Prolog
Volkonsky-Palast, St. Petersburg, Russland
September 1816
Prinzessin Svetlanka Volkonsky schlich lautlos durch das Zimmer ihrer jüngeren Schwester und packte mit zitternden Händen ein paar Sachen und allen Schmuck, den sie finden konnte. Sie war auf dem Weg zum Musikzimmer gewesen, als das wütende Geschrei ihres Onkels ertönt war. Graf Volkonsky hob nur selten die Stimme, deshalb hatte sie innegehalten, als sie sein Gebrüll aus dem Jagdzimmer gehört hatte. Und gelauscht. Aus dem, was er sagte, schloss sie, dass sie St. Petersburg gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Irina so schnell wie möglich verlassen sollte. Oder am besten gleich das Land, weit weg aus Graf Volkonskys Reichweite. Denn ihr Onkel wollte sie beide umbringen.
Lana hatte schon seit Jahren den Verdacht, dass ihr Onkel Geheimnisse der Krone an die Franzosen verkaufte, doch sie hätte nie gedacht, dass er zu einem Mord fähig wäre, noch dazu an seinem eigenen Bruder. Ihre Eltern waren vor ein paar Monaten tödlich verunglückt. Ihre Kutsche hatte sich überschlagen und war eine Klippe hinuntergestürzt, und sie waren gemeinsam mit ihrem Kutscher und dem Diener ums Leben gekommen. Man hatte sich auf ein gebrochenes Rad als Unfallursache geeinigt und sie und Irina waren Waisen geworden, Mündel ihres Onkels. Doch jetzt kannte Lana die Wahrheit, weil sie sie mitangehört hatte.
Lana zog die Vorhänge zu und wandte sich an ihre Schwester, die gerade packte. Sie nahm alle möglichen Sachen aus einer Truhe und stopfte sie in ihren kleinen Koffer.
Lana ballte die Fäuste, verbarg sie jedoch in den Falten ihres dunkelblauen Reisekleides. „Nur das Allernötigste, Irina.“
„Wo wollen wir denn hin?“, fragte ihre Schwester mit schreckgeweiteten Augen.
„Ich … weiß nicht“, erwiderte Lana. „Aber ich habe jemanden benachrichtigt, der uns helfen wird.“
Lange vor seinem Tod hatte ihr Vater Lana Folgendes eingeschärft: Wenn sie je in Not geraten sollte und er ihr nicht helfen könnte, müsste sie nur eine Nachricht an eine bestimmte Adresse schicken. Ausgerechnet an einen Kerzenladen! Die Nachricht sollte an E L adressiert und mit dem kaiserlichen Siegel ihres Vaters versehen sein. „Er wird kommen, wenn er in St. Petersburg ist“, hatte ihr Vater versprochen.
Lana hoffte, dass ihr Vater sich wenigstens in diesem Mann nicht getäuscht hatte.
„Aber warum müssen wir denn weg?“, rief Irina. „Wir leben doch hier. Alle, die wir lieben, sind hier. Und warum verschwinden wir einfach mitten in der Nacht? Sagen wir nicht Lebewohl?“
Wie sollte sie ihrer Schwester erklären, was sie an diesem Nachmittag gehört hatte? Dass ihr Onkel sich ihr beträchtliches Vermögen unter den Nagel reißen wollte, deshalb den Unfall seines Bruders inszeniert hatte und jetzt Lana mit seinem hinterhältigen Komplizen, Baron Zakorov, verheiraten wollte. Dass er und Zakorov ihr Erbe unter sich aufteilen würden und Lana kurz nach der Heirat sterben müsse, sodass sie nicht mehr protestieren konnte. Wenn sie sich weigerte, den Baron zu heiraten, würde ihr intriganter Onkel sie auch so beseitigen – oder sich an Irina heranmachen. Lana konnte beides nicht zulassen.
Sie schüttelte energisch den Kopf. Nein, das war der einzige Ausweg.
„Weil es sein muss“, antwortete sie. „Nimm allen Schmuck und alles Wertvolle, was du findest.“
„Lana.“ Die Stimme ihrer Schwester klang erstickt. „Ich habe Angst.“
Lana eilte auf Irina zu und nahm sie in die Arme. „Ich auch.“ Lana starrte ihre Schwester an, die tapfer gegen die Tränen kämpfte, und bewunderte ihren Mut. Sie war schließlich erst vierzehn. Lana war nur vier Jahre älter, doch sie hatte mehr Zeit mit ihrer Mutter verbracht und schon ihr Debüt in der russischen Gesellschaft gehabt. Irina war viel behüteter aufgewachsen. Aber Lana wusste, dass sie ihr zumindest einen Teil der Wahrheit sagen musste. Irina war alt genug, um zu verstehen, was auf dem Spiel stand. Sie atmete tief durch und setzte ihre Schwester auf die Bettkante.
„Wir können unserem Onkel nicht mehr vertrauen. Er will uns Böses. Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie er es gesagt hat.“
Irinas Augen wurden kugelrund und Lana beeilte sich, sie zu beruhigen. „Aber du musst mir vertrauen. Glaub mir, ich bringe uns beide in Sicherheit.“
Die Tränen, die in Irinas Augen schimmerten, liefen über. „Ich glaube dir“, schluchzte sie. „Aber mir fehlt Mama.“
„Mir auch, aber du musst stark sein, Irina.“ Lana wischte ihrer Schwester mit dem Ärmel das Gesicht ab. „Ich schaffe es nicht ohne dich. Also trockne dir die Augen und pack so viel du kannst. Ein paar einfache Kleider und alles, woran du hängst.“
Sie sah, dass ihre Schwester sich zusammennahm. Irinas Finger zitterten, während sie packte, doch Lana wusste, sie konnte darauf zählen, dass ihre Schwester nicht zusammenbrechen würde. Jedenfalls nicht, bevor sie in Sicherheit waren, außer Reichweite ihres habgierigen Onkels.
Lana hatte bereits das Zimmer ihrer Mutter, das seit dem Unfall unverändert war, durchsucht und ihre Schmuckschatullen geleert. Edelsteine in allen Farben blitzten an den Ketten aus Gold und Silber. Sie hoffte, dass es reichen würde, um sie beide in Sicherheit zu bringen. Ihr Onkel verwaltete ihr Erbe und das bescheidene Taschengeld, das sie monatlich bekamen. Lana hatte nicht daran gedacht, auch nur eine einzige Kopeke zurückzulegen. Wie hätte sie sich auch auf so etwas einstellen sollen?
