Leseprobe Die Versuchung des Earls

Kapitel 1

Der Albtraum überfiel sie brutal in der Tiefe des traumlosen Schlafes. In der einen Sekunde noch schlummerte Nell friedlich, in der nächsten hielt sie der Albtraum in seinen grässlichen Klauen. Sie trat gegen die Bettdecke, kämpfte darum, den hässlichen Bildern zu entkommen, die ihr durch den Kopf schossen, aber es war vergebens, – wie sie es schon aus anderen furchtbaren Nächten kannte.

Wieder war sie hilfloser Zuschauer der scheußlichen Taten, die nun folgten. Der Schauplatz war der gleiche: ein düsterer Ort, vermutlich ein halb vergessener Kerker unter den Mauern eines alten Herrensitzes. Die Wände und der Boden bestanden aus massiven, handbehauenen und verrußten grauen Steinen  das flackernde Licht der Kerzen fiel auf Folterwerkzeuge einer früheren, gewaltsameren Zeit der englischen Geschichte – Geräte, die er benutzte, wenn es ihm genehm war.

Das Opfer heute Nacht – wie schon bei früheren Gelegenheiten – war eine Frau – jung, hübsch und verängstigt. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen und verrieten namenlose Furcht, – eine Furcht, die ihrem Peiniger zu gefallen schien. Das Kerzenlicht beleuchtete stets nur die Gesichter der Frauen, der Mann blieb im Schatten, seine Züge und seine Gestalt waren nie klar zu erkennen. Aber alles, was er dem zuckenden Fleisch der jungen Frau immer wieder antat, war für Nell entsetzlich deutlich zu sehen. Und am Ende, wenn er den Schreckensakt vollbracht hatte, den Leichnam genommen und in das alte Abflussloch im Kerker geworfen hatte, verblasste das Licht allmählich, und Nell war endlich in der Lage, sich aus dem Albtraum zu befreien.

Heute Nacht war es nicht anders. Von den abstoßenden Bildern endlich erlöst, fuhr Nell auf, einen erstickten Schrei in der Kehle, ihre grünen Augen groß und glänzend von unvergossenen Tränen und der Erinnerung an das Entsetzen. Sie schluckte den Schrei hinunter und schaute sich um; Erleichterung erfasste sie, als sie merkte, dass es wirklich nur ein Albtraum gewesen war. Dass sie sich sicher und geborgen im Stadthaus ihres Vaters befand; die Umrisse der Möbel im Zimmer waren im schwachen Schein des glimmenden Feuers im Kamin und dem ersten Tageslicht, das sich durch die schweren Samtvorhänge stahl, vage zu erkennen. Hinter den Fenstern erklang die vertraute Geräuschkulisse Londons: das Hufgeklapper von Pferden auf dem Kopfsteinpflaster und das Rattern der Räder von Wagen, Karren und Kutschen, vor die die Tiere gespannt waren. In der Ferne konnte sie die Rufe der Straßenverkäufer ausmachen, die schon begonnen hatten, ihre verschiedenen Waren anzupreisen – Besen, Milch, Gemüse und Blumen.

Ein Schauer durchlief sie. Oh Gott, dachte sie und vergrub ihr Gesicht in den zitternden Händen, werden die Albträume denn niemals aufhören? Dass sie nur selten auftraten, war das Einzige, was sie davon abhielt, den Verstand zu verlieren – niemand, davon war sie überzeugt, konnte geistig gesund bleiben, solange er gezwungen war, Nacht für Nacht Zeuge solcher Gewalt zu werden.

Sie holte tief Luft und strich sich eine Strähne ihres schweren dunkelblonden Haares zurück, die ihr auf die Brust gefallen war. Sie beugte sich vor und tastete nach dem Krug Wasser, den ihre Zofe auf den kleinen Marmortisch neben ihrem Bett gestellt hatte. Ihre Finger stießen dagegen und dann gegen das kleine Glas daneben; sie goss sich ein und trank gierig.

Allmählich fühlte sie sich besser; sie setzte sich auf ihre Bettkante und starrte in das Dämmerlicht, versuchte ihre Gedanken zu ordnen, aus dem Wissen Trost zu schöpfen, dass sie in Sicherheit war  anders als das arme Geschöpf in ihrem Albtraum. Mit einiger Mühe riss sie ihre Gedanken aus dieser Richtung zurück. Schließlich, so mahnte sie sich, war es nur ein Albtraum. Ein schrecklicher Albtraum, aber eben nicht Wirklichkeit.

Nell oder genauer Eleanor Anslowe hatte in ihrer Kindheit nie unter Albträumen gelitten. Keine bösen Träume hatten ihren Schlaf gestört bis zu dem tragischen Unfall, der sie fast das Leben gekostet hatte, als sie beinahe neunzehn war.

Es war seltsam, überlegte sie, wie herrlich ihr Leben vor der Tragödie gewesen war und wie sehr sich das in den Monaten geändert hatte, nachdem sie dem Tode so nahegekommen war. Im Frühling jenes grässlichen Jahres hatte sie ihre triumphale Londoner Saison erlebt, gekrönt von der Verlobung mit dem Erben eines Herzogs.

Nells Lippen verzogen sich. Nachdem sie im letzten September ihren neunundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte und jetzt aus diesem Abstand auf die Zeit vor zehn Jahren zurückblickte, schien es ihr unvorstellbar, dass sie jemals das junge, sorglose Mädchen gewesen war, das sich mit dem großen Los der Saison verlobt hatte, dem ältesten Sohn des Herzogs von Bethune. Als Aubrey Fowlkes, Marquis Giffard, der Erbe des Herzogtums seines Vaters, im Frühjahr 1794 seine Absicht erklärt hatte, die Tochter eines bloßen Baronets zu ehelichen, der zugegebenermaßen sehr reich war, hatte es viel Gerede gegeben. Und es hatte noch mehr gegeben, dachte sie mit einem verächtlichen Schnauben, als die Verbindung noch im selben Jahr aufgelöst worden war. In demselben Jahr, in dem sie den furchtbaren Reitunfall gehabt hatte und von ihrem Pferd gestürzt war, was sie beinahe das Leben gekostet hatte und in dessen Folge ihr Bein nie ganz verheilt war – bis zum heutigen Tag hatte sie ein leichtes Hinken zurückbehalten, das sich meistens zeigte, wenn sie müde war.

Sie stand auf und ging zu einem hohen Fenster, das auf den Garten an der Seite des Hauses hinausging. Sie schob die rosafarbenen Vorhänge zur Seite und stieß die hohen Doppeltüren auf, die auf einen kleinen Balkon führten. Sie trat darauf und blickte auf die steinerne Terrasse unten und die gepflegten Beete mit den sorgfältig gestutzten Büschen, die sie säumten. Das grau-lila Licht des Morgengrauens verblasste, und die ersten rosa und goldenen Strahlen der Sonne berührten die Spitzen der Rosensträucher. Es würde ein wunderschöner Oktobertag werden, – ein ebenso klarer, kühler, aber sonniger Oktobertag wie der, an dem sie zu dem verhängnisvollen Ausritt aufgebrochen war, der ihr Leben so nachhaltig verändert hatte.

An jenem Morgen vor zehn Jahren war sie auf Meadowlea, dem Landsitz ihrer Familie in der Nähe der Küste von Dorset, früh aufgestanden und war zu den Ställen geeilt. Sie hatte die Warnung ihres besorgten Vaters, nicht allein an der Küste entlang zu reiten, in den Wind geschlagen und hatte ohne lange nachzudenken auf die Dienste eines Reitburschen verzichtet. Als ihr Lieblingspferd Firefly gesattelt war, – eine kecke kastanienbraune Stute - war sie aufgesessen und davongaloppiert, weg von dem Haus und den gepflegten Ländereien. Sowohl sie als auch die Stute hatten den strahlenden Sonnenschein genießen wollen; und während sie übers Land rasten, hatte die kühle Morgenluft Rosen auf Nells Wangen und ein fröhliches Strahlen in ihre Augen gezaubert.

Es war nie herausgefunden worden, was den Unfall verursacht hatte, und nachdem sie wieder zu Bewusstsein gekommen war, konnte Nell sich nicht daran erinnern. Alle Zeichen wiesen darauf hin, dass ihr Pferd gestolpert war oder sich aufgebäumt hatte, worauf sie beide über den zackigen Rand einer Klippe gestürzt waren. Das Einzige, was Nell an jenem Tag vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, war ein schmaler Felsvorsprung gewesen, auf dem sie gelandet war, etwa dreißig Fuß weiter unten auf der sonst steil zum Meer hin abfallenden Küste. Firefly war auf den Felsen unten im Wasser gestorben.

Nell war stundenlang nicht vermisst worden, und zu dem Zeitpunkt, als sie schließlich entdeckt wurde, hatte die Dämmerung schon eingesetzt. In dem flackernden Licht einer Laterne hatte einer der nach ihr suchenden Männer den aufgeworfenen Boden am Rand der Klippe bemerkt und darüber geschaut. Sein Ruf hatte die anderen alarmiert. Es hatte weitere Stunden gedauert, sie von dem schmalen Felsvorsprung über dem Meer nach oben zu holen – es war ein Glück, dass sie dabei bewusstlos geblieben war. Noch nicht einmal als sie schließlich nach Hause gebracht und die gebrochenen Knochen in ihrem Bein und ihrem Arm geschient worden waren, rührte sie sich. In jenen ersten Tagen, als sie wie tot dalag, hatte man befürchten müssen, dass sie sich nie erholen würde.

Natürlich hatte man Lord Giffard sogleich verständigt. Und, dachte sie ungnädig, man musste ihm zugutehalten, dass er unverzüglich an ihr Krankenbett geeilt und auf Meadowlea geblieben war, die ganzen endlosen zwei Wochen lang, während alle darauf warteten, dass sie aufwachte und sich zugleich fragten, ob sie das wohl je würde.

Mehrere Tage lang, nachdem sie endlich zu sich gekommen war, war sie verwirrt gewesen, und es kamen Gerüchte auf, dass ihr Verstand Schaden genommen hätte. Angesichts so trostloser Aussichten war niemand überrascht, als Nells Vater Sir Edward Lord Giffard und den Herzog davon unterrichtete, dass er es verstehen würde, wenn sie die Verlobung lösen wollten. Giffard hatte sofort zugegriffen, – schließlich würde seine Gattin eines Tages Herzogin werden, und das verletzte, wirr redende Geschöpf, das im oberen Stockwerk in Meadowlea im Bett lag, war nicht die Frau, die er sich vorgestellt hatte oder die, um die er angehalten hatte. In jenem November wurde die Verlobung diskret aufgelöst, fünf kurze Monate, nachdem sie geschlossen worden war.

Nells Genesung hatte lange Zeit gedauert, aber im folgenden Frühling war ihre Verwirrung überwunden, ihr Arm war ohne Komplikationen verheilt, und sie war in der Lage, gestützt auf einen Gehstock mit Elfenbeingriff in Meadowlea herumzuhumpeln. Nach einiger Zeit waren ihr als einzige Nachwirkungen des beinahe tödlichen Unfalls ihr Hinken – und die Albträume geblieben.

