestimmt wird Anthony dir die Sache erklären.“ Damit ging sie zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke für deine Bemühungen, Bruder, aber um mein Leben zu führen, brauche ich deine Hilfe nicht. Nur deine Liebe und Unterstützung.“

„Emma –“, begann Anthony unwillig.

Doch die war schon draußen im Flur, und bevor sie die Tür leise hinter sich zuzog, hörte sie noch die Worte ihrer Tante: „Also wirklich, ist sie denn von allen guten Geistern verlassen?“

Ihre Familie hatte nur ihr Glück im Sinn, das musste Emma zugeben. Dennoch würde sie sich von ihnen nicht ihr Leben vorschreiben lassen, zumal sie volljährig war und über eine Erbschaft von fünftausend Pfund verfügte. Damit konnte sie durchaus für sich selbst sorgen. Aber offensichtlich hielten ihre Verwandten sie für eine Invalidin, die man dem Erstbesten andrehen konnte, der ein Interesse an ihr zeigte.

Jedem außer Elliot …

Die Erinnerung an Glück und Schmerz schnürte ihr die Kehle zu.

Ihre Bekanntschaft mit dem Duke reichte weit zurück, nur dass er damals noch nicht der mächtige und hochmütige Duke of Hartford war, sondern nur der charmante, gutmütige und ehrgeizige Mr. Elliot Winthrop.

Sie war die Tochter eines Gentleman, des Viscount Sherwood, und Elliot der Sohn des ortsansässigen Arztes. Er war stets lieb und nett zu ihr gewesen und hatte im Gegensatz zu ihrem Bruder nichts dagegen gehabt, dass sie in Hosen und im Herrensitz mit ihnen über das Marschland ritt oder nur mit einem Unterhemd bekleidet im See schwimmen ging. Sie hatten gelacht, dass es über das ganze windgepeitschte Grasland hallte, und wenn ihr Bruder lamentierte, dass sie unanständig oder schlecht erzogen sei, ermunterte Elliot sie nur, unerschrocken ihrer Natur zu folgen.

Elliot war damals neunzehn gewesen und sie fünfzehn und bis über beide Ohren in den Freund ihres Bruders verliebt. Für sie gab es nicht den geringsten Zweifel, dass er genauso für sie empfand und sie beide eines Tages heiraten würden.

Es war ein glückliches Leben gewesen, doch während eines Kutschenrennens geschah der Unfall, und danach war monatelang alles unerträglich für Emma gewesen. Als Elliot sie, während sie noch verletzt im Bett lag, mit mitleidigem Blick bat, ihn zu heiraten, sagte sie nein, denn sie wollte ihn nicht mit einer verletzten Frau belasten. Er fragte sie noch einmal, und wieder lehnte sie ab. Zu sehr schmerzte sie die Auskunft der beiden von ihrem Vater konsultierten Ärzte, die es für möglich hielten, dass sie nie wieder laufen und aufgrund ihrer Verletzungen auch keine Kinder bekommen könne.

Ihre Familie war strikt gegen eine Heirat mit Elliot gewesen, da er weder über Verbindungen noch über ein Vermögen verfügte. Stattdessen wollte er an der Universität in Edinburgh Medizin studieren und wie sein Vater Arzt werden. Emma hatte das alles nicht gestört. In den folgenden Monaten hatte er noch mehrmals um sie angehalten und erst damit aufgehört, als sie ihn immer wieder abwies.

Einige Zeit später dann hatte ihn die Duchess of Hartford, unterstützt von einer ganzen Armee von Rechtsanwälten, in Devon aufgespürt. Es stellte sich heraus, dass ihr Enkel Elliot den Titel eines Dukes geerbt hatte.

„Vergiss mich nicht“, hatte Emma inständig geflüstert, als sie erfuhr, dass die Duchess, die Emma insgeheim nur den Drachen nannte, ihn mitnehmen wollte. „Wirst du auch an mich denken?“, fragte Emma traurig zum Abschied, worauf er nur wortlos nickte.

Er stand noch einen Augenblick da, bevor er sagte: „Warte auf mich. Versprich es mir.“

Plötzlich schlug ihr Herz vor Freude höher. „Das werde ich“, antwortete sie. Dabei wusste sie im tiefsten Inneren, dass er die versehrte Tochter eines verarmten Viscounts rasch vergessen würde, sobald er einmal einen Blick in die Welt geworfen hätte, die vor ihm lag.

