Kapitel 1
Aufgeben war keine Option.
Man konnte Jonna Madsen so einiges nachsagen, doch sie gab niemals auf. Auch wenn sämtliche Fakten dafürsprachen.
Ihre Handflächen schwitzten und ihr Mund war trocken wie Sandpapier. Die vage Möglichkeit, dass ihr Leben heute endete, war nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Sie presste die Lider zusammen und zählte stumm bis zehn. Im Augenblick bereute sie ihren Entschluss zu fliegen mehr als alles andere, doch sie würde das jetzt durchziehen. Jonna wäre nicht Jonna, wenn sie eine einmal getroffene Entscheidung rückgängig machen würde.
Mit ihrem vierjährigen Jack Russell Mr Gandy, der in einer engen Transportbox leise vor sich hin jaulte, wartete Jonna am Check-in-Schalter im Terminal zwei des Frankfurter Flughafens inmitten einer langen Schlange wildfremder Menschen und gab ihr Bestes, nicht in Panik zu verfallen. Beten wäre vielleicht eine Option. Allerdings waren Jonnas Wünsche schon länger nicht mehr vom Universum erhört worden. Also verwarf sie auch diesen Gedanken und knabberte stattdessen an ihrer Unterlippe. Die Vorstellung, bald hoch oben in der Luft zu sein, ohne festen Boden unter den Füßen, ließ ihre Eingeweide verkrampfen. Nach fünf Jahren Beziehung hatte sie das erste Mal ihren Koffer nur für sich gepackt. Hatte Nick sowie die gemeinsame Altbauwohnung im Heidelberger Stadtteil Handschuhsheim, die sie einst so liebe- und hoffnungsvoll eingerichtet hatte, verlassen – wenn auch zunächst nur vorübergehend. Nick hatte es nicht einmal für nötig gehalten, sie zum Flughafen zu begleiten. Wichtiger Geschäftstermin, Schnuppel. Kann nicht, hatte er beiläufig gemeint, als sie ihn gefragt hatte, ob er sie fahren würde. Natürlich konnte er nicht. Wie immer war ihm alles andere wichtiger.
Hatte sie ihm nicht mehr als einmal versucht zu erklären, dass es genau diese Gleichgültigkeit war, die sie nun dazu gebracht hatte, der Einladung ihrer alten Studienfreundin Liz nach Cornwall zu folgen und sich todesmutig in ein Flugzeug zu begeben?
Und dann dieses blöde Schnuppel! Sie hatte das Kosewort noch nie gemocht.
„Entschuldigung, Dornröschen, warten Sie auf besseres Wetter?“ Eine männliche Stimme holte sie wieder zurück in die Realität.
Jonna wirbelte herum. Mit ihren knapp Einssiebzig war sie nicht groß, aber gegenüber dem kleinen Mann, der sie unter buschigen Augenbrauen hervor grimmig anstarrte, kam sie sich vor wie ein Riese. Was dem Kerl an Körpergröße fehlte, machte er durch einen furchteinflößenden Umfang wett. Die Knöpfe seiner Weste, die sich wie ein Zelt über dem Bauch spannte, drohten jeden Moment aufzuspringen.
„Wie bitte?“
Der Fremde machte eine Kinnbewegung zum Schalter. „Na, Sie beabsichtigen doch sicher auch, für den Flug nach Manchester einzuchecken. Oder haben Sie es sich anders überlegt?“ Sein Blick glitt unverschämt langsam über ihren Körper hinweg, verweilte ein paar Sekunden zu lang auf ihren Brüsten, die sich gegen den Stoff ihrer Bluse pressten, und blieb schließlich an ihren vollen Lippen hängen.
Sie widerstand dem Drang, sich über den Mund zu lecken. Womöglich klebte dort noch Fruchtfleisch von dem Organgensaft, mit dem sie an einem Snackstand vorhin drei Baldrianpillen heruntergespült hatte?