An vieles von dem, was während ihrer Genesung geschehen war, konnte sie sich nicht erinnern. Die einzige klare Erinnerung aus jenen Tagen war der Albtraum, der sie in ihrem besinnungslosen Zustand verfolgt hatte. Der erste, den sie immer wieder durchlebte, unterschied sich von den anderen, die nun ihren Schlaf störten. Das Opfer war ein Mann gewesen, ein Gentleman und der Tatort ein Wäldchen. Aber das Ende war das Gleiche gewesen: ein hässlicher Tod aus den Händen einer Schattengestalt. Erst später waren Frauen die Opfer geworden und der Kerker der bevorzugte Schauplatz von Brutalität und Mord.

Während ihre Gesundung fortschritt, hatte Nell gehofft, dass der Albtraum verblassen würde, dass er nur ein letztes Überbleibsel des Sturzes war. Es hatte sie überglücklich gemacht, als im folgenden Sommer die Träume endlich aufhörten. Im Herbst und am Anfang des Winters genoss sie monatelang Nacht für Nacht ungestörten Schlaf. Sie war sich sicher, dass sie die Tragödie und ihre Nachwirkungen schließlich doch hinter sich gelassen hatte. Bis die Albträume in ihrer gegenwärtigen Form zurückkehrten, um sie in ihrem Schlaf zu verfolgen.

Seufzend wandte sie sich von dem Blick in den Garten ab und ging zum Kamin, um in der schwelenden Glut zu stochern. Wie ihr gelegentliches Hinken schienen die Albträume zu einem Teil von ihr geworden zu sein. Nicht, dachte sie dankbar, dass sie sie so oft plagten wie das Hinken. Manchmal verging ein ganzes Jahr, ehe sie wieder einen Albtraum hatte, und nach jedem betete sie, dass es der letzte gewesen sein möge. Aber natürlich war es das nie. Sie kamen immer wieder, und das Einzige, was sich darin änderte, waren die Gesichter der Frauen und die Brutalität des Mordes. Heute Nacht, fiel ihr mit einem Schauder auf, war es das dritte Mal in diesem Jahr, dass sie den Schrecken durchlebt hatte.

Das dritte Mal in diesem Jahr. Ihr stockte der Atem. Die Erkenntnis, der sie die ganze Zeit ausgewichen war, seit sie aufgewacht war, traf sie wie ein Schlag: Die Albträume nahmen zu, die Gesichter der Frauen änderten sich in entsetzlicher Regelmäßigkeit. Und schlimmer noch, in dem Traum diese Nacht hatte sie das Gefühl gehabt, als sei ihr das Gesicht der jungen Frau vertraut, als kennte sie sie.

Nell kehrte dem Feuer den Rücken, nahm ihren Morgenrock von einem Stuhl in der Nähe und schlüpfte hinein. Sie wurde wirklich langsam verrückt, entschied sie, wenn sie dachte, dass sie das Opfer heute Nacht wiedererkannt hatte. Das war vollkommener Unsinn. Hässlich und widerwärtig sicher, aber es war nicht wirklich geschehen. Und wenn sie närrisch genug war, sich einzubilden, die Frau zu kennen, dann war das einfach ein Zufall. Es war schließlich, so sagte sie sich fest, nur ein verfluchter Albtraum!

Sie marschierte in ihr Ankleidezimmer, das an das Schlafzimmer grenzte, und goss sich Wasser aus einem Porzellankrug mit Veilchenmuster in die passende Schüssel. Sie wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne, zwang sich, nicht länger so beunruhigenden Gedanken nachzuhängen. Heute würde es viel zu tun geben; der Haushalt bereitete sich darauf vor, in der kommenden Woche für den Winter nach Meadowlea zurückzukehren, und es gab viel zu tun.

 

Als Nell im Morgenzimmer eintraf, war sie nicht überrascht, trotz der frühen Stunde ihren Vater dort schon vorzufinden.

Sie küsste die kahle Stelle auf seinem Kopf, als sie an seinem Platz vorbeikam, ging weiter zum Mahagoni-Sideboard an der Wand. Sie wählte eine Scheibe Toast und ein paar Räucherheringe aus den Schüsseln mit den verschiedenen Speisen, die dort standen; nachdem sie sich eine Tasse Kaffee eingegossen hatte, setzte sie sich zu ihrem Vater an den Tisch.

Mit neunundsechzig war Sir Edward noch ein gutaussehender Mann, obwohl er eine Glatze hatte. Seine Tochter hatte seine Augen geerbt und seine hochgewachsene, schlanke Gestalt, aber ihr dunkelblondes Haar und die elfenhaften Züge stammten von ihrer Mutter Anne – zusammen mit dem neckenden Lächeln, das oft in den meergrünen Augen mit den goldenen Wimpern lauerte.

Heute Morgen stand in den Augen jedoch kein Lachen, und Sir Edward, der die lila Schatten darunter bemerkte, musterte seine Tochter eindringlich und erkundigte sich: „Wieder ein Albtraum, Liebes?“

Nell verzog das Gesicht und nickte. „Aber nichts, weswegen du dir Sorgen machen müsstest. Ich hatte schon eine ganze Weile ungestört schlafen können, ehe er kam.“

Sir Edward runzelte die Stirn. „Soll ich nach einem Arzt schicken lassen?“

„Auf keinen Fall! Er wird gescheit gucken und mich nur wieder mit irgendeinem scheußlichen Gebräu betäuben, um dir dann ein unverschämt hohes Honorar in Rechnung zu stellen.“ Sie lächelte breit. „Papa, ich hatte schließlich bloß einen Albtraum, nichts, weswegen man sich Sorgen machen müsste.“

Da er in der Vergangenheit manches Mal von ihren Schreien aus dem Schlaf gerissen worden war, als die Träume unerträglich waren, hegte Sir Edward seine Zweifel, bedrängte sie aber nicht weiter. Nell konnte stur sein. Er lächelte. Ein weiterer Zug, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

Einen Augenblick wurde seine Miene traurig. Seine Frau war vor vierzehn Jahren gestorben, und auch wenn er gelernt hatte, ohne sie und ihre sanftmütige Art zu leben, so fehlte sie ihm doch sehr – besonders, wenn er sich wegen Nell sorgte. Anne hätte gewusst, was zu tun wäre. Ein Mädchen brauchte ab und zu den Rat ihrer Mutter.

Das Öffnen der Tür unterbrach seine Gedanken. Als er seinen Sohn erblickte, lächelte er und sagte: „Du bist früh aufgestanden, mein Junge. Hast du heute etwas Wichtiges vor?“

Robert schnitt eine Grimasse und bediente sich am Sideboard mit einer dicken Scheibe Schinken und einer großen Portion Rühreier, dabei antwortete er über seine Schulter: „Ich habe Andrew versprochen, dass ich heute mit ihm komme, um irgendein vermaledeites Pferd anzusehen, von dem er überzeugt ist, dass es Lord Epsons Grauen schlagen kann. Das Tier ist irgendwo auf dem Land, und er hat keine Ruhe gegeben, bis ich versprochen habe, mit ihm heute Morgen um acht Uhr in London aufzubrechen. Ich muss verrückt gewesen sein.“

Mit seinen zweiunddreißig Jahren war Robert der Erbe und der Älteste von Sir Edwards drei Söhnen. Er ähnelte seinem Vater ziemlich, – er war groß und langgliedrig, hatte dieselbe Augenfarbe und dasselbe kantige, unnachgiebige Kinn. Sein dunkelblondes Haar – dafür dankte er der Vorsehung regelmäßig – hatte er von seiner Mutter geerbt, und es war immer noch dick und dicht und da.

Normalerweise hätte Robert nicht im Stadthaus der Familie gewohnt. Seine eigenen Räumlichkeiten befanden sich in der Jermyn Street, doch er hatte die Wohnung geschlossen, als er im Juli wie jedes Jahr nach Meadowlea übergesiedelt war, und jetzt hatte ihn allein die Notwendigkeit wieder in die Stadt gebracht, seinen neuen hochrädrigen Phaeton bei dem Londoner Wagenbauer abzuholen. Zwar hatte ihm sein Bruder Andrew angeboten, das neue Gefährt für ihn nach Meadowlea zu fahren, aber davon hatte Robert nichts hören wollen. Seinem Vater hatte er gesagt, als er am vergangenen Donnerstag hier eintraf: „Denk nicht, dass ich sein Angebot nicht zu schätzen wüsste, aber ich würde ihn eher von einem blinden Mann nach Hause fahren lassen als von diesem Wirrkopf von einem Bruder. Drew hätte ihn umgeworfen, ehe er mehr als zehn Meilen zurückgelegt hätte.“ Sir Edward hatte ihm im Stillen recht geben müssen. Drew war für seine Unbesonnenheit bekannt.

Mit einem Blick zu seiner Schwester fragte Robert, ehe er sich seinem Frühstück widmete: „Nell, hat er dir von dem Pferd erzählt, das er so unbedingt kaufen möchte?“

Nell nickte, dann nahm sie einen Schluck Kaffee. „Natürlich. Er hat mir in den vergangenen vierzehn Tagen die ganze Zeit sein Loblied gesungen.“

„Meinst du, es könnte im Bereich des Möglichen liegen, dass das Tier auch nur halb so viel Potenzial hat, wie Drew behauptet?“

Sie schüttelte den Kopf, ein amüsiertes Funkeln in den Augen. „Ich habe das Tier selbst gesehen, als der Besitzer es in die Stadt gebracht hat. Der Hengst ist ein hübscher Brauner und schön anzusehen, aber er hat keine Ausdauer, kein Durchhaltevermögen, – das übliche hübsche Gesicht, das Drew stets ins Auge sticht.“

Robert stöhnte. „Oh je, ich wusste vorher, dass es so sein würde. Ich hatte nur gehofft, dass er seine Lektion bei dem letzten Klepper gelernt hat, den er gekauft hat.“

„Der Junge kann doch nichts dafür“, erklärte Sir Edward, „wenn er nicht so ein Auge für Pferde hat wie du oder Nell.“

„Junge?“, fragte Nell lachend. „Papa, hast du vergessen, dass Andrew und Henry beide inzwischen dreißig Jahre alt sind? Keiner von ihnen ist länger ein ’Junge’.“

Die Angesprochenen wählten genau diesen Moment, um den Raum zu betreten. Man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass sie Zwillinge waren; Andrew war lediglich einen Zoll größer und zehn Minuten älter als sein Bruder Henry. Nur wenige Menschen, mit Ausnahme derer, die sie gut kannten, konnten sie auseinanderhalten, da beide die gleiche Adlernase hatten und das gleiche feste Kinn sowie die Augen ihrer Mutter und deren dunkelblondes Haar. Obwohl kleiner als Robert, waren sie doch über sechs Fuß groß und waren ebenso schlank wie der Rest der Familie.