Lana nahm die zwei Koffer, die sie gepackt hatte. Einer enthielt etwas, das noch viel kostbarer war als Kleider und lieb gewordene Erinnerungen. Als ihr Vater noch am Leben gewesen war, hatte sie oft gesehen, dass er den kleinen Schlüssel zu seinem privaten Tresor in einer verborgenen Schreibtischschublade verstaute. Nach seinem Tod hatte sie den Schlüssel hervorgeholt und den Tresor geöffnet. Es war kein Geld darin gewesen, aber eine Menge Papiere und Dokumente, darunter viele seltsam formulierte Liebesbriefe, die ihr Onkel geschrieben hatte. Lana hatte die Papiere aus Neugier behalten, statt sie ihrem Onkel auszuhändigen – eine sehr kluge Entscheidung, wie sich im Nachhinein herausstellte. Sie hatte sich von ihrem Kummer abgelenkt, indem sie versuchte, sie zu entschlüsseln, und sich dabei ihrem verstorbenen Vater nahe gefühlt. Dann waren sie ihr wieder eingefallen, weil ihr Onkel zu Baron Zakorov gesagt hatte, dass er nach Beweisen und einem Code suchte. Die Papiere mussten wichtig sein, wenn er nach ihnen suchte. Lana hatte die Dokumente im Futter ihres Koffers versteckt und war fest entschlossen, dass sie ihrem verräterischen Onkel nie in die Hände fallen sollten. Als Letztes packte sie ein kleines Bild ihrer Familie ein, das jahrelang auf dem Nachttisch ihrer Eltern gestanden hatte.
Es war schwer, alles hinter sich zu lassen, doch es war das Klügste, was sie tun konnten. Das Sicherste.
„Fertig?“, fragte sie ihre Schwester und legte ihr einen schweren wollenen Umhang um. Sie trug selbst so einen.
„Ich glaube ja.“
Hand in Hand schlichen si die schmale Hintertreppe des Hauses hinunter, so leise wie möglich, um keinen der schlafenden Dienstboten zu wecken. Draußen eilten sie über den dunklen Rasen und nur die Mondsichel spendete ihnen etwas Licht. Am anderen Ende des Landsitzes wartete eine schlichte schwarze Kutsche. Genau darum hatte sie in der Nachricht an den namenlosen Freund ihres Vaters gebeten. Die Pferde wieherten nervös. Neben ihnen stand ein Mann in gebückter Haltung.
Lanas Herz schlug schneller. Einen Moment hatte sie wirklich Angst. Was, wenn ihr Onkel die Nachricht abgefangen hatte? Wenn dieser Hüne in seinen Diensten stand?
„Prinzessin“, sagte die schattenhafte Gestalt. „Der Earl of Langlevit heißt Sie willkommen.“
Der Earl of Langlevit? Lana kannte den Mann nicht, aber seine Initialen waren die gleichen gewesen wie die, die sie auf die Nachricht geschrieben hatte: E. o L. Er war gekommen, wie ihr Vater versprochen hatte. Ihr Schrecken ließ nach, sie nickte ihrer Schwester zu und beobachtete, wie der Mann Irina in die Kutsche half. Sie warf einen Blick über die Schulter und schaute in bittersüßem Kummer zu ihrem Zuhause zurück. Zu ihrem Geburtsrecht. Lana knirschte mit den Zähnen, als sie an ihren intriganten Onkel dachte. Eines Tages würde sie einen Weg finden, den Volkonsky-Palast zurückzubekommen und ihren Onkel für die Verbrechen vor Gericht zu bringen, die er gegen ihre Familie und vielleicht auch gegen sein Land begangen hatte. Aber vorläufig ging es ihr nur um die Sicherheit ihrer Schwester.
1. Kapitel
Ferndale, Essex, England
April 1817
Lord Graham Findlay, Viscount Northridge und Erbe des Earls of Dinsmore, ritt über Ferndales Felder, als wären Furien hinter ihm her. Die dunkelrote Mähne seines Fuchses schimmerte im Licht, und Grays Blut kochte. Nicht nur sein Lieblingspferd Pharao brauchte Auslauf, sondern auch er selbst. Gray verdankte es einzig den Ausritten am frühen Morgen, wenn der Himmel ein Meer von Farben war, dass er überhaupt durch den Tag kam.
Er verbrachte seine Nächte allein und erwachte jeden Morgen mit schmerzenden Lenden. Besonders weh tat es, wenn er in London war. Dort vergingen seine Abende beim Essen mit Freunden, Kartenspielen bei White’s oder etwas riskanteren Spielen in einer der Spielhöllen, die er früher viel zu oft besucht hatte. London hielt jede Menge Versuchungen für ihn bereit – Kleider, die mehr zur Schau stellten als verbargen, aufreizendes Lächeln, angehobene Röcke, um wohlgeformte Waden zu zeigen. Und in manchen Einrichtungen bekam man viel, viel mehr zu sehen als nur Waden.
Gray gestattete sich, die Schönheiten anzusehen, aber nicht, sie anzufassen, und deshalb war er viel lieber in Essex als in London. Hier in Ferndale war der Schmerz, mit dem er jeden Morgen aufwachte, an den er sich gewöhnt hatte und der ihm dennoch zuwider war, nicht ganz so groß. Wenn er seine Abende in aller Ruhe mit seinen Eltern und seiner Schwester verbrachte, konnte Gray die Tatsache verdrängen, dass er seit fast drei Jahren nicht mehr mit einer Frau im Bett gewesen war. Er hatte diese Entscheidung getroffen und würde dabei bleiben. Es ging um seine Ehre.
Aus einem Grund: Sofia.
Der morgendliche Ausritt hatte mehr bewirkt, als das Gefühl der Einsamkeit zu mildern. Es hatte ihn in seinem Entschluss bestärkt, sich an den Schwur zu halten – ein persönliches Gelübde, das auf einem Fehler beruhte. Gray sagte sich jeden Tag, dass er diesen Fehler nie wiederholen würde.
Er zügelte Pharao und trieb ihn auf die Allee aus Eichen und Eschen zu. Der Sonnenaufgang hatte an diesem Morgen die Farbe von Honig, aber Wolken und blauer Himmel mischten sich hinein. Gray atmete tief durch und ließ seine Gedanken in die Zukunft wandern.
Seine jüngere Schwester Briannon erwartete ihn nach dem Frühstück auf dem Dachboden über dem Dienstbotentrakt. Dort hatten sie insgeheim ihre Fechtausrüstung verstaut und da sie so hoch oben im Haus fochten, konnte ihre Mutter, die sich ein paar Etagen tiefer befand, das Klirren ihrer Klingen nicht hören und blieb ahnungslos. Lady Dinsmore hätte nie erlaubt, dass ihre Tochter sich beim Fechten verausgabte, denn es bestand immer die Gefahr, dass Brynn Anfälle von Atemnot erleiden würde.
Auch Gray war nicht begeistert von der Abenteuerlust seiner Schwester, doch er hatte schon längst begriffen, dass es keinen Sinn hatte, sie in Watte zu packen. Sie war stur wie ein Esel und viel zu intelligent, und das würde sie eines Tages in Schwierigkeiten bringen. Gray hielt es für klug, sie im Auge zu behalten, falls es mit ihr gesundheitlich bergab gehen sollte. Sein Pflichtgefühl brachte ihn dazu, Brynn das Reiten, Fechten und – gnade ihm Gott – sogar Schießen beizubringen.