Nimm unbedingt etwas zur Beruhigung, hatte Tabea, Chefin des kleinen Schmuckladens, für den sie seit drei Jahren aparte Ketten und Armbänder kreierte, geraten. Das wird deine Aufregung etwas dämpfen.
Tabea war praktisch veranlagt und behielt stets einen kühlen Kopf, ganz im Gegensatz zu Jonna. Deshalb hatte sie ihren Rat nur allzu gern angenommen. Die dummen Pillen wirkten allerdings leider nicht. Mehrere Male stellte sie sich vor, mit Mr Gandy unter dem Arm zurück in die Komfortzone ihrer Wohnung zu flüchten. Nur dass sie diesem Impuls nicht nachgeben würde, auch weil sie dort mit Nicks Anwesenheit und der unbequemen Wahrheit, dass sie in ihrer Beziehung am absoluten Nullpunkt angelangt waren, konfrontiert sein würde.
„Also, was denn nun?“, hakte der Mann mit dem beängstigenden Bauchumfang nach.
Fieberhaft durchforstete sie ihr Hirn nach einer passenden Antwort. Vergeblich. Etwas Schlagfertiges wollte ihr um sieben Uhr in der Frühe leider nicht einfallen. Sie war eben kein Morgenmensch. Damit der Kerl jedoch kapierte, wie unverschämt sie sein Benehmen fand, strafte sie ihn mit einem vernichtenden Blick ab. Auch weil er die Frechheit besaß, ihr weiterhin auf den Mund zu starren. Fruchtfleisch hin oder her. Sie schnappte sich den Trolley und setzte sich mit dem inzwischen verstummten Mr Gandy in Bewegung.
Am Schalter raffte sie sich zu einem, wie sie hoffte, selbstsicheren Lächeln auf, als sie der blonden Dame mit der Dolly-Parton-Gedächtnisfrisur ihr Ticket und den Reisepass reichte. Während diese auf ihren Bildschirm starrte und die Daten eingab, wischte Jonna sich mit dem Handrücken unauffällig über die Lippen. Nur zur Sicherheit. Und da war nichts. Kein Fruchtfleisch. Was für ein Glück.
Nachdem sie eingecheckt und sich ein paar Meter vom Schalter entfernt hatte, pustete sie sich innerlich kopfschüttelnd eine mahagonifarbene Locke aus dem Gesicht. Die Begegnung mit dem Hornochsen hatte sie immerhin kurz von der Tatsache abgelenkt, dass der Abflug immer näher rückte. Doch nun kehrte die Panik Stück für Stück zurück. Mit einem flauen Gefühl im Magen verließ sie das Terminal Richtung Gate.
Zu ihrem Erstaunen brachte sie die Sicherheitskontrolle ohne Ohnmachtsanfall hinter sich, allerdings bewegte sie sich auch noch auf sicherem Terrain, wenn man es recht betrachtete. Im Wartebereich am Abfluggate fischte sie das Desinfektionsspray aus der Umhängetasche. Mit glühenden Wangen besprühte sie die Sitzfläche eines der roten Plastikstühle, bemüht, die neugierigen Blicke des Bodybuilders mit der Punkfrisur auf dem Nachbarsitz zu ignorieren. Vermutlich hielt er sie für eine durchgeknallte Endzwanzigerin mit Putzzwang. Es war ihr egal. Mit einem leisen Seufzen ließ sie sich auf den Stuhl sinken und versuchte anschließend flüsternd, Mr Gandy in seinem Gefängnis gut zuzureden. Der Jack Russell hasste es, eingesperrt zu sein, und es tat ihr leid, dass sie ihm das antun musste. Aber niemals hätte sie ihren vierbeinigen Freund zurücklassen können. Vor drei Jahren hatte sie den kleinen Kerl bei einem Besuch im Tierheim entdeckt und sich Hals über Kopf verliebt. Kühn hatte sie sich gegen Nick durchgesetzt und Mr Gandy, der damals noch auf den wenig fantasiereichen Namen Strolch hörte, mit nach Hause genommen. Sie gab es ungern zu, und ja, irgendwie war es ihr auch peinlich, aber der kleine Hund war für Jonna ein Kindersatz.
