Leseprobe Die widerwillige Braut des Earls

Kapitel eins

Lady Perdita Anya Crawford hielt den Brief in den zitternden Händen und atmete langsam ein. Das Lügengebilde aus vorgetäuschtem Wohlbehagen und Unbeschwertheit, das sie ihrem Bruder und ihrer Mutter zuliebe in den letzten Tagen aufrechterhalten hatte, fiel in sich zusammen. Was war bloß aus der ausgeglichenen, fügsamen jungen Lady von gestern geworden? Sie hatte zu viel Schmerz und Enttäuschung ertragen müssen und konnte nun nicht länger in der Stadt bleiben, um an der Saison teilzunehmen. Perdie brauchte Zeit, um wieder atmen, denken, hoffen und träumen zu können.

Sie las noch einmal den Brief, den sie einem Lakaien übergeben würde, damit er ihn zu ihrem Bruder brachte – dem Duke of Hartford, einem respekteinflößenden und kompromisslosen Mann.

Liebster Bruder,

ich gehe für eine Weile fort. Such bitte nicht nach mir, denn ich bin nicht verloren gegangen. Ich habe eine unerschütterliche Entscheidung getroffen. In letzter Zeit fühle ich mich, als würde ich ersticken und bekäme keine Luft mehr. Ich brauche Zeit, um zu mir zu kommen und herauszufinden, was ich will. Ich vermute, dass du die Finger im Spiel hattest, als Lady Theo mich von dem Ort fortschickte, der wie ein zweites Zuhause für mich war. Mein Herz ist zerrissen und durch das Gespräch mit Theo begreife ich, wie wichtig es ist, mich selbst, meine Hoffnungen und Träume in Bezug auf mein Leben zu verstehen, damit ich keinen Fehler begehe, von dem ich mich nicht mehr erholen kann. Denn ich möchte nicht in einem Leben voller Reue gefangen sein.

Diese Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen. Ich habe meinen Schmuck verkauft und eine stattliche Summe dafür bekommen. Sei versichert, dass ich genügend Geld für zwei Jahre oder länger habe, wenn ich gut damit haushalte. Das bedeutet aber nicht, dass ich so lange fort sein werde. Miss Felicity und Hattie sind bei mir, deshalb bin ich nicht allein. Ich habe ein schönes Cottage gemietet und gebe mich als Witwe aus, damit ich dort auf schickliche Weise allein leben kann. Ich werde außerdem Diener anstellen. Dass ich London verlassen habe, sollte zu keinem Skandal führen, denn ich habe niemanden von meinem Plan unterrichtet. Selbst meine besten Freundinnen hier in der Stadt nicht.

Was Lord Owen betrifft, habe ich mich noch nicht entschieden, ob ich ihn heiraten werde. Bitte glaub mir, dass ich überzeugt war, ihn zu lieben, und immer noch eine unendliche Liebe für ihn empfinde. Ich kann aber nicht ignorieren, dass er meine Wünsche nicht ernst genommen hat, und ich kann mit keinem Mann leben, der so wenig Rücksicht auf meine Gefühle nimmt. Ich bitte dich inständig, die Verlobung aufzulösen, und es tut mir leid, dass ich es dir nur in einem Brief mitteilen kann. Ich befürchtete, du würdest auf einer Ehe mit dem Viscount bestehen. Und ich bedaure, dass mir der Mut fehlt, mich deinem Tadel zu stellen und mich persönlich zu erklären.

Sobald ich mich eingelebt habe, schicke ich dir und Mama einen Brief. Leider kann ich meinen Absender nicht angeben, da du sonst nach mir suchen lässt und auf meiner Rückkehr bestehst. Ich liebe dich, Bruder, und flehe dich an, mir diese Zeit zu geben, um mich selbst finden zu können.

In Liebe

Perdie

Perdies innerer Kampf war beinahe Übelkeit erregend. Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, wandte sie sich dem wartenden Lakaien zu. „Geben Sie diesen Brief dem Duke of Hartford, und zwar genau um Mitternacht“, wies Perdie ihn an und überreichte ihm außerdem einige Münzen.

„Jawohl, Mylady. Um Mitternacht.“

Von widersprüchlichen Gefühlen zerrissen, hielt Perdie kurz inne, bevor sie ihm ein weiteres Blatt Papier gab. „Falls der Duke nicht zugegen sein sollte, bringen Sie das Schreiben zu dieser Adresse.“

„Jawohl, Mylady.“

Anschließend verließ Perdie Lady Wycliffes Ball, um die nicht gekennzeichnete Kutsche aufzusuchen, die ein paar Häuser weiter auf sie wartete. Ein Kopf wurde aus dem Fenster der Kutsche gesteckt. Perdie erkannte, dass Miss Felicity sie erwartete, und ihre Angst ebbte ein wenig ab. Sogar Hattie, Perdies Zofe, hatte bereits auf dem Kutschbock Platz genommen.

Tränen liefen über Perdies Wangen, und sie wischte sie fort. Sie erinnerte sich undeutlich an das eine Mal, als sie vom Apfelbaum gefallen war. Ihr Vater hatte ihr beim Aufstehen geholfen, die aufgeschürften Knie geküsst und liebevoll gesagt: „Sei tapfer, meine liebe Perdita. Sei stets tapfer.“

Diese Worte flüsterte sie vor sich hin, während sie auf das zusteuerte, was möglicherweise der größte Fehler oder die beste Entscheidung ihres Lebens werden könnte.

Am nächsten Abend …

Selbst nachdem er auf dem Bauch durch das hohe Gras gekrochen war – ganz langsam, um die Parteien der Szene, die sich vor ihm abspielte, nicht auf sich aufmerksam zu machen – und eine günstigere Position eingenommen hatte, um besagte Szene einschätzen zu können, verstand Thaddeus Liam McPherson das Ganze nicht. Ein höchstens sechzehn Jahre altes Mädchen stand inmitten der üppigen, grünen Landschaft von Hertfordshire mit gerecktem Kinn und liebenswerter Arroganz zwei Banditen gegenüber. Das Mädchen war so klein, dass sie mit dem hübschen Kopf kaum über Thaddeus’ Schulter reichen würde.

Die beiden Männer waren kräftig gebaut und ungepflegt, vielleicht Bergleute. Sie steckten in dunkler Kleidung, die schon bessere Tage gesehen hatte, und trugen schmutzige Tücher um die untere Gesichtshälfte. Einer hielt eine Schaufel in der Hand, der andere eine Pistole. Beide schwenkten die Waffen drohend nach dem Mädchen. Vernünftigerweise entfernte sie sich langsam von ihnen, was die Schurken nicht zu bemerken schienen.

Ihr Fluchtversuch würde allerdings nicht lange unbemerkt bleiben. Thaddeus musste sie retten. Wobei die größte Schwierigkeit darin bestand, dies zu bewerkstelligen, ohne ihr dabei ein Haar zu krümmen. Sie mochte eine Fremde sein, doch er hatte sechs Schwestern, und wenn auch nur eine von ihnen in einer solch heiklen Lage stecken würde, würde er ebenfalls wollen, dass ein vorüberziehender Mann sie daraus befreite. Allerdings hoffte er, dass seine Schwestern – im Gegensatz zu diesem Mädchen – die Vernunft besäßen, Angst zu haben, wenn sowohl ihre Tugend als auch ihr Leben auf dem Spiel standen. Wenn Thaddeus die Sache richtig verstanden hatte, weigerte sich das Mädchen, ihre Wertsachen herzugeben.

„Her mit dem Geld“, knurrte einer der Männer und wedelte mit der Schippe.

„Da muss ich Sie leider enttäuschen, mein guter Herr“, erwiderte sie. Auch wenn sie vorsichtig klang, schaute sie auf berechnende Weise zwischen den Kerlen hin und her. „Alles, was ich an Geld und Schmuck bei mir trage, soll mich vor einer trostlosen Zukunft bewahren. Ich kann leider nichts davon abgeben.“

Die Männer tauschten gierige Blicke und Thaddeus fluchte leise. Die Diebe hatten ihren Reichtum nur erahnt, als sie sich genähert hatten. Und sie bestätigte völlig unbekümmert, nicht nur Geld, sondern auch Schmuck bei sich zu tragen. Nun würden sie auf keinen Fall mit leeren Händen weiterziehen. Das Mädchen war mehr als grün hinter den Ohren.