Bei dem Gedanken fiel ihm wieder ein, warum er überhaupt in Ferndale war. Der Besuch war nicht geplant gewesen, doch dann hatte er erfahren, dass die Kutsche seines Vaters von dem Maskierten Räuber – dem berüchtigten Wegelagerer, der die oberen Zehntausend von London bis Essex terrorisierte – auf dem Weg zum Ball in Worthington Abbey überfallen worden war. Mehr noch, der Missetäter hatte Brynn belästigt. Gray war sofort von Bishop House in London aufgebrochen.
Er hatte erwartet, dass seine Familie völlig aufgelöst sein würde. Doch als er gestern Morgen angekommen war, galt das nur noch für eine – seine Mutter natürlich. Brynn ging es bestens, sie war nur noch etwas verwirrt. Sein Vater brummte, weil er ein paar schöne Manschettenknöpfe eingebüßt hatte, aber sonst schien ihm nichts zu fehlen.
Grays hastige Abreise aus London war also eigentlich nicht nötig gewesen, aber ein Ausflug nach Ferndale lohnte sich immer, und das nicht nur, um der endlosen Schlange schöner Frauen zu entfliehen, die ihm dabei behilflich sein wollten, sein Gelübde zu brechen. Gray freute sich auf jeden Aufenthalt in Ferndale, vor allem auf die Besuche im Nachbardorf Breckenham. Er ritt im Trab über das Feld und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Nach ein, zwei Stunden mit Brynn auf dem Dachboden würde er sich waschen und sich eine Ausrede dafür einfallen lassen, dass er nicht mit seiner Mutter Tee getrunken hatte. Die Coopers würden ihn natürlich nicht erwarten. Er war nicht dazu gekommen, ihnen eine Nachricht zu schicken. Das würde er heute tun und sich für morgen oder übermorgen anmelden. Gray verließ sich lieber nicht darauf, dass die Diener in Ferndale nicht tratschen würden, deshalb würde er die Nachricht persönlich abliefern. Diskretion war das Wichtigste.
Das hatte er den Coopers und sich selbst versprochen. Gray lächelte noch vor sich hin, als er absaß und Pharao in den Stall führte. Hatcher, einer der Stallburschen, lehnte eine Mistgabel an die Wand und eilte herbei, um die Zügel zu nehmen.
Gray klopfte seinem Pferd liebevoll den Hals und machte sich auf den Weg in die Küche. Es war kein angemessener Eintritt für den künftigen Hausherrn, doch es war ihm so am liebsten, vor allem, wenn die Köchin das Frühstück zubereitete und Gray der Magen knurrte.
Die Küchen bestanden aus einem gewaltigen Netzwerk unterirdischer Räume, doch viel mehr wusste Gray nicht darüber, wie er sich eingestand. Es war nicht sein Gebiet, doch seine Nase hatte ihn in Mrs. Braxtons Reich geführt, solange er zurückdenken konnte. Sein Geruchssinn trog ihn auch diesmal nicht. Er schlüpfte in die Hauptküche und zwei Dienstmädchen blickten auf. Sie saßen an einem langen Tisch und pellten hart gekochte Eier.
Er legte einen Finger auf die Lippen und die Mädchen unterdrückten ein Kichern. Ihre Blicke flogen zur Köchin, die mit dem Rücken zur Tür stand.
Mrs. Braxton war eine kleine magere Frau, knochig und sehnig – ganz anders als die meisten anderen Köchinnen in Herrenhäusern. Bei Mrs. Braxton war das Gesicht nicht nur rund wie eine Tomate, sondern auch was die Farbe war entsprechend.
Gray schlich sich auf Zehenspitzen an und streckte die Hand nach dem Tablett aus, auf dem sie gerade Würstchen auftürmte. Er fühlte sich wieder wie ein kleiner Junge.
„Ich weiß, dass Sie da sind, Master Gray. Gleich spieße ich Sie mit meiner Gabel auf, wenn Sie nicht … oh!“
Mrs. Braxton sprang fast bis an die Decke, als Gray ihr einen Schlag auf den Rücken gab. Es lenkte sie lange genug ab, sodass er zwei Würstchen vom Tablett stibitzen konnte. Die Dienstmädchen kicherten vergnügt, als Mrs. Braxton ihre Gabel wie ein Schwert schwang. Er brachte sich mit einem Satz in Sicherheit und hielt seine Beute hoch, ein Würstchen in jeder Hand.
„Oh, Sie Schlawiner!“, rief sie. Ihr Gesicht wurde noch röter, als es ohnehin schon war, doch sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Wenn Sie die jungen Damen in London auch so behandeln, bleiben Sie für immer Junggeselle!“
„Oder ich heirate in vierzehn Tagen“, sagte er und zwinkerte ihr zu.
Gray lachte und sauste aus der Küche, denn eine frische Kartoffel flog auf ihn zu. Die Frau des Butlers konnte gut zielen, und er legte keinen Wert auf eine Beule an der Stirn, vor allem nicht jetzt, da er die Coopers besuchen wollte.
Sein Lächeln verblasste ein wenig, als Mrs. Frommer um die Ecke kam, wie immer mit säuerlicher Miene. Die gestrenge Haushälterin konnte mit ihrem Blick alle Dienstboten in die Flucht schlagen, und auf ihn hatte sie die gleiche Wirkung. Sie neigte den Kopf und setzte ihren Weg in die Küche fort, und Gray hastete davon.
Er war schon fast oben an der Dienstbotentreppe, da ging die Tür bei der Brüstung auf. Brynns neue Zofe, Lana Volchek, eilte die Stufen hinunter und blickte erst auf, als sie die Stufe über Gray erreicht hatte. Sie sah ihn an, aber ihre Augen weiteten sich nicht so wie die der beiden Küchenmädchen. Sie schnappte nicht nach Luft und verlor auch nicht die Fassung, nur weil sie auf der Dienstbotentreppe einem Lord begegnete. Sie starrte ihn an und hob hochmütig eine ihrer dunklen Augenbrauen. Sein Lächeln fror ein, als sie ihn missbilligend musterte – was ihr ganz und gar nicht zustand.
„Ich weiß genau, was Sie hier machen“, sagte Lana leise.
Gray schaute auf die Würstchen in seinen Händen, eins war schon halb aufgegessen. Leider war er noch nicht mit dem Kauen fertig. Er schluckte hastig und leckte sich die Lippen. Hoffentlich hatten seine gierigen Bissen kein Fett an seinen Lippen hinterlassen.
„Würstchen klauen?“, sagte er.
Sie rollte mit den grünen Augen, die im Licht der einzigen Fackel an der Wand funkelten. „Sie und Lady Briannon gehen auf den Dachboden“, sagte sie. „Schon wieder.“
Gray wich zurück. Diesmal war er empört. „Haben Sie … Miss Volchek, haben Sie gerade die Augen verdreht?“, fragte er und betrat die Stufe, auf der sie stand.