Die recht einseitige Unterhaltung wurde durch das Summen des Smartphones in ihrer Jackentasche unterbrochen. Vielleicht rief Nick an? Bestimmt würde er sie anflehen, zu ihm zurückzukommen, weil er ohne sie nicht leben konnte. Jonnas Herz machte einen hoffnungsvollen Hüpfer, aber ein rascher Blick aufs Display raubte ihr jegliche Illusion, denn dort stand nicht Nicks, sondern Tabeas Nummer. Sie sollte endlich aufhören, weiter von Zuckerwatte und rosa Glitzerherzen zu träumen. Begreife es endlich, Jonna. Das Leben ist kein Wunschkonzert, und wer wüsste das nicht besser als du? Demonstrativ drehte sie dem Kerl neben sich den Rücken zu, weil er sie noch immer höchst interessiert musterte. Wenn Jonna etwas nicht ausstehen konnte, dann Menschen, für die das Wort Privatsphäre ein Fremdwort zu sein schien. Generell fühlte sie sich allein wohler als in Gesellschaft anderer. Deshalb war der Job als Schmuckdesignerin ideal. Hier konnte sie im Hintergrund agieren. Sie liebte die Abgeschiedenheit ihres Arbeitsbereiches, dieser kleinen zauberhaften Welt, in der sie filigrane, romantische oder flippige Schmuckstücke kreierte, während Tabea im Verkaufsraum die Ware präsentierte und bediente.
„Hey, Tabea“, begrüßte sie ihre Chefin und Freundin in gedämpftem Tonfall am Telefon und gab sich alle Mühe, die Gegenwart des Möchtegern-Hulks auf dem Nachbarsitz auszublenden, der sie weiterhin äußerst interessiert fixierte. „So früh schon auf?“ Montags hatte Tabeas Schmuckkästchen geschlossen, weshalb Tabea an Montagen immer gern ausschlief.
Tabea gähnte herzhaft. „Die Kinder von oben haben mich mit ihrem Getrampel geweckt. Außerdem wollte ich hören, wie dein Date gestern gelaufen ist.“
„Welches Date?“ Jonna entfuhr ein ersticktes Lachen, das sofort von einer knisternden Lautsprecherdurchsage übertönt wurde.
„Wo in aller Welt bist du?“
„Am Frankfurter Flughafen.“
Tabea sog hörbar die Luft ein. „Was? Oh mein Gott! Du ziehst es also jetzt tatsächlich durch?“
„Sieht ganz danach aus.“ Jonna schlug ihre nackten Beine übereinander. „Nick hat den Bogen diesmal echt überspannt. Deswegen kam mir Liz’ Einladung wie gerufen.“
„Was hat er denn angestellt?“
„Er hat unseren Jahrestag verbummelt, nicht zum ersten Mal. Geschlagene anderthalb Stunden saß ich in meinem kleinen, sexy Schwarzen bei unserem Lieblingsitaliener und habe vergeblich auf ihn gewartet. Als ich schließlich vor Enttäuschung und Wut brodelnd nach Hause kam, hat er mich zerknirscht mit seinen himmelblauen Augen angesehen und mir beim Leben seiner Mutter geschworen, dass ihm so etwas nie wieder passieren würde.“
„Und glaubst du ihm?“
„Ich möchte es gern. Dennoch bin ich natürlich stinksauer.“
„Absolut verständlich.“
„Deswegen musste ich einfach reagieren, Tabea.“
„Und ich drücke alle Daumen, dass deinem Nick endlich ein Licht aufgeht!“
„Du, ich kann dir gar nicht sagen, wie schlecht mir gerade ist. Das mit dem Fliegen …“ Um ihre Hände zu beschäftigen, zupfte sie an der tadellosen Seitennaht ihres Jeansrocks.
