Leseprobe Don't spy on your Boss

Kapitel 1

»Um Himmels willen, Louisa! Willst du mir auch noch meinen allerletzten Nerv rauben?«, fragte meine Mum wütend, während ich mein Smartphone gute zehn Zentimeter von meinem Ohr entfernt hielt. Ich musste nicht einmal den Lautsprecher auf meinem Gerät aktivieren, ich konnte sie auch bestens ohne verstehen.

»Natürlich möchte ich das nicht. Mit deinen angespannten Nerven könnte ich ohnehin nichts anfangen«, fügte ich leise hinzu und bereute meine Worte im selben Moment.

»Ich glaube nicht, dass du in der Position bist, gegen mich auszuteilen, meine Liebe«, rief Mum weiter in den Hörer und ich war froh, dass uns etwa zweihundert Meilen voneinander trennten. Ich hätte einfach auflegen können, so tun, als hätte es das Gespräch nie gegeben, doch dafür war es jetzt zu spät. Ich hatte meiner Mutter gebeichtet, dass ich mein Wirtschaftsstudium im vorletzten Semester geschmissen hatte. Im vorletzten, wie sie es mir in den vergangenen Minuten immer wieder mit Nachdruck in Erinnerung gerufen hatte.

»Wie kann man nur so wenig Ausdauer haben? Immerhin hattest du es schon so weit geschafft. Wie kommst du dazu, diese Entscheidung einfach allein zu treffen? Wir hätten doch darüber reden können, Louisa.«

»Du hättest mich das niemals durchziehen lassen«, erklärte ich, obwohl ich längst in dem Alter war, meine Entscheidungen selbst zu treffen. Doch so wie meine Mutter das sah, traf das scheinbar nicht zu.

»Natürlich hätte ich das nicht! Wie hätte ich zulassen können, dass du deine Zukunft einfach wegwirfst?«

»Siehst du? Deshalb habe ich nichts gesagt. Mum, du weißt nicht, wie schlecht es mir mit dem Studium ging. Es ist nichts, was mich auch nur ansatzweise zu dem bringt, was ich eigentlich machen will.« Ich seufzte und setzte mich auf die Parkbank unweit der Uni, die ich endlich hinter mir lassen konnte. Die Gespräche um mich herum waren laut und heiter, aber ich war froh, kein Teil mehr davon sein zu müssen.

Mum stöhnte genervt in den Hörer. »Kommst du mir jetzt wieder mit dem Kriminalitätsquatsch?«

»Es heißt Kriminologie«, korrigierte ich sie und rieb mir müde die Augen. Wie oft hatte ich versucht, ihr diesen Begriff einzuprägen?

»Sag ich doch. Kriminologie«, wiederholte sie. »Und was willst du damit machen? Verbrecher jagen? Den Präsidenten beschützen? Louisa, sieh das Ganze einmal realistisch. Du bist vierundzwanzig Jahre alt. Jetzt ein neues und zudem nutzloses Studium zu beginnen, wird dich nicht weiterbringen. Du hättest mit deinem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften so viel anfangen können. Meinst du nicht, dass du deine Kündigung zurückziehen kannst? Soll ich mit deiner Direktorin sprechen? Ihr sagen, dass du nicht ganz du selbst warst und …«

»Mum!«, unterbrach ich sie lauthals und eine ältere Dame, die an mir vorbeispazierte, zuckte zusammen und sah mich vorwurfsvoll an. Entschuldigend hob ich die Hand und nickte ihr freundlich zu. In ruhigerem Ton sprach ich weiter: »Ich werde meine Kündigung nicht zurückziehen und noch weniger will ich, dass du dich einmischst. Die Entscheidung ist gefallen. Ich werde dieses Fach nicht weiterstudieren.«

Erneut ein Seufzen auf der anderen Leitung.