Wo steckten denn der Kutscher und die Lakaien, die die Kutsche gefahren hatten? Und die Anstandsdame der Lady? Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass sie eine Frau aus der besseren Gesellschaft war. Auch wenn sie bescheiden wirkte, trug sie elegante, teure Kleidung und sprach in dem forschen Tonfall und mit dem Akzent der Oberschicht der englischen Gesellschaft. Wenn er sich konzentrieren würde, könnte er sogar bestimmen, in welchem Jahr das hoch taillierte gelbe Kleid mit den pfirsichfarbenen Schleifen entworfen worden und von welcher Stilart die Haube war. Seine Schwestern waren immer dann belehrend, wenn er es nicht gebrauchen konnte, und er fühlte sich stets verpflichtet, ihre Gespräche aufmerksam mitzuverfolgen. Diese junge Lady stammte ganz gewiss aus der besseren Gesellschaft. Dass sie allein auf Reisen war, ergab keinen Sinn.

„Dann erschießen wir dich eben“, sagte der kleinere Mann mit den Knopfaugen, während er weiter vorrückte. Er klang unheilverkündend. Das war keine leere Drohung, sondern ein Versprechen.

Es war das erste Mal, dass er etwas gesagt hatte. Thaddeus lief es eiskalt den Rücken hinunter. Dieser Mann war der gefährlichere von den beiden, und ausgerechnet er hielt die verfluchte Waffe in der Hand.

„Ich finde, dass sie nicht nur hübsch, sondern auch mutig ist“, murmelte Lionel, ein vierzehnjähriger Bursche, der sich gerade bei Thaddeus in der Ausbildung zum Diener befand. „Seht Euch diese Unmenschen an, und sie zittert nicht mal.“

„Eher dumm als mutig“, sagte Thaddeus mit zusammengebissenen Zähnen. Die Ablenkung wäre nicht nötig gewesen. „Sie sollte Geld und Schmuck hergeben, statt ihr Leben zu verlieren.“

„Sollen wir sie retten?“

„Warum kriechen wir sonst auf dem Bauch durchs Gras? Ich passe nur den richtigen Moment ab, um angreifen zu können. Wir müssen vorsichtig vorgehen, damit sie keine Panik bekommen und das Mädchen noch verletzen.“ Thaddeus ballte die Faust. „Diesen Lumpen muss eine Lektion erteilt werden. Was fällt ihnen ein, ein junges Mädchen so zu verängstigen?“

Angst war hoffentlich das Schlimmste, was die Kerle ihr zufügen würden.

„Die sieht aber gar nicht ängstlich aus“, murmelte Lionel und wischte sich einen Käfer von der Wange.

Thaddeus ignorierte seinen Diener in Ausbildung. Zum ersten Mal, seit er sein Zuhause in Schottland verlassen hatte, wünschte er sich eine Pistole. Er hatte einen kleinen Dolch im Stiefel versteckt. Glücklicherweise verfügte er über eine ausgezeichnete Zielgenauigkeit. Er griff langsam nach der Waffe, wobei er darauf achtete, weder Gras noch Gestrüpp zum Rascheln zu bringen und so seine Position zu verraten. Lionel lag ebenso reglos da und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Mädchen. Mit dem Messer in der Hand schätzte Thaddeus den Winkel zwischen sich und dem bewaffneten Mann ab, der gerade in der eindeutigen Absicht, das Mädchen zu überwältigen, auf sie zuging. Da sie so jung war, wollte Thaddeus den Mann nicht vor ihren Augen töten, doch ihm blieb nichts anderes übrig. Den Dolch so zu werfen, dass er die Hand mit der Pistole durchbohrte, wäre zu riskant, denn dabei könnte die Waffe losgehen. Und er könnte zudem das Ziel verfehlen.

Er erhob sich langsam. Die Kerle würden sich vor Schreck für eine von zwei Möglichkeiten entscheiden, sobald sie ihn entdeckten. Entweder würden sie sich auf das Mädchen stürzen, um sie als Geisel zu nehmen, oder sie würden ihn angreifen. Wenn die Männer sie packen wollten, würde Thaddeus –

„Verdammte Scheiße!“, fluchte er, da sie plötzlich auf den Mann zusprang, der sich ihr näherte.

Aus dem Nichts erschien ein Messer. Er schrieb es dem wolkenverhangenen Himmel zu, dass er es nicht schon vorher in ihrer Hand gesehen hatte. Einen kurzen, aber anmutigen und geübten Vorstoß später schrie der Mann auf. Die Pistole fiel ihm aus der Hand und landete in einer Furche beim Wagenrad. Bevor auch nur einer der Männer die Situation überblicken konnte, hielt das Mädchen dem vormals bewaffneten Mann das Messer an die Kehle. Wenn er auch nur zu schlucken wagte, könnte ihm der Adamsapfel aufgeschlitzt werden.

Thaddeus war äußerst beeindruckt. Er blieb weiter halb in der Hocke und verfolgte gespannt das Geschehen.

„Habt Ihr das gesehen?“, stieß Lionel ehrfürchtig hervor. „Ich fasse es nicht! Habt Ihr das gesehen, Mylord?“

„Allerdings“, erwiderte Thaddeus, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

Das Mädchen reckte das Kinn. „Meine Herren, ich mag vielleicht klein sein, aber ich kann fuchsteufelswild werden. Vor allem wenn ich das beschützen will, was mir wichtig ist. Außerdem bin ich die Schwester eines Dukes. Wenn ich Sie beide töte, wird man mich für meine Tat feiern.“

Auch wenn ihre Stimme leicht zitterte, als sie das Wort töten aussprach, glaubte Thaddeus ihr. Dennoch warf ihre Behauptung mehr Fragen als Antworten auf.

Was zur Hölle hatte die Schwester eines Dukes ganz allein auf der Straße verloren? Dahinter steckte gewiss irgendetwas, bestimmt sogar etwas sehr Interessantes.

„Warum stehen Sie noch hier herum?“, sagte sie in eisigem Tonfall.

Thaddeus beobachtete amüsiert, wie die Kerle sich umdrehten und vor dem kleinen Mädchen flohen, als wäre der Teufel hinter ihnen her.

„Gebt mir meinen Bogen“, sagte sie knapp.

Die Tür der Kutsche flog auf, und eine Hand wurde herausgestreckt, in der ein schmaler, bereits gespannter Bogen und ein Pfeil lagen, den das Mädchen einlegte. Thaddeus stockte vor lauter Wut der Atem. Er war davon ausgegangen, dass sie allein war und die Lakaien vor Angst das Weite gesucht hatten. Ihr Gefolge in der Kutsche sollte sich in Grund und Boden schämen, dass sie das Kind mit diesem Schlamassel alleingelassen hatten. Zu seiner Überraschung richtete sie den Pfeil aus und spannte gelassen die Sehne. Doch sie zielte nicht auf die davonlaufenden Schurken.

Sie richtete das verfluchte Ding auf ihn.

Lionel versteifte sich und flüsterte: „Ich glaube, sie hat uns entdeckt.“

„Mein guter Herr in der rotbraunen Jacke, wollen Sie sich weiterhin verstecken?“

Rotbraun? Seine Jacke war braun. Verstecken? Thaddeus fühlte sich beleidigt und fasziniert zugleich.

„Ich glaube, sie meint Euch, Eure Lordschaft“, murmelte Lionel.

Thaddeus gab Lionel einen leichten Klaps an den Hut. „Du wirst mich in ihrer Gegenwart auf keinen Fall mit Eure Lordschaft ansprechen.“

Sein junger Diener starrte mit offenem Mund. „Warum denn nicht?“

„Arbeitest du für mich oder ich für dich?“

Lionel grinste. „Jawohl, Eure Lordschaft. Wie soll ich Euch denn sonst nennen?“

„Mister wird genügen“, murmelte Thaddeus und fragte sich erneut, warum er den kleinen Schlingel auf die Reise mitgenommen hatte. Thaddeus steckte den Dolch zurück in den Stiefel und stand auf, wobei er sich gemächlich Gras von Jacke und Hose wischte. Anschließend schlenderte er auf sie zu, nur um innezuhalten, als sie mit ruhigen Händen den Pfeil auf sein Herz richtete.

„Mein liebes Mädchen“, sagte er langsam und breitete die Arme aus. „Ich muss Euch dringend bitten, die Waffe zu senken. Ich will Euch nichts tun.“

Als sie überraschend lächelte und er sie näher betrachtete, erkannte er mit Entsetzen, dass sie doch kein junges Mädchen war. Sein Herz setzte kurz aus und zwang ihn, langsamer zu gehen. Er musterte sie unauffällig von Kopf bis Fuß. Verdammter Mist. Sie hatte ansehnliche Kurven und das gelbe Kleid schmeichelte ihrer Figur. Sogar die vom Halten des Bogens angespannten Muskeln ihrer Arme wirkten auf gefährliche Weise anziehend. Er sah schnell zu ihrem Gesicht auf, das zur Hälfte von der Haube beschattet wurde. Sie war älter, als er angenommen hatte.