Sie hob das Kinn unbeeindruckt von seiner Zurechtweisung. Brynn vergötterte ihre neue Zofe, aber Gray begriff nicht, warum. Ja, die Countess of Langlevit hatte sie wärmstens empfohlen und ihre russische Herkunft und ihr Akzent gaben ihr inmitten des sehr englischen Personals eine exotische Ausstrahlung. Aber sie äußerte sich viel zu unbefangen und Brynn setzte ihr nicht nur keine Grenzen, sondern ermunterte sie sogar. Ihre frühere Zofe Nina war mucksmäuschenstill und sehr gefügig gewesen, dazu noch unscheinbar und unattraktiv. Ganz anders als dieses Mädchen.
Ihre Augen. Die brachten ihn immer aus dem Konzept, wenn sie die Kühnheit hatte, ihn herausfordernd anzusehen. So wie jetzt. Es war ein sonderbares Grün, das Gray an die bunten Fensterscheiben in der Kapelle von Ferndale erinnerte, wenn die Sonnenstrahlen in einem bestimmten Winkel durch das smaragdgrüne Glas fielen und sie zum Leuchten brachten. Die Haarsträhnen, die unter der weißen Haube hervorschauten, waren so dunkel wie der Kakao, den seine Mutter jeden Morgen trank, und ihre Haut so blass wie die Alabasterbüsten in der Galerie im zweiten Stock.
Lana reichte Gray kaum bis zur Schulter, doch ihre stolze Haltung ließ sie viel größer wirken. Nein, dieser Zofe fehlte es nicht an Schönheit.
Gray wurde bewusst, dass er sie anstarrte. Sein Blick fiel auf ihre runden Hüften. Sein morgendliches Unbehagen kehrte zurück. Frustriert umklammerte er das Würstchen und machte ein finsteres Gesicht.
„Es hört sich an, als würden Brynn und ich auf dem Dachboden Mordpläne schmieden“, sagte er und wich Lanas Blick aus. Er fürchtete, sie würde das Begehren in seinen Augen sehen.
„Sie sollten keine Witze darüber machen. Sie wissen, wie schwer ihr das Atmen fällt. Wenn sie sich überanstrengt, könnte sie …“
„Das reicht, Miss Volchek“, unterbrach er sie. Plötzlich hatte er es eilig, von ihr wegzukommen. Gray konnte sich nicht erinnern, dass je eine Dienerin so mit ihm gesprochen hatte. Wenn die gute alte Mrs. Braxton Kartoffeln nach ihm warf, war es eine Sache, doch es war etwas ganz anderes, von dieser Zofe, die irgendwie sehr schnell Brynns Herz erobert hatte, gemaßregelt zu werden.
„Danke, aber ich kenne meine Schwester und weiß, was ich tue. Sie müssen sich keine Sorgen machen.“ Dann fiel ihm etwas anderes ein. „Ich weiß nicht, was in Moskau üblich ist, aber hierzulande gehört es sich, Angehörige des Adels mit ihrem Titel anzusprechen.“
Lana biss sich auf die Lippen und hielt eine Antwort – was für eine auch immer – zurück, doch in ihren Augen funkelte eine kaum verhohlene Missbilligung. Ihre Unverschämtheit wunderte ihn. Sie tat ja so, als hätte er sie beleidigt, dabei hatte er sie nur daran erinnert, wo ihr Platz war.
„Natürlich, Mylord Northridge“, murmelte sie und betonte seinen Titel so auffällig, dass es an Sarkasmus grenzte. Sie machte einen raschen Knicks.
Gray war so sehr darauf bedacht, sie loszuwerden – und den warmen Duft von honigsüßen Wildblumen, der sie umgab –, dass er sie nicht zurechtwies.
„Guten Tag also“, sagte er und nahm die letzten vier Stufen in zwei Schritten. Im ersten Stock angekommen, hielt er den Atem an. Es war grob von ihm gewesen, sie an ihren Platz zu erinnern, aber Himmel, das Mädchen hatte es verdient. Er wünschte nur, er wäre nicht genau in dem Moment aus der Küche gekommen – dort gehörte er schließlich auch nicht hin.
Die Würstchen in seinen Händen waren kalt geworden. Wahrscheinlich sah er damit buchstäblich wie ein Hanswurst aus. Gray ging in die Halle und steckte sie zwischen die Gitterstäbe des großen Käfigs, in dem die geliebten Papageien seiner Mutter saßen. Der Käfig stand in der Halle, denn sie fand, dass ihre Farben – grün und gelb – genau zu der himmelblauen Tapete passten.
„Wenigstens euch werden sie schmecken“, murmelte er und die beiden pickten eifrig drauflos.
Gray stieg die Treppe zu seinen Gemächern hinauf, um sich umzuziehen. Was glaubte die Zofe seiner Schwester – dass er Brynn beim Fechten strapazieren würde, bis ihr die Luft ausging? Er war nicht so gedanken- und rücksichtslos, die Gesundheit seiner Schwester aufs Spiel zu setzen. Er sorgte sich immer noch um den Zustand ihrer Lunge, dabei war es schon eine Weile her, dass sie das letzte Mal ernstlich krank gewesen war. Die Erinnerungen an Brynns Kindheit, die zahlreichen Besuche von Ärzten und die vielen Tage und Nächte, in denen das ganze Haus um sie gezittert hatte, weil ihr Leben an einem seidenen Faden hing, waren Gray im Gedächtnis geblieben.
Lana war bereits seit ein paar Monaten bei ihrer Familie und hatte sicher schon gemerkt, dass Brynn sich nicht unterkriegen ließ, nicht einmal von ihrer schwachen Gesundheit. Wieder ärgerte er sich darüber, wie unbefangen Lana ihm gegenüber gewesen war, und er war keineswegs stolz darauf, wie er auf ihre körperlichen Vorzüge reagiert hatte.
Gray fluchte – diesmal laut –, betrat sein Zimmer und schloss die Tür mit einem Tritt. Verdammt. Er lebte schon zu lange enthaltsam, wenn er so tief sank, dass er eine Dienerin beäugte. Eine nervtötende, widerspenstige und viel zu attraktive Dienerin.
Seufzend zog er sich aus. Ein kaltes Bad war angesagt.
2. Kapitel
Lana strich über die weiche fliederfarbene Seide des Abendkleides, das Lady Briannon gestern Abend getragen hatte. Der feine Stoff glitt ihr durch die Finger und eine Welle von Nostalgie überkam sie. Es fehlte ihr schmerzlich, solche Kleider zu tragen und bis zum Morgengrauen zu tanzen. Sie hatte Dutzende solcher Kleider besessen, aber sie hatte sie alle zurücklassen müssen. Es war schon fast acht Monate her, dass sie und Irina geflohen waren, um ihre Leben zu retten. Acht Monate in ständiger Angst, dass ihr Onkel sie aufspüren und zur Rückkehr zwingen würde. Doch als die Tage vergingen und weder ihr Onkel noch sein Komplize Zakorov auftauchten, atmete Lana wieder unbeschwerter. Ihr Onkel hatte keinen Grund, sie in London zu suchen oder zu ahnen, in welche Rolle sie geschlüpft war. Sie war Zofe und bekleidete eine Position, die sich weit unter ihrem wirklichen Rang befand. Lord Northridge hatte sie erst gestern überdeutlich daran erinnert. Sie lächelte vor sich hin und fragte sich, was der hochnäsige junge Lord sagen würde, wenn er ihr Geheimnis erfahren würde. Dass sie zu dem Adel gehörte, von dem er gesprochen hatte, und sogar über ihm stand. Sie hätte viel darum gegeben, zu sehen, wie sein Gesicht die Farbe des eleganten maßgeschneiderten violetten Wamses annahm, das er getragen hatte.