Ich hatte die leise Hoffnung, dass ich Mum endlich erreicht und überzeugt hatte, doch auch dieser Gedanke war nur eine platzende Seifenblase. »Was hätte dein Vater nur dazu gesagt?«

Augenrollend schüttelte ich den Kopf. »Er hätte mich ermutigt, das zu tun, was ich möchte.« Er war immer auf meiner Seite gewesen. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie Mum in ihrem Wohnzimmer stand, den Blick auf Dads Foto auf der Kommode gerichtet, als könnte er ihr sagen, was nun zu tun war. Aber Dad war seit seiner Krankheit vor etwa sechs Jahren nicht mehr bei uns. Ein kurzes Schweigen entstand, bis Mum sich offensichtlich von ihrem Schock erholt hatte. »Was willst du jetzt tun?«

Achselzuckend schaute ich auf die gepackte Reisetasche neben mir. »Ich werde mir einen Job suchen und mich in der Zwischenzeit für ein Studium in Kriminalität bewerben.«

Wieder ein Stöhnen. Sie wusste einfach, wie man jemandem ein schlechtes Gewissen machen konnte, und das nur mit Seufzen und Stöhnen.

»Hast du denn schon einen Job?«

Ich schluckte. »Ich bin noch auf der Suche?« Meine Antwort klang eher wie eine kleinlaute Frage. Erneutes Stöhnen auf der anderen Leitung.

»Okay, Louisa. Ich möchte, dass du nach Hause kommst. Du hast kein Geld für eine Wohnung. Du wirst hier einziehen und dann sehen wir weiter.«

So wie Mum das sagte, hörte es sich mehr an wie ein Befehl als ein mütterlicher Plan, ihrer Tochter beizustehen. So sehr ich mich auch dagegen sträubte, wieder nach Hause zu kommen, so sehr wusste ich, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich überlegte kurz, vielleicht bei meiner besten Freundin Marleen unterzukommen. Doch vermutlich wäre in ihren vier Wänden gar kein Platz für mich. Tja, das hatte ich nun davon. Ich hatte mein Studium geschmissen, meinen Platz im Wohnheim verloren und kein Geld, da Mum mir dieses nun nicht mehr zahlen würde. »Bist du dir sicher, dass ich nach Hause kommen soll? Ich meine, nicht, dass ich dich irgendwie einenge … Ich könnte vielleicht bei Marleen bleiben …«

»Natürlich sollst du nach Hause kommen! Früher haben wir schließlich auch zusammengelebt, und bis auf deine nervige Angewohnheit, immer irgendwo etwas liegen zu lassen, hat das doch gut funktioniert. Aber ich räume dir deine Sachen nicht mehr hinterher, du bist mittlerweile alt genug.« Ach, jetzt bin ich auf einmal alt genug!

»Sehr gut, Mum. Ich bin noch nicht einmal zu Hause und du gehst jetzt schon beinahe an die Decke.«

»Halt dich einfach an die Hausregeln, dann wird das schon. Bei Marleen zu wohnen, halte ich für keine gute Idee. Immerhin hat sie einen Job und einen Freund. Was willst du dich da aufdrängen? Komm nach Hause. Und dann setzen wir uns zusammen und sehen, wie es mit dir weitergeht.«

Augenblicklich fragte ich mich, ob es vielleicht besser gewesen wäre, wenn ich das nächste Jahr einfach auf der Straße verbracht hätte, nur um meiner Mum dann einen gefälschten Abschluss vor die Nase halten zu können. Der Gedanke schien mir attraktiver als der, wieder zu Hause leben zu müssen. Aber nun war es zu spät. Die Katze war aus dem Sack und ich fühlte mich noch schlechter als zuvor.

»Ich nehme den nächsten Zug nach Hause, dann bin ich heute Abend da«, erklärte ich schließlich.

»Gut. Du hast ja einen Schlüssel, denn ich bin vorher bei der Arbeit. Es gibt viel zu tun!«

»Ist gut. Ich warte zu Hause auf dich«, sagte ich und legte hastig auf, bevor sie mir noch erklären würde, wie ich ein Zugticket zu kaufen hatte. Schließlich war ich jetzt ihre Tochter, die keinen Abschluss hatte und nicht auf eigenen Beinen stehen konnte. In anderen Worten: Ich war die größte Enttäuschung ihres Lebens!