Andrew, ein Major in einem Kavallerieregiment, diente unter Colonel Arthur Wellesley in Indien. Doch nachdem er in den letzten Tagen des Krieges gegen die Marathen schwer verwundet worden war, hatte er die vergangenen Monate zur Genesung in England verbracht. Er musste am Ersten des neuen Jahres wieder zu seinem Dienst zurückkehren. Henry war ebenfalls Major, aber da er weniger schneidig als sein Zwilling war, hatte er sich entschieden, in einem Infanterieregiment zu dienen. Er hatte in einer Reihe von Schlachten in Europa gekämpft, aber zu seinem Verdruss war er zurzeit den Horse Guards in London zugeteilt. Nur die Wiederaufnahme des Krieges gegen Napoleon im vergangenen Jahr gab ihm Anlass zu der Hoffnung, dass er bald schon seinen Schreibtisch verlassen und sich wieder mitten ins dichteste Kampfgetümmel in Europa begeben durfte.

„Aha“, bemerkte Andrew mit einem Grinsen, „du bist wach. Ich hatte mit Henry gewettet, ob wir dich wohl würden wecken müssen.“

„Du verlierst“, erwiderte Robert, als er sich von dem Tisch abstieß und aufstand. „Ich bin fertig. Lass uns aufbrechen und dieses unglaubliche Pferd begutachten, das du gefunden hast.“

Über Andrews Schulter hinweg verzog Henry das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Zeitverschwendung“, formte er mit den Lippen und sah dabei Robert an.

Robert zuckte die Achseln und wandte sich ab, verabschiedete sich von Nell und Sir Edward. Nachdem die drei gegangen waren, herrschte einen Moment Stille im Zimmer.

„Und was“, erkundigte sich Sir Edward bei seiner Tochter, „hast du heute vor, meine Liebe?“

„Nichts so Aufregendes wie ein Pferd zu kaufen“, entgegnete Nell mit einem Lächeln. „Wenn wir wie geplant Montag abreisen wollen, muss ich mit Mrs. Fields und Chatham noch einiges besprechen. Willst du ein paar Dienstboten hierlassen, oder kommen alle mit uns nach Meadowlea?“

„Ich kann mir keinen Grund denken, warum jemand hierbleiben sollte. Du etwa?“

„Als Schutz vor Einbrechern?“

Sir Edward schüttelte den Kopf. „Wir nehmen alles Silber und Tafelzeug mit uns und dann wird außer den Möbeln wenig zu stehlen übrig sein.“

Das Zwinkern in ihren Augen wurde deutlicher. „Und der Weinkeller?“

Er lächelte. „Ist mit einer massiven Tür gesichert, verriegelt und abgesperrt. Chatham beteuert mir, dass meine Weine in Sicherheit sind.“

„Nun gut, dann werde ich mal anfangen“, sagte sie und erhob sich. „Nichts liegt mir ferner, als mich mit Chatham zu streiten.“

Als sie an ihrem Vater vorüberging, streckte er die Hand aus und fasste sie am Arm. Überrascht schaute sie ihn an. „Was ist?“

Leise fragte er: „Hattest du ein wenig Spaß, Nell? Ich weiß, dies ist das erste Mal in all den Jahren, dass du mit nach London gekommen bist. War es sehr schlimm?“ Mit besorgter Miene fügte er hinzu: „War es schwierig, Bethune mit seiner Frau sehen zu müssen?“

„Bethune?“, wiederholte sie erstaunt. „Oh Papa, ich bin schon lange über ihn hinweg. Schließlich ist es zehn Jahre her.“ Sie sah, dass er nicht überzeugt war, und küsste ihn auf den Kopf, murmelte: „Papa, es ist in Ordnung. Mein Herz ist nicht gebrochen, auch wenn ich das früher einmal gedacht habe.“ Sie lächelte keck. „Und was seine Frau angeht, – er hat genau das bekommen, was er verdient. Er hätte mich nicht so rasch abschreiben sollen.“

„Wenn ich ihm seine Freiheit nicht so vorschnell angeboten hätte, und du dich dann nicht auf dem Land vergraben und als meine Gastgeberin fungiert hättest, wärest du Herzogin, eine tonangebende Dame der Gesellschaft“, erklärte er und beobachtete sie genau.

Nell rümpfte die Nase. „Und vollkommen gelangweilt und elend. Ich bin nur froh, dass du ihm seine Freiheit angeboten hast – und dass er darauf eingegangen ist. Wenn ihm so wenig an mir lag, dass er sich so ohne Weiteres meiner entledigen konnte, bin ich ohne ihn wesentlich besser dran.“ Sie tätschelte ihm den Arm. „Papa, ich habe dir wieder und wieder gesagt, dass ich mit meinem Leben, so wie es ist, glücklich und zufrieden bin. Ich mag das Landleben. Ich weiß, dass ich mit dir nach London gehen kann, wann immer ich will, – aber ich möchte lieber auf Meadowlea bleiben.“ Als er widersprechen wollte, legte sie ihm einen Finger auf die Lippen. „Und nein, ich bleibe nicht dort, weil ich Angst habe, hier zufällig Bethune oder seine Frau zu treffen, oder sonst jemanden, was das angeht.“ Ihr Gesicht wurde weicher. „Es ist vor einem Jahrzehnt geschehen; ich bin sicher, dass sich nur noch wenige Leute daran erinnern, dass ich einmal mit ihm verlobt war. Ich trauere ihm nicht nach, und du solltest das auch nicht.“ Sie grinste ihn an. „Es sei denn, du verzehrst dich nach einem bedeutenden Adelstitel für deine Tochter.“

„Sei nicht albern. Du weißt, dass meine erste Sorge dir und deinem Glück gilt. Ein Titel kann mir gestohlen bleiben.“ Er sah wehmütig aus. „Obwohl ich gerne zugebe, dass ich stolz auf die Verlobung war. Aber ob Titel oder nicht, ich würde einfach nur gerne alle meine Kinder verheiratet sehen und mit eigenen Familien.“ Er seufzte. „Ich will ehrlich sein, Nell, es verwundert mich, dass keiner von euch bislang geheiratet hat. Robert ist mein Erbe, – er sollte mittlerweile unter der Haube sein und einen Stall voll Kinder haben. Ich würde so gerne ein Enkelkind auf meinen Knien schaukeln, ehe ich sterbe. Was die Zwillinge betrifft  ich hätte gedacht, dass wenigstens einer von ihnen inzwischen geheiratet hätte.“

Nell wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Dass sie eine alte Jungfer war, nahm sie als gegeben. Von Anfang an hatte sie gewusst, dass es trotz ihres Vermögens nur wenige Männer gäbe, die eine verkrüppelte Frau wollten. Es war heute nicht weiter wichtig, dass ihr Hinken bei Weitem nicht mehr so offensichtlich war wie in den ersten paar Jahren nach dem Unfall; das Stigma haftete ihr dennoch an. Und dann war da noch die Tatsache, dass es mindestens eine Zeit lang in der guten Gesellschaft allgemein bekannt gewesen war, dass sie wenigstens eine Weile, nun, merkwürdig gewesen war, nachdem sie ihr Bewusstsein zurückerlangt hatte. Kein Gentleman von Stand würde eine Frau haben wollen, die vielleicht einmal ein Fall für Bedlam würde, das Heim für Irre. Ihre Augen wurden hart. Sie hatte Bethune diese hartnäckigen Gerüchte zu verdanken. Er hatte sichergehen wollen, dass noch nicht einmal der Schatten einer Schuld wegen der Auflösung der Verlobung auf ihn fiel. Daher hatten er und seine Familie dafür gesorgt, dass ihr Geisteszustand wesentlich schlimmer dargestellt wurde, als er in Wahrheit war. Eingebildeter Mistkerl.

Von der Sorge ihres Vaters berührt, ließ sie sich auf den Stuhl neben ihn sinken und beugte sich vor, erklärte ernst: „Papa, du weißt, dass ich nicht heiraten will. Wir haben es schon oft besprochen – und nein, es liegt nicht daran, dass Bethune mir das Herz gebrochen hat. Ich habe nur einfach keinen Gentleman getroffen, der mein Interesse geweckt hätte.“ Sie lächelte. „Mit meinem Vermögen besteht für mich keine Notwendigkeit zu heiraten. Selbst wenn du eines Tages nicht mehr da sein solltest, was, wie ich bete, erst in vielen, vielen Jahren sein wird, werde ich wohl versorgt sein. Du musst dir meinetwegen keine Sorgen machen.“

„Aber es ist unnatürlich, wenn du unverheiratet bleibst“, wandte er ein. „Du bist eine schöne junge Frau und außerdem reich, wie du selbst gerade gesagt hast. Und auch wenn wir keinen großartigen Titel haben, ist unsere Ahnenreihe doch so stolz und ansehnlich, wie man es sich nur wünschen kann.“

Nell ließ den Blick sinken und setzte eine sittsame Miene auf, erklärte gedehnt: „Nun, da ist natürlich noch Lord Tynedale …“

Sir Edward schnappte entsetzt nach Luft. „Der Schuft! Er hat beim Spiel und mit leichten Weibern sein ganzes Vermögen durchgebracht. Es wird überall erzählt, er schuldet so viel Geld, dass er – adelig hin oder her – gute Chancen hat, ins Schuldgefängnis geworfen zu werden.“ Er drohte ihr spielerisch mit dem Finger. „Alle Welt weiß, dass er verzweifelt auf der Suche nach einer reichen Frau ist. Ich habe gerade erst von Lord Vinton erfahren, dass er sogar versucht hat, die Arnett-Erbin zu entführen. Es heißt, ihr Vater habe sie gerade noch rechtzeitig eingeholt, ehe etwas passiert sei. Sei du daher nur vorsichtig in seiner Nähe. Wenn du nicht aufpasst, könntest du dich in derselben Lage wiederfinden.“ Er bewegte seinen Finger nachdrücklicher, erklärte heftig: „Ich bin nicht blind, weißt du. Ich habe ihn im letzten Monat um dich herumscharwenzeln sehen. Meint vermutlich, dein Vermögen würde ihm gut zu Gesicht stehen. Merk dir meine Worte, Kleines, er macht dich dabei bettelarm, um sich von seinen Schulden zu befreien.“ Seine Erregung ließ nach, und er fragte besorgt: „Du ziehst so eine Verbindung doch nicht ernsthaft in Erwägung?“

Nell schaute ihn aus lachenden Augen an. „Papa! Als würde ich das tun! Natürlich würde ich nie daran denken, mich an so einen Kerl wegzuwerfen. Ich weiß um seinen Ruf, – sogar den Klatsch um die Arnett-Erbin habe ich gehört – und ich versichere dir, dass ich in seiner Nähe sehr vorsichtig sein werde. Wenn ich heiraten wollte, dann nicht so ein armseliges Geschöpf wie Tynedale.“

Sir Edward entspannte sich, und ein Lächeln zuckte um seine Lippen. „Du solltest deinen armen alten Vater nicht so aufziehen, Liebes“, schalt er. „Du könntest mich damit eher ins Grab schicken, als uns allen lieb wäre.“

Nell machte ein abfälliges Geräusch. Sie stand auf und küsste ihn auf die Glatze, dann ging sie zur Tür, wobei sie ihm über die Schulter zuwarf: „Papa, du machst dir zu viele Sorgen unsertwegen. Robert wird irgendwann demnächst heiraten, und ich bin sicher, dass die Zwillinge sich nicht wesentlich länger Zeit lassen. Du wirst deine ersehnten Enkelkinder bekommen, ehe noch viele Jahre ins Land gezogen sind. Warte es nur ab.“

 

Auf der anderen Seite der Stadt und ein paar Stunden später im prächtigen Stadthaus des Earls of Wyndham fand eine ganz ähnliche Unterhaltung statt. Der gegenwärtige Lord Wyndham, der zehnte in der Reihe der Titelinhaber, wollte, nachdem er eine unglückliche Ehe zum Wohle seines Titels und seiner Familie hinter sich hatte, auf keinen Fall eine weitere eingehen. Gleichgültig, wie viele Tränen flossen und Szenen von seiner jungen Stiefmutter zu diesem Zweck inszeniert wurden.