Aber natürlich hielt Lana den Mund. Sie konnte nicht riskieren, enttarnt zu werden, nicht einmal für eine solche Genugtuung. Lord und Lady Dinsmore hatten sie herzlich willkommen geheißen und sie und Lady Briannon hatten einander sofort gemocht. So sehr, dass Lady Briannon Lana die schrecklichen Missgeschicke verziehen hatte, die ihr in den ersten Wochen unterlaufen waren. Missgeschicke, für die jede andere Zofe sofort gefeuert worden wäre – zum Beispiel, als sie die Brennschere, mit denen sie ihrer Herrin die Haare kräuseln sollte, auf eines von Brynns Kleidern gelegt und ein Loch in den Stoff gebrannt hatte. Als Prinzessin wusste Lana natürlich, worin die Aufgaben einer Zofe bestanden, sie hatte ja selbst drei Zofen gehabt, aber die Tätigkeiten selbst auszuführen, war etwas ganz anderes. Und oft genug peinlich. Der Earl of Langlevit war über ihren Plan – eine Arbeit anzunehmen, die für eine Dame ihres Standes undenkbar war –zunächst entsetzt gewesen, doch dann hatte er widerwillig zugegeben, dass es keine schlechte Idee war, denn Zofen reicher Damen hatten meistens mehr Freiheit als andere Dienstboten.
Die Mutter des Grafen hatte mit keiner Wimper gezuckt, als ihr Sohn mitten in der Nacht mit zwei dicht verhüllten Prinzessinnen nach Hause gekommen war. Sie hatte Lana ein makelloses Empfehlungsschreiben gegeben, und aus der Prinzessin Svetlanka Volkonsky war Lana Volchek geworden, die Tochter eines angesehenen Schneiders aus Moskau, die auf mühsamen Wegen nach England gekommen war und einer vornehmen Familie dienen wollte. Irina jedoch war angesichts ihres jugendlichen Alters auf den abgelegenen Landsitz der Langlevits hoch oben im Norden von Cumbria gebracht worden und lebte dort als Mündel der Gräfin. Es war mehr, als sie beide hatten hoffen dürfen. Der Earl of Langlevit hatte sich als der gute Freund erwiesen, als den ihr Vater ihn beschrieben hatte.
Er hatte sie weggebracht, ohne zu zögern oder Fragen zu stellen. Auf dem Weg nach England hatte er Lana die Wahrheit entlockt – dass sie in Gefahr waren, weil Graf Volkonsky und Baron Zakorov sie umbringen wollten, wie sie schon ihre Eltern umgebracht hatten. Sie hatte gedacht, dass Langlevit schockiert sein würde, doch er hatte sich nur auf seinem Sitz an Deck zurückgelehnt, während das Schiff den Finnischen Meerbusen hinter sich ließ und auf die Ostsee hinausfuhr.
„Zakorov. Ja, den haben wir schon seit einer Weile im Auge“, hatte er erwidert.
Seine Gelassenheit hatte sie verblüfft. „Wir?“, wiederholte sie. „Wen meinen Sie?“
„Das darf ich Ihnen nicht sagen. Aber glauben Sie mir, es sind wichtige Leute.“
„Earls wie Sie? Angehörige der Oberschicht?“ Lana hatte sich ein bitteres Lachen verkniffen und auf die unruhige See geschaut. „Ich bin Ihnen wirklich dankbar, aber ich glaube nicht, dass ein paar englische Earls einen Rohling wie Zakorov aufhalten können. Oder meinen Onkel.“
„Hoheit, Sie sollten mittlerweile wissen, dass ich mehr bin, als es auf den ersten Blick scheint“, sagte Langlevit ruhig.
Lana hatte nicht alles herausgefunden, was sich hinter dem Titel und der vornehmen Fassade des Earls verbarg, doch sie hatte in Erfahrung gebracht, dass er mit dem britischen Kriegsministerium zu tun hatte und dass seine Reisen nach St. Petersburg und Moskau in aller Heimlichkeit stattfanden. Er hatte es nicht direkt zugegeben, doch Lana wusste, was er war. Ein Spion, wie Zakorov. Wie ihr Onkel. Aber er war ihr Freund, nicht ihr Feind, und die russische Regierung vertraute ihm. Und sie tat es auch.
Langlevit hatte Lana angeboten, ebenfalls bei seiner Mutter in Cumbria zu leben, doch das hätte wohl zu viel Aufmerksamkeit geweckt, vor allem, wenn man sie und Irina zusammen sehen würde. Sie stammten aus einer bekannten russischen Familie und konnten nicht riskieren, dass sie ein Angehöriger des Hochadels erkennen würde. Lana wollte auch gar nicht, dass sie beide es zu gut hatten. Man durfte ihren Onkel nicht unterschätzen. Langlevit war großzügig gewesen und der Verkauf ihres Schmucks hatte Geld eingebracht, doch Lana hatte sich für die Arbeit als Zofe entschieden, damit sie über das Leben der höheren Kreise auf dem Laufenden bleiben konnte. Wenn sie mit Irina in Cumbria gewesen wäre, hätte sie sich zu isoliert und verwundbar gefühlt. Von ihren Dienern in St. Petersburg wusste sie aus erster Hand, dass Dienstboten ergiebige Quellen waren. In ihrer Stellung würde sie sofort erfahren, ob und wann ihr Onkel oder einer seiner Verbündeten englischen Boden betraten, und als Lady Briannons Zofe waren ihre Pflichten mehr als erträglich. Lana schreckte nicht vor ein bisschen Arbeit zurück und sie lernte schnell. Ihre Tage bestanden aus Handarbeit, Frisieren und Mode. Für die schwierigeren Aufgaben wie Waschen und Bügeln war ihre Kollegin Mary zuständig. Dank Marys geduldigen Erklärungen wusste Lana, welche Kleider wo in die Wäsche gegeben wurden, welche gestärkt werden mussten und welche Reinigungsmittel zu stark für bestimmte Stoffe waren. Den Rest lernte sie aus Erfahrung. Außerdem konnte sie sehr gut nähen und flickte Brynns Sachen. Es war natürlich keine Stickerei, doch Lana hatte Freude daran, auch wenn sie nur einen Strumpf stopfte oder einen abgerissenen Knopf wieder annähte. Nähen hatte stets eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt. Immer, wenn sie mit Lord Northridge aneinandergeraten war, nahm sie sich eine Flickarbeit vor und stichelte wild drauflos.