Kapitel 2

Mein Zimmer sah genauso aus wie früher, bevor ich ausgezogen war. Vielleicht hatte es Mum doch geschmerzt, dass ich die Stadt verließ, weshalb sie diesen Raum so erhielt, als würde ich jeden Moment heimkommen. Was ja nun auch der Fall war. Vermutlich war das Wunschdenken, denn meine Mum war mehr General als einfühlsame Mutter und wusste wahrscheinlich nichts Besseres mit meinem Zimmer anzufangen. Sie liebte mich, das wusste ich, sonst hätte sie sich nicht ständig um mich gesorgt und es wäre ihr egal gewesen, was ich mit meinem Leben anfing. Nur konnte sie es nicht so herzlich zeigen. Mein Dad hingegen war ganz anders gewesen. Er war einfühlsam, fürsorglich und liebevoll. Schon oft hatte ich mich gefragt, wie er es so lange mit meiner Mum hatte aushalten können, aber wie heißt es so schön: Gegensätze ziehen sich an. In Mum und Dads Fall traf das auf jeden Fall zu. Mein Dad fehlte mir so sehr, dass es auch nach den vergangenen sechs Jahren noch immer unheimlich schmerzte. Wieder in meinem alten Elternhaus zu sein, machte das alles nicht einfacher.

Achtsam legte ich meine Kleidung in meinen alten Kleiderschrank, dessen Tür noch immer leicht aus den Angeln hing. Als Jugendliche hatte ich vor Wut dagegengetreten und da es meine Schuld war, wurde er auch nicht repariert. Vorsichtig glitt ich mit meinen Fingern über die Tür und seufzte bei der Erinnerung. Nachdem ich mich halbwegs eingerichtet hatte, blickte ich mich um. Alles war noch im selben Grünton gestrichen. Die weiß-grün gestreiften Vorhänge und die grüne Bettwäsche waren an ihrem gewohnten Platz. Man konnte meinen, ich mochte die Farbe einmal sehr. Inzwischen war ich eher der Blautyp, aber ich hatte nicht vor, es mir hier allzu gemütlich zu machen. Immerhin wollte ich mit vierundzwanzig nicht ewig bei meiner Mutter wohnen – eigentlich wollte ich gar nicht bei meiner Mutter wohnen, dachte ich trübsinnig und atmete tief durch. Gerade verließ ich mein Kinderzimmer, als ich hörte, wie Mum die Haustür aufschloss und ins Haus trat. Ein altbekanntes Geräusch. Ich lief die Treppe hinunter und begrüßte sie mit einer Umarmung, die sie zu meiner Überraschung fest erwiderte. »Hi, Mum.«

»Hallo, Louisa. Wie war die Anreise?«, fragte sie, während sie eine Einkaufstasche auf dem Boden abstellte. Hastig nahm ich sie ihr ab und trug sie in die angrenzende Küche auf der linken Seite des Hauses.

»Ganz gut. Keine Störungen oder Verzögerungen«, antwortete ich und hoffte, dass sie nicht sofort auf den Begriffen Studium, Abbrecherin und Versagerin herumreiten würde. Also begann ich geschäftig ihre Einkäufe zu verstauen. Sobald eines dieser Wörter fallen sollte, könnte ich ein Gewürzgurkenglas fallen lassen, um den unangenehmen Themen zu entgehen.

»Gut, wenn wir ausgepackt haben, bereite ich uns etwas zum Abendessen zu. Ich habe einen Riesenhunger. In der Firma war heute einiges los. Ich komme mit der Arbeit langsam nicht mehr hinterher. Und jetzt hat Mathilda auch noch gekündigt!« Mum warf die Arme in die Luft und seufzte. »Sie meinte, sie käme mit meinem scharfen Ton nicht klar. Was ist das bitte für eine schlechte Begründung?«

Eine nachvollziehbare Begründung, dachte ich, zuckte aber lediglich mit den Schultern. »Was hältst du davon, wenn ich uns einen Tee mache, du dich an den Küchentisch setzt und ich uns etwas zu essen koche?«, schlug ich vor und bemerkte Mums skeptischen Blick. Sie sprach es nicht aus, doch ich wusste, dass sie fragen wollte, ob ich überhaupt kochen konnte. Aber sie nickte lediglich und setzte sich an den runden Tisch der alten Landhausküche. Mit wenigen Handgriffen bereitete ich uns einen Tee zu und reichte ihr eine Tasse, ehe ich mich an die restlichen Einkäufe machte und überlegte, was ich kochen könnte. Hin und wieder schaute ich zu Mum, die nicht viel redete. Das hatte sie nach einem langen Arbeitstag noch nie getan. Sie wirkte älter als bei meinem letzten Besuch an Weihnachten. Das war jetzt etwa sechs Monate her. Ihre kurzen braunen Haare waren an den Schläfen leicht ergraut und ich fragte mich, wann sie das letzte Mal beim Friseur gewesen war, um sie zu färben. Früher legte sie großen Wert darauf. Früher, als Dad noch lebte.