Über den Tisch mit den verstreuten Überresten ihres Frühstücks hinweg schaute er ihr in die tränenglitzernden Augen und bemerkte: „Jetzt lass mich einmal sehen, ob ich dich richtig verstanden habe. Du willst, dass ich deine Patentochter heirate, weil sie im Falle meines Todes, vorausgesetzt, dass sie mir schon einen Erben präsentiert hat, sicherstellen würde, dass deine Zukunft gesichert ist?“

Die Countess Wyndham, die viel zu jung aussah, um seine Stiefmutter zu sein, betrachtete ihn verstimmt. Sie war ein reizendes kleines Ding mit sprechenden samtbraunen Augen und bezaubernden dunklen Löckchen, die ein ebenso bezauberndes Gesicht einrahmten. Mit ihren fünfunddreißig Jahren war sie außerdem drei Jahre jünger als ihr Stiefsohn.

„Ich verstehe nicht“, erwiderte sie, „warum du in diesem Ton mit mir sprichst. Ist meine Stellung so schwer zu begreifen? Wenn du ohne einen Erben stirbst, wird dein Cousin Charles in deine Fußstapfen treten oder, genauer gesagt, springen. Du weißt sehr gut, dass er mich und mein geliebtes Kind ohne zu zögern hinauswerfen würde.“

„Ich dachte immer, du magst Charles“, entgegnete Lord Wyndham mit Unschuldsmiene, allerdings funkelten seine Augen belustigt.

„Ich mag Charles recht gern“, räumte sie ein. „Er kann sehr unterhaltsam sein, aber er ist ein Wüstling, so wild. Und erst seine Weibergeschichten! Du weißt sehr wohl, dass, wenn Charles erbt, er ganz gewiss nicht Elizabeth oder mich hier haben will. Du weißt, dass er uns vor die Tür setzen würde.“

Lord Wyndham grinste. „Ja, er würde dich höchstwahrscheinlich hinauswerfen, meinetwegen auch auf die Straße, von wo du und Elizabeth euch aber sogleich eure Kutsche rufen lassen würdet, um euch ins Dower House auf Wyndham zu bringen.“

Ihre zierlichen Finger schlossen sich krampfhaft um den Griff der Teetasse. „Ja, sicher, es stimmt, dass wir dort leben könnten … auf dem Land vergraben, in einem Haus, das seit Jahrzehnten leer steht und dringend instand gesetzt werden müsste. Und es stimmt auch, dass dein lieber seliger Vater mir bei unserer Hochzeit eine schöne Summe übereignet hat.“ Sie beugte sich vor. „Aber begreifst du denn nicht, Julian, dass es hier nicht nur um Geld geht? Du musst doch auch berücksichtigen, dass es nicht Charles sein könnte, der erbt – vergiss nicht, dass er erst letzten Sommer beim Untergang seiner Jacht nur knapp mit dem Leben davongekommen ist. Und letzten Monat war da dann dieser schreckliche Unfall mit seinen Pferden. Mit seiner draufgängerischen und waghalsigen Art liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, dass Charles vor dir stirbt und dann am Ende Raoul alles erbt.“

Sie wirkte nachdenklich. „Ich mag Sophie Weston, aber du musst zugeben, dass Raouls Mutter eine willensstarke Frau ist. Wenn Raoul erben sollte, würde sie dafür sorgen, dass er keine Zeit verschwendet und heiratet. Und einer Sache kannst du dir sicher sein: Seine Frau wird eine kleine graue Maus sein, die vollkommen unter Mrs. Westons Fuchtel steht. Mrs. Weston wird in jeder Beziehung außer dem Namen Countess Wyndham sein – und nicht mein sanftmütiges, liebes Patenkind Georgette. Wenn Charles oder Raoul erben, wird es mir vermutlich nie wieder vergönnt sein, meinen Fuß in diese Hallen zu setzen.“

Sie barg ihr Gesicht in einem spitzenbesetzten Tüchlein. „Eben jene Hallen“, erklärte sie mit erstickter Stimme, „in die mich dein lieber, lieber Vater vor fünf Jahren als Braut brachte. Wie anders alles wäre, wenn dir etwas zustieße, du aber mit Georgette verheiratet wärest. Sie würde dafür sorgen, dass ich stets willkommen wäre. Und Elizabeth auch. Wenn sie nicht mit diesem schrecklichen Captain Carver durchbrennt und ihn heiratet.“ Sie spähte über den Spitzenrand ihres Taschentuchs. „Du weißt schon, den Captain der Kavallerie, der herumläuft und so romantisch und schneidig aussieht mit seinem Arm in der schwarzen Schlinge. Himmel, und ich glaube sogar, dass er sie in Wahrheit gar nicht braucht. Er trägt sie vermutlich nur, um mein geliebtes Kind zu beeindrucken.“

Julian seufzte. Dianas konfusen Gedankengängen zu folgen, erschöpfte unter normalen Umständen schon sehr schnell seinen Geduldsvorrat, aber heute Morgen schienen ihre Überlegungen noch sprunghafter und wirrer als sonst. Er betrachtete sie, ihre kurvenreiche, aber zierliche Gestalt und die feinen Züge, und er konnte wenigstens teilweise verstehen, weswegen sein Vater so von ihr eingenommen gewesen war. Allerdings lag darin der entscheidende Unterschied zwischen ihm und seinem Vater; er hätte eine diskrete Affäre mit der jungen Witwe genossen und sie nicht geheiratet. Er seufzte erneut. Nicht, dass er seinem Vater einen Vorwurf machte. Julians Mutter war vor über zwanzig Jahren gestorben, und sein Vater war ungefähr zwölf Jahre allein gewesen, von dem gelegentlichen Zusammensein mit einem leichten Frauenzimmer einmal abgesehen, ehe die reizende kleine Witwe Diana Forest sein Interesse geweckt hatte.

Die gute Gesellschaft war verblüfft gewesen, als der neunte Earl of Wyndham aus heiterem Himmel die mittellose Witwe eines Leutnants der Infanterie geehelicht hatte. Sie war nicht nur arm und jünger als sein einziges Kind, sie brachte selbst auch noch ein Kind mit in die Verbindung, ihre zwölfjährige Tochter Elizabeth.

Aber die seltsame Ehe hatte funktioniert, und, so machte sich Julian bewusst, Diana hatte seinen Vater glücklich gemacht. Sehr sogar. Sein Vater hatte sie angebetet und Elizabeth verwöhnt, war sogar so weit gegangen, eine ordentliche Summe für seine junge Stieftochter anzulegen, damit sie nicht ohne eigenes Vermögen war. Es war zu schlimm, dass er im zweiten Jahr der Ehe verstorben war, vor drei Jahren, sodass auf seinem Sohn die Sorge für eine Stiefmutter und eine Stiefschwester lastete. Nicht dass Elizabeth viel Mühe machte. Sie besaß ein sonniges Gemüt und war entgegenkommend, und außerdem verehrte sie ihn. Und Julian hatte entschieden eine Schwäche für seine angeheiratete Schwester. Natürlich auch für Diana – wenn sie nicht seine Geduld auf die Probe stellte.

Aus früheren Erfahrungen wusste er, dass Diana nun an dem Dreh- und Angelpunkt ihrer Diskussion angekommen war, daher fragte er: „Willst du, dass ich mit jemandem von den Horse Guards spreche wegen dieses … äh, Captain Carver? Vielleicht kann der Gute auf einen anderen Posten versetzt werden, sagen wir in … Kalkutta?“

Dianas Augen wurden groß. „Könntest du das tun?“

Er lächelte, und sein Gesicht mit den harten Zügen wurde mit einem Mal erstaunlich attraktiv. „Ja, das könnte ich, – wenn es dich glücklich macht.“

Sie sah unsicher aus. „Nun, ich glaube nicht, dass Kalkutta sonderlich gesund für einen Mann wäre, der verwundet wurde, oder? Ich würde mich schrecklich fühlen, wenn ihm etwas Furchtbares zustieße. Könntest du nicht einfach deine Freunde dafür sorgen lassen, dass er schrecklich viel zu tun hat – zu viel, um Zeit zu haben, meiner Tochter den Kopf zu verdrehen?“ Sie machte eine Pause, von einer neuen Sorge überwältigt. „Oh je, das könnte unklug sein. Stell dir vor, es käme heraus, dass du sie voneinander getrennt hältst. Himmel, am Ende sähen sie sich gezwungen, etwas Unüberlegtes zu tun!“ Mit vor Entsetzen bebender Stimme hauchte sie: „Oh, Julian, du glaubst doch nicht, dass Elizabeth zustimmen würde, mit ihm durchzubrennen, oder? Sie ist so unschuldig, hat ein so süßes und verbindliches Wesen, dass man nicht sagen kann, wozu sie dieser Mann überreden könnte.“

Mit seiner Geduld am Ende erhob Julian sich. Er musste entkommen, ehe er etwas Unüberlegtes tat. Er verneigte sich in ihre Richtung und sagte: „Mach dir keine Sorgen, Diana. Ich werde mich darum kümmern.“ Trocken fügte er hinzu: „Wie ich es immer tue.“

Kapitel 2

Da es Samstag war und er bezweifelte, dass er seinen Freund Colonel Stanton bei den Horse Guards antreffen würde, verschob Julian seine Mission, auf Captain Carvers Schicksal Einfluss zu nehmen. Das Problem konnte bis zum Anfang der folgenden Woche warten. Aber Diana sah das gewiss anders, und um die sonst unausweichlichen hysterischen Anfälle abzuwenden, schrieb er Stanton eine Nachricht und bat für Montagnachmittag um ein Treffen, ehe er nach dem Lunch aufbrach, um sich anderen Dingen zu widmen. Er war wegen der Angelegenheit nicht sonderlich beunruhigt, da er bezweifelte, dass Elizabeth für einen bloßen Captain ihren guten Ruf aufs Spiel setzen würde – gleichgültig, wie schneidig er war. Elizabeth trug einen klugen und besonnenen Kopf auf ihren schmalen Schultern. Sein Mund verzog sich. Anders als ihre Mutter.

