1
Martinique, Ende September 1688
Ein Rauschen hob an, und im nächsten Augenblick war ich nass bis auf die Haut. Ich hielt mein Gesicht in den Regen und genoss für eine Weile das Prasseln. Dann öffnete ich die Augen und sah zu, wie das Wasser von den Palmwedeln perlte, Kreise in den Sand tupfte, einen neben den anderen und weitere darüber, bis sich Pfützen bildeten. Ich nahm Anlauf und hüpfte in eine von ihnen. Feiner, heller Schlamm spritzte meine bloßen Beine hinauf, unter meinen Rock und bis hin zu den knielangen Hosen, die ich darunter trug.
»Welch ungebührliches Benehmen, werte Dame!«
Ich stimmte in Renés Lachen ein und sprang noch einmal. Ein Schwall sandigen Wassers ergoss sich über das Hemd meines Freundes, doch vom Himmel her strömte es weiterhin so heftig, dass bald kaum noch Schmutz auf dem Stoff zu sehen war. Ein herrlicher Duft breitete sich aus, erdig, üppig, honigsüß und frisch wie eben gepflückte Blumen.
Dann war es vorbei, ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte. Nur in den Palmen raschelte und tropfte es noch, wenn die oberen Blattschichten das Wasser an die unteren abgaben. Ein Schwarm wilder Tauben stob auf, und augenblicklich erklang das geräuschvolle Gezwitscher anderer Vögel in den Baumkronen, als seien die Tiere froh, den Guss hinter sich zu haben.
Seit wir vor zwei Monaten angekommen waren, hier auf den Westindischen Inseln, konnten wir mehrmals täglich dieses Schauspiel beobachten. Der Regen kam und ging, und der warme Wind trocknete alles so schnell wieder, als sei nie etwas geschehen. Schon waren die Pfützen verschwunden, und die erbarmungslos heiße Sonne zwang uns in den Schatten des Waldrandes.
René lehnte sich an eine Palme und rutschte an ihr hinab, bis er auf dem Hosenboden saß. Sein Aufjaulen zeigte mir, dass er wieder einmal vergessen hatte, wie rau die Stämme der hiesigen Bäume waren. Ich musste lachen, während sich mein Freund den Rücken rieb.
»Du wirst dir noch dein letztes Hemd in Fetzen reißen!«
»Dann musst du es mir wohl auf der Reise nähen.«
»Ich und nähen? Ich werde anderes zu tun haben.«
»Zeichnen, ich weiß. In deinem Kopf müssen Bilder für Jahre sein. Du wirst dich niemals langweilen, auf der Reise nicht und noch weniger in Paris.«
Paris …
»Ich glaube kaum, dass ich dort malen darf, was ich möchte«, sagte ich leise. Manchmal bekam ich es bei dem Gedanken an die Zukunft mit der Angst zu tun.
»Sei unbesorgt. Es wird schon alles gut werden.«
René klopfte neben sich, und ich ließ mich fallen und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. So vertraut war mir der Schiffsjunge meines Vaters in den langen Wochen der Reise geworden, dass ich gänzlich ohne schlechtes Gewissen seine Gegenwart genießen konnte. Ihm ging es ebenso, das wusste ich sicher. Und noch etwas anderes als seine Freundlichkeit und beständig frohe Laune zog mich zu ihm hin. Es war sein Verdienst, dass ich meinen Vater kennengelernt hatte, dass ich nicht in das Haus meines ehemaligen Herrn zurückkehren musste. Das würde ich ihm nie vergessen. Eine Welle der Dankbarkeit überkam mich, wie so oft, und ich hob die Hand und fuhr René durch den wirren Schopf.
»Es ist gut, dass wir noch so weit fort sind von Europa, nicht wahr, Lianne? Wenn meine Frau Mutter uns sehen könnte, sie wäre entsetzt.«
»Worüber, über mein viel zu kurzes Kleid, die bloßen Füße oder das offene Haar?«
»Wohl eher über dein Betragen! Hüpfst wie eine Irre im Dreck herum und wirfst dich mir danach an den Hals.«
»Oh ja, ich bin sicher, sie würde mich für eine Dirne halten.«
»Und mich für …«
Ein Knacken ließ ihn verstummen, und wir sprangen beide auf, doch es war zu spät. Eine Kokosnuss, groß wie der Kopf eines Kindes, traf René an der Schulter.
»Au! Wenn das nicht meine Frau Mutter mit ihren gehässigen Gedanken war, die die Nuss vom Baum gewünscht hat!«
René verzog das pausbäckige Gesicht, und ich musste lachen.
»Mein Freund, so weit reicht die Macht Europas nun auch nicht.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, kamen wieder einmal die finsteren Erinnerungen, und ich schluckte. »Wäre es wahr, dass Gedanken allein ein Unglück auf der anderen Seite der Welt bewirken könnten, wäre ich nicht mehr am Leben.«
René streichelte meine Wange. Wie rau seine Hände durch die monatelange Arbeit an den Leinen geworden waren! Ich war nicht die Einzige, die die Reise verändert hatte …
»Vergiss diese Dinge, Schwesterchen. Es folgen dir so viele gute Wünsche aus Frankreich, dass alles Schlechte hinter ihnen verblasst.«
Ich wusste, von wem er sprach. Er tat es ohne Eifersucht, mit dem Wohlwollen des großen Bruders, der er mir in den vergangenen Monaten geworden war.
Luc.
Dachte mein Geliebter tatsächlich noch an mich? Er war so weit fort, die Ereignisse in La Rochelle so fern, und doch standen sie mir so deutlich vor Augen wie am ersten Tag. Ich hatte sie gezeichnet, all die Gesichter, all die Gebäude, all die Gefühle. Mit der Kreide, Lucs Abschiedsgeschenk, hatte ich Papier um Papier gefüllt. Der Stapel lag auf dem Tisch in meiner Kajüte an Bord der Liberté. Seine rechte untere Ecke wölbte sich bereits, so oft hatte ich die Bilder durchgeblättert. So groß war die Sehnsucht gewesen, auf der langen Seereise und in der ersten Zeit hier, als wir von Insel zu Insel gesegelt waren, heimatlos, wie ich mich schon immer gefühlt hatte. Gewiss, ich hatte unendlich viele neue Dinge gesehen, aufregende Erfahrungen gemacht, meinen Vater besser kennengelernt. Doch die Schatten meines alten Lebens hatten lange nicht weichen wollen.