»Wie läuft es sonst in der Firma?«, fragte ich, um das Gespräch in eine mir entfernte Richtung zu lenken.

»Wie ich schon sagte, es gibt viel zu tun. Jetzt, da Mathilda gekündigt hat, fehlt mir eine Kraft. Paul ist derzeit noch krankgeschrieben, hat irgendetwas mit dem Magen und Patricia geht bald in Mutterschutz. Obwohl sie meiner Meinung nach noch fit genug wäre, wenigstens ein paar Einkäufe zu erledigen.«

Ich schluckte. Wow, meine Mum würde sogar eine hochschwangere Frau zum Arbeiten verdonnern, wenn das Gesetz es nicht anders vorschreiben würde.

»Wenn das so weitergeht, werde ich bald selbst das Zepter in die Hand nehmen müssen und den Bürokram dann am Abend erledigen.«

Ich griff nach verschiedenem Gemüse und begann, dieses in kleine Stücke zu schneiden. Ich hatte mich für eine leckere Gemüsepfanne mit Pesto entschieden. Ein Gericht, bei dem ich nicht viel falsch machen und meine Mutter zur Abwechslung mal nicht enttäuschen konnte. »Aber Mum, das wirst du niemals allein schaffen. Immerhin läuft die Vermittlungsfirma doch bestens und wirft auch gut was ab. Du wirst sicherlich wieder neue Mitarbeiter finden.« Wenn du sie nicht alle vergraulst.

»Ja«, bestätigte sie mir, »irgendwann schon. Bis dahin muss ich mir aber etwas überlegen.« Sie bedachte mich mit einem vielsagenden Blick, doch ich wandte mich wieder dem Essen zu. Seit ich denken kann, lebte Mum für ihre Arbeit. Vor vielen Jahren hatte sie diese Vermittlungsfirma gegründet, mit der sie Arbeitskräfte an verschiedene Arbeitgeber vermittelte. Sobald jemand eine Aushilfe suchte, schickte Mum einen von ihren Mitarbeitern hin, damit diese die Aufgaben erledigen konnten. Dabei handelte es sich um Jobs wie Botengänge, Fahrservices, Kellnerarbeiten oder Reinigungsaufgaben, die dann für ein paar Tage oder Wochen in Anspruch genommen werden konnten. Manchmal waren sie auch nur einmalig. Je nachdem, was gewünscht wurde. Ich hoffte für Mum, dass sich die Mitarbeitersituation bald wieder regeln würde.

Nachdem wir gegessen und den Abwasch gemacht hatten, zogen wir uns mit einem Glas Weißwein ins Wohnzimmer zurück. Müde ließ ich mich auf die dunkelgrüne Couch fallen und Mum legte ihre Füße auf den Fußhocker vor ihrem Sessel. Draußen hatte sich das warme frühsommerliche Wetter etwas abgekühlt und durch die offenen Fenster wehte eine angenehme Brise ins Haus. Ich zog meinen weißen Cardigan, den ich mir nach dem Essen über mein T-Shirt gezogen hatte, etwas enger.

»Also, nun zu dir«, begann meine Mutter und schwenkte ihr Glas leicht in der Hand, während sie mich genau ansah. Wir saßen uns gegenüber und ich hatte keine Chance ihren bohrenden Blicken zu entgehen. Also trank ich einen langen Schluck und schaute sie unschuldig an. »Was meinst du?«

»Wie soll es mit dir weitergehen?«

Ich stellte mein Weinglas auf dem Couchtisch vor mir ab und bettete meine Hände in den Schoß. »Na ja, ich habe vor, mich an der Howland Universität zu bewerben.«

Mum fielen beinahe die Augen aus den Höhlen. »Du meinst das mit dem Studium also wirklich ernst?«