Um ihr Versprechen an Elliot zu halten, schrieb sie ihm oft, doch ihn schien das nicht zu interessieren, und er beantwortete nur einige der vielen Briefe, die sie ihm schickte.

Selbstverständlich war er als zukünftiger Duke of Hartford für ihre Familie wesentlich interessanter geworden.

Und jetzt stand er im Begriff, der High Society zu verkünden, dass er auf der Suche nach einer Ehefrau war.

Gemächlich schritt Emma durch die leere Eingangshalle. Am Fuß der Treppe blieb sie stehen und stützte sich kurz auf das Geländer. Warum nur war ihr das Herz vor Kummer und Reue so schwer? Es hatte Jahre gedauert, bis sie sich eine Zukunft ohne Elliot vorstellen konnte. Mittlerweile hatte sie Pläne für ihr weiteres Leben gemacht und war entschlossen, sie auch zu verwirklichen. Wenn sie vor ihrer Abreise nach Amerika doch nur noch ein einziges Mal mit ihm tanzen und ihn vielleicht sogar küssen könnte, und vielleicht auch ein bisschen mehr.

Der Gedanke ließ sie nicht los.

Was wäre, wenn …

Und plötzlich wusste sie es. Bevor sie England verließ und er für immer für sie verloren war, wollte sie einen heimlichen Augenblick der Sünde, der verstohlenen Wonnen und überwältigenden Leidenschaft mit ihm genießen.

Statt die Treppe hinaufzusteigen, ging Emma ins Musikzimmer, wo ihre jüngere Schwester Maryann Klavier spielte. Sie blickte auf, als Emma eintrat.

„Ach herrje, du hast schon wieder diesen aufmüpfigen Blick“, sagte sie.

„Ich brauche deine Hilfe, und mir bleibt nur eine Woche Zeit.“

„Aber sicher, was immer du willst“, sagte Maryann, die so loyal war, wie eine liebende Schwester nur sein konnte.

Emma hatte vor, auf Lady Waverlys Hausparty zu gehen – oder besser gesagt auf den Maskenball, der traditionell zum Abschluss stattfand. „Wir werden äußerst diskret vorgehen müssen“, erklärte sie ihrer Schwester.

Maryanns Augen wurden vor Schreck ganz groß, und sie legte eine Hand auf die Brust. „Ach, du lieber Himmel.“

Emma wollte die Gelegenheit für ein erotisches Abenteuer mit dem Duke of Hartford nutzen. Alleine die Vorstellung war höchst unanständig, schockierend und skandalös, doch es würde Emma die Gelegenheit geben, eine Erfahrung zu machen, nach der sie sich immer gesehnt hatte.

Sie konnte nur hoffen, dass sie hinterher nicht in Schimpf und Schande dastand.

Kapitel 2

Elliot George Winthrop, der neunte Duke of Hartford, nahm sich jeden Dienstag die Zeit, mit seiner Großmutter, der Duchess of Hartford, Tee zu trinken. Das tat er seit acht Jahren, und er konnte sich nicht entsinnen, dass sie während dieser Zeit auch nur einmal Unwillen oder Freude gezeigt hätte. Noch nicht einmal ein Lächeln war auf ihre Lippen gekommen.

Jetzt verharrte ihre Hand mit der Teetasse auf halbem Weg zu ihrem Mund. „Wie bitte?“, fragte sie.

„Ich habe entschieden, dass es an der Zeit ist, mir eine Duchess zu suchen.“

Seine Großmutter war mittlerweile skelettartig dünn, trug jedoch ihr schneeweißes Haar noch immer makellos frisiert unter der Haube aus Brüsseler Spitzen, die sie, wie Elliot wusste, ein schönes Stück Geld gekostet hatte. Ihr Kleid aus lavendelfarbener Seide war mit Schleifen aus schwarzem Band besetzt, wie es die Halbtrauer verlangte. Dabei war ihr ältester Sohn schon seit acht Jahren tot. Sie ließ die Hand sinken und stellte die Teetasse auf dem eleganten Tischchen vor ihr ab. Dann griff sie mit ihren klauenartigen Händen nach ihrem Gehstock, und ihre Augen, die so sehr den seinen glichen, blickten Elliot abschätzend an.