Lana seufzte. Lord Northridge war der Einzige in der Familie, mit dem sie nicht gut auskam. Lana wusste nicht, warum sie sich seine Ablehnung zu Herzen nahm. Seine Stimmungsschwankungen ihr gegenüber waren nicht vorhersehbar. Manchmal war er kühl und reserviert, dann wieder sah er sie an, als könne er es kaum ertragen, die gleiche Luft einzuatmen wie sie. Doch abgesehen von Lord Northridge und seinen Launen gefiel ihr ihr neues Leben recht gut. Und sie befand sich nicht auf dem Präsentierteller der Öffentlichkeit.
Lana atmete tief durch und hängte das schöne Seidenkleid wieder in den großen Schrank. Sie ging zum Fenster in Brynns Schlafzimmer und betrachtete das leere Bett. Wahrscheinlich machte ihre Herrin wieder einmal einen frühen Ausritt, während alle anderen noch schliefen. Brynn wollte sich vor allem die Aufregung ihrer Mutter ersparen, doch Lana wusste, dass Brynn die Freiheit und das Alleinsein genoss, ohne dass man sie ständig umsorgte wie eine Glucke ihre Küken. Seit Lanas Ankunft war ihre Herrin nur einmal kurz krank gewesen, doch sie hatte von den Küchenmädchen gehört, dass es schon viel schlimmer gewesen war. Mrs. Frommer, eine Furie von einer Haushälterin, hielt nichts von Tratsch, doch nicht alle Dienstmädchen teilten ihre Auffassung. Lana hatte nur ein paar Tage gebraucht, um alles über jeden Bewohner von Ferndale zu erfahren, und dazu gehörte auch die schreckliche Lungenkrankheit, an der Lady Briannon seit ihrer Geburt litt. Deshalb wurde das Mädchen zeit seines Lebens überbehütet. Lana achtete darauf, sie nicht zu sehr zu bemuttern, und Brynn wusste es zu schätzen. Aber Lana machte sich trotzdem Sorgen. Sie verstand nicht, warum Lord Northridge seine Schwester dazu ermunterte, einen Anfall zu riskieren, noch dazu auf einem staubigen alten Dachboden. Wenn Irina eine solche Krankheit gehabt hätte, hätte Lana dafür gesorgt, dass sie glücklich, aber in Sicherheit lebte. Allerdings fand Lana auch, dass Brynn ein bisschen wie ihre Schwester war – nach außen hin liebenswert und zurückhaltend, doch tief im Innersten zäh und eigensinnig. Sie lächelte. Ihre Herrin hatte schwache Lungen, aber einen eisernen Willen. Vielleicht war das Fechten auf dem Dachboden ihre Idee gewesen und nicht die ihres Bruders?
„Wer hat Ihnen das Reiten beigebracht?“, fragte Lana eines Morgens, als Brynn von einem Ritt zurückkam, atemlos, aber mit rosigen Wangen.
„Gray“, sagte sie und zog die grässlichen Hosen und das Hemd aus, die sie beim Reiten am liebsten trug.
Immerhin waren diese Sachen leicht zu waschen und zu flicken. Und wenn Lana sie aus Versehen zu sehr stärkte oder einen Fleck nicht herausbekam, beschwerte Brynn sich nie.
„Er ist der Einzige, von dem ich etwas lerne. Wenn er nicht wäre, würde ich den ganzen Tag im Bett liegen.“
„Erstaunlich.“
Brynn sah sie aufmerksam an. Vielleicht verriet Lanas Ton, was sie von ihrem Bruder dachte.
„Gray braucht immer eine Weile, um mit neuen Leuten warm zu werden. Er zeigt es oft nicht, aber er ist gütig und weichherzig.“
Lana hätte fast die Augen verdreht. „Gütig und weichherzig“ waren die letzten Worte, mit denen sie Lord Northridge beschrieben hätte. Und er war nach acht Monaten immer noch nicht warm mit ihr geworden. Gestern auf der Treppe hatte sie ihn grob, anmaßend und arrogant gefunden. Als wäre sie ein dummes Gör, das man ausschimpfen musste. Und was sein Herz anging, so hegte sie Zweifel, dass er überhaupt eins hatte.
Lana machte das Bett und legte ihrer Herrin ein hellblaues Leinenkleid hin. Dann eilte sie in ihr Zimmer und holte ihre Umhängetasche. Brynns Vorliebe für morgendliche Ausritte kam ihr sehr gelegen. So konnte Lana den langen Weg bis zur Auffahrt von Ferndale gehen. Dort steckte sie ihre Briefe in das Loch im Stamm einer Eiche. Der Earl of Langlevit hatte einen Vertrauten beauftragt, Lanas Briefe abzuholen und nach Cumbria zu bringen. Bei seiner Rückkehr lieferte er die Briefe ab, die Irina an Lana geschrieben hatte. Es funktionierte wie ein Uhrwerk alle zwei Wochen.
Der Earl tat alles dafür, dass sie und ihre Schwester in Kontakt blieben, aber sie mussten sich oft unklar ausdrücken, falls ihre Briefe in unbefugte Hände gerieten. Trotzdem freute sich Lana, wenn sie die mädchenhafte Schrift ihrer Schwester sah, und hütete die wortkargen, aber von Herzen kommenden Briefe wie einen Schatz. Sie hoffte, dass sie sich eines Tages bei dem Earl für seine Güte revanchieren konnte. Wie immer hatte sie ihm eine kurze Nachricht, getarnt als Liebesgedicht, zukommen lassen, die sie zu dem Bündel Briefe legte.
Die goldene Morgensonne, die über Ferndale aufging, war immer noch kühl. Ferndales hügelige Landschaft erinnerte sie an die Dünen ihrer Heimat und einen Moment überkam sie ein solches Heimweh, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Bald, sagte sie sich. Sie würde einen Weg finden, um zu beweisen, dass ihr Onkel ein Verräter war, und dann würde sie mit Irina nach Hause zurückkehren.
Lana ging schnellen Schrittes die Straße entlang. Sie fühlte sich voller Kraft und wäre am liebsten ausgeritten, aber natürlich konnten sich Dienstboten keine solchen Freiheiten erlauben. In St. Petersburg hatte sie so vieles für selbstverständlich gehalten. Kleinigkeiten wie ihre Pferde und ihre Besitztümer und größere Dinge wie ihre Familie und ihre Freiheit. Das Reiten und die Bälle fehlten ihr, aber der Verlust der Letzteren war viel schlimmer. Eine große Eiche wurde auf der Spitze des letzten Hügels sichtbar, und Lana zog das Bündel Briefe aus der Tasche. Irina hatte geschrieben, dass sie Unterricht in allen möglichen Fächern bekam und dass die Gräfin sich um ihre Erziehung kümmerte, als sollte sie in die englische Gesellschaft eingeführt werden. Lana war froh, dass ihre Schwester auf diese Art beschäftigt war. Sie ging auf den Baum zu, küsste das Bündel und wollte es gerade in dem Loch ablegen, da hörte sie das Herannahen von Pferden und stopfte es wieder in ihre Tasche.