Und dieser verfluchte Pfeil zeigte immer noch auf ihn. Aus der Nähe erkannte er die Angst in ihren schönen, großen graublauen Augen. Also hatte sie sich die ganze Zeit gefürchtet, besaß aber genügend Selbstvertrauen, um bewundernswert mit der Situation umzugehen. Selbst erwachsene Männer würden einknicken, wenn man sie mit einer Schaufel und einer Waffe bedrohte.

„Sie haben sich im Gebüsch versteckt“, sagte sie.

„O nein, ich habe mich nicht versteckt. Ich war … getarnt, mit dem Gras verschmolzen, während ich überlegt habe, wie ich Euch am besten aus den Klauen dieser Schurken befreien kann.“ In der Hoffnung, dass sie es erwidern würde, schenkte Thaddeus ihr ein Lächeln. „Leider habe ich zu lange gezögert, aber Ihr hattet die Sache ja auf beeindruckende Weise im Griff.“

„Ein Mann, der zusieht, wie man Euch belästigt? Das ist aber höchst verdächtig, Mylady.“ Aus der Kutsche drang eine gedämpfte weibliche Stimme, die denselben Akzent hatte. „Ein Gentleman hätte sich nicht versteckt! Er wäre beherzt eingeschritten und hätte die Rüpel zur Strecke gebracht, auch wenn er dabei sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hätte.“

Das Mädchen nickte, als würde sie diesem lächerlichen Vorschlag uneingeschränkt zustimmen.

„Niemand, der bei Trost ist, würde sich unüberlegt in eine Situation stürzen, in der das Leben einer Lady auf dem Spiel steht, ohne zuvor die Möglichkeiten abzuschätzen“, gab er trocken zurück. „Ich bin nicht davon ausgegangen, dass Ihr erschossen oder mit der Schaufel erschlagen werdet. Die wollten nur Euer Geld.“

Wahrscheinlich, weil sie eine Familie zu ernähren hatten. Nicht, dass Thaddeus mit ihren Methoden einverstanden gewesen wäre. Allein mit dem damit verbundenen Schrecken hätten die beiden eine ältere, weniger zähe Frau ins Grab bringen können.

Sie musterte und begutachtete ihn gründlich. Er war ein großer, schlanker Mann und modisch gekleidet. Thaddeus war recht muskulös, was auf den schottischen Inseln im Norden geschätzt wurde, doch hier in der Nähe von London als gewöhnlich galt. Ihr Blick blieb an seinen breiten Schultern hängen, bevor sie ihm in die Augen schaute. Thaddeus erkannte den Moment, in dem sie ihn als Bedrohung einschätzte. Verdammter Mist! Thaddeus machte einen Ausfallschritt in ihre Richtung, wobei er nach rechts auswich und im letzten Moment dem losgelassenen Pfeil entging.

Dieses kleine Biest hätte ihn glatt erschossen! Er sammelte in Gedanken sämtliche Kräfte, bevor er sie mit einer Hand am Ellbogen packte, während er mit der anderen geschickt den Bogen aus ihrem Griff entwand. Zu seinem Erstaunen vollführte sie eine flinke und routinierte Drehung, mit der sie mühelos seine Hand lockerte, bevor sie ihm ein Bein stellte und ihn zu Fall brachte.

Thaddeus’ Faszination stieg rasch um ein Vielfaches an, während er kichernd zu Boden ging und sie mit sich riss. Die Haube – passend zum Kleid in Gelb gehalten – fiel ihr vom Kopf, und eine Masse aus wunderschönem Haar löste sich aus dem Knoten. Große graublaue Augen trafen auf seine und raubten ihm den Atem. Bei Gott, sie war nicht nur so mutig wie zehn Männer zusammen, sondern auch noch von bemerkenswerter Schönheit. Was für ein Prachtstück, sie war einfach perfekt. Er landete unsanft auf der Erde, und sie fiel mit einem Schreckensschrei auf ihn, wobei sich ihre zarten Brüste in seinen Bauch pressten. Als instinktive Reaktion auf die üppige Weichheit ihres an ihn gepressten Körpers packte er reflexartig ihre Hüfte, und der subtile, aber erregende Duft ihrer Haut ergriff Besitz von seinen Sinnen.

Etwas Kaltes strich über die Unterseite seines Kiefers.

„Ach, lass, heirate mich“, sagte er spöttelnd, nachdem er bemerkt hatte, dass die Klinge an seiner Kehle lag. „Ich will keine andere mehr.“

Sie keuchte mit aufgerissenen Augen. „Sie sind ein Rüpel! Nehmen Sie sofort Ihre Hände von mir!“

Er hatte völlig vergessen, auf welch innige Weise er sie hielt. Thaddeus ließ sie mit einem unterdrückten Fluch los und streckte die Arme von sich, um zu beweisen, dass er unschuldig war.

Mit einem Schnauben richtete sie sich ein wenig auf, steckte den Dolch aber nicht in die Scheide zurück.

„Um Himmels willen, vergesst bloß nicht, dass Ihr mir ein Messer an die Kehle haltet.“ Er versuchte, besänftigend zu klingen, befürchtete aber, seine Anspannung preiszugeben. „Und Euer Knie ist viel zu dicht an meinen … äh, viel zu dicht …“

Die Kutsche schaukelte plötzlich und schnitt ihm das Wort ab. Nicht, dass er gewusst hätte, wie er den Satz hätte beenden sollen. Die Tür flog schwungvoll auf, dann sprangen zwei weitere Frauen heraus. Obwohl beide nicht besonders groß waren, spürte er die von ihrer Landung ausgelöste Erschütterung in den Schultern. Das zweiköpfige Pferdegespann wurde nervös. Ein Pferd stieg auf die Hinterbeine, wobei es das Geschirr ruckartig fester um das andere zurrte, das wieherte und auf der Stelle tänzelte. Eine der Frauen war schlicht gekleidet wie eine Dienerin, mit einem dunklen Mantel und einer einfachen Haube. Die Dienerin eilte zum Pferd, schnappte es am Zaumzeug, zog es herunter und streichelte ihm beruhigend den Kopf.

„Perdie“, sagte die andere Frau keuchend, als sie sah, auf welch skandalöse Weise sie aufeinanderlagen. „Das ist weit mehr als unschicklich! Steh sofort auf.“

Die aufgeregte, ebenfalls junge Frau huschte mit entsetzter Miene zu ihnen herüber. Während sie Lady Perdie unter großen Mühen auf die Füße half, rührte sich Thaddeus nicht. Sie hielt immer noch den verfluchten Dolch in der Hand.

Perdie. Ein schöner Name für ein schönes Mädchen.

„Es geht mir gut, Felicity“, sagte Lady Perdie. Völlig gefasst steckte sie den Dolch in den Stiefel, bevor sie sich das Gras vom Kleid wischte. „Das war nur ein kleines Missgeschick. Gewiss handelt es sich um ein Missverständnis, denn ein Gentleman würde nicht versuchen, mich anzugreifen.“

Eine Lady hätte mich nicht mit einem Pfeil durchbohrt. Er stützte sich auf die Ellbogen und betrachtete sie noch einmal. Vielleicht hätte diese Lady ihn doch erschossen. Sie achtete nicht auf ihn, während sie die staubige Straße überquerte, um zu ihrer Haube zu gehen, und dabei ununterbrochen redete.

„Wie auch immer, der Herr hat gewiss erkannt, dass die Gefahr vorüber ist. Wir müssen uns beeilen und uns schnell auf den Weg machen. Es wird kälter und regnet sicher bald.“

Doch sie griff nicht nach der Haube, sondern nach der Pistole, die noch in der Furche lag.

Verdammter Mist.

Thaddeus stand ganz langsam auf, als würde ihn das davon abhalten, ohne große Umschweife erschossen zu werden. Ihre Begleiterinnen rückten dicht an sie heran, während sie die Waffe nahm und sich aufrichtete.

Drei Damen allein auf Reisen. Und sie waren alle unglaublich jung, keine war älter als zwanzig oder einundzwanzig, schätzte er. Welcher idiotische Duke erlaubte solchen Kostbarkeiten, so eine gefährliche Reise zu unternehmen, ohne mindestens drei bewaffnete Lakaien zu ihrem Schutz mitzuschicken? Das nächste anständige Gasthaus lag vermutlich fünfundzwanzig Meilen in jede Richtung entfernt. Wenn man den Zustand der Straße in Betracht zog, bedeutete das weitere drei oder vier Stunden Fahrt mit der Kutsche.

„Darf ich mich nach Eurem Kutscher erkundigen, Ladys?“, fragte er leicht erstaunt. „Ihr reist doch unmöglich allein.“

„Das geht Sie nichts an“, sagte Lady Perdie knapp, wobei ihre Wangen leicht erröteten.

Sie war atemberaubend mit den rosigen Wangen und dem zerzausten Haar. Allerdings hatte sie eine Pistole in der Hand, mit der sie höchstwahrscheinlich nicht umgehen konnte. Er trat nicht näher, streckte aber die Arme mit den Handflächen nach oben aus.