»Was dachtest du denn? Dass ich ein Online-Seminar mache und dann hat sich das Thema erledigt? Nein, Mum. Ich möchte dieses Fach studieren. Das wollte ich schon immer. Das Wirtschaftsstudium habe ich nur gemacht, weil … na ja, weil es sich eben angeboten hat und ich dachte, es wäre gut dieses Fach zu studieren.« Und weil du es unbedingt wolltest, fügte ich gedanklich hinzu. »Aber ich habe mich geirrt. Ich habe es wirklich versucht, sonst hätte ich noch viel früher abgebrochen, aber jetzt ging es einfach nicht mehr. Meine Noten wurden immer schlechter, weil es mich nicht mehr erfüllt hat. Und ich will etwas tun, das mich glücklich macht. Und mit Kriminologie stehen mir so viele Möglichkeiten offen«, erklärte ich euphorisch und erntete ein Stöhnen.

»Welche Aussichten sollen das bitte sein?«

»Ich könnte danach zur Polizei gehen oder in einem Gefängnis arbeiten. Ich könnte beim Gericht anfangen oder in politischen Institutionen. Aber am interessantesten wäre für mich die Tätigkeit bei der Kriminalpolizei. Ich habe mich ganz genau informiert«, plapperte ich und wurde immer aufgeregter, endlich mit ihr darüber zu sprechen.

Mum hob die Hand. »Schon gut, schon gut. Nun hol erst mal Luft. Wie willst du das Ganze finanzieren? Schließlich dauert dieses Krimi-Studium ein paar Jahre. Hast du dir überhaupt Gedanken darüber gemacht? Wie alt bist du bitte, wenn du fertig bist? Was ist mit Mann und Kindern? Willst du mit vierzig noch Kinder kriegen?«

Ich hielt kurz die Luft an, um Mum nicht anzubrüllen, dass sie den Ball flach halten soll, und griff nach meinem Glas. »Ich werde nebenbei viel arbeiten müssen, aber das wird funktionieren. Und was die Familienplanung angeht … da habe ich wirklich noch ein bisschen Zeit.«

Mum schüttelte den Kopf, als wäre ich ein kleines Mädchen, das davon träumte eines Tages Präsidentin zu werden. Sie trank einen großen Schluck und sah mich an. »Also gut. Ich mache dir einen Vorschlag«, begann sie und meine Augen wurden größer.

»Du denkst noch einmal ganz genau über das Studium nach. Nicht dass ich das gutheiße, immerhin wirst du nicht jünger und solltest langsam einen Plan von deinem Leben haben. Aber du kommst nun mal nach deinem Vater. Er war auch so ein Traumtänzer. Hat immer nur für seine Träume gelebt und ständig etwas Neues angefangen, aber das ist jetzt nicht das Thema. Du kannst hier wohnen, bis du genug Geld für das Studium und eine eigene Wohnung zusammen hast …«

Ich nickte. Das hörte sich gar nicht schlecht an.

»Aber«, sprach Mum weiter und mir sträubten sich die Nackenhaare. Dieser Ton gefiel mir nicht, denn er besagte, dass es eine Voraussetzung gab, die es in sich haben würde.

»Bis es so weit ist, arbeitest du für mich in der Firma.«

Ich schwieg und sah meine Mutter an, als hätte sie mir gerade einen Mord gestanden. Ehe ich verstand, was sie von mir verlangte, trank ich mein Glas in einem Zug leer. Nicht nur, dass ich unter ihren kontrollierenden Blicken anpacken sollte, ich sollte auch noch Aufträge von ihr entgegennehmen.

»Du möchtest, dass ich für dich arbeite? Dass ich Anweisungen annehme, Dienstmädchen für alles bin oder putze?«

»Willst du damit sagen, dass du dir zu fein für die Arbeit bist?«, antwortete Mum mit einer Gegenfrage und ich schüttelte hastig den Kopf. Wenn man bedachte, dass ich lieber auf der Straße gelebt hätte, als Mum die Wahrheit über mein Studium zu sagen, kam ein Job in ihrer Firma für mich eigentlich nicht infrage. Doch was hatte ich für eine Wahl? Ich hatte keinen Job. Würde so schnell vermutlich auch keinen finden und wohnte bei meiner Mutter, die am längeren Hebel saß und mich in diesem Moment böse anfunkelte.