Ihr Herz machte einen Satz, als sie eine Kutsche sah, die von vier Pferden mit prächtigem Federschmuck gezogen wurde. Der Wagen hielt kurz vor ihr jäh an. Sie erkannte Lord und Lady Dinsmores Kutscher Rogers, und James, einen Diener. Sie runzelte nicht die Stirn, obwohl ihr danach war, und fragte sich, warum die Kutsche hielt. So viel sie wusste, waren Lord und Lady Dinsmore noch nicht aufgestanden. Brynn war anderweitig beschäftigt, also blieb nur noch einer übrig.
Wie der Leibhaftige kam Lord Northridge aus der dunkelblau gestrichenen Kutsche hervor. Er wartete nicht auf den Diener und sah sie finster an. Jetzt runzelte sie doch die Stirn.
Ihr sank das Herz. Warum musste sie ausgerechnet ihm begegnen?
Lana beeilte sich, eine gelassene Miene aufzusetzen. Sie wollte sich nicht von seiner schlechten Laune anstecken lassen.
„Was machen Sie hier um diese Zeit?“, fragte er.
„Ich gehe spazieren, Mylord.“
Ihre Betonung des letzten Wortes entging ihm nicht. Bei ihrem allzu strahlenden Lächeln wurden seine Augen schmal.
„Und Sie, Lord Northridge? Schnappen Sie auch frische Luft?“
Himmel, warum zog sie ihn auf? Lana wusste nur, dass es ihr eine immense Genugtuung verschaffte, seine Reaktion zu erleben.
An seiner eleganten Kleidung war zu sehen, dass er gestern Abend auf einer Feier gewesen war und sehr spät zurückkam. Seine Krawatte war gelockert und die Haare zerzaust, und sie dachte sofort, dass er eine schlaflose Nacht mit skandalösen Zeitvertreiben hinter sich hatte. Sie blinzelte und schaute beiseite.
„Nein“, stieß er hervor und starrte sie an. „Warum kümmern Sie sich nicht um Lady Briannon?“
Lana wählte ihre Worte mit Bedacht. Sie wollte ihre Herrin nicht verraten, aber wahrscheinlich wusste Lord Northridge ohnehin, was seine Schwester trieb.
„Es ist noch früh. Zurzeit braucht sie mich nicht, Mylord.“
Er verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust und lehnte sich mit dem Rücken an die Kutsche. Lana spürte seinen Blick und schließlich sah sie ihm in die Augen mit den schweren Lidern. Sie fühlte sich bei seiner Musterung unbehaglich.
„Möchten Sie mir etwas sagen, Lord Northridge?“
„Ich finde es interessant, dass Sie mir Vorwürfe machen, weil ich mit meiner Schwester auf dem Dachboden fechte – und selbst lassen Sie sie um diese Zeit ausreiten!“ Er wies auf den Himmel. „Es ist noch nicht einmal richtig hell!“
„Ich lasse sie?“, murmelte Lana. „Sie überschätzen meinen Einfluss. Ich bin Dienerin, Mylord, sonst nichts.“
„Warum sagen Sie es nicht Lady Dinsmore?“
Sie starrte ihn an und begriff, dass er sie piesacken wollte. Sie entschied sich für Ehrlichkeit. „Ich werde Lady Briannons Vertrauen nicht missbrauchen.“
Er sagte eine ganze Weile nichts, doch dann stieß er sich von der Kutsche ab und war mit zwei Schritten bei ihr.
Lana widerstand dem Wunsch, zwei Schritte zurückzuweichen. Sie umklammerte den Riemen ihrer Umhängetasche und hielt den Kopf hoch.
„Und wo wollen Sie um diese Zeit hin, Miss Volchek?“, fragte er und sah ihr prüfend ins Gesicht.
„Zur Straße und wieder zurück.“
„Wissen Sie nicht, dass auf dieser Straße ein maskierter Wegelagerer einen Überfall begangen hat?“
„Doch, natürlich weiß ich das“, erwiderte Lana. Aber sie hatte sich gar keine Gedanken darüber gemacht, dass Lord und Lady Dinsmores Kutsche vor Kurzem überfallen worden war.
Lord Northridge runzelte die Stirn. „Und trotzdem treiben Sie sich hier draußen allein herum, ohne an Ihre eigene Sicherheit zu denken? Was, wenn Sie dem Räuber begegnet wären? Als junge Frau ohne Begleitung?“
„Ich bin nicht in Gefahr, Mylord“, sagte sie heftig, obwohl sie einen Hauch Angst verspürte. Ihr Blick fiel auf die schattige Straße, die noch nicht vom Tageslicht erhellt wurde. Die Schatten wirkten jetzt noch bedrohlicher als zuvor.
„Ich sehe, Sie verstehen mich“, sagte Lord Northridge hochnäsig. „Und wenn Sie nicht gerade eine Pistole dabeihaben, sollten Sie nicht allein hier draußen herumlaufen.“ Er machte eine Kopfbewegung zu der wartenden Kutsche hin. „Steigen Sie ein. Ich bringe Sie nach Hause.“
Sein schroffer Befehlston missfiel Lana. „Ich kann sehr gut zu Fuß gehen.“
„Ich bestehe darauf.“
„Und ich bestehe darauf, zu Fuß zu gehen“, sagte sie und fügte hinzu: „Mylord.“
Seine Augen wurden schmal. „Widersetzen Sie sich mir?“
Lana ignorierte das Gewitter, das sich in seinen blauen Augen zusammenbraute. Das war wieder sein berühmtes Temperament, aber sie verstand nicht, warum er es nur ihr gegenüber nicht im Griff hatte. Sie konnte selbst auf sich aufpassen. Sie war eine Dienerin im Haushalt seiner Mutter, doch es war nicht Lord Northridges Sache, was sie in ihrer Freizeit machte – auch nicht, wenn sie riskierte, einem verrückten Räuber zu begegnen. Seine Einmischung störte sie. Sogar eine einfache Zofe hatte ein Recht auf ein Minimum an Privatsphäre.
„Natürlich nicht, Lord Northridge. Ich gehe nur lieber zu Fuß.“ Sie reckte das Kinn und rauschte an ihm vorbei – oder richtiger, sie wollte an ihm vorbeirauschen.
Zu ihrer Überraschung packte er sie am Arm und führte sie mit fester Hand zur Kutsche. Sogar durch den Mantel fühlte es sich an, als würden seine Finger ein Brandzeichen auf ihrer Haut hinterlassen.
„Lassen Sie mich sofort los!“, flüsterte sie.
Aber wohl nicht leise genug, denn der Kutscher drehte sich auf seinem Sitz um und sah sie beide ungeniert an.
„Erst wenn Sie eingestiegen sind.“ Lord Northridges Ton duldete keinen Widerspruch.
Lana fand seine Arroganz schrecklich, doch sie gab nach. Sie wusste, dass Colton – der Kutscher der Familie – diskret war, aber Lord Northridges Londoner Fahrer kannte sie nicht. Beschämt stieg sie in die Kutsche, nahm mürrisch Platz und faltete die Hände im Schoß. Auch Gray stieg ein.