„Und was hat dich dazu bewogen?“

„Seit du mir zu der Stellung verholfen hast, die mir gebührt, hast du mir eingebläut, dass es meine Pflicht gegenüber meinem Titel ist“, erwiderte er und bediente sich damit derselben Worte, die er immer wieder von ihr gehört hatte. Dabei hütete er sich, ironisch oder gar sarkastisch zu klingen.

Zum einen hatte Elliot nicht grundsätzlich etwas gegen die Ehe einzuwenden. Zum anderen verspürte er seit einiger Zeit eine innere Unruhe und Unzufriedenheit mit dem bunten Treiben der High Society und den üblichen Ausschweifungen, denen er sich in den vergangenen Jahren hingegeben hatte. In letzter Zeit sehnte er sich zunehmend nach dem einfachen Leben, das er aufgegeben hatte.

Bald fährt sie nach Amerika

Es ging ihm selbst auf die Nerven, dass er von Miss Emma Fitzgerald einfach nicht loskam.

Seine Großmutter richtete sich kerzengerade auf, und ihre Kiefermuskeln spannten sich an. „Ich glaube dir kein Wort. Hast du jemanden geschwängert?“

Verdutzt lachte er laut auf. „Nein, Madam. In dieser Hinsicht nehme ich mich sehr in Acht, und ich finde es höchst unangemessen, mit Ihnen meine amourösen Abenteuer zu erörtern.“

Sie bedachte ihn mit einem mahnenden Blick. „Wie bist du dann zu diesem Entschluss gekommen?“

„Ich möchte einfach eine Frau finden, die ich eines Tages lieben kann und mit der ich Kinder haben möchte.“

Ihre Miene wurde äußerst unfreundlich. „Sei kein Dummkopf!“, fauchte sie ihn an. „Liebe hat in einer Ehe nichts zu suchen. Dieses Gefühlsduselei hat schon so manche gute Familie in den Ruin getrieben. Ich hoffe doch, ich habe dich etwas anderes gelehrt.“

„Liebe ist für mich unverzichtbar. Meine Eltern liebten einander innig, und ich bewundere sie dafür und wünsche mir eine Ehe, wie sie sie geführt haben.“

Der Blick der Duchess wurde kalt, wie so oft, wenn die Rede auf Elliots Vater, ihren zweiten Sohn, kam. Immerhin hatte er es gewagt, durchzubrennen und seiner Leidenschaft nachzugeben, indem er Arzt wurde. Und dann hatte er auch noch die Unverschämtheit besessen, die Tochter eines einfachen Pfarrers zu ehelichen. Das hatte ihm seine Mutter nie verziehen. Erst als ihr älterer Sohn, Elliots Onkel, kinderlos starb und obendrein ihr Herzogtum am Rande des finanziellen Ruins stand, hatte sie sich dazu herabgelassen, Elliots Erbansprüche anzuerkennen.

Für einen Augenblick presste die Witwe die Lippen zusammen, dann sagte sie in eisigem, gebieterischem Ton: „Du wirst Georges Fehler nicht wiederholen, sondern dir eine Dame von Stand wählen, die neben einer angemessenen Mitgift auch einen tadellosen Ruf aufzuweisen hat. Nur dann kannst du mit meinem Einverständnis rechnen.“

George. Selbst der Name seines Vaters klang fremd auf ihren Lippen. Sie hatte ihn aus ihrem Herzen verstoßen und verließ jedes Mal das Zimmer, wenn Elliot über seine Familie sprechen und ihr erzählen wollte, wie glücklich seine Eltern miteinander gewesen waren. Es schien, als nähme sie es ihrem ältesten Sohn übel, dass er auch ohne den Reichtum und die Vorrechte seiner hohen Geburt glücklich geworden war.