Die Frau war völlig übergeschnappt, entschied Julian mehrere Stunden später, als er auf dem Weg zu Boodle’s die St. James Street entlangschlenderte. Völlig übergeschnappt, wenn sie glaubte, er würde jemals wieder eine Ehe eingehen, einzig um seiner Familie einen Gefallen zu erweisen. Seine Lippen wurden schmal. Seine Ehe mit Catherine hatte ihn gelehrt, was für ein Wahnsinn das war.

Catherine war eine reiche Erbin gewesen, das einzige Kind des Duke of Bellamy, und darüber hinaus sehr schön. Sein Vater hatte sich über die Verbindung gefreut; damals war Julian neunundzwanzig gewesen und hatte – zur großen Verzweiflung seines Vaters – bis dahin nicht die leiseste Neigung verraten, zu heiraten. „Denk an den Titel“, hatte ihn Lord Wyndham mehr als einmal gemahnt. „Wenn ich nicht mehr bin und auch du den Löffel abgibst, dann will ich, dass dein Sohn und nicht Daniel, – auch wenn er ein guter Junge ist, – in unsere Fußstapfen tritt. Du musst heiraten, Junge, und mir zu Enkelkindern verhelfen. Das ist deine Pflicht.“ Sein Vater hatte ihm zugezwinkert. „Und eine angenehme noch dazu.“

Als ein paar Monate später die bezaubernde Lady Catherine seinen Weg kreuzte, hatte ihr Julian auch seinem Vater zuliebe einen Antrag gemacht. Ihre Hochzeit war das gesellschaftliche Ereignis der Saison 1795 gewesen. Nachdem er und seine junge Braut von dem Hochzeitsempfang aufgebrochen waren, hatte sich sein Vater erfreut die Hände gerieben bei dem Gedanken an die Enkel, die schon bald aus dieser Verbindung hervorgehen würden.

Nur hatte er sich leider geirrt, überlegte Julian grimmig. Catherine war alles andere als darauf erpicht, Kinder zu bekommen, und Julian hatte beinahe sofort herausgefunden, dass sich hinter dem hübschen Gesicht ein verzogenes, launenhaftes Kind verbarg. Ehe viele Monate vergangen waren, gingen sie offen aufeinander los, und bevor sie noch ein Jahr verheiratet waren, waren sie – außer wenn es unvermeidlich war, – nur selten in der Gesellschaft des anderen zu sehen. Sie waren beide nicht glücklich gewesen, musste er zugeben, und Catherine hatte ihn vermutlich ebenso langweilig, geistlos und aufreizend gefunden wie er sie. So hatten sie mehr schlecht als recht zusammengelebt, wie viele andere Paare in ihrer Stellung, und wären auch heute noch aneinandergekettet, wenn Catherine nicht schwanger und jede Minute davon hassend bei einem Kutschenunfall ums Leben gekommen wäre. Bei der Erinnerung seufzte Julian.

Trotz der Tatsache, dass die Ehe ein Fehler gewesen war, hatte er Catherine nie den Tod gewünscht, und ihr plötzliches Ableben hatte ihn getroffen. Er hatte Schuld und Trauer empfunden, und es waren Jahre vergangen, ehe er an sie und das ungeborene Kind denken konnte, ohne einen schmerzlichen Stich zu spüren. Es lag mehr als sechs Jahre zurück, aber Julian wäre nicht ehrlich mit sich selbst, wenn er nicht zugäbe, dass seitdem mit jedem Jahr sein Entschluss gewachsen war, nie wieder zu heiraten. Sollen doch Charles oder Raoul in meine Fußstapfen treten, dachte er. Ich will verdammt sein, wenn ich mich an eine andere Frau binde, nur um meiner Familie einen Gefallen zu tun.

Als er Boodle’s betrat, war seine Stirn gerunzelt. Seine finstere Miene war ihm allerdings nicht bewusst, und so überraschte es ihn, als sein Freund Mr. Talcott ihn im Grand Salon ansprach: „Bei Jupiter, du siehst heute Abend aber missgestimmt aus! Und dabei hat gerade die Jagdsaison begonnen!“ Er betrachtete Julians Gesicht. „Ich könnte wetten, deine Stiefmutter ist dafür verantwortlich.“ Talcotts gewöhnlich fröhliche blaue Augen wurden nachdenklich. „Sie ist ein reizendes kleines Ding, das will ich nicht leugnen. Aber ich glaube, sie würde mich langsam, aber sicher in den Wahnsinn treiben.“

Julian lachte, seine schlechte Laune verflog. Er klopfte Talcott auf den Rücken und sagte: „Scharf beobachtet. Jetzt komm, trink mit mir und sag mir, dass du meine Einladung angenommen hast, nach Wyndham Hall zu kommen.“

Sie waren gerade dabei, aus dem Salon zu schlendern, als Julian aus dem Augenwinkel einen schlanken blonden Mann entdeckte. Seine Miene verfinsterte sich wieder, und er fragte: „Wann hat Boodle’s denn angefangen, jeden Unrat in seinen Rängen zu akzeptieren?“

Talcott schaute sich erstaunt um, dann folgte er Julians Blick und versteifte sich. „Tynedale! Er legt es darauf an, Schwierigkeiten zu bekommen, was? Sicherlich würde selbst er es nicht wagen …“ Er entdeckte den stämmigen Mann zu Tynedales Linker und bemerkte: „Nun, das erklärt es – er muss Braithwaite genötigt haben, für ihn zu bürgen.“

Julian machte einen Schritt in seine Richtung, aber Talcott packte ihn an der Schulter und zerrte ihn in einen schmalen Alkoven. „Sei kein Narr!“, zischte er. „Du hast schon ein Duell mit ihm ausgefochten – und gewonnen. Lass es auf sich beruhen. Ihn erneut zu fordern, bringt dir Daniel auch nicht zurück.“

Julian ließ Tynedales gut gebaute Gestalt keine Sekunde aus den Augen. „Er hat ihn umgebracht“, stieß er wütend hervor, „so sicher, als hätte er dem Jungen die Pistole an den Kopf gehalten. Das weißt du genau.“

„Ich gebe dir ja recht“, entgegnete Talcott ruhig. „Tynedale hat Daniel ruiniert, aber Daniel ist nicht der erste grüne Junge, der einem skrupellosen Schurken wie Tynedale in die Hände fällt und sein gesamtes Vermögen am Spieltisch verliert. Und er ist auch nicht der Erste, der sich danach selbst das Leben nimmt, statt sich den Folgen seiner Tat zu stellen, – und er wird auch nicht der Letzte sein.“

Julian starrte seinen Freund mit gequälter, wütender Miene an. „Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als Daniel geboren wurde und mich sein Vater fragte, ob ich sein Vormund sein würde, wenn ihm selbst etwas zustieße.“ Er seufzte. „Wir waren beide halb betrunken, feierten die Geburt seines Sohnes, und keiner von uns beiden dachte daran, dass es je so weit käme. Warum auch? John war erst einundzwanzig und ich noch gar nicht volljährig, – noch nicht einmal achtzehn. Wer hätte das ahnen können?“ Julian blickte nach unten, in Gedanken weit weg. „Wer hätte das ahnen können?“, wiederholte er leise. „Dass mein Cousin ermordet werden würde, als sein Sohn gerade erst elf Jahre alt war? Dass ich wirklich Daniels Vormund werden würde?“ Eine Hand ballte sich zur Faust. „John hat mir seinen Sohn anvertraut. Ich sollte aufpassen, dass ihm nichts zustößt. Ihn nicht nur vor einem Wüstling wie seinem Onkel bewahren, sondern auch vor allen anderen Gefahren, die den Weg eines Jungen kreuzen können.“ Seine Stimme wurde bitter, als er hinzufügte: „Ich war so sehr damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass sein Onkel Charles Daniel nicht zu sehr beeinflusst, dass ich kläglich dabei versagt habe, ihn vor Tynedale und seinesgleichen zu schützen.“

„Daniel war nicht dein Mündel“, erklärte Talcott unverblümt, „als er sich von Tynedale ausnehmen ließ und danach umgebracht hat.“ Drängender fuhr er fort: „Ich weiß, dass du Daniels Vater geliebt hast, ich weiß, dass John dein Lieblingscousin war, und ich weiß, dass du am Boden zerstört warst, als er getötet wurde. Aber nichts davon ist deine Schuld! Weder Johns Ermordung noch Daniels Selbstmord. Himmel, Mann! Du warst ja noch nicht einmal in England, als Tynedale seine Klauen in den Jungen geschlagen hat. Du warst als Spion für Whitehall unterwegs.“ Seine Finger schlossen sich fester um Julians Schulter. „Du hast dir nichts vorzuwerfen, – lass es ruhen.“ Als Julian nicht davon beeindruckt schien, sagte Talcott leise: „Du hast ihn im Duell vergangenen Frühling besiegt und sein hübsches Gesicht mit einer Narbe verunstaltet – und vergiss nicht, du hast die Mittel, ihn zu ruinieren … Wäre das nicht Rache genug?“

Julian lächelte plötzlich, er sah fast aus wie ein gefährliches Raubtier, das sich auf eine leichte Beute freut. „Wie nett von dir, mich daran zu erinnern. Einen Augenblick gerade eben hatte ich das vergessen.“ Er musterte Tynedale. „Ich vermute, dass er inzwischen erfahren hat, dass ich im Besitz all seiner Schuldscheine bin. Er muss verzweifelt sein, so im Ungewissen, wann ich Bezahlung verlangen werde, – und er wird wissen, dass ich ihm keinen Aufschub gewähren werde.“ Julian wirkte nachdenklich. „Ich hatte gedacht, dass es mir Befriedigung verschaffen würde, ihn so zappeln zu sehen, ehe ich das Geld verlange, aber ich habe festgestellt, dass ich meine Meinung geändert habe. Ich werde ihn morgen aufsuchen.“ Er lächelte erneut, aber überhaupt nicht freundlich. „Komm“, sagte er, „lass uns Tynedale für den restlichen Abend vergessen. Ich brauche etwas zu trinken. Gehen wir?“

 

Normalerweise hätte Nells Abend aus einem beschaulichen Mahl mit Sir Edward bestanden und dann ruhigen Stunden beim Lesen in der Bibliothek. Während ihrer seltenen Ausflüge nach London zog sie es vor, Buchhandlungen aufzusuchen und Museen, denn an dem Wirbel aus Bällen, Soireen und Ähnlichem hatte ihr nie viel gelegen. Da sie zögernd eine Einladung zu einem der letzten Bälle der Saison bei Lord und Lady Ellingson angenommen hatte, folgte ihr heutiger Abend nicht dieser Routine.

Die Ellingsons waren alte Freunde ihres Vaters, einer der Gründe, weswegen sie ihr Kommen zugesagt hatte – das und sein wohlmeinendes Drängen. Glücklich hatte er sie zu der Abendveranstaltung begleitet.

Nachdem Sir Edward sich überzeugt hatte, dass sie unter ihren Freundinnen saß und Lord Ellingson seinen drängendsten Gastgeberpflichten nachgekommen war, hatten die beiden Männer sich in das Kartenzimmer zurückgezogen. Erst mehrere Stunden später kam Sir Edward schließlich wieder zurück in den Ballsaal geschlendert, um nach Nell zu sehen.