Dann jedoch war ich auf der Insel Saint-Lucia einer Frau begegnet, die Bilder auf die Haut zu stechen vermochte, die nicht fortgewaschen werden konnten. Sie hatte den Widderkopf, das Brandzeichen meines früheren Herrn, unter einer schwarzen Blüte verschwinden lassen. Dies war der Augenblick gewesen, in dem die Vergangenheit den Großteil ihres Schreckens verloren hatte. Seitdem genoss ich jeden einzelnen Tag meines Abenteuers! Nur noch selten kamen die bösen Gedanken, und mit Renés Hilfe vergingen sie rasch wieder. Luc fehlte mir weiterhin, und ich sehnte den Tag herbei, an dem wir uns wiedersehen würden. Doch warum sollte ich nicht meine Freiheit auskosten, bis es so weit war? Nie wieder würde ich im kurzen Kleid, mit einer Männerhose darunter, herumspringen dürfen, wenn ich erst einmal in Paris lebte. Ich freute mich darauf, fürchtete mich jedoch gleichzeitig davor. Wie würde mein Leben dort aussehen? Konnte ich für eine Ausbildung in der Hauptstadt wirklich gut genug malen, würde ich erfolgreich werden?
»Hör auf zu träumen, Prinzessin.« René griff nach meiner Hand. »Gehen wir zurück zum Lager. Bin ich froh, wenn wir wieder an Bord sind! Drei Wochen auf dieser Insel, und ich habe keine Nacht geschlafen in der elenden Hütte. Ich brauche das Schaukeln des Meeres, sonst komme ich nicht zur Ruhe!«
»Du hast keine Nacht geschlafen, weil du darüber nachgedacht hast, wie du an meinem Vater vorbei zu den schönen Mädchen im Dorf gelangen kannst.«
»Es gibt doch keine außer dir, meine Schönste.«
»Lügner!« Ich knuffte ihn in die Seite. »Ich bin weder schön noch die Einzige.«
»Stimmt, schön bist du wirklich nicht. Viel zu dunkel ist deine Haut geworden, du könntest fast eine Einheimische sein. Was sollen bloß die edlen Herrschaften in Paris von dir denken? Hoffentlich bleichst du auf der Reise wieder aus, sonst wirst du sofort Missfallen erregen. Und dieses Haar, so lang und struppig! Und die schmutzigen Füße …«
Mit einem derselben trat ich ihm gegen das Schienbein. »Es reicht, mein Herr!«
Dann stapften wir einträchtig am Strand entlang zurück zum Lager. Ehe wir ankamen, war unsere Kleidung schon wieder trocken, nur die Haut war es nie an diesem Ort. Die Feuchtigkeit der Luft schlug sich darauf nieder, und man meinte, sie zu riechen und zu schmecken. Anfangs war mir häufig schwindlig geworden, doch inzwischen kam ich mit der Witterung zurecht. Nur nachts, das musste ich zugeben, schlief auch ich nicht gut. Verschwitzt und umschwirrt von Getier lag ich da, und mein Kopf wollte nicht zur Ruhe kommen. All die Gedanken an Luc, die Freude und die Angst, was mich in Paris erwarten würde, raubten mir den Schlaf.
»Du träumst schon wieder.«
Ich fuhr zusammen, hatte nicht bemerkt, dass sich René entfernt hatte. Jetzt hielt er eine gewaltige Meeresschildkröte dicht vor mein Gesicht. Das Tier blickte mich mit heruntergezogenen Mundwinkeln und grimmigen Schlitzaugen streng an, dann fauchte es leise. Sein fischiger Atem zog mir in die Nase.
»Nimm das Ding weg!« Ich musste lachen.
»Es ist selbst schuld, wenn es so nah an den Strand kommt. Und du auch, da du heute in Gedanken versunken bist und mich nicht beachtest. Irgendwie musste ich ja deine Aufmerksamkeit erregen.«
»Mit einer Schildkröte?«
»Es ist mir doch geglückt, oder?«
René zwinkerte mir zu und entließ das Tier in die Freiheit. Es watschelte davon, tauchte in das stille, hellblaue Meer und verschwand.
Dieses Meer … Es war so anders als jenes, das ich kannte. Die meiste Zeit des Tages lag es glatt wie ein Spiegel da, der das Blau des Himmels zurückwarf. Die Macht der Gezeiten, die das Leben in Saint-Malo und La Rochelle bestimmte, war beinahe außer Kraft gesetzt. Es gab kaum Unterschiede zwischen Ebbe und Flut, das seichte Lüftchen, das hier wehte, verursachte nur wenig Wellengang. Man erzählte sich von Stürmen, die das Meer meilenweit ins Land drückten und die Bewohner der Inseln quälten. Wir hatten glücklicherweise keinen miterleben müssen, doch gegen etwas mehr Wind hätte ich nichts einzuwenden gehabt. Ich vermisste das Klatschen der Wellen gegen Felsen und Stadtmauern, das Gefühl, wenn Böen an Haar und Kleidung zerrten, den Wechsel von Licht und Schatten, wenn sich eine Wolke vor die Sonne schob. Wie würde es mir erst in Paris ergehen, wenn mir angesichts der strahlend blauen und blendend weißen Schönheit dieser Strände bereits das Herz schwer wurde? Dort gab es gar kein Meer, nur einen schmutzigen Fluss und noch weniger frische Luft als hier.
Ach, welch törichte Gedanken machte ich mir doch! Ich würde mich schon daran gewöhnen. Am Anfang unseres Aufenthalts in dieser neuen Welt hatten mir am Morgen auch die vertrauten Geräusche gefehlt, das Möwengeschrei, das Trappeln der Kutschpferde auf dem Pflaster, die Rufe der Markthändler, die ihre Waren anpriesen. Jetzt hatte ich mich längst an die fremdartigen Klänge gewöhnt, die in der Frühe zu hören waren, und ich war sicher, ich würde sie ebenso vermissen, wenn ich wieder daheim war. Man wurde eben von anderen Dingen geweckt an diesem Ort: dem Krächzen der farbenprächtigen Papageien, dem Jaulen und Kläffen der Hunde, die frei in den Wäldern lebten, dem Grunzen der wilden Schweine, die sich unseren Behausungen nur näherten, wenn noch kein Mensch draußen war. Vermutlich ahnten sie, dass ihr Fleisch köstlich schmeckte, wenn man es auf dem Barbacoa zubereitete! Eingesalzene Stücke davon, wie auch Teile von Geflügel, ganze Fische und anderes Getier wurden dafür auf ein Holzgeflecht gelegt, unter dem ein Haufen frischer Zweige entzündet wurde. Der Rauch zog nach oben und garte das Fleisch langsam, machte es zart und schmackhaft. Ich leckte mir die Lippen bei dem Gedanken und beschleunigte meinen Schritt.
Wenn ich wieder daheim war … Daheim – wo war das? Paris würde mein neuer Wohnort sein, doch würde es zu einem wahren Heim werden? Ich hatte während der Reise festgestellt, dass mir große Menschenansammlungen noch immer Angst machten. Bevor wir vor einigen Tagen an der Ostseite Martiniques festgemacht hatten, hatte die Liberté zwei Wochen in Saint-Pierre gelegen, der Hauptstadt im Nordwesten der Insel, um Rum zu erwerben. Dort lag eine Taverne neben der anderen, Gegröle und Lärm erfüllten die Straßen. Es wimmelte von Säufern, die mit Waffen aller Art hantierten, und grell geschminkten Huren, die noch schamloser gekleidet waren als ich in diesem Augenblick. Wie ruhig war es dagegen in La Trinité, wo wir uns nun befanden. In dem winzigen Hafen gab es nur eine einzige Taverne, und über der Zuckerrohrplantage außerhalb der Stadt lag eine Ruhe, die von der Zufriedenheit einer erfolgreichen Ernte zeugte. Hier hatte Vater Fässer voller Zuckermasse erworben, die am nächsten Tag verladen werden sollten. Dann würde die Reise weitergehen, die schließlich in der Hauptstadt Frankreichs für mich enden würde.