»Natürlich nicht! Nur habe ich das noch nie gemacht.«

»Du meinst geputzt? Das weiß ich, nachdem ich jahrelang mit dir unter einem Dach gelebt habe …«

»Das meine ich nicht!«, fiel ich ihr ins Wort. Allmählich ging sie mir auf die Nerven. »Ich will damit sagen, dass ich noch nie solche Tätigkeiten für andere verrichtet habe. Kurierdienste und so weiter.«

»Das wirst du schon lernen. Also ist das abgemacht. Du kannst Montag anfangen. Dafür kannst du hier wohnen und dich nebenbei auf deine Flachsidee … ich meine, du kannst dich um dein Studium kümmern.«

Hatte ich schon mal erwähnt, dass Mum einem selten eine Wahl ließ? Aber wenn das bedeutete, dass ich mich um mein Studium kümmern konnte, würde ich dafür in den sauren Apfel beißen. Auch wenn er sehr sauer war.

Kapitel 3

Seit meinem letzten Besuch in meiner Heimatstadt Soulfield – eine niedliche Stadt im nördlichen Teil Amerikas – waren sechs Monate vergangen. Und dass ich kein Rückfahrticket gebucht hatte, fühlte sich merkwürdig an. Dieses Mal war mein Zuhause bei meiner Mum, die darauf lauerte, mir einen Auftrag zu geben, den ich auch ja anständig erledigen sollte. Ich konnte es kaum erwarten, ihr zu zeigen, dass ich nicht die größte Enttäuschung ihres Lebens war und mich als sehr nützlich erweisen würde. Mit einem Coffee-to-go-Becher in der Hand wollte ich gerade das Café verlassen, in dem ich als Teenager häufig mit meiner langjährigen und besten Freundin Marleen gesessen hatte, da klingelte mein Smartphone. Dem aggressiven Klingeln nach konnte es nur meine Mutter sein. Jedenfalls kam es mir so vor, als würde mein Smartphone wütender klingeln, wenn meine Mutter anrief. Hastig nahm ich das Gespräch an.

»Hey, Mum.«

»Louisa? Wo steckst du?«

Ich blickte mich kurz nach einer ruhigeren Ecke um, in der ich telefonieren konnte, ohne dass andere Gäste womöglich Mums laute Stimme hörten. Nur für den Fall …

»Ich habe mir gerade einen Kaffee geholt und gehe ein bisschen durch die Stadt. Ich war lange nicht hier und wollte mich ein wenig umsehen und das schöne Wetter genießen.«

»Gut, nutze deine beiden freien Tage, solange du noch kannst, denn es wartet eine Menge Arbeit auf dich.«

»Hast du einen Job für mich?«

»Einen wirklich wichtigen«, setzte Mum hinzu. »Am besten kommst du ins Büro, dann können wir alles besprechen.«

»Meinst du, dass ich das auch wirklich kann? Sollte ich nicht vielleicht erst einmal etwas Kleineres annehmen? Ich meine, wenn der Auftrag doch so wichtig ist.«

»Glaub mir, ich würde es jemand anderem geben oder selbst machen, wenn ich könnte, aber es kommst im Moment nur du infrage«, gestand Mum, was mich sehr kränkte. Fehlte nur noch, dass sie ein leider hinzusetzte.

»Okay, na gut. Ich komme sofort zu dir. Bis gleich.« Stöhnend verstaute ich mein Smartphone in der Tasche und marschierte in Richtung Ausgang. Von wegen, meine zwei letzten freien Tage genießen! Gerade als ich aus dem Café treten wollte, spürte ich einen Aufprall, gefolgt von etwas Heißem, das sich brennend über meine Hand ergoss. Entsetzt schrie ich auf und blickte zu meiner Verwunderung in ein wütendes Gesicht, welches mich so finster anschaute, dass ich mich am liebsten in Luft aufgelöst hätte. »Was zum Teufel …?«, fluchte der dazugehörige Mund und ich trat hastig einen Schritt zurück. Vor mir stand ein zugegeben sehr hübscher Mann, in einem sehr teuer aussehenden Anzug. Leider sah dieser durch meinen verschütteten Kaffee nicht mehr so gepflegt aus.