Es dauerte eine Weile, bis ihm das gelang – sie befand sich halb verborgen in einer ruhigen Ecke, tief ins Gespräch mit einem goldblonden Gentleman vertieft. Er erkannte Lord Tynedale und runzelte die Stirn. Was zum Teufel hatte der Kerl hier zu suchen? Dann erinnerte er sich: Tynedale war mit Lady Ellingson verwandt. Lord Ellingson hatte sich mehrmals schon wortreich darüber beschwert, dass er den Tunichtgut in sein Haus einladen musste, um nicht bei seiner Frau in Ungnade zu fallen. Denn die vergötterte den jungen Mann – wie die meisten anderen Frauen auch.

Wenn er seine elegante Erscheinung in einem eng geschnittenen dunkelblauen Jackett und schwarzen Kniehosen, das feine Leinenhemd sorgfältig gestärkt und strahlend weiß betrachtete, konnte Sir Edward ihm nicht in Abrede stellen, dass er gut aussah. Mit seinen vollen blonden Locken und den weiblich dichten Wimpern bot er einen einnehmenden Anblick. Seine Züge waren aristokratisch, von der geraden Nase bis zu den wie gemeißelten Wangenknochen, und er konnte mit einem gewinnenden Lächeln und geübtem Charme aufwarten. Trotz der eindeutigen Anzeichen in seinem Gesicht für seinen ausschweifenden Lebenswandel und einer dünnen Narbe auf einer Wange war es unter Berücksichtigung all seiner äußeren Vorzüge und seines gefälligen Wesens kein Wunder, wenn Frauen von ihm angetan waren und sogar die Narbe für schneidig hielten. Gerade wollte Sir Edward zu seiner Tochter gehen und einen Mann von ihrer Seite vertreiben, den er unverhohlen als liederlichen Burschen bezeichnen würde, da fiel Sir Edward wieder ihre Unterhaltung vom Morgen ein und ließ ihn zögern. Nell würde es ihm nicht danken, wenn er den erzürnten Vater gab. Außerdem, dachte er bei sich, war sie sehr wohl in der Lage, Tynedale ohne fremde Hilfe eine unmissverständliche Abfuhr zu erteilen.

Aus dem Augenwinkel hatte Nell ihren Vater aus dem Kartensalon kommen sehen und verspürte eine gewisse Erleichterung. Tynedale hatte ihr unangenehm viel Beachtung geschenkt, seit er vor einer Weile eingetroffen war, und warum sie herumgeschwirrt wie eine Biene um eine besonders süß duftende Blüte. Wie jede andere Frau war sie nicht unempfänglich für die Aufmerksamkeiten eines gut aussehenden Mannes, wusste aber genau, dass es ihr Vermögen war und nicht sie selbst, was sein Interesse weckte. Daher hatte sie versucht, ihn auf Armeslänge Abstand zu halten, – allerdings ohne Erfolg. Er war entweder, entschied sie, außergewöhnlich schwer von Begriff, verzweifelt oder immun gegen Beleidigungen.

Tynedale in die seelenvollen blauen Augen schauend, bemerkte sie: „Ah, da ist mein Vater. Ich bin sicher, er wird allmählich aufbrechen wollen, – ich jedenfalls verspüre den Wunsch. Ich würde mich gerne zurückziehen und ausruhen.“

„Müssen Sie wirklich gehen?“ Er bedachte sie mit einem flehentlichen Blick. „Ohne Ihre charmante Gegenwart, fürchte ich, wird der Abend seinen ganzen Zauber verlieren“, erklärte Tynedale, ein gewinnendes Lächeln auf dem attraktiven Gesicht.

Nell schenkte ihm ein betont charmantes Lächeln. „Ehrlich? Obwohl mindestens noch zwei weitere Erbinnen im Angebot sind?“

In seine Augen trat ein harter Ausdruck. „Warum müssen Sie so darauf beharren, dass mein einziges Interesse an Ihnen Ihrem Vermögen gilt? Ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, dass unter all den geschwätzigen, flatterhaften jungen Dingern, die heute Abend hier versammelt sind, Sie – und zwar Sie allein – meine Wertschätzung gewonnen haben?“

Sie tippte sich mit ihrem bemalten Seidenfächer an die Lippen. „Oh, Sie haben natürlich absolut recht! Wie kann ich nur etwas anderes angenommen haben? Wie dumm von mir. Schließlich sagt man mir bloß nach, halb verrückt zu sein. Ich bin erwiesenermaßen ein Krüppel und als Außenseiterin bekannt.“ Sie setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Allerdings verfüge ich in der Tat über ein fast schon unanständig großes Vermögen.“ Sich ein Lächeln angesichts seines Gesichtsausdruckes verkneifend, fügte sie hinzu: „Das muss mich selbstverständlich weit nach oben auf Ihrer Liste möglicher Bräute bringen.“

Die Hände an seinen Seiten ballten sich zu Fäusten, und die Narbe auf seiner Wange flammte feuerrot auf. „Dies ist nicht der Augenblick oder die Umgebung, die ich gewählt hätte, um das Thema anzusprechen, aber wir würden gut zusammenpassen, Sie und ich. Es ist nicht zu leugnen, dass ich Ihr Vermögen gut gebrauchen könnte … und Sie einen Ehemann. Ich nenne vielleicht derzeit keinen Pfennig mein Eigen, aber Ihr Vermögen würde das ändern.“ Tynedale beugte sich vor, sprach drängender. „Sie sollten die Möglichkeit in Betracht ziehen – es wäre ein gutes Geschäft für Sie, wenn alles gesagt und getan ist. Wenn Sie sich erinnern wollen, ich besitze einen alten und ehrwürdigen Titel.“

„Danke, aber nein.“ Beleidigt und verärgert über seine Unverschämtheit sagte sie unverblümt: „Da dieses Gespräch bereits unziemlich ist, werde ich Ihnen nur dieses eine erwidern: Lieber gelte ich als alte Jungfer, als mit Ihnen verheiratet zu sein.“

Sie kehrte ihm den Rücken zu, nur um wieder von ihm am Arm gepackt und herumgerissen zu werden. Er brachte sein Gesicht dicht vor ihres und knurrte: „Diese Worte werden Sie noch bereuen.“ Er machte eine Pause. „Sie müssen mich verstehen: Ich habe schlechte Nachrichten erhalten, und ich befinde mich in einer ausweglosen Lage, – ich bin verzweifelt.“ In seine Stimme schlich sich ein drohender Unterton. „Und verzweifelte Männer greifen bekanntermaßen zu verzweifelten Maßnahmen. Lassen Sie sich warnen: Man unterschätzt mich besser nicht.“

„Nehmen Sie Ihre Hände von mir“, fuhr Nell ihn aufgebracht an. Ihre Augen glitzerten empört. „Lassen Sie sich von mir einen Rat geben, Mylord: Ich verlasse London am Montag. Niemand weiß, wann ich das nächste Mal in die Stadt komme, aber wenn ich es tue, bleiben Sie mir fern. Ich verspüre nicht den Wunsch nach Ihrer Gesellschaft.“

Er ließ ihren Arm los, ein hässliches Lächeln auf seinem Gesicht. „Das werden wir ja sehen.“ Er verneigte sich. „Bis wir uns wiedertreffen.“

Nell verzichtete auf eine Antwort und entfernte sich mit raschelnden Röcken.

Sir Edward drehte sich um, als sie näher kam, und seine Augen wurden schmal, als er ihre Miene bemerkte. Er schaute dorthin, wo Tynedale stand.

„Soll ich den jungen Hund fordern?“, erkundigte er sich, als er ihren Arm nahm.

Nell sah ihn verwundert an. „Lieber Himmel, nein. Verschwende keinen Gedanken an ihn.“ Sie lächelte verschmitzt. „Ich verspreche dir, es auch nicht selbst zu tun.“ Sie strich ihm über die Wange. „Mach dir keine Sorgen, Papa. Ich will zugeben, dass er unverschämt genug war, eine Verbindung zwischen uns vorzuschlagen – seine Schuldner müssen ihm ganz schön zusetzen. Lass dich nicht davon beunruhigen. Ich versichere dir, dass ich ihm eine entschiedene Abfuhr erteilt habe. Er wird uns keine Probleme mehr machen.“

Sir Edward war entrüstet. „Eine Verbindung vorgeschlagen, was? Ohne mich vorher zu fragen? Ungezogener Flegel! Wie kann er das wagen? Ich werde mal ein Wörtchen mit ihm reden!“

Nell fasste ihn am Arm. „Papa! Bitte tue das nicht. Ich bitte dich. Vergiss nicht, ich bin kein unschuldiges junges Mädchen, das von seinem ersten Besuch in London geblendet ist. Ich bin sehr wohl in der Lage, die Aufmerksamkeiten eines verachtenswerten Geschöpfes, wie er es ist, zurückzuweisen. Bitte lass uns keine weitere Sekunde unserer Zeit auf ihn verschwenden.“

Er musterte sie prüfend und zufrieden mit dem, was er in ihrem Gesicht las, nickte er, sagte nichts weiter außer ein paar gemurmelten Bemerkungen über die Unverfrorenheit gewisser junger Tunichtgute.

Als Sir Edward sie die Stufen des Stadthauses der Ellingsons hinunter und zu ihrer Kutsche geleitete, stellte Nell fest, dass es inzwischen regnete. Ihr waren schon am Nachmittag die schweren Wolken aufgefallen, aber sie hatte gehofft, dass sie nur dräuten und weiterziehen würden.

Auf dem kurzen Stück zur Kutsche wurde sie durchweicht, und während sie in der Kutsche saß, lauschte sie dem Prasseln der Regentropfen auf das Kutschendach. Nell zog sich ihren Samtumhang fester um die Schultern und schnitt eine Grimasse. Wenn das ein Unwetter war und anhielt, dann wären bis zu ihrem Aufbruch am Montag die Straßen aufgeweicht und schlammig.

Ein Blitz zuckte über den Nachthimmel, und sie erschrak. Oh je. Es würde vermutlich, dachte sie, eine lange, nasse, matschige und zweifellos mit vielen Hindernissen behaftete Heimreise nach Meadowlea werden.

Kurze Zeit später waren Nell und ihr Vater zu Hause und liefen ins Haus, um dem Regen zu entkommen. Nachdem sie Sir Edward eine gute Nacht gewünscht hatte, eilte Nell die Stufen empor in ihre Räume, von dem Wunsch beseelt, ihr Abendkleid loszuwerden und ins Bett zu kriechen.

 

Zwanzig Minuten später lag sie gemütlich im Bett, nachdem sie das elegante Ballkleid abgelegt und dankbar in ihr Nachthemd aus weicher Baumwolle geschlüpft war. Sie schlief unverzüglich ein.