„Ich denke schon, dass mich das etwas angeht. Wenn Ihr niemanden habt, der sich um die Waffe kümmert, nehme ich sie.“

Lady Perdie schnaubte und reckte das Kinn auf eine Weise, wie es ihm durch die jüngsten Ereignisse vertraut war. Sie würde ihm eher eins über den Schädel ziehen, als ihm die Waffe zu überlassen. „Danke für Ihre Sorge, aber wir haben jemanden, der sich um die Waffe kümmert. Nämlich mich.“

Da die Pistole neben seinem Fuß auf den Boden zielte, war das wohl ein ungeeigneter Zeitpunkt, um zu streiten. Es war auch nicht der günstigste Zeitpunkt für Lionel, um wie ein panisches Rindvieh hinter dem Gebüsch hervorzustapfen. Die Hand der Lady zuckte, wodurch sich die Pistole auf seinen Oberschenkel richtete.

Er räusperte sich. „Verzeiht die Frage, junge Dame, aber wisst Ihr überhaupt, wie man schießt?“

Lionel näherte sich hektisch. Dem Jungen stieg vor Wut die Röte ins Gesicht, da die Frauen sich erst zu ihm umdrehten und ihm dann direkt unbekümmert wieder den Rücken zuwandten. Gerade sie sollten wissen, dass man eine Bedrohung nicht an der Statur oder Erscheinung erkennen konnte; Lady Perdie hatte doch soeben selbst bewiesen, wie sehr das Aussehen täuschen konnte.

„Rein zufällig weiß ich das.“

Das könnte sogar der Wahrheit entsprechen. Für den Fall, dass sie es vorgaukelte, sagte er: „Dann wisst Ihr ja, dass eine unsachgemäß verwahrte Waffe gefährlich ist. Wenn die Kutsche auch nur das kleinste Schlagloch erwischt, könnte sie losgehen.“ Er nickte in Richtung der Pistole und streckte noch einmal die Hand aus. „Wenn Ihr mir die Waffe gebt, entferne ich die Kugel.“

„Das mache ich selbst.“

In der Ferne rumpelte Donner. Ein Netz aus dunklen Wolken verdeckte das karge Sonnenlicht.

Verflixt und zugenäht. Bis zum nächsten Gasthaus waren sie mindestens drei Stunden unterwegs, und die verfluchten Strauchdiebe könnten unterwegs mit Verstärkung lauern. Und er stritt sich darum, wer die Waffe nehmen sollte.

Er kämpfte gegen den Drang an, sich die Schläfe zu reiben.

Lady Perdie wirbelte herum und betrachtete mit zusammengekniffenem Mund den Himmel. „Wenn Sie uns bitte entschuldigen. Wir müssen uns jetzt wirklich auf den Weg machen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, scheuchte sie ihre Begleiterin namens Felicity zur offenen Tür der Kutsche.

Er staunte nicht schlecht, als die Dienerin auf den Kutschbock kletterte und die Peitsche in die Hand nahm.

„Eure Dienerin lenkt die Kutsche?“

Lady Perdie hob auf hochmütige Weise eine Augenbraue. „So ist es. Sie hat ein Händchen dafür. Wenn mir der Sinn danach steht, kann ich ebenfalls fahren.“

„Ihr drei Frauen reist tatsächlich ohne Begleitung“, sagte Thaddeus und rieb sich das Gesicht. Er hätte sich aus der Sache heraushalten sollen. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Reisepläne zu ändern. Die Landstraßen stellten schon eine Gefahr für einen allein reisenden Mann dar, für eine Lady konnten sie der reinste Albtraum werden. Was hatte sich das Mädchen bloß dabei gedacht? In welcher aussichtslosen Lage könnte sie stecken?

„Meine Ehre verbietet es mir, Euch ohne Geleit ziehen zu lassen.“

Sie verzog den üppigen Mund zu einem leicht spöttischen Lächeln. „Nur weil wir Frauen sind, sollten Sie uns nicht für Schwächlinge halten, mein guter Herr.“

„Ich wollte Euch nicht beleidigen, Mylady.“ Er verbeugte sich. „Ich bin Thaddeus und das ist mein Diener Lionel. Es wäre mir eine Ehre, Euch zu Eurem Ziel begleiten zu dürfen. Vor Euch liegen einsame Straßen, die sich bereits als riskant erwiesen haben.“

In ihren Augen funkelte ein undefinierbarer Ausdruck. „Wenn Ihnen drei Gentlemen in einer Kutsche begegnen würden, würden Sie ihnen vermutlich dieselbe Hilfe anbieten?“

Thaddeus zögerte. „Nein, würde ich nicht.“ Sie musste doch verstehen, dass es sich hier um etwas völlig anderes handelte.

Sie warf einen Blick auf die Kutsche, wo die andere junge Dame aus dem Fenster spähte und den Kopf schüttelte, als wolle sie das Mädchen davor warnen, sein Angebot anzunehmen.

Lady Perdie wandte sich ihm wieder zu. „Vielen Dank für Ihr Angebot, aber wir benötigen keine Hilfe. Wir werden uns auf den Weg machen.“ Sprach’s und wirbelte herum, um in die Kutsche einzusteigen. Sie hob die Beine und unter dem Kleid lugten Hirschlederhosen hervor.

Die Tür wurde mit Nachdruck geschlossen. Die Dienerin knallte leicht mit der Peitsche und schnalzte mit der Zunge, um die Pferde in Bewegung zu setzen. Thaddeus trat beiseite, um nicht über den Haufen gefahren zu werden. Die geschlossene schwarze Kutsche trug kein Wappen, das auf die Familie oder den Besitzer hinwies. Es gab keine Lakaien in Livree. Nicht einmal ein im Wind flatterndes Taschentuch mit Monogramm. Lady Perdie und ihr Gefolge wollten offensichtlich anonym bleiben. Während das Gefährt die ausgefahrene Straße entlangrumpelte und in der Ferne langsam kleiner wurde, rang Thaddeus mit seinem Gewissen. Alles in ihm wollte auf dem Absatz kehrtmachen, um seinen Hengst zu holen, den er eine Viertelmeile entfernt zum Trinken an einem Bach zurückgelassen hatte.

„Geht es weiter nach London, Eure Lordschaft?“, fragte Lionel, obwohl er ebenfalls dem Wagen nachblickte, der schaukelnd über die zerfurchte und unebene Landstraße holperte.

In dem Moment traf Thaddeus eine Entscheidung. „Nein. Wir folgen den Frauen unauffällig in einigem Abstand, um unsere Hilfe anzubieten, wenn es nötig sein sollte.“ Er wandte sich ungeduldig ab. Er war ein verdammter Irrer. Eigentlich hatte er in London zu tun, wo ein Anwalt und seine angeheiratete Tante ungeduldig auf seine längst überfällige Ankunft warteten.

Diese Lady Perdie benötigte eindeutig keine Hilfe, doch beim Gedanken an die bewaffneten Schurken überkam ihn ein ungutes Gefühl.

„Ihr werdet keine passende Kleidung dabeihaben, Eure Lordschaft.“ Lionel hielt mühelos Schritt, als sie zu den Pferden eilten. „Die Kutsche mit all Eurem Gepäck hat ein paar Stunden Vorsprung und ist bereits auf dem Weg nach London.“

Das stellte tatsächlich eine Unannehmlichkeit dar. Doch Thaddeus war klar, dass ihn das Fehlen von ordentlicher Kleidung nicht davon abhalten würde, das Richtige zu tun. Sonst könnte er nicht ruhig schlafen.

Schließlich hatte er sechs Schwestern. Wenn er jemals so dämlich sein sollte, sie ohne angemessenen Schutz auf Reisen zu schicken, dann wäre hoffentlich ein ehrenhafter Gentleman in der Nähe, der genau das tat, was er jetzt vorhatte.

„Sobald wir das Gasthaus erreicht haben, kaufst du gewöhnliche Kleidung“, sagte Thaddeus. „Ein Paar Hosen, Leinenhemden und Unterwäsche werden genügen.“ Er erhöhte das Tempo und ignorierte das leise Ächzen und Klagen des jungen Dieners.

Bei den Pferden angekommen, fragte Lionel: „Wann kümmern wir uns wieder um unsere Geschäfte?“

Als wäre er derjenige, der eine Grafschaft und die damit verbundenen zahlreichen neuen Aufgaben und Verantwortlichkeiten geerbt hätte.

Wie lange würde Lady Perdie Thaddeus wohl von seinen Pflichten abhalten? Darauf hatte er leider keine Antwort. Ebenso wenig wusste er, ob er ihr wirklich seinen Beistand aufdrängen sollte, da sie ihn so vehement ablehnte.