„Du schaffst das schon.“ Jonna konnte das Grinsen in Tabeas Stimme förmlich hören. „Denk einfach an all die süßen, kleinen Restaurants und Geschenkelädchen, die dich erwarten. An frischen Fisch, Krabben, Lobster und an diesen unvergleichlichen Meeresduft … Und die Blumen, besonders jetzt, im Frühjahr … Gott, Jonna, ich gerate selbst ins Schwärmen. Ich beneide dich, ehrlich. Du wirst es in Cornwall lieben. Hast du nicht immer davon geträumt?“
Cornwall … Sofort sah Jonna dieses zauberhafte Fleckchen Erde vor sich. Verträumte, malerische Fischerdörfer, grüne Hügel, dramatische Meeresklippen und weite Moore. Tabea hatte recht. Schon lange zog es Jonna dorthin. Voller Sehnsucht hatte sie jeden Reisebericht verfolgt, jeden Film, der dort spielte, gesehen. Vermutlich war sie der größte Fan der Rosamunde-Pilcher-Filmreihe überhaupt.
„Und was Nick betrifft“, ergänzte Tabea, „der kommt bestimmt zur Besinnung. Wie heißt es doch so schön: Man weiß die Dinge erst zu schätzen, wenn man sie verloren hat. Du wirst sehen, am Ende wird sich der ganze Stress gelohnt haben.“
„Klar, die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Jonna gab sich Mühe, den kleinen Stich in der Brustgegend zu ignorieren. „Ob er mir jemals diese eine Frage stellen wird?“ Anstatt ihr endlich den ersehnten Antrag zu machen, gammelte ihr langjähriger Lebensgefährte lieber in ausgebeulten Jogginghosen vor dem Fernseher. Sicher, sie hätte das Zepter in die Hand nehmen können, doch in dieser Hinsicht war sie traditionell. Sie träumte von dem ganzen Paket: läutende Kirchenglocken, ein Haus voller lärmender, lachender Kinder und dem unvermeidlichen weißen Gartenzaun.
„Du unverbesserliche Romantikerin. Glaub mir, die Ehe wird komplett überbewertet.“
„Nicht alle Kerle sind wie Marten“, bemerkte Jonna sanft und hoffte, ihre Chefin würde es ihr verzeihen, sie auf ihren Ex angesprochen zu haben. Er hatte Tabea zwei Tage vor der Hochzeit überraschend den Laufpass gegeben und sie auf allen Kosten sitzenlassen, was sie ihm niemals verzeihen würde. Jonna konnte es ihr nicht verdenken. Tabea war in ihren Grundfesten erschüttert worden. Anders als Jonna glaubte Tabea schon lange nicht mehr an Happy Ends. Geschweige denn an die große, einzig wahre Liebe.
„Also ich für meinen Teil bleibe in Zukunft lieber solo“, schnaubte sie nun auch wie erwartet. „Und du, genieße doch einfach deine wilde Ehe!“
„Du vergisst, dass meine sogenannte wilde Ehe ungefähr so wild ist wie das Sexleben einer Schnecke.“
Jetzt kicherte Tabea. „Jonna, ich liebe deinen trockenen Witz. Ich bin sicher, dass die räumliche Trennung wieder Würze in euer Sexleben bringen wird. Nick wäre nicht der erste Mann, bei dem das funktioniert. Genieße deine Auszeit! Und grüße deine Studienfreundin Liz von mir.“
„Mach ich. Übrigens, nochmals lieben Dank, dass du mir für dieses Abenteuer so kurzfristig freigegeben hast.“
„Kein Thema, meine Liebe. Ich hatte dir die Auszeit ja selbst angeboten. Hauptsache, du kommst wieder und lässt mich nicht hängen, sonst werde ich am Ende vor lauter Frustnaschen noch zur gefürchteten Matrone“, scherzte sie, obwohl Tabea mit ihrer Kleidergröße sechsunddreißig plus immer noch in der Jugendabteilung shoppen konnte.
„Natürlich komme ich zurück. Aber abgesehen davon wäre das Naschen für dich kein Drama. Du bist nicht diejenige von uns beiden, die schon beim Ansehen von Süßem zwei Pfund zulegt.“ Jonna grinste.