„Sind Sie nun zufrieden, Mylord?“, zischte sie. „Nun, da Sie den starken Mann markiert haben?“
Unergründliche blaue Augen musterten sie. „Ja.“
Er gab dem Kutscher ein Zeichen, abzufahren, indem er an die Kutschendecke klopfte. Dann lehnte er sich entspannt zurück und schlug die Beine übereinander. Sie wartete darauf, dass er fortfuhr, doch er sagte nichts mehr. Stattdessen schloss er die Augen und lehnte den Kopf an die gepolsterte Wand, als wäre sie gar nicht da. Seine Anwesenheit war für Lana nichts Neues – aber ihn in zerknitterter Abendkleidung mit loser Krawatte und dunklen Ringen unter den Augen zu sehen, verschlug ihr den Atem. Lord Northridge war ein unglaublich viriler Mann.
Jede normale Frau, die Augen im Kopf hatte, musste es bemerken, und Lana war keine Ausnahme. Aber sie war auch kein Dummkopf. Lord Northridge sah aus wie Apollo, doch wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, machte er viel Ärger. Sie zählte stumm auf Russisch bis zehn, ihr Puls dröhnte ihr in den Ohren. In der Kutsche war mehr als genug Platz, aber dank seiner Anwesenheit wirkte sie auf einmal nur noch halb so groß. Ihr stockte der Atem beim Anblick seiner langen Beine, die sich ganz in der Nähe der ihren befanden. Ein Holpern der Kutsche und ihre Knie würden sich berühren. Die Vorstellung war einerseits erregend, doch andererseits war Lana erleichtert, dass er offenbar schlief.
Sie nutzte die Gelegenheit, ihn genau anzusehen. Sein goldenes Haar fiel ihm in Wellen in die Stirn. Er hatte dichte lange Wimpern, die bis zu seinen ausgeprägten Wangenknochen reichten, eine gerade Nase und schön geformte Lippen. Lord Northridge sah sehr gut aus, aber seine innere Schönheit konnte der äußeren nicht das Wasser reichen. Er hatte anmutige Hände mit schmalen und doch kräftigen Fingern. Sie lagen auf dem schwarzen Stoff, der sich über seinen muskulösen Schenkeln spannte. Lanas Puls ging schneller. Seine Gestalt war so dominant, dass seine Umgebung daneben schrumpfte.
„Gefällt Ihnen das, was Sie sehen?“ Er öffnete die Augen einen Spalt breit.
Sie errötete, weil sie sich ertappt fühlte. „Wie bitte?“, sagte sie hochnäsig und sah überall hin, nur nicht zu ihm. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“
„Nicht?“ Sein Blick blieb auf ihr haften. Er erforschte ihr Gesicht, wie sie es bei ihm getan hatte. Doch sie hatte es heimlich gemacht, bei ihm geschah es völlig unverhohlen. Ein schelmisches Lächeln umspielte seinen Mund. Er wusste genau, was er tat, und er wollte, dass sie es auch wusste.
Lana wurde noch röter. Sie achtete nicht auf ihn, biss sich auf die Lippen und schaute aus dem kleinen Fenster. Sie waren doch sicher bald da.
Die Fahrt schien ewig zu dauern. Vielleicht war das so, wenn der Teufel die Zeit beherrschte. Lana lachte beinahe über diesen treffenden Vergleich. Ihr Begleiter hätte Luzifer sein können – das Ebenbild eines gefallenen Engels mit seinem goldenen Haar, blauen Augen und seiner Verdorbenheit. Sie rutschte hin und her und widerstand dem Drang, aus der Kutsche zu springen. Im Wagen war es heiß und sie hätte geschworen, dass Lord Northridges Körper ihr näher war als noch vor wenigen Augenblicken. Lanas Haut fing an zu kribbeln.
Sie war schon früher von Verehrern umworben worden und hatte im Garten des Volkonsky-Palastes einige verstohlene Umarmungen erlebt. Aber noch bei keinem Mann hatte sie sich so gefühlt wie jetzt – wie ein Fuchs auf der Flucht. Ihre kurzen Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen, doch sie tat vollkommen ungerührt. Dieses Talent hatte sie von ihrer Mutter geerbt: In jeder Situation gelassen zu bleiben. Aber Himmel, dieser Mann brachte sie an ihre Grenzen.
Lana gab sich nach außen hin gefasst, doch sie war sich seiner Nähe nur allzu bewusst. Bei jedem Atemzug nahm sie den Duft seines Kölnischwassers und den Geruch von Whisky und Zigarrenrauch wahr. Sie sah den Puls an seinem Hals, hörte das Rascheln seiner Kleidung am Samt des Polsters. Sie spürte, dass sein Blick auf ihr ruhte wie Hände. Hände, die ihre Haut berührten und ihr den Umhang abstreiften. Sie auszogen. Sie wollte nicht auf das Spiel des Lustmolchs eingehen und schaute kühl zurück. Er blickte provozierend auf ihre Lippen. Er wollte sie schockieren, das war ihr klar. Doch Lana hielt stand und ließ sich nicht einschüchtern. Sie verkniff sich eine bissige Bemerkung, die ihn an seinen und ihren Platz erinnert hätte. Lord Northridge war ohnehin unberechenbar, und nach einer Nacht in der Stadt, mit Alkohol im Blut, hütete sie am besten ihre Zunge. Am Ende würde er noch vor ihr auf die Knie fallen wie ein liebeskranker Minnesänger. Nein, nicht liebeskrank. Lord Northridge würde sich nicht von so einem gewöhnlichen Gefühl wie Liebe beherrschen lassen. Wenn er eine Frau verführte, dann würde er berechnend und rücksichtslos vorgehen … und nur an sich denken. Verliebte Frauen lagen ihm zu Füßen, nicht umgekehrt.
Lord Northridge sah sie an, als könne er ihre Gedanken lesen, und sie errötete, weil er schon wieder wissend lächelte. Gott, sie wollte ihn treten. Feste!
Lana konnte nicht mehr schweigen, als die Kutsche mit einem Ruck vor dem Herrenhaus hielt.
„Gefällt Ihnen, was Sie sehen?“, fragte sie kurz angebunden.
Seine Mundwinkel zuckten belustigt über ihren verschleierten Spott. „Sehr.“
Dieses ehrliche Geständnis brachte Lana zum Verstummen. Er sah genauso überrascht aus wie sie. Als James die Kutschentür öffnete, wurde sie rot und bekam eine Gänsehaut. Sie nahm die Hand des Dieners und stieg so anmutig wie möglich aus.
„Vielleicht sollten Sie Ihre Aufmerksamkeit Leuten schenken, die mehr dafür übrig haben. Guten Tag, Lord Northridge.“
Statt am Boden zerstört zu sein, lachte er nur leise in sich hinein. Es verfolgte sie bis zur Tür. Sie wünschte den arroganten Kerl dahin, wo der Pfeffer wuchs.