„So bald wie möglich“, sagte er und zurrte den Gurt am Hengst fest, bevor er aufstieg. Sein Pferd Thunder löste sich nur ungern von dem üppigen, dichten Gras beim Bach. Thaddeus führte ihn jedoch mit fester Hand und richtete seine Nase in Richtung Straße.

Vielleicht würden die Frauen ja jemanden im Gasthaus treffen, dann könnte er mit der Gewissheit, dass es ihnen gut ging, umkehren. Derart beschwichtigt grub er die Fersen in Thunders Flanken.

Lionel stöhnte, stieg hastig aufs Pferd und folgte Thaddeus. „Ja, Eure Lordschaft“, sagte er knapp unter großen Mühen.

Wenigstens würde Thaddeus von dieser Seite keinen weiteren Widerstand erhalten. Wenn die Frauen doch nur weniger Ärger verursachen würden. Davon auszugehen, war allerdings zu optimistisch gedacht.

Kapitel zwei

Lady Perdita schob die Vorhänge zur Seite und warf einen Blick aus der Kutsche. Ihr Herz hatte noch nie so wild gepocht. Selbst dann nicht, als sie den leichtsinnigen und verzweifelten Entschluss gefasst hatte, von zu Hause auszureißen und ihren guten Ruf und den jungen Gentleman, den sie einst hatte heiraten wollen, hinter sich zu lassen. Das Herzklopfen war nicht etwa von den beiden Banditen ausgelöst worden, die die Straße abgesperrt hatten, um sie auszurauben. Darauf hatte sie mit einer merkwürdigen Ruhe und Gelassenheit reagiert. Sie hatte sich und ihr rasendes Herz erst wieder wahrgenommen, als sie am Straßenrand auf dem Fremden gelegen hatte – diesem Thaddeus.

Aber warum rast es immer noch?

Die Gefahr war doch vorüber. Die Diebe hatten das Weite gesucht und Thaddeus verfolgte keine bösen Absichten. Er war, wie er es genannt hatte, ein ehrenwerter Gentleman. Aber selbst ehrenwerte Männer gaben meist nichts auf die Ansichten einer Lady, wie sie gelernt hatte. Es war besser, ihn und alle anderen hinter sich zu lassen.

„Ist er noch da draußen?“, fragte Felicity, in deren Augen etwas funkelte, das Begeisterung ähnelte.

„Ja, allerdings“, raunte Perdie. Die Worte kamen ihr widerstrebend über die Lippen. Sie gab nur ungern zu, wie sehr es sie beruhigte, dass dieser verflixte Kerl in der Nähe ritt, um nach weiteren möglichen Bedrohungen Ausschau zu halten.

„Beim nächsten Mal bleibe ich aber nicht in der Kutsche, während du der Gefahr allein ins Auge blickst. Ich fasse es nicht, dass du mich überreden konntest, dich den Strauchdieben allein zu stellen.“

Perdie schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. In London war Felicity Harrington Perdies Gesellschafterin und Anstandsdame, doch hier fungierte sie als Freundin. Das zeigte sich in dem vertrauten Tonfall und der darin mitschwingenden Wertschätzung. „Du bist eine meiner liebsten Freundinnen und es tut mir leid, dass ich dir Angst eingejagt habe. Es musste leider sein, weil ich vor lauter Sorge um dich meinen Plan nicht hätte ausführen können, ohne ihn zu verpfuschen.“

Felicity schniefte. „Du hast vergessen, dass ich meine Fäuste einsetzen kann, um damit Kopfnüsse zu verteilen. Das nächste Mal …“

„Es wird kein nächstes Mal geben“, rief Perdie. „Wie stehen denn die Chancen, dass uns so etwas noch einmal zustößt?“

„Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass dieser Mr Thaddeus in dieselbe Richtung unterwegs ist wie wir.“

Perdie runzelte die Stirn und schob erneut die Vorhänge beiseite, um noch einen Blick auf die Gestalt in der Ferne zu werfen. Hatte er wirklich denselben Weg? Selbst Perdie war sich nicht sicher, wie es in Zukunft weitergehen und wohin die Kutsche ihre Dreiergruppe letztlich befördern würde. Nach Paris oder eventuell sogar nach Italien. Doch wie lange würde sie es tatsächlich ohne ihre Familie aushalten?

Felicity lehnte sich über Perdie, um einen Blick auf den Mann zu werfen, der auf einem schwarzen Hengst hinter ihnen herritt. Aufgrund der Entfernung blieb mehr der Fantasie überlassen, als dass sie viel erkennen konnte, doch das hielt Felicity nicht davon ab, ihn anzugaffen. „Er sieht sehr gut aus.“

Wäre Felicity nicht Perdies beste Freundin gewesen, hätte sie sich die Vertraulichkeit in ihrer Stimme verbeten. Sie hatten sich angefreundet, während Perdie die Freiheit genutzt hatte, die ihr als Verlobte eines jungen Viscounts zuteilgeworden war, um der Aufsicht ihres Bruders – des Dukes – zu entgehen und dem Damenklub am Berkeley Square 48 beizutreten. Felicity war jedoch weit mehr als eine bezahlte Begleitung geworden, nachdem sie sich gemeinsam in das verrückte Abenteuer gestürzt hatten, welches Perdie an den ersten Ort in London geführt hatte, an dem sie sich wohlfühlte. Nämlich nicht unter den voreingenommenen Ladys des ton, sondern unter den Ladys am Berkeley Square 48.

Doch ihr Bruder hatte ihr diesen Trost genommen, ohne Rücksicht auf sie zu nehmen. Nein, sie hatte keine Verwendung für einen weiteren Mann, der sie mit seinen Vorschriften ersticken würde.

„Sein Aussehen spielt keine Rolle.“ Perdie schubste ihre Freundin beiseite und zog die Vorhänge zu. Sie hob demonstrativ die Augenbrauen, doch verlor der kritische Blick vermutlich an Wirkung, als die Kutsche schwankend durch eine Furche holperte und sie zusammenzuckte. „Ich dachte, du wärst eher beunruhigt über seine Gegenwart als verzückt über sein gutes Aussehen.“

„Also gibst du zu, dass er hübsch ist?“

Perdie verdrehte die Augen, was Felicity ein Grinsen entlockte.

„Ich hab deinen Blick gesehen, als er sich dir genähert hat … Du warst überwältigt. So hab ich dich noch keinen Mann betrachten sehen.“

Die Worte ‚Nicht einmal Lord Owen‘ wurden unausgesprochen zwischen ihnen gewechselt.

„Ich wage zu behaupten, dass es unter den gegebenen Umständen eine normale Reaktion war, überwältigt zu sein. Er ist aus dem Nichts aufgetaucht. Und es waren Ganoven anwesend!“

Perdie nutzte die Erinnerung an das belastende Ereignis als Ausweichmanöver, unter anderem, um nicht an Lord Owen denken zu müssen. Sie wollte weder an ihren ehemaligen Verlobten noch an das letzte Gespräch mit ihm denken.

Dennoch blitzte die Erinnerung daran auf. Offenbar lauerte sie irgendwo, um jederzeit an der Oberfläche zu erscheinen. Ein paar läppische Tage genügten nicht, um den Moment zu vergessen, in dem sie ihr blutendes Herz geöffnet hatte, um wieder einmal erleben zu müssen, dass ein Gentleman aus guter Familie keinen Pfifferling auf ihre Probleme gab. Sie konnte noch immer den berauschenden Duft der Blumen in den Gärten riechen, wo sie einen kurzen, vertraulichen Moment mit ihrem zukünftigen Verlobten hatte erhaschen können. Ihre Sorgen waren nicht allzu kompliziert: Sie war jung, gerade einmal neunzehn, und wenn sie ihn heiraten sollte, verlangte sie einige Gegenleistungen. Ausgedehnte Flitterwochen von einem Jahr, um endlich mehr von der Welt sehen zu können als den Landsitz und die einengenden Grenzen Londons. Ein oder zwei Saisons als verheiratete Frau in London, um die Gesellschaft ihrer Freundinnen am Berkeley Square 48 zu genießen, bevor sie sich auf das neue Anwesen zurückzog. Einige unbeschwerte Ehejahre, bevor ihr Leben von Schwangerschaft und Nachwuchs definiert werden würde.

Und wie hatte Owen darauf reagiert? Mit einem Nein. Kurz angebunden und beinahe belustigt hatte er geklungen. Sie hatte gefragt, wie er ihre Sorgen einfach so in den Wind schlagen konnte. Wie schon? Seine Mutter erwartete schließlich, dass er sein Kinderzimmer direkt mit Nachwuchs füllte, weil er einen Erben benötigte.