„Dafür besitzt du beneidenswerte Kurven, Süße.“
Lachend beendeten sie schließlich das Gespräch.
Eine junge Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm hastete an Jonna vorbei. Mit dem Handy in der Hand sprang sie auf, als dem Kind ein Stofftier aus den Händen fiel. Mit wenigen Schritten hatte sie die beiden eingeholt und hob das Tier auf, bevor noch jemand aus Versehen drauftrat. Die Kleine weinte inzwischen und verlangte lautstark nach ihrem plüschigen Gefährten, der einem zerzausten Biber ähnelte.
„Entschuldigen Sie, Sie haben etwas verloren“, sprach Jonna die Mutter an, die inzwischen, alarmiert von dem Gebrüll ihrer Tochter, stehengeblieben war, und reichte ihr das Spielzeug.
„Oh, wie lieb von Ihnen.“ Die sichtlich gestresste Frau nahm das Kuscheltier entgegen und drückte es ihrer Tochter in die kleine Hand. „Hier hast du deinen Baba wieder. Jetzt pass aber gut auf ihn auf, Sofie.“ Sofort versiegten die Tränen der Kleinen und ihre Mundwinkel hoben sich zu einem glücklichen Strahlen. Sie war niedlich, mit blondem Wuschelhaar und blauen Kulleraugen.
So ähnlich habe ich mir mein Kind auch immer vorgestellt. Da war erneut dieses dumme Ziehen in ihrer Brust, doch Jonna überspielte den leisen Schmerz mit einem Lächeln. „Gern geschehen. Gute Reise.“
Die junge Frau bedachte sie mit einem dankbaren Blick. „Das wünsche ich Ihnen auch.“
Jonna zwinkerte dem kleinen Mädchen zu und kehrte zu ihrem Platz und zu einem geduldig wartenden Mr Gandy zurück. Leise seufzend scrollte Jonna sich durch ihre Mails. Noch einmal las sie Liz’ Nachricht, um sich in Erinnerung zu rufen, weshalb sie hier gelandet war.
Liebste Jonna,
schon viel zu lange haben wir uns nicht mehr gesehen! Ich vermisse dich. Ich vermisse unsere nächtelangen Gespräche, dein Lachen, deine Mails. Es ist höchste Zeit, dass wir all die Zeit aufholen, die wir uns nicht gesehen haben. Warum wirfst du nicht ein paar Sachen in den Koffer und besuchst mich hier in Penkerris? Du bist jederzeit herzlich willkommen, ein kleines, aber feines Gästezimmer wartet extra auf dich …
Liz’ Worte zupften an Jonnas Herz. Von Beginn an war Liz einer von jenen Menschen gewesen, mit denen sie sich sofort verbunden gefühlt hatte. Während der Studienzeit waren sie unzertrennlich gewesen, zwei Hälften eines Ganzen, auch wenn sie vom Charakter her nicht hätten unterschiedlicher sein können. Liz, die unbekümmerte lässige Frohnatur, Jonna, die nachdenkliche, gefühlvolle Romantikerin. Seit Jonna die Einladung erhalten hatte, hatte sie unablässig darüber nachgedacht, ihre Freundin im fernen England zu besuchen. Ihre dumme Panik vorm Fliegen hatte sie aber bislang davon abgehalten, und ja, wenn sie ehrlich war, hatte Jonna Liz auch ein wenig beneidet. Ihre Freundin hatte sich ihren Lebenstraum von einem kleinen Café in einem pittoresken Fischerdorf an der Küste Cornwalls erfüllt – samt Ehemann und Stieftochter. Anders als in ihrem eigenen Leben, schien bei Liz alles rund zu laufen. Liz hatte ihren Platz gefunden. Ihren Hafen, ihre Heimat. Sie war angekommen. Jetzt, wo sich Jonna tatsächlich auf den Weg gemacht hatte, schämte sie sich für ihre Gefühle und dafür, so lange gebraucht zu haben, das Glück ihrer Freundin neidlos zu akzeptieren. Sie konnte es kaum mehr erwarten, Liz in die Arme zu schließen. Hoffentlich würde Liz ihr das lange Schweigen verzeihen.