Als Elliot zum ersten Mal in illustrem Kreis erwähnt hatte, dass sein Vater ein Dorfarzt gewesen war, hatte seine Großmutter fast der Schlag getroffen. Elliot war davon überzeugt, dass sie ihm diesen Fauxpas nie verziehen hatte und es ewig bedauerte, dass ihr Enkel sie mit seiner Geschäftstüchtigkeit vor dem Bankrott gerettet hatte. Er würde seinem Erben ein Vermögen hinterlassen, auf das er stolz sein konnte. Elliot war von den Pflichten überrascht worden, die mit seinem Titel verbunden waren, doch er gehörte nicht zu denen, die vor Verantwortung und harter Arbeit zurückschreckten. Angesichts ihres hoch verschuldeten Besitzes war seine Großmutter sich nicht zu schade gewesen, sein mit profanen Tätigkeiten verdientes Geld bereitwillig anzunehmen. Zumal auch ihre reichlich magere Witwenpension erheblich aufgestockt wurde.

„Mein Vater liebte meine Mutter. Da konnte es doch kein Fehler sein, die Konventionen zu verletzen und seinem Herzen und seiner Leidenschaft zu folgen“, sagte Elliot mit sanfter Stimme. „Wenn du erlebt hättest, wie zufrieden sie mit ihrem Schicksal waren, wärst du bestimmt der gleichen Meinung.“

„Du enttäuschst mich“, entgegnete sie mit leiser Stimme. „Ich will nur hoffen, dass du nicht vorhast, Viscount Sherwoods verkrüppelte –“

Der feine Henkel der Teetasse in Elliots Hand zerbrach, und er starrte seine Großmutter drohend an. „Und wenn du zehnmal meine Großmutter bist, aber du wirst dich jederzeit Miss Fitzgerald gegenüber höflich benehmen. Wenn schon nicht in Gedanken, aber zumindest in deinen Worten.“

Seine Großmutter öffnete den Mund, sagte aber nichts.

„Wenn sie mich haben will, nehme ich sie auf der Stelle zur Frau und mache sie zu meiner Duchess“, fuhr Elliot fort. „Aber sie will mich nicht.“ Und sein Stolz ließ es nicht zu, dass er noch einmal um Emmas Hand anhielt.

„Sie ist nicht akzeptabel“, bemerkte die Duchess kalt.

„Wenn du mich jetzt entschuldigen willst, Großmutter, aber ich habe noch Geschäftliches zu erledigen“, sagte Elliot in ebenso abweisendem Ton und stand auf.

„Eine Schande“, murmelte sie entrüstet, wie sie es immer tat, wenn die Rede auf seine Arbeit kam. Anfangs war er bestürzt gewesen, wenn sie ihm befahl, seine beruflichen Tätigkeiten aufzugeben, weil sie eines Dukes unwürdig wären. Doch da Elliot diese Ansicht lächerlich fand, hatte er sich zu ihrem Leidwesen einfach weiterhin seinen Investitionen und Geldgeschäften gewidmet. Besonders hatte es sie gefuchst, dass es diese Investitionen gewesen waren, die dem Herzogtum wieder auf die Beine geholfen hatten.

Ohne ein weiteres Wort verließ er den Salon. Er gab ihr auch keinen Kuss auf die Wange, denn sie hatte ihm gegenüber nie auch nur einen Funken von Wärme gezeigt. Elliot konnte sehr gut verstehen, dass sein Vater aus diesem Leben geflohen war und seine wahre Identität nicht einmal auf dem Sterbebett preisgegeben hatte. Sein Sohn hatte bei ihm gesessen und die Hand seines Vaters gehalten, als der seinen letzten Atemzug tat. Doch er hatte Elliot nie verraten, dass er der Sohn eines Dukes war und es irgendwo noch eine Familie gab. Das Verhältnis zu seinen Eltern war für Elliots Vater eine so bittere Enttäuschung gewesen, dass er seinen Sohn lieber glauben ließ, er stünde allein auf der Welt. Elliots Mutter war zwei Jahre vor ihrem Mann gestorben, und Elliot war ein Einzelkind.

Das war eine traurige Zeit für Elliot gewesen, und nur die Freundschaft mit dem Ehrenwerten Anthony Fitzgerald hatte ein wenig Wärme in das Leben des jungen Mannes gebracht. Was sich allerdings nicht von Anthonys Eltern sagen ließ. Wann immer sie mit dem Freund ihres Sohnes redeten, geschah es mit einer gezwungenen Höflichkeit, die ihm deutlich machte, dass er nicht in ihre Welt gehörte. Aber da gab es ja noch Emma …

Bei dem Gedanken an sie durchfuhr es ihn wie ein stechender Schmerz, den er sofort zu betäuben versuchte, indem er den Gedanken an sie beiseiteschob. Er wollte sie vergessen, nachdem er so lange gebraucht hatte, um sich damit abzufinden, dass er sie niemals bekommen würde.