»O mein Gott, entschuldigen Sie bitte«, stammelte ich hilflos und machte Anstalten, dem Mann irgendwie zu helfen. Ich vergaß dabei, dass mir selbst die Haut fürchterlich brannte. »Es tut mir wirklich leid, das war keine Absicht. Ich habe Sie nicht …«

»Haben Sie denn keine Augen im Kopf? Verdammt noch mal! Ich habe gleich einen wichtigen Termin und keine Zeit mich vorher umzuziehen!«, zeterte der Mann weiter und ich biss mir verlegen auf die Unterlippe. Krampfhaft suchte ich in meiner Handtasche nach einem Taschentuch, fand aber keines. »Wie gesagt, das war wirklich keine …«

»Achten Sie das nächste Mal besser darauf, wo Sie hintreten. Himmel noch mal!«

Die Leute, die an uns vorbeiliefen, blickten uns mit staunenden Gesichtern an. Logisch, so eine Szene auf offener Straße fesselte jeden. Ich versuchte, die Leute zu ignorieren und warf meinen fast leeren Kaffeebecher in den Mülleimer neben mir. Dass ich mich selbst komplett mit Kaffee eingesaut hatte, schien den Typen nicht im Geringsten zu interessieren. Dann angelte ich nach meinem Portemonnaie und suchte nach den richtigen Worten, in der Annahme, dass er mich endlich meinen Satz zu Ende bringen lassen würde. »Ich kann mich nur tausendmal entschuldigen. Wirklich. Ich gebe Ihnen gerne Geld für die Reinigung, oder wissen Sie was? Am besten gebe ich Ihnen meine Adresse und Sie schicken mir einfach die Rechnung«, schlug ich vor und rechnete mir im Geiste aus, wie viele Pfandflaschen ich sammeln müsste, um die Rechnung von diesem teuren Anzug bezahlen zu können. Irgendwie hatte ich gehofft, ihn somit besänftigen zu können, doch da hatte ich mich wohl getäuscht. Der Mann sah mich irritiert an. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

»Ich denke, dafür sind Sie ein bisschen zu schwer«, scherzte ich und verfluchte mich innerlich für meinen schlechten Witz. Wieder bedachte er mich mit einem Blick, als würde er mich gleich in der Luft zerreißen wollen. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück. »Entschuldigen Sie, das war leider nicht so witzig, wie es gedacht war …«

»Das ist ganz und gar nicht witzig und Ihre Almosen können Sie sich schenken. Glauben Sie etwa, ich kann meine Rechnung nicht selbst zahlen? Was ich brauche ist kein Geld, sondern eine Zeitmaschine, die mir jetzt die Stunde gibt, die ich benötige, um mich umzuziehen.« So lange brauchte er, um sich umzuziehen? Das war ja wohl maßlos übertrieben!

Langsam wurde ich sauer. Immerhin hatte ich mich mehrmals entschuldigt und ihm den Kaffee garantiert nicht mit Absicht über seinen Anzug geschüttet. Ich war an dem Punkt, an dem ich bereute, dass ich nicht das komplette Getränk auf ihn gegossen hatte. Verdient hatte er es jedenfalls. Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Wissen Sie was? Eben dachte ich noch, dass es mir mit Ihrem Anzug ehrlich leidtun würde. Aber Sie lassen mich ja nicht einmal richtig aussprechen. Geben Sie mir doch einfach die Nummer von Ihrem Terminpartner und ich sage ihm, dass es ein dummer Fehler meinerseits war. Vielleicht lässt sich mit der anderen Person besser reden als mit Ihnen!«

»Allmählich gehen Sie mir wirklich auf die Nerven«, herrschte mich der Mann an, der fieberhaft versuchte, den Fleck mit einem Taschentuch zu entfernen. Als hätte er meinen Satz gar nicht wahrgenommen.

»Und allmählich scheinen Ihnen die Argumente auszugehen. Wenn Sie meine Entschuldigung nicht annehmen wollen und auch mein Geld nicht möchten, kann ich leider nichts mehr für Sie tun. Viel Spaß bei Ihrem Termin«, rief ich aufgebracht und verschwand zwischen den gaffenden Leuten, ehe der Mann, der mir unter anderen Umständen mit seinem dunklen Haar und den nussbraunen Augen wesentlich besser gefallen hätte, noch etwas erwidern konnte.