Zuerst schlief sie traumlos, aber dann wurde sie immer unruhiger; das Atmen fiel ihr schwer und ihre Arme und Beine fühlten sich an, als seien sie gefangen. Sie stöhnte im Schlaf und begann sich im Bett zu winden, versuchte den unsichtbaren Bändern zu entkommen, die sie fesselten. Wieder ein Albtraum, dachte sie, während sie sich aus dem Schlaf ins Bewusstsein kämpfte.

Und es war ein besonders schlimmer; das Gefühl erstickt zu werden, in Schwärze unterzugehen, war beinahe überwältigend. Immer noch halb im Schlaf rang sie darum, der erdrückenden Schwärze zu entfliehen, aber ihre Hände verfingen sich in der umfassenden Dunkelheit ihres Traumes.

Sie spürte, wie sie über das Bett rutschte, und sie riss die Augen auf. Zu ihrem Entsetzen entdeckte sie, dass sie wirklich gefangen war – in einer erstickenden Menge schweren Stoffes – und aus dem Bett gezogen wurde. Außer sich vor Furcht begann sie sich zu winden und um sich zu treten, zerrte mit den Händen an dem Stoff, in den sie eingehüllt war.

„Still!“, zischte eine Stimme, die sie sogleich erkannte.

Tynedale!“, keuchte sie. „Sind Sie verrückt? Mein Vater wird Sie hierfür umbringen, – wenn ich ihm dabei nicht zuvorkomme.“

Ein hässliches kleines Lachen entfuhr ihm. „Darauf werde ich es ankommen lassen. Sobald Sie meine Frau sind, wird Ihr Vater, da bin ich sicher, seine Meinung ändern.“

„Aber ich nicht!“, versprach sie und verstärkte ihre Bemühungen, ihm zu entkommen.

Als er sie hochhob und sich ohne viele Umstände einfach über die Schulter warf, bekam sie plötzlich keine Luft mehr. Er hielt sie mit einem Arm über ihrem Hintern fest und durchquerte den Raum.

Nell war inzwischen vollkommen wach, ihre Gedanken überschlugen sich. Es gab nur einen Weg, wie er sich Zugang zum Haus verschaffen konnte: über ihren Balkon durch die unverriegelte Glastür. Aber woher hatte er gewusst, in welchem Zimmer sie schlief? Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Er musste sie ausspioniert haben, ihr heute Nacht vom Ball bei den Ellingsons nach Hause gefolgt sein. Er hätte gewiss erraten können, dass ihr Vater sich nicht sofort in seine Räume zurückziehen würde, sie vermutlich aber schon. Das hatte sie ihm selbst praktisch gesagt. Ärger erfasste sie. Er hatte nur die Fenster im oberen Stockwerk beobachten müssen und aufpassen, in welchem Raum kurz darauf die Kerzen ausgeblasen wurden. Hölle und Verdammnis über ihn! Und was für ein Glück für ihn, dass ihr Zimmer eines der wenigen war, das einen Balkon besaß, dachte sie erbost. Ihr sank das Herz. Sowohl die Geräusche als auch die Richtung, in die sie sich bewegten, verrieten, dass er das Haus auf demselben Wege wieder verlassen wollte, auf dem er es betreten hatte.

Da sie wusste, jede Sekunde zählte, dass, wenn er sie erst einmal weit genug vom Haus und dem Schutz ihres Vaters fortgeschafft hätte, alles verloren wäre, holte sie tief Luft und schrie.

Tynedale zuckte zusammen. Er fluchte und stolperte, stieg halb und fiel halb über die Balkonbrüstung. „Alte Hexe! Mach das noch einmal“, erklärte er drohend, während er den riskanten Abstieg begann, „und ich erwürge dich.“

Nell kniff die Augen zusammen, erkannte entsetzt, dass sie sich in einer gefährlichen Lage so weit über dem Boden befand und hin und her schwang. Er musste ein Seil benutzt haben, es irgendwie am Balkon befestigt haben und daran hochgeklettert sein. Und jetzt stieg er mit ihr daran wieder nach unten. Gütiger Himmel!

Eingeschüchtert von dem Wissen, dass, wenn sich Tynedales Griff um sie lockerte oder ihm das Seil entglitt, sie auf die steinerne Terrasse unten stürzen würde, verharrte Nell stocksteif auf seiner Schulter. Sobald sie seine Füße den Boden berühren spürte, schrie sie erneut, trat und wand sich in seinen Händen.

„Ich habe dich gewarnt!“ knurrte er.

Sein Griff verlagerte sich, und sie glitt in die Senkrechte. Im nächsten Moment gab es eine blendend grelle Explosion in ihrem Kopf, und die Welt um sie wurde dunkel.

 

Doch Nells Schreie waren nicht ungehört verhallt. Über die Geräusche des Sturmes hinweg hörte Robert den ersten Schrei nur ganz schwach. Aber er hatte etwas vernommen, und da er gerade das Haus betreten wollte, blieb er vor der Tür stehen und lauschte. Er hatte eben erst entschieden, dass er sich getäuscht haben musste, als erneut ein schwaches Geräusch an sein Ohr drang. Der Wind und der Regen zusammen mit dem massigen Gebäude verfälschten den Laut, doch Robert war überzeugt davon, etwas gehört zu haben. Ein Kätzchen? Einen jaulenden Hund?

Mit gerunzelter Stirn betrat er das Haus. Sir Edward durchquerte gerade die mit schwarzem und weißem Marmor geflieste Eingangshalle und lächelte ihm zu.

„Hat Drew das Pferd gekauft?“, erkundigte er sich mit hochgezogenen Brauen.

Robert lachte. „Es war sehr knapp, aber Henry und ich konnten ihn überzeugen, dass es nicht klug wäre.“ Sein Stirnrunzeln kehrte zurück. „Hast du eben auch dieses merkwürdige Geräusch gehört?“, fragte er.

„Was für ein merkwürdiges Geräusch denn? Außer dem gewöhnlichen Heulen und Pfeifen des Sturmes nichts. Warum fragst du?“

„Ich dachte, da wäre etwas gewesen …“ Er zuckte die Schultern. „Vermutlich ist es nichts, aber ich denke, ich sehe mich kurz um, ehe ich ins Bett gehe.“

Nachdem er einige Minuten später nichts Auffälliges gefunden hatte, kam sich Robert ein bisschen albern vor, als er vor Nells Tür stand und klopfte. Als sie nicht antwortete, beunruhigte ihn das nicht weiter; Sir Edward hatte erwähnt, dass sie sich zu Bett begeben hatte, praktisch direkt nachdem sie heimgekommen waren. Bestimmt schlief sie. Robert lächelte. Nell schlief bekanntermaßen wie eine Tote, und selbst das Toben des Unwetters draußen würde sie nicht notwendigerweise wecken, es sei denn vielleicht, wenn der Blitz neben ihrem Bett einschlüge. Sein Lächeln verblasste. Ein Blitz oder einer dieser verfluchten Albträume.

Er stand unentschlossen da, ob er sie stören sollte, aber von einem nicht näher erforschten Instinkt getrieben klopfte er erneut, und als eine Antwort ausblieb, öffnete er die Tür, trat ein. Mit einer kleinen Kerze in der Hand durchschritt er den Salon und spähte in ihr Schlafzimmer. Bett und Möbel waren im flackernden Licht des Feuers im Kamin schwach zu erkennen. Ein zuckender Blitz draußen lenkte seinen Blick jäh auf die Flügeltür zum Balkon.

Zwei Dinge fielen ihm gleichzeitig auf: Nells Bett war leer, und die Balkontür stand sperrangelweit offen. Er rief ihren Namen und war mit drei ausholenden Schritten auf dem Balkon, – er lag verlassen. Nur der Sturm antwortete auf seinen nächsten verzweifelten Ruf.

Ein schreckliches Gefühl beschlich ihn, als er an die Nächte denken musste, in denen sie mit ihren Schreien wegen der Albträume, die sie verfolgten, den gesamten Haushalt aufgeweckt hatte. War sie am Ende in der Gewalt von Gott weiß was für Gräuel auf den Balkon gestolpert und über das Geländer gestürzt? Reglos stand er in peitschendem Regen und Dunkelheit; das Herz in der Brust zu Eis erstarrt, ehe er sich zwang, über den Rand der Brüstung nach unten zu sehen. Erleichterung erfasste ihn, als ein weiterer Blitz die leere Terrasse unten beleuchtete, ohne Nells verkrümmten Körper auf den Steinplatten.

Seine Erleichterung währte jedoch nicht lange. Wenn Nell nicht in ihrem Bett war, wo war sie dann? Eine hastige Durchsuchung ihrer Räume brachte keine Antwort auf diese Frage. Er rief ihren Namen wieder und wieder, seine Stimme mit jedem Mal drängender und verzweifelter, aber einzig das Brausen des Windes war zu hören. Mit jeder Sekunde wuchs seine Sorge. Er lief nach unten und fand seinen Vater in der Bibliothek, wo er sich gerade einen Brandy einschenkte. „Bist du sicher, dass Nell ins Bett wollte?“, verlangte er zu wissen.

„Das hat sie zumindest gesagt“, erwiderte Sir Edward, erstaunt über Roberts Interesse am Aufenthaltsort seiner Schwester. „Hast du nach ihr gesehen?“

„Ja – und da ist sie nicht. Ich kann sie nirgends finden, dabei habe ich überall nachgesehen.“ Robert biss sich auf die Lippe. „Die Tür zu ihrem Balkon stand sperrangelweit offen.“

Besorgnis malte sich auf Sir Edwards Züge; er stellte sein Glas ab und schritt an seinem Sohn vorbei. Dicht gefolgt von Robert eilte er zu Nells Räumen.

Wind und Regen drangen durch die Tür, die Robert in seiner Sorge nicht geschlossen hatte, ins Zimmer. Nicht weiter darauf achtend, entzündeten die beiden Männer rasch mehrere Kerzen.

Gleich darauf war Nells Schlafzimmer in helles Licht getaucht, und in der plötzlichen Helligkeit starrten beide Männer in wachsendem Entsetzen auf die schmutzigen Stiefelabdrücke, die den rosa und cremefarben gemusterten Teppich verunzierten. Lehmige Spuren, die von dem Balkon zum Bett führten und wieder zurück …

„Ich wusste es! Ich wusste, der Kerl führt nichts Gutes im Schilde. Es ist dieser Bastard Tynedale!“, brach es aus Sir Edward hervor, seine Miene eine Mischung aus Wut und Furcht. „Er hat sie entführt! Und ist vermutlich genau jetzt mit ihr auf dem Weg nach Gretna Green. Wir müssen ihn aufhalten.“

„Warte!“, rief Robert ihn zurück, als er aus dem Zimmer laufen wollte. „Ich weiß, es sieht verdächtig aus, aber woher willst du wissen, dass es Tynedale war? Ich gebe dir völlig recht, dass alles darauf hindeutet, dass Nell entführt wurde, aber wir müssen erst das Haus komplett durchsuchen. Am Ende gibt es doch eine einfache Erklärung hierfür.“

Sir Edward sah ihn an, als habe er den Verstand verloren und fuhr ihn an: „Dann wecke du die Dienerschaft und lass sie suchen. Ich läute inzwischen nach der Kutsche und benachrichtige die Zwillinge – es ist gut möglich, dass wir ihre Hilfe brauchen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“

Drew und Henry trafen kurz darauf mit einer Reihe besorgter Fragen ein. Nachdem sie gehört hatten, was befürchtet wurde, waren sie wutentbrannt und voller Ungeduld, sich an Tynedales Verfolgung zu machen, lechzten nach seinem Blut. Die Durchsuchung des gesamten Hauses war beendet, aber außer einem Fetzen zartgemusterten Baumwollstoffes, der an einem der Büsche hing, die an dem Gartenweg vom Haus zur Straße wuchsen, gab es keinen Hinweis auf Nells Verbleib.