In den Tagen nach ihrem Unfall hatte sie ihn auf Abstand gehalten, indem sie sich mit schmerzerfülltem Blick weigerte, ihn zu sehen. Erst hatte er geglaubt, als Tochter eines Viscounts betrachte sie ihn nicht als ebenbürtig. Doch das konnte es nicht sein, denn niemals zuvor hatte sie ihn von oben herab behandelt. Also musste es an ihren Eltern liegen. Doch deren Verhalten ihm gegenüber hatte sich völlig verändert, nachdem bekannt wurde, dass er der Erbe des Herzogtums von Hartford war.

Du kannst dir deine Anträge sparen, denn ich werde dich niemals heiraten, Elliot. Du verdienst etwas Besseres als einen Krüppel zur Ehefrau.

Elliot hatte sie nicht von dem Glauben abbringen können, dass er sie eines Tages leid werden könnte. Als die Ärzte ihr sagten, dass sie nie wieder würde laufen können, hatte er mit ihr geweint, doch er hatte sie nach wie vor heiraten wollen. Während sich an seiner Liebe zu ihr nichts geändert hatte, war ihre Haltung ihm gegenüber zu einer distanzierten Freundschaft geworden, was auch in ihren Briefen an ihn zum Ausdruck kam. In ihnen war nicht länger von romantischen Gefühlen die Rede, die ihn früher dazu ermutigt hatten, sie zu küssen und ihr den Hof zu machen. Eine Entscheidung, die jetzt nur noch eine schmerzliche und zugleich kostbare Erinnerung war.

Es war nicht schwer gewesen, ihr aus dem Weg zu gehen, da Emma sich nie mehr in der Öffentlichkeit zeigte. Ob das ihre freie Entscheidung war, hatte er nie erfahren. Doch er konnte es gut verstehen. In der vornehmen Gesellschaft war kein Platz für Unvollkommenheit. Alles musste hübsch und makellos sein und einen berechenbaren Wert besitzen. Jeder, der diese Voraussetzungen nicht erfüllte, wurde ausgestoßen.

Anstatt sich wieder seinen Geschäften zu widmen, ging Elliot nach draußen und spazierte zu dem See, der im östlichen Teil seines Besitzes lag. Sein Landsitz Glenhaven war ein imposantes Gebäude, das in einer kunstvoll gestalteten Parklandschaft lag. Es besaß eine klassizistische Fassade, wobei das Anwesen ursprünglich aus der Zeit Königin Elizabeth I. stammte. Doch erst unter Elizabeths Nachfolger Jakob I. war Hartford zum Herzogtum erhoben worden. Der Grund für die Verleihung des Titels an die Familie wurde von Elliots Großmutter allerdings totgeschwiegen. Als Elliot sein Erbe antrat, hatte der gesamte Besitz einen recht heruntergekommenen und vernachlässigten Eindruck gemacht. Doch mittlerweile war er, sehr zu Elliots Genugtuung, gut geführt und gewinnbringend.

Er hob einige flache Kiesel auf und ließ sie über die Oberfläche des Sees schnellen, wo sie hübsche kleine Wellen hinterließen. Es würde eine lange Nacht für ihn werden, in der an Schlaf nicht zu denken war. Nicht, nachdem er Miss Emma Fitzgerald wiedergesehen hatte, die ihn mit ihrer erlesenen Schönheit und den großen, traurigen Augen erneut in ihren Bann geschlagen hatte. Heute Nacht und vermutlich noch tagelang würde er von ihren Küssen und Berührungen träumen, bevor die quälende Sehnsucht hoffentlich nachließ. So erging es ihm jedes Mal, wenn er sie sah. Und das war auch der Grund dafür, dass er nur selten ihr Heim Bellview Manor besuchte, denn das brachte ihm nur Qualen der Sehnsucht ein und erinnerte ihn an das, was niemals sein konnte.