Würde mich Paris ebenso schrecken wie die großen Häfen, die wir angelaufen hatten?
Ich konnte den Gedanken nicht weiter verfolgen, denn in diesem Augenblick kamen wir im Lager an. Das Barbacoa qualmte, köstlich duftende Schwaden zogen zu mir herüber. Wenn ich dieser Tage Hunger verspürte, so war es nicht das nagende, mit Angst und Hoffnungslosigkeit angereicherte Gefühl, das mich während meiner Zeit in den Straßen von La Rochelle stets begleitet hatte. Es war vielmehr die Aussicht auf weitere unbekannte Leckereien, von denen ich auf der Reise so viele kennengelernt hatte. Mittlerweile empfand ich großes Vergnügen am Essen, ganz anders als einst im Hause Bellier, wo jede Mahlzeit die vorige an Geschmacklosigkeit noch übertroffen hatte.
Wir traten hinüber zu den Arbeitern und Seeleuten, die um das Feuer geschart saßen. René reichte mir eine Schale, deren dampfenden, knusprigen Inhalt ich als Keule von einem Geflügel erkannte. Das zarte Fleisch war dunkel und viel schmackhafter als das der bekannten Haushühner.
»Perlhuhn«, schmatzte René, als hätte er meine Gedanken erraten. Dies kam so häufig vor, dass ich fast glaubte, er könne es tatsächlich. »Lecker.«
Der rauchige Geschmack erfüllte meinen Mund und meine Sinne, ich lutschte die Knochen ab und hielt René die Schale hin, damit er mir mehr brachte.
Mein Freund lachte und sagte: »Du wirst in kein Korsett passen, wenn du erst in Paris bist.«
Paris, immer wieder Paris … In meinen Gedanken, in seinen, in denen meines Vaters. Es leuchtete in der Ferne wie ein Stern, funkelte ebenso reizvoll wie beängstigend am Horizont meiner Träume.
Würde ich Luc dort wiedersehen?
Ich hatte ihm gleich nach unserer Abreise von Saint-Lucia geschrieben, als wir gerade einmal zehn Tage auf den Westindischen Inseln weilten. Das Päckchen mit dem Brief und einigen kleinen Geschenken hatte ich dem im Aufbruch begriffenen Kapitän eines kürzlich gebauten, vortrefflich getakelten Kauffahrers mitgegeben. Das beeindruckende Schiff sollte für die Fahrt nach La Rochelle weniger als fünf Wochen benötigen. War alles gut gegangen, hatte Luc die Nachricht Anfang September erhalten. Er musste also bereits wissen, dass meine Reise in Paris enden würde.
Hatte dies – hatte ich – noch eine Bedeutung für ihn?
Manchmal zweifelte ich einen kurzen Augenblick, dann jedoch sah ich wieder sein Gesicht vor mir, hörte im Geiste seine Worte. Und in mir breitete sich eine Wärme aus, ein Gefühl des Vertrauens, das ich eben erst zu empfinden gelernt hatte – und es gefiel mir!
Ich würde ihn wiedersehen, wo auch immer, wie auch immer, und dann würde ich die Wahrheit wissen, über die Liebe, über die Zukunft. Bis dahin musste ich daran glauben, dass alles gut werden würde.
2
Saint-Vincent, Oktober 1688
»Sing mit mir, Lianne!« René hob seinen Becher und begann:
Hey ho, Männer, hebt den Krug!
Hey ho, Männer, mit einem Zug!
Leert die Fässer, trinkt den Rum!
Singt mit mir und bleibt nicht stumm!
Hey ho, Männer, Piraten sind wir!
Hey ho, Männer, uns treibt die Gier!
Denkt nicht an morgen, die Nacht ist noch lang!
Wir vertreiben den Tod mit unserm Gesang!
Bald tönte das Lied vielstimmig über die Plantage. Die Seeleute sangen lauthals, und die Arbeiter versuchten einzustimmen, trotz der unbekannten Worte. Ich nahm einen Schluck aus meinem Becher, und der Rum rann mir brennend die Kehle hinab. Ich musste mich nicht mehr schütteln wie die ersten Male, doch noch immer fuhr mir das starke Getränk in alle Glieder und gab mir das Gefühl, zu schweben. Ich blickte in die Runde. René zwinkerte mir zu, mein Vater unterbrach sein Gespräch mit dem Vorarbeiter und lächelte mich an. Zwei Männer stießen klirrend ihre Becher aneinander, bevor sie sie in einem Zug leerten und aus dem riesigen Fass nachfüllten, das in der Mitte unseres Kreises stand. Vater hatte eines der Fässer aus Saint-Pierre geopfert, um seinen Leuten eine Freude zu machen und auf das erfolgreiche Geschäft anzustoßen.
Drei Männer begannen eine Rangelei, angefeuert von anderen, bis alle in Gelächter ausbrachen. Würfelbecher und Münzen wurden mit hämischen oder prahlerischen Bemerkungen von einem zum nächsten geschoben. Große Kinder, so schien es mir. Der letzte heitere Abend, bevor am folgenden Tag die Ladung an Bord geschleppt werden musste und die lange Reise zurück nach Europa begann. Viele Seetage mit harter Arbeit lagen vor der Mannschaft, so auch vor René, den ich schmerzlich vermissen würde, da ich ihn nur selten zu sehen bekommen würde.
Vor zwei Wochen waren wir auf Saint-Vincent angekommen, der südlichen Nachbarinsel von Saint-Lucia, die wir auf der Hinfahrt besucht hatten. Vater hatte mir erklärt, dass hier bisher keine europäischen Siedler heimisch werden konnten, da die Kariben dies stets zu verhindern wussten, wenn nötig mit Gewalt. Wie in der gesamten Gegend kamen natürlich auch auf diese Insel Europäer, pflegten Geschäfte mit der Bevölkerung, blieben Tage oder gar Wochen. Ansprüche auf Land hatte jedoch noch niemand erheben dürfen – fast niemand. Vater hatte auf einer seiner Reisen von einem Mann gehört, einem dunkelhäutigen, riesigen Kerl unklarer Herkunft, der die Inselbewohner überzeugt hatte, mit ihren wertvollen Pflanzen Gewinn zu erzielen. Er hatte diese Plantage errichtet und den einheimischen Männern Arbeit gegeben, ohne Peitsche und Zwang, dafür mit guter Bezahlung und allen Vorteilen, die seine Beziehungen mit den Siedlern auf den Nachbarinseln brachten. Mit jenem seltsamen Herrn hatte Vater die Verhandlungen geführt und ihn schließlich dazu gebracht, uns das kostbare Blauholz für eine erschwingliche Summe zu überlassen.