Sie war im Begriff, ihr Handy zurück in die Tasche zu stecken, als ein dunkelhaariger Mann, der im Nirvana-Shirt lässig gegen ein Werbeschild lehnte, ihren Blick einfing und ein kleines, schiefes Lächeln aufblitzen ließ. Innerlich Augen rollend wandte sie sich ab. Ihr Bedarf an schrägen Vögeln war für die nächsten zehn Jahre gedeckt, auch wenn dieser hier dank der beeindruckenden Schultern und der engen, stonewashed Jeans eine ziemlich gute Figur machte, wie sie feststellte.
Um sich mit etwas anderem als ihrer stetig wachsenden Panik zu beschäftigen, überlegte sie, ob sie auch nichts vergessen hatte. Personalausweis, Ticket, Geldbeutel. Das Fläschchen mit dem beruhigenden Aromaöl, Desinfektionsspray, arbeitete sie in Gedanken ihre Liste ab. Kaum dachte sie jedoch daran, dass es bald losging, fing ihr Puls erneut an zu rasen. Vielleicht sollte sie sich lieber Mr Gandy unter den Arm klemmen und den Heimweg antreten.
Zum Kuckuck, Kind! Pack das Leben bei den Eiern!
Opas Stimme. Fast schien es, als säße er hier im Raum und würde ihr verschwörerisch zuzwinkern. Ihm hatte Jonna, die eigentlich Johanna hieß, ihren Rufnamen zu verdanken. Von Geburt an hatte er, dessen Wurzeln in Kopenhagen lagen, sie stets nur mit der dänischen Kurzform angesprochen. Zudem war Henry Paul Madsen der patenteste Mensch gewesen, den sie je gekannt hatte. Niemals hatte er gejammert, obwohl ihn das Leben nicht mit Samthandschuhen angepackt hatte. Probleme sind dazu da, gelöst zu werden, hatte er stets mit einem spitzbübischen Lächeln verkündet, das seine von tausend Lachfältchen umgebenen Augen zum Strahlen brachte. Himmel, wie sie Opa vermisste! Was würde sie nicht alles dafür geben, wenn er jetzt neben ihr sitzen und ihr die Hand tätscheln würde. Opa hatte sich immer viel mehr um ihr Seelenleben gekümmert, als Mama es je getan hatte. Andererseits, wer konnte es ihrer Mutter verübeln? Als alleinerziehende Berufstätige hatte sie alle Hände voll zu tun gehabt – und dann noch mit einem komplizierten Kind wie Jonna. Die meiste Erinnerung an ihre Kindheit war verschwommen, doch das Gefühl, wie sie allein auf dem kalten Boden in einer Ecke des dunklen Hausflurs kauerte und darauf gewartet hatte, dass ihre Mutter spätabends von der Arbeit heimkehrte, hatte sich in ihr Gedächtnis eingegraben. Da waren Schatten gewesen, diese Geräusche, das Ächzen und Knacken des alten Hauses. Jonna zitterte vor Kälte und hatte sich dennoch nicht von der Stelle gerührt, zu groß war ihre Angst gewesen. Ihre Therapeutin glaubte, dass in jenen Nächten Jonnas Panikattacken wurzelten, genau wie die tiefe, verzweifelte Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit, die sie auf Schritt und Tritt begleitete. Auch wenn Jonna im Lauf der Jahre ihren Frieden geschlossen hatte, dass diese Eigenschaften, genau wie die wilden Locken, die tausend Sommersprossen über ihrer Nase und die grünen Augen ein Teil von ihr waren, war sie fest entschlossen, in dieses verdammte Flugzeug zu steigen und nach England zu fliegen.
Sie straffte ihre Schultern. Diesmal würde sie sich ihrer Angst stellen. „Für dich, Opa“, wisperte sie. In dem Moment erklang der Aufruf für den Flug BA 8294 nach Cornwall.