In dem Moment war das leichte Flattern in ihrem Herzen gestorben, das sie sonst bei seinem Lächeln verspürt hatte. Womöglich war Perdie sogar innerlich zu Eis erstarrt, als er ihre behandschuhten Hände in seine genommen und versucht hatte, Perdie zu küssen. Da war keine Wärme mehr gewesen. Selbst ihr Herz hatte nicht derart gepocht wie in dem Moment, da sie einen zwei Köpfe größeren Mann zu Boden geworfen hatte und dabei versehentlich auf ihn gestürzt war.

Perdie hatte sich mit Nachdruck aus Owens Umarmung gelöst. „Ich werde keinen Mann heiraten, der meine Gefühle nicht berücksichtigt.“

Sie hatte gehofft, ihn mit dieser Aussage wachzurütteln, damit er verstand, dass es ein Fehler gewesen war, sie schlecht zu behandeln. Doch er hatte nur verblüfft und sogar mehr als herablassend reagiert. „Wo kommt das denn plötzlich her? Wir werden auf jeden Fall heiraten.“

„Ich bin erst neunzehn. Ich will nicht gleich Kinder bekommen.“

„Das akzeptiere ich nicht, Perdie!“

„Liebt Ihr mich denn, Owen?“

„Aber Liebling, natürlich liebe ich Euch!“

„Warum fällt es Euch dann so schwer, meine Sorgen anzuhören? Wir lieben uns doch, da finden wir bestimmt einen Kompromiss.“

Er hatte so enttäuscht und verärgert gewirkt. Seine letzten prägnanten Worte hatten gelautet: „Ich werde den Duke auf diesen Unsinn ansprechen. Irgendjemand hat Euch Flausen in den Kopf gesetzt, die keinen Sinn ergeben!“

Lord Owen wollte sich an den Duke wenden – ihren Bruder, den großartigen und einflussreichen Duke of Hartford, der Perdies Willen brechen und sicherstellen würde, dass sie sich korrekt und angemessen verhielt. Jedenfalls erwartete Owen genau das. Sie hätte bleiben und darüber streiten können, doch Perdie war eine Frau der Tat. An jenem Nachmittag hatte sie versucht, mit ihrer Mutter über ihren Kummer und ihre Zweifel bezüglich der Heirat zu sprechen. Die Duchess hatte jedoch gesagt, dass Perdies Hauptaufgabe darin bestand, ihrem Gemahl einen Erben und Stammhalter zu schenken; anschließend hätte sie die Freiheit zu leben.

Somit gab es eine weitere geliebte Person, die nicht zuhören wollte. Und Perdie hatte sich danach gesehnt, den Ort aufzusuchen, wo sie eine Schwesternschaft gefunden hatte, die auf Liebe und Vertrauen basierte, nämlich Berkeley Square 48. Allerdings war ihr auch das verweigert worden, da ihr Bruder der Besitzerin des geheimen Damenklubs – Lady Theodosia Winfern – befohlen hatte, Perdie zu verbannen, ohne sich darum zu scheren, weshalb sie diese Ladys benötigte.

Alles schien auf Perdie einzustürzen und sie hatte nicht mehr atmen können. Der Schmerz hatte sich mit grausamen Armen um sie gelegt und gnadenlos zugedrückt. In den vergangenen Wochen hatte Perdie das Gefühl nicht abschütteln können, dass die Wände um sie herum immer näher rückten. Selbst jetzt schnürte sich ihr die Kehle zu, wenn sie an diese erstickende Hilflosigkeit dachte. Um nicht zu ertrinken, war Perdie gegangen, besser gesagt, vor allem davongelaufen.

Und Felicity war mitgekommen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Ihre Freundin räusperte sich und riss Perdie aus jenen Gedanken, die sie am liebsten unterdrücken würde. Stattdessen konzentrierte Perdie sich auf Felicity, in deren sanften Augen Verständnis und Sorge lagen. Perdie hasste es, der Grund für diesen Kummer zu sein.

„Vielleicht habe ich es mir anders überlegt“, sagte Felicity leise.

Perdie hatte sich wohl zu sehr in Gedanken verloren, um dem Gespräch folgen zu können. Sie gab einen fragenden Laut von sich.

Felicity grinste frech. „Wegen dieses Thaddeus. Er scheint ein wohlhabender Gentleman zu sein. Und ehrenwert. Er könnte genau das sein, was wir … was du brauchst.“

Perdie setzte sich mit verkniffenem Mund auf. „Ich bin sehr gut allein mit den Banditen zurechtgekommen. Danke, dass du es bemerkt hast.“

„Ich habe nicht die Diebe gemeint. Es geht darum, dein gebrochenes Herz zu kitten. Wenn man unglücklich verliebt ist, soll die beste Ablenkung eine harmlose Liebelei mit einem anderen sein, hab ich gehört.“

Perdie funkelte sie an. „Ach ja? Und von wem hast du das gehört?“

Sie lächelte verlegen und Perdie wusste, dass sie keine Antwort darauf hatte. Dennoch setzte Felicity wieder an: „Vielleicht …“

„Fang gar nicht erst damit an.“ Perdie hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten. „Mein Herz ist nicht gebrochen. Ich laufe vor einem Mann und seiner Starrköpfigkeit davon. Es würde nichts bringen, mit dem erstbesten Sturkopf anzubändeln, der mir über den Weg läuft, nachdem wir aus London abgereist sind. Dann wäre ich bloß eine flatterhafte Dirne!“

„Perdie“, stieß Felicity keuchend aus und errötete. „Sprich nicht so leichtfertig.“

Perdie lehnte seufzend den Kopf ans Polster. Sie hasste es, dass Felicity recht hatte. Ihr Herz brach tatsächlich, aber nicht wegen Lord Owen. Mit dem Verlassen ihres Elternhauses riskierte sie, das Vertrauen ihres Bruders und ihrer Mutter für immer zu verlieren. Von ihrem guten Ruf ganz zu schweigen. Doch die Alternative bestand darin, einen Mann zu heiraten, den sie möglicherweise nicht mehr liebte. Tatsächlich fragte sich Perdie, ob sie ihn je geliebt hatte oder ob sie sich nur von seinem guten Aussehen und seiner Tändelei hatte mitreißen lassen.

Was genau ist Liebe eigentlich? Diese Frage hatte sie sich in den letzten Tagen unzählige Male gestellt.

Perdie war fünfzehn gewesen, als sie gedacht hatte, sich in Lord Owen verliebt zu haben. In den vergangenen vier Jahren hatte sich viel verändert, auch ihre Ansichten über ihren Platz in der Welt. Es stellte sie nicht mehr zufrieden, entzückten Gästen etwas auf dem Klavier vorzuspielen oder Nadelarbeiten auszuführen. Sie hatte schließlich einen Verstand, Erwartungen und Träume.

Und sie wollte keinen Gemahl, der nicht all ihre Eigenschaften zu schätzen wusste. Selbst wenn ihren Bruder deswegen der Schlag treffen würde.

Bei dem Gedanken an den Kummer, den sie ihm und ihrer Mutter bereitete, zuckte sie zusammen. Hoffentlich würde der Brief, den sie ihm geschrieben hatte, alles erklären. Oder zumindest das meiste. Selbst jetzt war sie noch damit beschäftigt, ihre Gefühle zu ordnen. Perdie wollte Raum und Zeit, um sich zu finden und zu verstehen, warum sie sich gefangen fühlte, obwohl es so viele wundervolle Dinge in ihrem Leben gab. Ihr war durchaus bewusst, dass sie nicht ewig auf der Straße leben konnte. Sie musste eine Entscheidung über ihre Zukunft treffen und Schritte unternehmen, um dort hinzugelangen.

Perdie atmete schnell und gleichmäßig ein. Sie hatte das Richtige getan.

„Kein Wort mehr davon, bitte. Ich bin erschöpft von der Katastrophe dieses Nachmittags.“ Und von dem Gedanken, dass jetzt alles so kompliziert zu sein scheint.

Sie kniff die Augen zusammen und schwankte im Rhythmus der Kutsche, die über die unebene Landstraße holperte, während ihr wirre Gedanken durch den Kopf gingen. Doch als Felicity ihre warme Hand in Perdies schob und sie drückte, entspannte sie sich allmählich. Ihre Freundin teilte ihr wortlos mit: Ich bin hier und stehe dir zur Seite.

Das war alles, was Perdie von einem anderen verlangte.

***

Anfangs prasselte der Regen nur sporadisch auf das Dach der Kutsche, sodass Perdie ihn beinahe mit herabfallenden Zweigen verwechselt hätte. Schließlich nahm er zu, und das Fahrzeug kam endgültig zum Stehen.

„Bitte, lieber Gott, sag mir, dass wir endlich da sind“, flehte Felicity. Sie kauerte in der Ecke der Sitzbank, die Stirn an die Wand gelehnt, und sah aus, als wäre sie kurz davor, sich zu übergeben.