»Die Färbereien in der Heimat werden es uns aus den Händen reißen«, hatte Vater erklärt und mir einen Kuss auf die Wange gegeben, stolz, sich den wichtigsten, wertvollsten Teil unserer Ladung gesichert zu haben. Nun saß die ganze Mannschaft mit den Plantagenarbeitern zusammen und ließ es sich gut gehen. Es machte mir nichts aus, die einzige Frau in der Runde zu sein. Ich hatte mich in den letzten Wochen daran gewöhnt. Die Arbeiterinnen blieben abseits und warfen den Männern Blicke zu, die teils amüsiert, teils ängstlich waren. Ich fragte mich, was die Frauen zu erleiden hatten, wenn sich die Kerle ihnen nach dem Genuss von reichlichen Mengen Rum näherten …
Wieder einmal war ich froh, einen Beschützer wie meinen Vater zu haben, und auch René würde stets für mich eintreten. Neben all der Schönheit der Inselwelt hatte ich Dinge gesehen, die mich nicht losließen. Meinen eigenen Erfahrungen zum Trotz war ich von dem Ausmaß an Gewalt entsetzt gewesen, das den Knechten und Sklaven von ihren Herren zuteilwurde. Da wurde gepeitscht und geprügelt, dass einem vom Zusehen übel wurde.
Ich schüttelte mich und bat René, mir noch einmal den Becher zu füllen, atmete den scharfen, holzigen Geruch des Getränks ein und ließ einen weiteren kühlen Schluck durch meine Kehle rinnen. Lachen stieg in mir auf, und die bösen Gedanken waren vergessen. Erneut wurde ein fröhliches Lied angestimmt, und ich sang mit, so gut ich konnte. Ich stellte mir vor, Lucs Schwester Adelais wäre bei uns und würde ihre klangvolle Stimme erheben, die das Grölen und Brummen der Männer mühelos übertönt hätte. Wie sie mir fehlte! Sie war nun eine verheiratete Frau, hatte Pflichten zu erfüllen und war mit Sicherheit nicht in der Lage, mich in Paris zu besuchen. Würde ich sie je wiedersehen? Gewiss, wenn es eine Zukunft für mich und Luc gab. Wenn …
Ich leerte meinen Becher, und plötzlich überfiel mich ein heftiger Bewegungsdrang, gepaart mit Schwindel und dem Gefühl, schnellstens den Kopf freibekommen zu müssen.
»René, lass uns ein wenig laufen. So bald werden wir dazu keine Gelegenheit mehr haben, höchstens an Deck im Kreis.«
»Wenn du meinst, dass du noch laufen kannst, Prinzessin …«
Tatsächlich taumelte ich, als René mich auf die Füße zog, musste kichern und stieß meine Faust in seinen Bauch. Er krümmte sich; offenbar hatte der Rum mich meine Kräfte falsch einschätzen lassen. Er hätte mir leidtun sollen, doch ich musste nur noch mehr lachen.
»Frecher Hund!«
»Brutales kleines Mädchen!«
»Das hast du verdient!«
Ich stolperte vorwärts, bis René meinen Arm ergriff und mich stützte. Er hatte sicherlich ebenso viel getrunken wie ich, doch er verkraftete es deutlich besser, denn es gelang ihm, mich aufrecht zu halten. So gingen wir voran, ließen die abgeernteten Zuckerrohrfelder hinter uns, und ich schwor mir, nie wieder eine solche Menge zu trinken. Dennoch war meine ausgelassene, ein wenig verrückte Stimmung nicht verflogen, und ich zog René vom Weg herunter.
»Komm mit, wir gehen hier entlang.«
»Durch die Büsche? Um uns von wilden Tieren beißen zu lassen?«
»Es wird schon keine Hundemeute über uns herfallen. Los doch, ich möchte den letzten Tag in Freiheit genießen, noch Bilder in meinem Kopf sammeln, die ich auf der Reise zeichnen kann.«
»Sehr wohl, werte Dame.« Seufzend zog René die mannshohen fedrigen Farne mit beiden Armen auseinander, sodass sich ein Durchgang bildete. »Nach Euch.«
»Vielen Dank, mein Herr.«
Ich trat zwischen die Büsche, fort aus dem Sonnenlicht und hinein in die dunkelgrüne Welt, auf der Suche nach weiteren Wundern dieser Gegend, mit denen ich die noch leeren Blätter füllen konnte.
Das Gelände war nicht so unwegsam, wie ich befürchtet hatte. Palmen und andere Bäume, viele davon mit prallen, farbenfrohen Früchten behängt, schützten uns vor der Sonne. Wir kamen gut voran, mieden die dornigen Gestrüppe und achteten bei jedem Schritt darauf, unliebsame Begegnungen mit den Bewohnern des Dickichts zu vermeiden. Da huschte auch schon ein schwarzer Schatten vor meinen Füßen entlang und verschwand, bevor ich erkennen konnte, um welches Tier es sich handelte. Ein wohliger Schauder, eine Mischung aus Furcht und Neugier, überlief mich.
In einträchtigem Schweigen schritten wir voran, und ich sog die Bilder auf, die sich mir boten. Ein winziger bunter Vogel kam herbei; er schlug so schnell mit den Flügeln, dass er in der Luft stehen blieb. Er steckte seinen langen Schnabel in eine faustgroße rote Blüte, von denen unzählige an dem hohen, mit gezackten Blättern bekleideten Busch hingen. Ich hielt den Atem an. Die Schönheit des kleinen Wesens trieb mir die Tränen in die Augen. Die Luft um das Tier summte und brummte, als sei es ein Insekt. Als er gesättigt war, huschte der Vogel davon. Ich folgte ihm mit meinem Blick, bis er nicht mehr zu sehen war. Da schwebte ein großer, tiefblauer Schmetterling so dicht an mir vorbei, dass ich meinte, seine grazilen Flügelschläge im Gesicht zu spüren. Meine Kehle wurde eng. Wie lange würde ich von den Erinnerungen an diese üppige Natur zehren müssen? Ich atmete tief ein, sog den Duft in mich auf, die Süße der Blüten und die feuchte Frische der prachtvollen, tiefgrünen Pflanzenwelt. Da war er abermals, der Gedanke an Paris mit seinen Mauern aus Stein. Würde ich je wieder so frei sein wie in diesem Augenblick?
Plötzlich mischten sich fremde, unpassende Geräusche mit dem Gezwitscher der in den Bäumen hockenden Vögel. Sie störten das Rauschen des zarten Lüftchens in den oberen Schichten der Palmwedel und den Klang unserer vom weichen Boden gedämpften Schritte. Eindeutig menschlich waren diese Töne; René und ich sahen uns an, gingen zögernd weiter.
Die Geräusche wurden lauter, murmelnde Stimmen, Zischen, dann ein Schrei, der gleich darauf erstickt wurde. René packte mich am Arm, und zusammen spähten wir durch das Gestrüpp auf eine Lichtung. Schlagartig war die Wirkung des Rums verflogen, atemlos beobachtete ich das Geschehen, das sich vor meinen Augen abspielte.