***

Emma hatte etwas wirklich Schlimmes vor. Eigentlich hätte dieses Eingeständnis sie erschrecken müssen, doch stattdessen empfand sie nichts als aufregende Vorfreude, als sie die dunkelroten Tanzschuhe über ihre Füße streifte. Mit der Fingerspitze fuhr sie über die Bänder, die ihre Knöchel kreuzweise umschlossen, und freute sich an dem glatten, weichen Stoff.

„Bist du wirklich sicher?“

Die Frage kam von Maryann, und sie machte Emma noch nervöser. „So sicher, wie ich nur sein kann. Wenn ich das jetzt nicht tue, werde ich es für den Rest meines Lebens bitter bereuen. Und bereut habe ich schon genug. Ich verspreche dir, dass Elliot mich nicht erkennen wird; und es ist ja auch nur für heute Abend“, versicherte sie ihrer Schwester lächelnd, obwohl sich ihr vor Aufregung der Magen zusammenkrampfte.

„Aber es muss dir doch klar sein, wie vorteilhaft eine gute Partie wäre. Eine Heirat mit Lord Coventry würde dich zur Countess machen. Dann hättest du viel mehr Geld zur Verfügung als ich, bestimmt auch eine eigene Kutsche, und du wärst die Herrin eines großen Hauses. Wenn du dagegen heute Abend das tust, was ich vermute, wärst du als Heiratskandidatin erledigt.“

„Ich will den Earl nicht heiraten. Und alles andere kann ich mir durch die Erbschaft meiner Großmutter selbst leisten.“ Sie räusperte sich und fügte hinzu: „Außerdem darfst du nicht vergessen, dass ich vielleicht niemals Kinder bekommen kann.“

„Die Ärzte haben auch gesagt, du würdest nie wieder laufen können, Emma. Und sieh dich jetzt an.“

Sieh dich jetzt an. Als hätte es die elenden Jahre nicht gegeben, in denen sie sich weinend ein paar Schritte abgerungen hatte. Das Leid, wenn ihre Beine versagten oder sich immer wieder schmerzhaft verkrampften.

Wie sie sich verzweifelt gegen die Anordnung ihrer Eltern gewehrt hatte, im Bett zu bleiben oder in einem Rollstuhl zu fahren. Einmal hatten sie ihr sogar den Stock weggenommen, weil sie es nicht mitansehen konnten, wie Emma sich immer wieder mit dem Versuch zu stehen abgemüht hatte.

Und das war auch der Grund, warum sie nur noch ihren eigenen Wünschen gehorchen wollte. Wenn sie nicht verzweifelt Gott angefleht und sich gegen ihre Eltern und sogar Anthony aufgelehnt hätte, wäre sie noch immer eine Gefangene ihres Körpers. Nichts war sicher im Leben, und deswegen wollte sie ein einziges Mal mit vollem Risiko leben, so, wie sie es immer bei anderen bewundert hatte.

Elliot würde bald verheiratet sein, und sie selbst sich in einem anderen Land aufhalten. Vielleicht sahen sie sich ja nie wieder und ihr bliebe nichts, als für immer von ihm zu träumen. Es sei denn, sie nähme ein Andenken an ihn mit. Aber nicht irgendeines, sondern eine süße, leidenschaftliche und wundervolle Erinnerung.

Die nüchterne Erkenntnis war ihr vor einer Woche gekommen, und seitdem hatte sie alle nötigen Vorbereitungen für den heutigen Abend getroffen. Ihr blieb eine Gelegenheit, etwas, was auch immer, mit Elliot zu erleben, bevor sie fortging und alle Wünsche und Träume hinter sich ließ, die sich niemals erfüllen würden.

Bei der Vorstellung, etwas ganz und gar Ungehöriges, Überraschendes und Verbotenes zu tun, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie musste es tun, nicht nur, um die Leidenschaft mit ihrem Duke zu erleben, sondern auch, um dem goldenen Käfig zu entfliehen, den ihre Familie in den vergangenen Jahren um sie herum errichtet hatte. Ich bin fünfundzwanzig. Nach gängigen Maßstäben eine alte Jungfer ohne Aussicht darauf, jemals einen Mann zu finden, selbst wenn ihre Narben und Einschränkungen nicht gewesen wären. Für Frauen in ihrer Lage gab es nur wenige Möglichkeiten. Sie konnte ihr Leben lang warten … bis sie starb. Oder handeln.