Kapitel 2
Unaufhörlich schob sich die Menschenschlange in der Gangway Richtung Flugzeug weiter. Mr Gandy und Jonna mittendrin, eingepfercht wie Sardinen in der Dose. Entsetzt stellte Jonna fest, dass der Boden unter ihren Füßen vibrierte, als sie die Maschine betrat. Sie versuchte, ihre flatternden Nerven zu beruhigen. Setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen. Jonna, du schaffst das. Einatmen, ausatmen. Ein … Sie war so weit gekommen, den Rest würde sie auch noch schaffen.
„Willkommen an Bord.“ Eine uniformierte Flugbegleiterin mit sonnengelbem Halstuch schenkte ihr ein strahlendes Lächeln und ließ sich von Jonna die Bordkarte zeigen.
Innerlich aufseufzend ergab sich Jonna ihrem Schicksal und suchte mit Mr Gandy im Schlepptau den ihr zugewiesenen Platz.
„Entschuldigung“, bat sie die füllige Dame, mit deren ausladendem Dekolleté sie unfreiwillig Bekanntschaft schloss, als ihr jemand im Vorbeigehen seinen spitzen Ellenbogen in die Seite stieß. Die Frau bedachte sie mit einem säuerlichen Lächeln, und Jonna atmete auf, als sie ihre Sitzreihe erreichte. Noch saß niemand dort, sie war die Erste. Sie schob sich auf den Platz am Fenster, setzte den Transportkorb zu ihren Füßen ab und machte es sich bequem. Vielleicht zeigte sich das Universum gnädig und der Platz neben ihr blieb frei? Die Aussicht, über eine Stunde auf engstem Raum in Gesellschaft einer wildfremden Person verbringen zu müssen, hob nicht gerade ihre Laune. Das metallische Klicken des sich schließenden Gurts über ihrer Hüfte ließ das Bild von Handschellen, die sich wie Eisenringe um ihre Gelenke schlossen, aufblitzen. Klick! Prompt stolperte Jonnas Puls, Schweiß prickelte auf ihrer Stirn. Plötzlich fühlte sie sich wie in einem eisernen Kokon gefangen. Konnte nicht mehr atmen. Sie kniff die Augen zusammen, um die Realität um sich herum auszublenden und ließ den Kopf gegen die Stütze sinken. Ganz ruhig, Jonna. Ein … und aus … Ein … Oh nein! Sie riss die Augen auf und beugte sich vor. Dort, wo eben ihr Hinterkopf die Rücklehne berührt hatte, hatten schon unzählige andere Köpfe gelehnt. Hektisch wühlte sie in ihrer Umhängetasche nach dem Desinfektionsspray, erstarrte jedoch in der Bewegung, als sich jemand auf den freien Platz neben ihr fallenließ, und gab ihr Vorhaben auf. In der Enge der Kabine wäre es ihr irgendwie peinlich, dabei erwischt zu werden, mit dem Spray zu hantieren. Ein Hauch von Aftershave stieg ihr in die Nase und sie hob den Blick, um das knappe Nicken ihres neuen Sitznachbarn zu erwidern. Erleichtert stellte sie fest, dass es sich weder um den Hornochsen vom Check-in noch den Möchtegern-Hulk am Gate handelte, und dennoch kam ihr der Mann irgendwie bekannt vor. Um ein Haar hätte sie einen überraschten Laut von sich gegeben, als ihr Blick sein schwarzes Nirvana-Shirt streifte. Er war derjenige, der sie, lässig gegen das Werbeplakat gelehnt, beobachtet hatte. Du lieber Himmel, der Kerl war doch hoffentlich kein Stalker?