Ich erspähte drei hochgewachsene, hellhäutige Männer und eine etwas kleinere Gestalt; ein Knabe vielleicht, schmal und dunkel, mit kurz geschorenem, schwarzem Haar. Die Männer zerrten an dem Geschöpf, und erst als das bunte Hemd zerriss und eine kleine, spitze Brust zum Vorschein kam, erkannte ich, dass es sich um eine Frau handelte. Sie wehrte sich nach Kräften – und Kraft hatte sie, das konnte man an den Muskeln und Sehnen erkennen, die sich unter der braunen Haut der Arme und Beine abzeichneten. Sie schlug und trat um sich, doch gegen die drei Kerle kam sie nicht an. Einer hielt ihr den Mund zu, sodass ihr Protestgeschrei gedämpft wurde und nur noch gurgelnde, wenig menschlich klingende Laute von ihr zu hören waren. Der zweite umfasste sie von hinten und presste seinen Körper gegen ihren, die Hände drängten sich zwischen ihre Schenkel. Als der dritte die entblößte Brust ergriff und mit zwei Fingern in die vorstehende Warze kniff, riss ich mich von René los.
Mit beiden Armen schob ich Zweige beiseite, trampelte Gestrüpp nieder, kümmerte mich nicht um die Kratzer und Dornen, die ich mir einfing, zwängte mich durch das Gebüsch und rannte auf die Lichtung. Ehe mir bewusst wurde, was ich tat, hing ich dem Mann am Arm und zog ihn von der Frau fort. Er ließ von ihr ab, ohne sich zu wehren, starrte mich nur verwirrt an. Die Frau jedoch erfasste die Situation sogleich und nutzte den Augenblick der Überraschung. Sie befreite ihre Arme und riss die Hand von ihrem Mund. Ihr Schrei gellte so nah an meinem Ohr, dass ich für einen Augenblick nur noch ein Pfeifen hörte.
Dann war René neben mir, schlug auf die Männer ein, und plötzlich war die Lichtung voller Menschen. Dunkle und helle Körperteile verschwammen in einem einzigen Kampfgetümmel, offenbar waren die Angehörigen des Opfers durch das Geschrei aufmerksam geworden. Ich ergriff die Hand der Frau und zog sie zur Seite. Sie zitterte, mehr vor Wut als vor Angst, wie mir schien. Ich sah ihr ins Gesicht. Noch hatte ich nicht gelernt, das Alter der unvertraut aussehenden Menschen richtig zu schätzen. Sie mochte in meinem Alter sein, vielleicht aber auch älter.
»Verstehst du meine Sprache?«
Sie starrte mich an, ihre schrägen Augen funkelten tiefschwarz. Ihre Haut war heller als die der afrikanischen Arbeiter, die man hier Sklaven nannte, ein wenig dunkler jedoch als die der einheimischen Menschen, die ich auf den anderen Inseln gesehen hatte. Ich fand sie schön, trotz der viel zu kurzen Haare, und lächelte sie an. Sie runzelte die Stirn, dann entspannten sich ihre Züge, und sie erwiderte das Lächeln zaghaft.
Die Kampflaute waren verstummt. Ein Blick hinüber zu den versammelten Männern zeigte mir, dass sich die Angreifer aus dem Staub gemacht hatten und René inmitten der Angehörigen des Stammes mit seinem Heldenmut prahlte. Eine ältere Frau in farbenprächtigem Gewand rannte auf uns zu, packte beide Hände meines Schützlings und küsste sie auf die Wange. Dann wandte sie sich an mich.
»Danke. Immer wieder Männer fassen Tochter an. Bitte helfen!« Sie war so aufgeregt, dass ich ihr gebrochenes Französisch kaum verstehen konnte. »Madame, helfen Tochter! Kann arbeiten, mitnehmen! Auf Schiff, weg von Männer. Bitte!« Tränen traten in die von Fältchen umrahmten Augen. »Haare weg, aber Männer kommen. Muss fort!«
Die Stirn der jüngeren Frau hatte sich wieder in Falten gelegt, sie zischte ihrer Mutter Worte in ihrer eigenen Sprache zu. Ich wusste nicht, wie viel sie von der Bitte verstanden hatte, aber offenbar war es genug gewesen, um darüber böse zu sein. Die Mutter jedoch brachte sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen, dann wandte sie sich abermals an mich.
»Wir nicht Sklaven, wir frei. Kann gehen mit dir, arbeiten für dich. Bitte!«
»Ich muss meinen Vater fragen.«
»Vater? Kapitän große Schiff?«
Ich nickte. René trat zu uns, und sogleich wich das Mädchen hinter ihre Mutter zurück. Das würde ja heiter werden, wenn sie mit uns an Bord kam, auf ein Schiff voller Männer … Ob der Frau klar war, was sie da vorschlug? Offenbar hatte sie eine hohe Meinung von den Geschäftspartnern des Plantagenbesitzers, anders konnte ich mir nicht erklären, dass sie ihre Tochter ausgerechnet Europäern mitgeben wollte. Ich war heilfroh, dass sie nicht von Vaters Männern angegriffen worden war. Ich kannte die Mannschaft mittlerweile gut, doch meine Hand würde ich für keinen außer René ins Feuer legen … An diesen wandte ich mich nun.
»Kannst du Vater holen? Die Dame hat ein Anliegen.«
Mein Freund zögerte, mich allein bei den fremden Menschen zu lassen, doch dann rannte er los. Die Männer des Stammes entfernten sich ebenfalls, um wieder an ihr Tagewerk zu gehen. Betreten schweigend blieben die beiden Frauen und ich stehen. Im Gesicht der Älteren zeichneten sich Sorge und Hoffnung gleichermaßen ab, die Jüngere schien noch immer erbost, ihre Mandelaugen funkelten. Ich konnte nicht erkennen, ob sie wütender auf ihre Mutter oder auf die Angreifer war. Plötzlich stand mir das Geschehen noch einmal vor Augen, in das ich mich so unbedacht eingemischt hatte, und mir brach der Schweiß aus. Wie hatte ich so dumm sein können? War ich den Übergriffen meines Herrn entkommen, um mich dann eine halbe Welt entfernt irgendwelchen Kerlen auszuliefern? Der verfluchte Rum! Ohne dessen Wirkung hätte ich mich niemals so in Gefahr begeben. Mir wurde übel vor Erleichterung, dass nichts Schlimmeres geschehen war. Und schließlich hatte ich ein gutes Werk getan, oder nicht? Dennoch drohten meine Knie nachzugeben bei dem Gedanken, was hätte passieren können … Es wurde mir immer deutlicher, warum die Kariben mit aller Macht zu verhindern versuchten, dass die Insel besiedelt wurde. Ich war nicht so töricht, zu glauben, dass es unter den Einheimischen keine schlechten Männer gab, die sich Frauen auf unrechte Weise näherten. Doch die Gefahr für dieses Mädchen schien eindeutig von den Europäern auszugehen, und sie war gewiss nicht die Einzige, der so etwas widerfahren war.
Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis mein Vater erschien, und rasch wurde man sich einig. Plötzlich hatte ich eine Dienerin. Dabei war ich erst seit wenigen Monaten selbst keine mehr! Wie seltsam das Leben spielte … Ich nahm mir fest vor, eine bessere Herrin zu sein als die Menschen, denen ich gedient hatte. Würde es mir überhaupt gelingen, ihr Anweisungen zu geben? Könnte ich es über mich bringen? Und würde sie mir Folge leisten? Ich wusste nicht, ob ihr klar war, welche Art von Stellung sie antreten sollte. Mir war ja selbst nicht bewusst, was ich mit einer Dienstmagd anfangen sollte. Ich konnte mich doch um alles allein kümmern! Und wie sie so neben mir einherschritt, zeigte ihre Haltung keine Spur von Unterwürfigkeit, vielmehr stapfte sie mit trotzig erhobenem Kopf voran.
René musste einige Meter hinter uns gehen, um die junge Frau nicht zu ängstigen, als wir sie zu ihrer Hütte begleiteten. Sie packte rasch ein paar Kleidungsstücke zusammen und zog sich ein heiles Gewand an. Währenddessen sah ich mich in der kleinen Siedlung um. Wie Sklaven wirkten die anwesenden Menschen wahrhaftig nicht. Stolz gingen sie ihren Tätigkeiten nach, und kein Herr schwang die Peitsche hinter ihnen. Die Frauen flochten Körbe oder zerstießen Getreide, Männer schleppten Fische herbei und übergaben sie anderen zur Weiterverarbeitung. Da wurde ausgenommen, eingesalzen und gebraten, und ein köstlicher Duft zog über das Dorf. Überhaupt schienen auf diesen Inseln zu jeder Tageszeit Feuer zu brennen, auf denen Speisen garten. Ich bekam schon wieder Appetit! Schnell wandte ich den Blick von den Leckereien.
Was ich dann sah, ließ mich den Atem anhalten. Zwei kräftige Männer, ihre Oberarme dick wie Baumstämme und gewiss ebenso hart, waren dabei, einer Gruppe halbwüchsiger Jungen den Umgang mit Speeren beizubringen. Ich mochte mir nicht ausmalen, ob die spitzen Waffen der Jagd oder der Kriegsführung dienten … Eines der Kinder kicherte und wurde sogleich mit einer scharfen Bemerkung zurechtgewiesen. Die Sprache dieses Volkes klang barsch in meinen Ohren.
Dann war meine neue Dienerin bereit, mit mir zu kommen. Ihre Kleider hatte sie in ein buntes Tuch geschnürt und sich dieses vor den Bauch gebunden. Von ihrer Mutter verabschiedete sie sich mit versteinertem Gesicht. Auch die Ältere verzog keine Miene, eine wie die andere offenbar zu stolz, um Gefühle zu zeigen. Doch diese Mutter wollte das Beste für ihr Kind, und ich war sicher, dass die junge Frau das wusste. Ich hätte es gespürt, wenn meine Mutter je etwas Gutes für mich gewollt hätte …
»Verstehst du mich?«, fragte ich erneut, während wir nebeneinander zum Lager schritten, René wieder in sicherem Abstand hinter uns.
»Wenig«, bekam ich zur Antwort. Sie blickte weiter stur geradeaus. Ich zupfte die Frau am Ärmel, und endlich sah sie mich an.
»Ich bin Lianne.« Ich deutete auf mich und kam mir dumm dabei vor. Dennoch zeigte ich danach auf sie.
»Wie ist dein Name?«
»Emeni.«
»Das klingt schön. Was bedeutet es?«
Sie blieb stumm, und ich erkannte, dass ich bis zu einer vernünftigen Unterhaltung viel Geduld würde aufbringen müssen. Es lag jedoch eine lange Reise vor uns, und ich war zuversichtlich, dass ich sie unsere Sprache lehren könnte. Wenn ich auf der Hinreise sogar schreiben gelernt hatte …
Als wir das Lager erreichten, blieb Emeni stocksteif stehen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie die Seeleute an, die noch immer um das Feuer saßen.
»Keine Angst, sie tun dir nichts. Das sind Freunde!«
Sie verstand das Wort, doch überzeugt war sie nicht, so viel konnte ich in dem dunklen Gesicht erkennen.
»Männer. Böse.«
Ich konnte es ihr nicht übel nehmen. Meine Hand fuhr zu der Blüte in meinem Ausschnitt, tastete wie so häufig nach der Brandnarbe. Dann verschwand der Schatten, den der Gedanke an Bellier verursacht hatte, und der strahlend blaue Himmel kam wieder zum Vorschein. Ich musste lächeln.
»Nicht alle, Emeni. Nicht alle.«
Trotzdem führte ich sie in weitem Bogen um die Männer herum und in meine Hütte. Sie blieb stehen und sah sich um, die Hände um ihr Bündel gelegt, als hielte sie ein Kind. Beschämt blickte ich die Kleider an, die sich auf meinem Bett türmten. Ich hatte es bisher nicht geschafft, meine Truhe zu packen – um ehrlich zu sein, war ich lieber mit René herumgezogen, als mich auf die Reise vorzubereiten. So jedoch hatte ich wenigstens etwas für Emeni zu tun.
Es fiel mir schwer, ihr Anweisungen zu geben. Sie verstand mich schlecht, doch das war nicht der eigentliche Grund. Vielmehr war es ihre Haltung, der gerade Rücken, die gestrafften Schultern, der stolze Blick. Sie war ein ganzes Stück größer als ich, das machte die Sache nicht einfacher. Ich räusperte mich.
»Emeni, packst du bitte meine Kleider ein?«
Ich sah Java vor mir, die schallend über meinen kläglichen Versuch, mich als Herrin aufzuspielen, gelacht hätte. Sie hätte den Auftrag an die Dienstmagd auf andere Weise kundgetan …
Das Mädchen rührte sich nicht. Ich trat zum Bett, nahm ein Kleidungsstück, faltete es sorgfältig und legte es in die offene Truhe. Dann deutete ich auf Emeni.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich bewegte, obwohl ich sehen konnte, dass sie mich längst verstanden hatte. Der Anfang war gemacht, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass die Rollen in diesem Schauspiel schon klar verteilt waren. Unschlüssig stand ich herum und beobachtete das Mädchen. Mein schlechtes Gewissen regte sich, wenngleich ich ihr keine harte Arbeit zugedacht hatte. Dennoch konnte ich nicht anders. Ich trat zu ihr und begann, ebenfalls Kleidungsstücke zusammenzulegen.
Als wir fertig waren, starrte Emeni mich an. Was sollte ich nun mit ihr anfangen? Es gab nichts mehr zu erledigen, und unterhalten wie mit einer Freundin konnte ich mich mit ihr auch nicht. Da fiel mir ein, wie ich vielleicht eine Bindung zu ihr aufbauen konnte.