Emma hatte sich für das Handeln entschieden.

Das Problem war nur, wie sie ihrer Schwester ihre Beweggründe erklären sollte. Seit Maryann von Emmas gewagtem Plan erfahren hatte, zweifelte sie am Verstand ihrer älteren Schwester.

Jetzt lehnte sie sich auf der Chaiselongue zurück und strich mit den Händen über ihren gerundeten Leib. „Wie sehr wünschte ich mir, du wärst so glücklich wie ich“, sagte sie seufzend. „Aber ich muss gestehen, ich möchte dich ungern nach Amerika ziehen lassen, weil ich sehr an dir hänge, meine liebe Emma. Und außerdem wirst du die Ankunft deiner Nichte oder deines Neffen verpassen.“ Sie spitzte besorgt die Lippen. „Ich mache mir Sorgen, dass Papa oder Anthony dir auf die Spur kommen. Papa kann geradezu furchterregend in seinem Zorn sein.“

Ihre Schwester hatte recht, dachte Emma beklommen. Doch sie fürchtete nicht, dass ihr Plan entdeckt werden könnte, sondern dass es ihr nicht gelingen würde, Elliots Interesse zu wecken. Dann würde sie für den Rest ihres Lebens bereuen, ihn nicht noch einmal geküsst und länger als ein paar Sekunden umarmt zu haben. Es war eine ernüchternde Erkenntnis gewesen, wie leer ihr Leben war und wie sehr sie sich dennoch davor fürchtete, ihrem langjährigen Hoffen und Verlangen nachzugeben.

Die Aussicht, eine Countess zu werden, hatte für Emma nichts Schönes. Stattdessen schreckte sie davor zurück, sich fürs Leben an jemanden zu binden, für den sie nichts empfand. Das wäre wie ein Abbild der lieblosen Ehe ihrer Eltern. Denn sie war sicher, dass der Earl nur Mitleid und Geringschätzung für sie übrig hätte.

Emma wollte frei sein, und sei es auch nur für eine einzige Nacht. Das Gefühl von Ruhelosigkeit, Hoffnung und Verlangen nach mehr lastete so schwer auf ihr, dass sie meinte, ersticken zu müssen. Eine Nacht lang wollte sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen, und zwar mit Elliot, den sie als Jungen so sehr geliebt hatte und den sie noch immer bewunderte. Und sei es auch nur für seinen Geschäftssinn und seine großzügige Freundlichkeit, denn eine größere Nähe ließ er ja nicht zu. Wenn sie nur eine Liebesnacht mit dem Duke hätte, wäre sie danach vielleicht frei von ihm, und das Verlangen nach ihm, das sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr empfand, wäre endlich gestillt.

Ich werde Sie nie wieder mit meinen unerwünschten Gefühlen behelligen, Miss Emma. Und er hatte Wort gehalten, auch wenn sie im Stillen gehofft hatte, er würde sie nicht im Stich lassen.

„Hast du denn gar keine Angst? Was ist, wenn deine Beine …?“, erkundigte sich Maryann.

Dunkle Gedanken und Zweifel bedrängten Emma und machten ihr das Atmen schwer. Es gab Tage, da wünschte sie sich, sie wäre so gesund und unversehrt wie ihre Schwester. Dann hätte sie keine Hemmungen, einen gut aussehenden und selbstbewussten Mann wie Elliot zu verführen. „Es wird schon gutgehen“, erwiderte sie. „Ich habe lange Spaziergänge durch den Garten ohne meinen Stock unternommen. Und außerdem trage ich ja Strümpfe. Die ziehe ich sowieso nicht aus.“

„Was genau hast du eigentlich vor, Emma?“, flüsterte ihre Schwester entsetzt. Ihre hellblauen Augen funkelten vor ängstlicher Aufregung.

„Ich werde mich so skandalös benehmen wie nur möglich. Verführung und Zügellosigkeit, dreht sich bei einem ländlichen Maskenball nicht alles darum?“ Emma wusste selbst nicht, ob sie eher gespannt oder beklommen sein sollte.