Perdie griff nach den Vorhängen und schob sie erneut auf. Auch wenn die Sicht durch die nasse Scheibe erschwert war, konnte man die miserablen Straßenverhältnisse kaum übersehen.

„Ich glaube, Hattie sollte reinkommen.“

Die Wagenspuren in der näheren Umgebung waren voller Wasser, dunkler Schlamm bedeckte den Boden. Die Tür wurde plötzlich aufgerissen und der Innenraum füllte sich mit dem Lärm des sintflutartigen Regens. Perdie hätte beinahe aufgeschrien.

Es war nur Hattie, die mit mürrischer Miene einstieg. „Tut mir leid, Mylady. Ich bin so weit wie möglich gefahren.“ Sie knallte die Tür hinter sich zu. Der Regen hallte gedämpft in der finsteren Kabine wider. Selbst im schummrigen Licht sah Perdie die dunklen Flecken auf Hatties Schultern, Armen und Rücken. Sie musste praktisch nass bis auf die Knochen sein.

„Kein Grund, sich zu entschuldigen. Es bringt ja nichts, wenn Sie krank werden.“ Perdie blickte erneut aus dem Fenster. Dunkle Wolken zogen über den Himmel, es würde nicht so bald aufklaren. „Wir warten, bis der Regen nachgelassen hat, und fahren dann weiter.“

„Die armen Pferde …“, murmelte Felicity. „Und die Männer …“

Perdie verzog das Gesicht. „Die werden den Weg schon ohne uns fortsetzen. Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber sie sind uns eigentlich nicht verpflichtet.“

Als Felicity den Blick hob, entspannte sich ihr verkniffener Mund. „Vielleicht solltest du das Mr Thaddeus in einem Brief mitteilen“, sagte sie grinsend. „Ich glaube nicht, dass er das erkannt hat.“

„Ich werde ihm nicht schreiben …“

Jemand hämmerte ans Fenster und Perdie erschrak zu Tode. Sie schlug sich die Hand vor die Brust, drehte sich um und entdeckte Thaddeus neben der Kutsche. Er trug einen Zylinder, der ihn kaum vor dem Wetter schützte. Wie bei Hattie waren die Schultern des Mantels dunkler als der Rest. Er hielt die Zügel locker in einer Hand und beugte sich herunter.

„Warum habt Ihr angehalten?“

Perdie zog eine Grimasse. „Ich kann Sie sehr gut hören. Sie müssen nicht schreien. Und wie Sie sehen können, regnet es.“ Sie vollführte eine Geste in Richtung des Himmels.

„Ihr seid nicht stecken geblieben?“

Perdie blickte Hattie zur Bestätigung an. Die Zofe schüttelte den Kopf und Perdie erwiderte: „Nein, Sir Gawain, wir stecken nicht fest.“

„Ich werde die Kutsche bis zum Gasthaus fahren. Es kann jetzt nicht mehr weit sein, höchstens ein oder zwei Meilen.“

Er kündigte es eher an, als dass er um Erlaubnis fragte. Ohne eine Antwort abzuwarten, schwang sich Thaddeus aus dem Sattel und warf die Zügel seinem Diener zu, der sie mit Mühe auffing. Der arme Junge wirkte unglücklich, wie er da im Regen saß. Perdie hätte ihn beinahe in die Kutsche eingeladen, damit er trocknen konnte. Als die Karosse mit Thaddeus’ zusätzlichem Gewicht ruckelte, stieß sie einen leisen Fluch aus.

„Verflixt und zugenäht! Ich gehe und leiste ihm Gesellschaft.“

„Du wirst dir noch den Tod holen“, sagte Felicity mit weit aufgerissenen Augen.

„Es passiert schon nichts, Felicity“, beruhigte Perdie ihre Freundin. „Was Männer können, können Frauen schon lange.“

„Das schon. Allerdings holen sich Männer genauso den Tod.“

„Wäre es dir lieber, wenn dieser Fremde uns an irgendeinen einsamen Ort bringt, wo er mit uns machen kann, was er will?“

Felicity schlug sich keuchend eine Hand vor die Brust. „Natürlich nicht.“

Perdie nahm diese Reaktion mit einem zuckersüßen Lächeln auf. „Aber vielleicht möchtest du ja sicherstellen, dass sich der hübsche Fremde nicht mit uns aus dem Staub macht.“

„Nein, ich fühle mich sehr wohl hier, geh du ruhig zu ihm“, sagte Felicity mit einem frechen Grinsen.

Perdie brummelte etwas von unverschämtem Gefolge und entlockte ihr damit ein Lachen. Dann zwängte sie sich an Hattie vorbei zur Tür.

„Ich kann doch rausgehen, Mylady. Ich bin ohnehin schon nass.“

„Nein. Bleiben Sie hier, um sich aufzuwärmen. Ich bin an der Reihe, die Zügel zu übernehmen.“ Perdie konnte während ihrer Flucht nicht guten Gewissens all die schwere Arbeit Hattie und Felicity überlassen. Ein weiterer wunderbarer und unterhaltsamer Vorteil der Mitgliedschaft im Berkeley Square 48 war das Erlernen des Kutschenfahrens gewesen.

Nun würde sie wohl erleben, wie eine Fahrt im Regen vonstattenging.

Sie sprang auf den Boden, ihre Schuhe versanken im Schlamm, Wassertropfen liefen ihr wie Eiszapfen den Nacken herab. Sie hastete zum Kutschbock und stieg mit flinken Schritten hinauf, noch bevor Thaddeus die Zügel sortiert hatte.

Er sah sie mit einem Blick an, als wären ihr Hörner gewachsen. „Lady Perdie, was macht Ihr denn hier draußen? Ich habe doch gesagt, dass ich fahre.“

„Das haben Sie einfach bestimmt, mein guter Herr. Ich lasse mir von einem Fremden nichts vorschreiben. Sie könnten ein Entführer sein, der uns zu seinem Unterschlupf bringen will.“

Er gab einen erstickten Laut von sich, bevor er den Mantel auszog. „Zu meinem Unterschlupf? Oje, Ihr habt mich ertappt und meinen hinterhältigen Plan aufgedeckt. Wie könnte ich nur drei schönen Frauen widerstehen? Da könnte ich mir doch tatsächlich aussuchen, über wen ich herfallen will. Hier.“ Mit dem letzten Wort streckte er ihr kurzerhand den Mantel entgegen, und es zeigte sich, was er darunter trug: eine passende Weste, ein ansehnliches Leinenhemd und eine gestärkte Krawatte um den Kragen.

Perdie wandte den Blick ab. Sie hatte einige ungehörige Dinge getan, seit sie angefangen hatte, die Ladys am Berkeley Square 48 zu besuchen, doch aus irgendeinem Grund schien es riskant, mit einem hemdsärmeligen Gentleman im Regen zu sitzen.

„Ihr Mantel ist genauso nass wie ich. Er wird mir nichts nützen. Behalten Sie ihn bitte.“

„Aber er ist warm. Wärmer als der Regen.“

Sie hielt den Blick weiterhin abgewandt und sein Akzent wurde stärker. Was sie für eine tadellose, gebildete Sprechweise gehalten hatte, enthielt nun den Anflug eines schlimmen Dialekts.

„Ach, kommt schon, lass. Stempelt mich nicht als Flegel ab und nehmt den Mantel.“

Da sie sich nicht darüber streiten wollte, akzeptierte sie und legte ihn sich um die Schultern. Innen war er warm und nur ein wenig klamm. Er roch nach Zedernholz, Wäschestärke und etwas anderem, das sie innerlich erschauern ließ. Diese Reaktion erschreckte sie, da sie ihr völlig unbekannt war. Perdies Herz begann noch einmal stark zu pochen, doch sie gab sich größte Mühe, es zu ignorieren.

„Lassen Sie das bloß nicht Felicity hören.“

Er wandte sich ihr zu, was sie nur aus dem Augenwinkel sah, während die Pferde sich wieder in Bewegung setzten. Der Regen war in etwas mehr als ein Nieseln übergegangen, was ihn erträglich, wenn auch nicht angenehm machte.

„Wie bitte?“

„Über schöne Frauen herzufallen. Da würde ihr Herz aussetzen.“

Sein sinnliches Lächeln war einfach zu bezaubernd, um nicht hinzusehen. Es verwandelte sein Gesicht vollkommen. Die feuchten Strähnen des dunkelbraunen Haars klebten auf eine Weise an seinem Kiefer, dass sie sie am liebsten zurückgestrichen hätte. Sie verschränkte die Hände im Schoß. Was war das denn für ein lächerlicher Drang?

„Keine von Euch ist verheiratet, richtig?“

„Sind Sie etwa vermählt?“, gab sie mit hochgezogener Augenbraue zurück.

Er lüpfte zur Antwort den Hut.