Ich öffnete die kleine Holzkiste, in der sich mein größter Schatz befand, meine Farbkreiden und Papierstücke. Die fertigen Zeichnungen lagen obenauf. Ich hatte seit unserer Ankunft ebenso viele angefertigt wie auf der langen Seereise, und nun entnahm ich einige aus der Kiste und hielt sie Emeni hin. Diese runzelte die Stirn, als sie das oberste Blatt betrachtete, das Abbild eines der riesigen schuppigen Kaimane, die ich zum Glück stets nur aus der Ferne zu sehen bekommen hatte. Sein offenes Maul mit den spitzen Zähnen war jedoch gut genug zu erkennen gewesen, und genauso hatte ich es auch abgebildet. Mich überlief jedes Mal ein Schauder, wenn ich das Bild ansah. Ich hoffte, dass es dieselbe Wirkung auf andere Betrachter hatte, denn das würde bedeuten, dass es mir gelungen war. Emeni jedoch verzog keine Miene.
Ich legte die Zeichnung beiseite und zeigte ihr die nächste. Den blaugelben Papagei, der kopfüber an einem Ast hing, hatte ich aus unmittelbarer Nähe malen können. Was das Bild nicht verriet, war, dass das Tier gekreischt und mit seinem mächtigen Schnabel nach mir gehackt hatte, als ich ihm zu nah gekommen war. Vor Schreck war ich auf mein Hinterteil gefallen. Ich musste bei dem Gedanken lächeln. Emeni blickte in mein Gesicht und lächelte ebenfalls, deutete auf die Zeichnung und danach auf mich.
»Ja, das habe ich gemalt.« Ich ergriff ein leeres Blatt und ein Stück schwarze Kreide und zeigte es dem Mädchen. Ich hoffte, sie würde die unausgesprochene Frage in meiner Miene erkennen. Seit ich sie zum ersten Mal aus der Nähe gesehen hatte, wollte ich sie zeichnen.
Die hohe Stirn legte sich erneut in Falten, dann nickte Emeni. Ich jubelte innerlich, wie immer, wenn ich ein Motiv gefunden hatte, das mich reizte. Die Kreide bewegte sich wie von selbst über das Papier. Ich bemühte mich, die stolze Miene, die natürliche Schönheit der jungen Frau einzufangen und auf das Blatt zu bannen. Nachdem ich die Umrisse in Schwarz angelegt hatte, griff ich zu anderen Farben – Braun, Gelb und Grau –, um dem Gesicht Tiefe zu geben. Wie sehr sehnte ich mich danach, endlich richtig malen zu lernen, meiner Kunst noch mehr Ausdruck zu verleihen!
Es dauerte lange, bis ich zufrieden war. Dann jedoch ließ ich die Kreide sinken. Emeni nahm mir das Blatt aus der Hand, sah mich erstaunt an, betrachtete ihr Abbild erneut, und ein Lächeln brachte ihr Gesicht zum Erstrahlen. Ich seufzte glücklich, wie immer, wenn jemandem mein Werk gefiel. Und ich wünschte nichts mehr, als dass noch unzählige Malereien hinzukommen würden! Plötzlich sehnte ich mich nach Paris und nach der Zukunft, die so verheißungsvoll vor mir lag. Die Farbkreiden waren ein solcher Fortschritt gegenüber der gestohlenen Kohle aus dem Herd, doch der Gedanke an Ölfarben und Leinwände brachte meine Wangen zum Glühen.
In meine Träume versunken hatte ich nicht bemerkt, dass Emeni längst wieder die Stirn gerunzelt hatte. Ich sah es erst, als sie mich am Arm packte. Sie zeigte auf das Bild.
»Mutter«, sagte sie. Nur das eine Wort, für sich allein unverständlich, doch der Blick in ihr Gesicht erklärte es mir. Ihre Miene sprach von der Angst vor dem Vergessenwerden, von Liebe und Vermissen.
»Ich sage René, dass er ihr die Zeichnung bringen soll.«
Ich musste die Worte herauspressen, da sich mein Hals plötzlich wie zugeschnürt anfühlte. Meine Mutter war mir stets zu fremd gewesen, als dass sie mir auf eine solche Weise fehlen würde. Mein Vater jedoch würde mich bald in Paris zurücklassen, und ich war froh, dass ein Bild von mir bereits in seinem Raum auf der Liberté hing. Er sollte nur nicht vergessen, wohin – und wofür – er zurückkehren musste.
Glücklicherweise würde es noch eine Weile dauern, bis ich mich von ihm verabschieden musste. Und wenn es dann so weit war, käme ich vielleicht gar nicht dazu, ihn zu vermissen. Ich würde in Paris sein, malen, lernen! Wenn ich in einer Stadt Ablenkung finden würde, dann doch wohl in jener! Was könnte aufregender sein als ein Leben in Paris?
3
Paris, Oktober 1688
Wurden die aufregenden Orte erst zu dem, was man ihnen nachsagte, wenn man sie mit jemandem teilen konnte? Er wartete seit Wochen darauf, dass Paris ihm endlich die Wunder offenbarte, die alle Welt der Stadt andichtete. Bisher hatten sich sowohl ihre Schönheit als auch das besondere Leuchten, von dem man berichtete, vor ihm verborgen. Gewiss, sie hatten Straßenlaternen installiert, die selbst die dunkelsten Gassen bei Nacht in ein dumpfes, gelbes Licht tauchten. Doch er war sicher, dies war nicht gemeint, wenn die Menschen von dem herrlichen Glanz sprachen, der von der Stadt ausging.
Vielleicht würde alles besser, wenn erst Lianne bei ihm war. Mit ihr zusammen würde er auch den finstersten Ort zum Strahlen bringen! Bisher jedoch waren seine Tage angefüllt mit Arbeit und Einsamkeit. Er kannte keinen Menschen in dieser Stadt, seit sein Vater abgereist war. Über die geschäftlichen Kontakte hinaus sprach er mit niemandem – außer vielleicht mit der Bäckersfrau, wenn er des Morgens sein Brot erstand.
Lucien Lavie seufzte und band seine dunkelbraunen, schulterlangen Wellen zu einem ordentlichen Zopf. Er weigerte sich, eine Perücke aufzusetzen, trug aber zumindest die verhasste Kleidung, um sich von den anderen Händlern nicht zu sehr abzuheben. Der enge Kragen gab ihm das Gefühl, langsam erwürgt zu werden.