Mit einem Gefühl des Unbehagens ließ sie ihre Tasche auf den Boden sinken und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er sich abmühte, seine langen Beine zu verstauen, was sich als schwieriges Unterfangen erwies. Er fluchte leise, und es dauerte, bis er sich in Position gebracht hatte, um seinen Gurt zu befestigen. Während er sich in seinem Sitzplatz einrichtete, schnupperte sie unauffällig. Was Gerüche anbelangte, war sie sehr empfindlich. Erleichtert stellte sie jedoch fest, dass der Mann gepflegt roch. In dieser Hinsicht konnte man ihm nichts vorwerfen. Sein Duft war herb und frisch zugleich, gekrönt von einem holzigen, moschusartigen Akzent. Männlich, kam es ihr in den Sinn. Sein Geruch brachte irgendeine Saite in ihr zum Klingen. Etwas, das tief in ihr vergraben lag und ihr ein beunruhigendes Kribbeln in der Magengegend bescherte. Die Erkenntnis, dass er gut duftete, trug allerdings nicht dazu bei, dass sie sich in seiner Gegenwart wohl fühlte. Es machte ihn leider auch nicht sympathischer.
„Um es gleich deutlich zu machen, ich lege keinen Wert auf Smalltalk“, stellte sie vorsorglich klar, als er seinen Blick auf sie richtete. Nur damit er nicht auf dumme Gedanken kam. Als erwachsene Frau, die sehr gut allein zurechtkam, konnte sie auf einen Begleiter, der sich während des Fluges an sie hängte, gut und gern verzichten, sagte sie sich, wobei sie beiläufig eine kleine Narbe, die seine rechte Braue teilte, sowie den Bartschatten auf Kinn und Wangen registrierte. Sein Haar lockte sich im Nacken, und es war einen Tick zu lang.
Als Reaktion auf ihre Worte verdunkelte das Kaffeebraun seiner Augen sich und sein Blick durchbohrte sie förmlich. So als sei er in der Lage, all ihre tiefsten Geheimnisse zu ergründen. Nicht dass Jonna derartige Geheimnisse besitzen würde.
Er hob eine Braue. Die mit der kleinen Narbe. „Ich habe gewiss nicht vor, Sie zu belästigen.“ Obwohl er aufrichtig klang, nahm sie es ihm nicht ab, denn sie bemerkte das leicht amüsierte Zucken seines linken Mundwinkels.
Leider konnte man sich seinen Sitznachbarn nicht aussuchen. Nun, sie würde ihn einfach ignorieren. Mit gerecktem Kinn richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Rollfeld, wo die Flughafenmitarbeiter fleißig dabei waren, die Maschine mit den letzten Gepäckstücken zu beladen. Sie schluckte schwer und atmete tief durch.
„In dem Netz an Ihrem Vordersitz befindet sich übrigens eine Spucktüte“, meldete sich ihr Sitznachbar ungefragt. „Nur für den Fall der Fälle.“ Bildete sie sich das ein oder schwang in seiner Stimme ein Fünkchen Belustigung mit?
Eine Sekunde lang erwog sie, ihm ein paar entsprechende Worte an den Kopf zu werfen, entschied sich dann jedoch dagegen. Es war der Mühe nicht wert. In wenigen Stunden würden sich ihre Wege trennen, und der Mann würde im Nirwana verschwinden. Das passende Shirt trug er ja bereits, dachte sie trocken. Liz hätte sicher über dieses Gedankenspiel geschmunzelt.
Jonna wurde rasch in die Gegenwart zurückgeholt, als die Anschnallzeichen über ihren Köpfen mit einem unüberhörbaren Pling aufleuchteten. Als sich anschließend die kleinen Monitore einschalteten und die Videos mit den Sicherheitseinweisungen starteten, geriet ihr Herz ins Stolpern. Grundgütiger, es ging los! Halt, rief sie stumm, ich bin noch nicht bereit! Mit aller Macht kämpfte sie gegen das aufblubbernde Gefühl der Panik an. Die Maschine setzte sich ruckelnd in Bewegung und Jonna verflocht ihre Finger im Schoß. Ungeachtet der problematischen Sitzbezüge ließ sie sich ins Polster zurücksinken. In ihrem Kopf startete eine Endlosschleife von Highway to hell.