Sie setzten den Weg fort, während sich der Regen in einen Nebel verwandelte, der sich wie ein Netz auf die Büsche zu beiden Seiten der Straße legte. Die Pferde durchquerten vorsichtig den heimtückischen Schlamm, und Thaddeus trieb sie nicht zur Eile an. Sie drehte sich um und entdeckte den armen Jungen, der die Pferde hinter ihnen herführte.

„Ihr habt diesen Straßenräubern erzählt, dass Ihr die Schwester eines Dukes seid. Stimmt das denn?“

Perdie drehte sich wieder um. Sie würdigte ihn keines Blickes, während sie mit höflicher, aber kühler Stimme redete. Sie war so förmlich, dass sie sich in einem Londoner Salon hätte befinden können. Wenn sie dort sitzen würde, gäbe es allerdings Tee. Oh, eine Tasse Tee wäre so schön, um sich daran die Hände zu wärmen.

„Unter den gegebenen Umständen können Sie nicht von mir erwarten, meine Identität preiszugeben. Das wäre äußerst fahrlässig.“

Er musterte sie mit einem dreisten Blick. „Dann seid Ihr also die Schwester eines Dukes. Ich frage mich nur, von welchem?“

„Da fragen Sie sich umsonst. Ich bin nur eine einfache Lady.“

„Die allein reist.“

Sie lächelte ihm zu. „Was Männer können, können Frauen schon lange.“

Er schaute sie mit einem finsteren und unergründlichen Ausdruck an. „Eine interessante Redewendung.“

Beim Gedanken an Theodosia ergriff sie ein sehnsüchtiger Schmerz. „Ich kenne sie von … einer Freundin.“

„Interessante Freundin. Gibt es denn jemanden, der Euch suchen wird, lass?“

Er sprach auf entwaffnende, vertrauenerweckende Weise, jagte ihr jedoch einen fürchterlichen Schauer über den Rücken. Sie musste vorsichtiger sein. Zweifelsohne hatte ihr Bruder bereits Männer losgeschickt, um auf dem Land nach ihr Ausschau zu halten und sie nach Hause zu schleppen.

„Eine merkwürdige Frage“, sagte sie mit einem gewinnenden Lächeln, wobei sie in der Hoffnung, ihn abzulenken, unbeschwert und locker redete. „Warum sollte mich jemand suchen? Ich bin eine Lady, die allein reist, wie Ihr bereits festgestellt habt. Dafür muss ich niemanden um Erlaubnis bitten.“

Seine Augen besaßen eine wunderschöne Bernsteinfarbe mit Grün, und in ihnen funkelte etwas Gerissenes, als er sie anblickte. „Wie soll ich Euch denn nennen, wenn Ihr Euren Namen nicht verratet?“

„Sie müssen mich gar nichts nennen.“

Er hob eine Augenbraue, völlig unbeeindruckt von dem Schneckentempo, in dem sie fuhren, dem Nieselregen, der ihm über die Haut lief, und ihrem groben Tonfall. „Oh, bitte. Wir werden noch mindestens zwanzig Minuten zusammen hier sitzen. Ich muss Euch mit etwas anderem ansprechen können als lass. Ist Lady Perdie in Ordnung?“

„Nicht Lady.“ Nicht außerhalb eines Londoner Ballsaales. „Perdie reicht.“

Er verbeugte sich auf dem Sitz wie ein vollendeter Gentleman. „Dann also Perdie. Ihr könnt mich Thaddeus nennen.“

„Das haben Sie bereits erwähnt.“ Sie steckte die Hände zwischen die Knie, doch da das Kleid inzwischen nass war, hatte es keine wärmende Wirkung. „Ich würde Sie lieber gar nichts nennen. Oder noch besser, ich würde Sie gern so bezeichnen: der Schurke, dem ich auf der Straße begegnet bin und mit dem ich nichts mehr zu tun habe.“

„Das klingt aber ziemlich umständlich. Wie wäre es mit der Kurzform Thaddeus? Dann bekomme ich es auch immer mit, wenn Ihr mich verflucht.“

Sie versuchte, nicht zu lächeln, doch es war aussichtslos. Erst recht, als sie ihn dummerweise von der Seite anschaute und seinen Blick erhaschte. Seine Augen funkelten verschmitzt. Im schwachen, zwischen den Wolken hindurchdringenden Tageslicht wirkten sie genauso stürmisch wie der Himmel.

Sie wandte den Blick wieder ab und sagte leise: „Dann also Thaddeus.“ Ihr Herz pochte so sehr, dass es schien, als klänge es lauter als die Worte, die ihr gerade über die Lippen geschlüpft waren. Sie hätte sich beinahe über den Mund gestrichen, ballte jedoch die Hand zur Faust und behielt sie an der Seite.

So setzten sie den Weg fort.

Thaddeus sagte leise: „Vielleicht tut Ihr gut daran, wenn Ihr Euren vollen Namen für Euch behaltet. Wenn herauskäme, dass eine Lady mit einem Mann reist, der kein Verwandter ist, stünde uns ein Skandal bevor.“

„Es dürfte schwer sein, einen Skandal auszulösen, wenn man nicht benennen kann, wer daran beteiligt ist.“

Er lüpfte erneut den Hut, ließ das Thema aber nicht fallen. „Man merkt deutlich, dass Ihr der Oberschicht angehört. Ich würde darauf wetten, dass Ihr die Schwester eines Dukes oder einer ähnlich wichtigen Person seid.“

Bei der Vorstellung, dass ihr Bruder Sebastian als wichtig bezeichnet wurde, schnaubte Perdie. Wenn er das hören könnte, würde sein Ego dermaßen anschwellen, dass er nicht mehr hinter seinen Schreibtisch passen würde. Beim Gedanken an ihren Bruder verkrampfte sich ihr Herz und ihre fröhliche Stimmung verflüchtigte sich.

Die Pferde trotteten weiter vor sich hin.

„Ich finde Euren Mut bemerkenswert.“

Überrascht schnappte Perdie nach Luft. „Bemerkenswert?“

„Und wie. Wie Ihr mit diesen Ganoven umgegangen seid, war beeindruckend.“

Perdie entschlüpfte ein kurzes Lachen, bevor sie den Mund mit der Hand bedeckte. Sie blickte ihn ungläubig an, doch sein Gesichtsausdruck verriet nicht, ob er ihr nur schmeicheln wollte. „Sie sind ein seltenes Exemplar, wenn ich das so sagen darf. So einem Mann bin ich noch nicht begegnet. Viele in der Gesellschaft würden mich dafür schelten, davon zu träumen, mich selbst zu verteidigen, gar nicht zu reden davon, dass es mir auch noch gelingt.“

Der pure Spott trat in seinen Blick. „So etwas kann nur von Spatzenhirnen kommen.“

Pedie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. „O nein, ich glaube, sie haben das Recht dazu.“ Sie unterdrückte mit aller Kraft ein Grinsen, konnte es aber nicht aus ihrer Stimme heraushalten. „Beim nächsten Überfall mache ich es richtig und kreische, um anschließend in Ohnmacht zu fallen. Damit ein kühner Gentleman wie Sie sein Verlangen befriedigen kann, wie ein echter Ritter in glänzender Rüstung dazustehen, indem er uns arme Jungfern vor der Gefahr rettet, statt uns nur davor zu bewahren, den Regen am Straßenrand abzuwarten.“

„Wagemutigen Gentlemen gefällt es, wenn sie geschätzt werden“, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln.

Er setzte sich aufrechter hin, da der Nebel sich lichtete und sich in den Schatten die Umrisse von Häusern abzeichneten. „Ich schätze, wir sind gleich da.“

Perdie straffte die Schultern und bereitete sich auf das vor, was sie immer dann tat, wenn andere sie beobachteten: eine Maske aus freundlicher Sanftmut aufsetzen.

„Vielen Dank, Thaddeus“, sagte sie.

Er zog den Hut, erwiderte aber nichts. Sie befanden sich weit außerhalb von London und würden die Nacht in einem anständigen Gasthaus verbringen. Perdie starrte auf ihre zitternden Hände und steckte sie in die Taschen des Mantels, da ihr Retter nicht sehen sollte, dass sie noch immer erschüttert war.

Wie standen die Chancen, nur wenige Stunden nachdem sie London verlassen hatte, überfallen zu werden? Als ihr heftiger Impuls auszureißen allmählich abflaute, fuhr ihr die Angst in die Glieder. Da sie nicht zulassen konnte, dass sich solche Gefühle in ihr festsetzten, verdrängte sie sie mit aller Willenskraft. Sie hatte es hinter sich und musste nur nach vorn schauen.

Morgen früh würde sie wissen, wo ihr endgültiges Ziel lag.

Perdie wusste, dass sie in diesem Leben für mehr bestimmt war. Und wenn sie von allem, was sie kannte, weglaufen musste, um diese Bestimmung zu finden, dann würde sie es nicht bereuen.