Wie war er nur in diese Lage geraten? Es hatte alles so vielversprechend begonnen. Nachdem er Anfang September Liannes Brief erhalten hatte, war es schnell gegangen. Es hatte ihn nur wenige Tage gekostet, seinen Vater zu überzeugen, eine Zweigstelle des Tuchhandels in Paris zu eröffnen. Schon eine Woche später waren sie in die Hauptstadt gereist, hatten Lager- und Geschäftsräume angemietet, und bereits Anfang Oktober hatte er sich den ersten möglichen Kunden vorgestellt. Doch auch jetzt, nach zwei Wochen, konnte er noch keinen Auftrag verzeichnen. Gewiss, sein Kontor befand sich nicht in der besten Straße der Stadt. Die Rue des Lombards teilte er sich mit italienischen Geldhändlern und allerlei verschiedenem Gewerbe, doch sie lag nah genug bei den Stoffhallen und den Räumen der anderen, länger ansässigen Tuchhändler. Wenn man wollte, fand man Drapiers Lavie problemlos, gleich um die Ecke der Kirchen Saint-Merri und Saint-Jacques, unweit der Brücken auf die Île de la Cité.
Bis jetzt wollte ihn jedoch niemand finden, obwohl er weiß Gott genügend Schneidern seine Adresse genannt hatte. In La Rochelle dauerte es nie so lange, bis sich die Kunden entschieden. War er zu ungeduldig? Sollte das Leben in Paris tatsächlich langsamer verlaufen als in der Kleinstadt?
Trotz allem war er froh, diese verlassen zu haben. Nach den Vorfällen um Lianne und ihren ehemaligen Herrn Bellier hatte er sich dort nie mehr wohlgefühlt. Er meinte, beobachtet zu werden, oft genug hatten ihn Blicke von Fremden gestreift und ein unangenehmes Kribbeln in seinem Nacken verursacht. Es war mit Sicherheit Einbildung gewesen, wahrscheinlich waren die Menschen nur neugierig. Schließlich waren die Streitigkeiten in aller Öffentlichkeit vonstattengegangen. Dennoch war er nicht traurig gewesen, der Stadt den Rücken zu kehren. Einzig seine Schwester Adelais fehlte ihm, aber er wusste sie glücklich verheiratet, und somit war alles in bester Ordnung.
Und auch hier in Paris würde alles gut werden! Er musste nur Geduld haben. Schon bald würden die Schneider des Königs – oder wenigstens die der Adligen und Bürger – an die Tür seines Kontors klopfen. Leider hatte sich der verehrte Louis XIV. just vor wenigen Tagen entschlossen, mit Zehntausenden von Soldaten in die Pfalz einzufallen, sodass bei ihm und seinem Hofstaat andere Interessen vorherrschten, als neue Kleider zu bestellen. Doch dieser Zustand würde nicht lange anhalten, hatte die freundliche Bäckerin Luc versichert, als er ihr seine Sorgen in einem Anflug von Selbstmitleid eines Morgens offenbart hatte. Erfahrungsgemäß kehrte der Hof bald zu den Freuden zurück, die ihm sein Reichtum bot. Die Dame musste es wissen, hatte sie doch die Ehre gehabt, gelegentlich Brot in den Louvre zu liefern, als der König noch dort residierte. Seit dies nicht mehr so war, ging es der Bäckerin schlechter, doch sie hatte sich ihre Fröhlichkeit in den ganzen sieben Jahren bewahrt. Wie er sie darum beneidete! Wie würde es ihm selbst in sieben Jahren ergehen, wenn er bereits nach so kurzer Zeit der Verzweiflung nahe war?
Luc seufzte erneut und griff nach der Liste mit den Adressen, die er an diesem Tag noch abklappern musste. In der kommenden Woche würde ein wichtiges Treffen aller ansässigen Tuchhändler beim Händlervogt der Stadt stattfinden. Es konnte nicht schaden, sich noch vorher bei einigen Kunden einen Namen zu machen. Außerdem wollte er im Gildenhaus vorsprechen. Sein Vater hatte den Kontakt bereits hergestellt; der Tuchhandel Lavie aus La Rochelle war bekannt genug, um den Herren dort ein Begriff zu sein. Luc selbst jedoch war bisher nicht angehört worden. Dabei war es ein wichtiger Schritt, in die Gilde aufgenommen oder zumindest von ihr unterstützt zu werden! Dann wäre es auch mit dem erniedrigenden Anpreisen seiner Ware bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorbei.
Es musste ihm gelingen, in Paris Erfolg zu haben. Genug Menschen hier trugen doch Kleidung aus feinem Tuch! Er sah sie in ihren Kutschen vorbeirumpeln, mühsam das Gleichgewicht haltend, um nicht mit den Köpfen gegen die Wände zu schlagen. All die reichen Bewohner dieser Stadt in ihren vornehmen Gefährten, die jedoch unter dem unebenen Straßenpflaster ebenso litten wie die hölzernen Karren der einfachen Gemüsehändler. So schaukelten sie dahin, von ihren edlen Pferden gezogen, zu den Festen und Vergnügungen, die ihr Leben ausmachten. Luc schnaubte bei dem Gedanken an die steife Ausdrucksweise und die herrischen Gesten dieser Menschen.
Er verstand selbst nicht, warum er die hochrangigen Einwohner von Paris so argwöhnisch ansah. Sie verhielten sich kaum anders als die Adligen in der Umgebung seiner Heimatstadt, mit denen er und sein Vater bisher Geschäfte getätigt hatten. Gewiss, im Gegensatz zu diesen hatten die Hauptstädter ihm noch keine Chance gegeben. Doch war es deswegen sein Recht, sie von oben herab zu betrachten? Wer war er, sie zu verurteilen?
Dennoch sagten ihm die Begegnungen mit der einfacheren Bevölkerung mehr zu. Er mochte die fleißigen Bäckerinnen, die schreienden Verkäufer in den Markthallen, bei denen er seinen Käse und sein Obst erwarb, all die hochnäsigen Studenten, die tagsüber ihre Bücher schleppten und hochtrabende Gespräche führten, abends jedoch zu fröhlichen Trinkgefährten wurden. Sie machten Paris zu etwas Besonderem. Und er war ein Teil davon.
Wenn nur der eine Mensch hier wäre, an dem ihm am meisten lag. Dann wäre alles zu ertragen. Gemeinsam würden sie Lutetia erobern, diesen Koloss von Stadt zu ihrem Zuhause machen. Doch bis dahin musste er allein durch die Gassen wandern, achtgeben, dass er nicht von einer der unzähligen Kutschen überrollt wurde oder den Verstand verlor, weil er sich wieder einmal im Gewirr der Häuser verirrt hatte.
Vielleicht wurde es im Sommer besser, wenn die Bäume in den Parks grün wurden, wenn der Himmel seine Farblosigkeit verlor und die Luft ihr eisiges Stechen. Im Sommer …
Er sah Lianne vor sich, wie sie mit offenem Haar im Gras lag, mit ihren wachen grauen Augen zu ihm aufsah und ihn anlächelte. Wie sehr er sie vermisste! Noch vor wenigen Monaten hatte er nicht für möglich gehalten, je für einen Menschen so zu empfinden. Und nun konnte keine andere Frau auch nur das geringste Interesse in ihm wecken. Er wollte nur sie, die Eine, die Einzige. Seine Lianne.
Lianne und der Sommer … Für sie würde er durchhalten.
Luc straffte sich, zerrte den quälenden Kragen zurecht und verließ das Kontor.