Innerhalb von Augenblicken, nachdem der Stoffstreifen gefunden worden war, befanden sich Robert und Sir Edward in der Reisekutsche der Familie und fuhren ratternd über Londons Straßen. Drew und Henry, in wetterfeste Friesmäntel gehüllt und mit gegen den Wind gebeugten Köpfen, hatten sich fürs Reiten entschieden und folgten auf ihren Pferden der schwankenden Kutsche.

Bis sie die Stadtgrenze von London hinter sich gelassen hatten, saßen sich Sir Edward und Robert mit grimmigen Mienen und schmalen Lippen gegenüber, keiner von ihnen verspürte die Lust auf eine Unterhaltung. Als sie aber aus London heraus waren, klopfte Sir Edward gegen das Dach und steckte den Kopf zum Fenster heraus, rief seinem Kutscher zu: „Lass ihnen die Zügel schießen!“

Der Kutscher schnalzte mit seiner Peitsche, und die Pferde machten einen Satz nach vorne. Die Kutsche, flankiert von den Zwillingen, ruckte und schaukelte durch die Nacht, die schier undurchdringliche Dunkelheit nur von dem gelegentlichen Silberlicht eines Blitzes erhellt.

Tynedale besaß nichts so Luxuriöses wie eine Kutsche – seine eigene war schon vor Wochen verkauft worden, um seine dringendsten Schulden zu begleichen. Er fuhr einen offenen Zweispänner, aber trotz des hochgeklappten Verdecks waren er und Nell schon bald durchweicht, während er seine gemieteten Pferde zu höherem Tempo antrieb. Er glaubte zwar nicht, dass Nells Schreie von irgendwem gehört worden waren, aber er wollte kein Risiko eingehen. Außerdem musste er sie bei Tagesanbruch sicher in seinem Versteck haben. Von Anfang an hatte er gewusst, dass Gretna Green hinter der schottischen Grenze nicht zu erreichen wäre – und außerdem der erste Ort, wo ihre Familie sie suchen würde. Er lächelte verkniffen. Es gab andere Wege, eine übereilte Hochzeit zu erzwingen … Nachdem er sie erst einmal kompromittiert hatte, war er zuversichtlich, dass ihre Eheschließung unverzüglich folgen würde. Alles, was er tun musste, war, die nächsten vierundzwanzig Stunden zu überstehen, und all seine Probleme wären gelöst.

Tynedale warf Nell einen Blick zu, die neben ihm saß. Sie hielt sich aufrecht, eine Hand um den Lederriemen geklammert, um sich festzuhalten, die Augen fest auf die galoppierenden Pferde vor sich gerichtet. So wie sie von Kopf bis Fuß in die dicken Falten seines Umhanges gehüllt war, war es höchst unwahrscheinlich, dass jemand sie erkennen würde – und außerdem würde nur ein Narr während eines solchen Unwetters einen Fuß vor die Tür setzen. Die Schwärze der Nacht hätte sie auf jeden Fall verborgen, aber der Sturm war ein unerwartetes Geschenk des Schicksals.

Er hätte es vorgezogen, die Entführung sorgfältiger planen zu können, und ganz gewiss hätte er dann auch keine offene Kutsche für die Flucht gewählt, aber die Nachricht, dass Nell am Montag London verlassen wollte, hatte ihm nicht genug Zeit gelassen, andere Pläne zu schmieden. Das und die Tatsache, dass Wyndham alle seine Schuldscheine aufgekauft hatte. Verdammter Hurensohn! War es nicht genug, dass er ihn im Duell im letzten Frühjahr geschlagen und ihm eine Narbe zugefügt hatte, die ihm sein Leben lang bleiben würde? Es war schließlich nicht seine Schuld, dass Wyndhams Mündel ein Schwächling gewesen war, der es vorzog, sich dem Verlust seines Vermögens nicht zu stellen. ’Spiel oder zahle’ war sein Motto, und wenn der Junge damit nicht zurechtkam, dann hätte er nicht spielen sollen … Tynedale lächelte. Besonders da die Würfel mit Blei beschwert gewesen waren. Es war eine Schande, was geschehen war, und er musste zugeben, wenn er gewusst hätte, dass der Junge zu so drastischen Maßnahmen greifen würde, dann hätte er ihn vielleicht nicht vollkommen ruiniert. Aber seine Bedürfnisse kamen an erster Stelle, und er hatte das Weston-Vermögen gebraucht. Und ich hätte meiner ersten Überlegung folgen sollen, dachte er grimmig, und mit dem Geld meine Angelegenheiten in Ordnung bringen sollen. Er seufzte über die vertane Chance. Aber einmal ein Spieler, immer ein Spieler, und er war überzeugt gewesen, dass sein Glück sich endlich gewendet hatte. Mit dem unrechtmäßig erworbenen Vermögen im Rücken war er sicher gewesen, dass er seine früheren Verluste wieder wettmachen könnte. Wenn ein Vermögen schon angenehm war, dann waren zwei eindeutig besser. Von dem Gedanken geleitet, hatte er sein waghalsiges Spielen und das Herumhuren fortgesetzt. Erst als er sich vor ein paar Monaten erneut am Rande des Ruins wiedergefunden hatte, hatte er begonnen, nach einem Ausweg aus seinen Schwierigkeiten zu suchen. Eine Heirat mit einer reichen Erbin schien der einzige, der sich anbot.

Wieder schaute er Nell ins Gesicht. Ja. Eine Erbin zu heiraten war die einfachste Lösung. Und Eleanor Anslowe entsprach seinen Vorstellungen. Sie wusste, wie es in der Welt zuging, und war bereits volljährig, sodass sie über ihr Vermögen selbst verfügen konnte – oder er, sobald sie geheiratet hatten. Sir Edward konnte sich aufregen und ein großes Geschrei machen, aber er würde nichts unternehmen können. Wenn Nell mit ihm verheiratet war, wären all seine Sorgen vorbei.

Nells Mut sank mit jeder Meile, die sie sich von London entfernten. Sie starrte blicklos in die Nacht. Sie war erschöpft. Die Furcht forderte ihren Zoll, und ihr Bein schmerzte nahezu unerträglich. Aber sie gab sich nicht geschlagen, und sie würde es Tynedale alles andere als leicht machen. Sie konnte sich gut vorstellen, was er vorhatte, und wusste zu ihrem Leidwesen genau, dass sie ihn nicht davon würde abhalten können, ihr Gewalt anzutun. Im Stillen schwor sie sich, auch wenn er mit seinem üblen Plan Erfolg hätte und sie ihr Gesicht von da an für den Rest ihres Lebens in Scham vor der Welt verbergen müsste, sie würde ihn nicht heiraten! Sie holte tief Luft. Sie würde ihm entkommen. Irgendwie.

Da es unwahrscheinlich war, dass ihre Schreie gehört worden waren oder dass sie vor dem Morgen vermisst würde, musste sie allein ihre Flucht bewerkstelligen. Sie betrachtete die regennasse Landschaft, die ab und zu ein Blitz erhellte. Es war ihr unmöglich zu sagen, wie weit sie von London entfernt waren, und in der Dunkelheit wirkte ohnehin alles fremd und anders. Sie bezweifelte, dass Tynedale bald anhalten würde, aber sie beschloss, wenn er die Pferde schließlich anhalten ließe, wäre das ihre beste Chance zum Entkommen. Und wenn andere Leute in der Nähe wären, umso besser. Es würde ihr nichts ausmachen, seine perfide Art öffentlich zu machen.

Dann ergab sich Nells Chance aber früher als erwartet. Ein greller Blitz zuckte über den Nachthimmel und schlug weniger als fünfzig Fuß vor den Pferden ein. Der Boden erbebte, und die Kutsche schwankte. Dem gewaltigen Blitz folgte ein Donner, der klang, als stünde der Untergang der Welt bevor. Die Pferde schrien, bäumten sich auf und kämpften gegen Tynedales nervöses Gezerre an den Zügeln. Eines der beiden Tiere verlor auf der schlammigen Straße den Halt und verfing sich im Geschirr, das andere zerrte an der Deichsel, bäumte sich wieder auf, versuchte sich loszureißen. Tynedale konnte die Pferde nicht unter Kontrolle bringen, und der Wagen wurde von der glitschigen Straße gezogen. Als er sich zur Seite neigte und in den Straßengraben rutschte, hatte das eine Tier Erfolg, befreite sich aus dem Geschirr und galoppierte in die Dunkelheit.

Nell wurde bei dem Unfall beinahe aus der Kutsche geschleudert, aber es gelang ihr, auf dem Platz zu bleiben. Tynedale hatte weniger Glück. Der heftige Ruck, mit dem das Gefährt im Straßengraben zum Stehen kam, warf ihn aus seinem Sitz.

Fluchend richtete er sich auf, umklammerte eine Schulter und betrachtete den Schaden. In der Mitte eines der schlimmsten Unwetter, die er je erlebt hatte, steckte seine Kutsche in einem schlammigen Graben, und wenn er sich nicht sehr irrte, hatte er sich das Schlüsselbein gebrochen. Die Nacht konnte kaum noch schlimmer werden.

Aber da irrte er. Nell zögerte keinen Augenblick. Sobald die Kutsche ruhig stand, kletterte sie schnell, ohne ihr schmerzendes Bein zu beachten, aus der Kutsche und hastete, so gut es ging, in den Schutz der Bäume, die an dieser Stelle die Straße säumten. Sie hörte Tynedale hinter sich rufen, aber das beflügelte ihre Schritte nur.

Der Wald schloss sich um sie, und sie sandte ein Dankgebet für die Dunkelheit und das Gewitter gen Himmel. Ohne sich um die Zweige zu kümmern, die nach ihr schlugen, oder das nicht näher bestimmbare Zeug unter ihren Füßen eilte sie weiter, tiefer und tiefer in den schützenden Forst. Tynedales Umhang behinderte ihr Vorwärtskommen, aber sie wagte es nicht, ihn wegzuwerfen – in ihrem weißen Nachthemd wäre sie für ihn viel zu leicht zu erkennen, – falls er ihr folgte. Sie blieb stehen, lauschte angestrengt, aber außer dem wütenden Heulen des Sturmes hörte sie nichts als das wilde Schlagen ihres Herzens und ihren eigenen schweren Atem. Plötzlich lächelte sie. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war; ihr war kalt, sie war bis auf die Knochen durchweicht, und sie hatte Angst, aber bei Gott, sie war ihm entkommen!