Ihre Schwester streichelte ihr leicht die Hand. „Ach, Emma, ich wünschte, ich wäre so mutig wie du.“

Lächelnd strich Emma über den weichen Stoff ihres Kleides. Sie trug ein Gewand aus dunkelrotem Satin mit einem so tiefen Dekolleté, wie sie es noch nie zu tragen gewagt hatte. Allerdings war es noch harmlos im Vergleich zu den Kleidern, die ihre Schwester seit ihrer Heirat trug.

Doch für eine jungfräuliche, unverheiratete Dame war Emmas Aufzug äußerst gewagt. Er würde die Aufmerksamkeit der Männer auf sich ziehen und signalisieren, dass diese Aufmerksamkeit nicht unwillkommen war. Da ihre Taille sehr schmal war, hatte Emma sich entschlossen, auf ihr Korsett zu verzichten; und so malten sich unter dem Kleid nicht nur ihr üppiger Busen, sondern sämtliche natürlichen Körperformen ab. Unterstützt von Maryann hatte sie die ganze Woche benötigt, um das Kleid fertigzustellen. „Und, wie findest du mich?“

„Oh, Emma, du siehst großartig aus!“ Maryanns Gesicht war rosig überhaucht, und sie rieb sich wie abwesend den schwangeren Bauch. „Weißt du überhaupt, was dir bevorsteht?“, fragte sie schließlich. „Ich bin zwar die jüngere von uns beiden, aber eine verheiratete Frau, während du keine Ahnung hast, was bei so einer Verführung geschehen kann.“

Emma hatte das Gefühl, am ganzen Körper zu erröten, als sie begriff, was ihre Schwester damit sagen wollte. „Er hat mich schon früher geküsst … auch wenn es Jahre her ist.“

„Ich nehme an, du hast es auf viel mehr als einen Kuss abgesehen“, erwiderte Maryann herausfordernd, während sie womöglich noch stärker errötete.

„Wenn … wenn es die Lage erfordert.“

„Ich kann kaum glauben, dass ich dir Ratschläge gebe für den Fall, dass sich so ein Halunke Freiheiten bei dir herausnimmt!“

Emma unterdrückte ein nervöses Kichern. „Das ist auch nicht nötig. Ich bin sicher, Elliot weiß, wie man sich bei einer Frau Freiheiten herausnimmt“, antwortete sie mit gesenkter Stimme. Dabei hätte sie es selbst nur zu gern gewusst. „Die Kutsche steht bereit, und ich muss los, damit ich wieder zu Hause bin, wenn Anthony zurückkommt.“

„Bist du auch sicher, dass er dort sein wird?“, fragte Maryann.

Emma überlief ein erwartungsvoller Schauer.

„Ich glaube, er hat vorher noch eine andere Verabredung und kann erst später zum Maskenball kommen. Auf jeden Fall wird er mich mit der blonden Perücke, der Gesichtsmaske und ohne meinen Stock schwerlich erkennen. Mach dir keine Sorgen, Maryann. Es wird schon alles gutgehen.“

„In unserer Familie haben wir noch nie etwas so Ungehöriges getan, auch wenn nach Mamas Worten meine Heirat mit Dr. Hugh Grantham fast schon ein Skandal war. Wenn deine Eskapade jemals herauskommt, wird es Mama umbringen.“

„Ich will nicht mit Reue leben und mich in zwanzig Jahren fragen, wie es gewesen wäre, ihn zu küssen, und sei es nur noch ein einziges Mal“, erwiderte Emma leise.

Dabei spürte sie, wie ein erregendes Gefühl von ihr Besitz ergriff, bis ihr Blut kochte und alles in ihr nach Freiheit schrie.

„Versprich mir, vorsichtig zu sein. Anthony darf es niemals erfahren, Emma.“

„Ich kann nicht auf Dauer unter der Fuchtel meines Bruder leben. Schon jetzt kommt es mir vor, als sei ich nur ein Schatten meiner selbst.“

Das vertraute Gefühl von Schmerz und Bedauern stieg in ihr auf wie dichter Qualm, der drohte, sie zu ersticken. Sie musste das heute unbedingt tun oder sie würde daran zerbrechen, und dann könnte nichts auf der Welt sie wieder heil machen.

Heute Nacht wollte sie leben.