Leseprobe Dünenträume

Kapitel 1

Leise trat Sophie an die angelehnte Tür des Kinderzimmers, hielt den Atem an und lauschte. Würde sich Kati wieder mal in den Schlaf weinen? Doch zu ihrer Erleichterung hörte sie nichts. Vorsichtig schob sie die Tür weiter auf, steckte ihren Kopf ins Zimmer und warf einen Blick auf ihre schlafende Tochter. Im sanften Schein der Nachtlampe wirkte Katis kleines Gesicht entspannt und unschuldig. Eine Welle der Zärtlichkeit überschwemmte Sophie und brachte sie zum Lächeln. Das kam selten vor, seit sie vor dreieinhalb Monaten zusammen hierher nach Lüneburg gezogen waren. Im Wachzustand schien Kati nämlich beinahe immer finster ihre Stirn zu krausen und ihre Unterlippe vorzuschieben. Diese Mimik beherrschte ihre Tochter inzwischen bis zur Vollkommenheit.

Sophie trat ans Bett und zog die Decke über die schmalen Schultern des Mädchens. Wie klein sie wirkte, wie zerbrechlich – und wie unschuldig. Dabei wusste Sophie, dass Kati für ihre Fehler büßte, für die Fehler ihrer Mutter.

Erschrocken zuckte sie zusammen, als ihre Tochter im Schlaf seufzte und sich umdrehte. Es kam ihr vor, als hätte sie ihre Gedanken gelesen und würde ihr zustimmen.

Still wandte sie sich ab und verließ das Kinderzimmer, ging in die Stube und goss Tee in ihre Tasse. War es nicht so, dass auch sie selbst sich hier immer noch fremd fühlte? Langsam ließ sie ihre Blicke durch den behaglich eingerichteten Raum schweifen, über das taubenblaue Sofa und den Sessel, in dem Kati abends immer lümmelte und sich ihre Kindersendung im Fernsehen ansah, die Kommoden und die Vitrine voller Erinnerungsstücke an ihr altes Leben in Coppum. An der Wand hingen gerahmte Fotos, die glückliche Erinnerungen eingefangen hatten wie ein Käfig bunte Vögel. Alles sah sehr hübsch aus – und wirkte fehl am Platz. Genauso, wie sie sich fühlte. Es war, als würden die Möbelstücke empfinden wie sie selbst und sich zurückwünschen.

Schnell trank sie einen Schluck Tee in der Hoffnung, mit ihm ihre aufsteigenden Tränen hinunterschlucken zu können. Was war bloß los mit ihr? Warum machte sie alles falsch? Mit einem Mal erschien ihr das Ticken der Uhr an der Wand überlaut, als wollte es sie an die Zeit gemahnen, die unaufhaltsam verstrich und mit jeder Stunde Katis Kummer vergrößerte.

Es war kurz nach neun Uhr am Abend. Ob sie jetzt noch ihre Freundin Birte anrufen konnte? Sicher saß sie gerade mit ihrem Mann auf der Couch und guckte den neuesten Krimi.

Kurzentschlossen griff sie zum Telefon. Sie musste jetzt einfach eine vertraute Stimme hören, sonst würde sie vor lauter Verzweiflung tatsächlich noch weinen. Zu ihrer Erleichterung nahm Birte schon nach dem dritten Klingeln ab.

„Hallo, hier ist Sophie. Tut mir leid, dass ich euch so spät noch störe.“

„He, gar kein Problem. Du weißt, dass du mich jederzeit anrufen kannst. Was ist denn los? Ist etwas passiert?“

„Nein, das nicht. Aber … Ich bin so durcheinander. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass es ein Fehler war, wegzugehen. Kati kann sich einfach nicht eingewöhnen, weißt du?“

„Wie lange wohnt ihr jetzt in Lüneburg?“

„Seit drei Monaten, einer Woche und vier Tagen.“ Sophie seufzte.

„Da kannst du doch noch keine Wunder erwarten. Gib ihr Zeit. Kinder brauchen mitunter etwas länger.“

„Sie hat sich verändert, weißt du? Sie schmollt und zickt bei der kleinsten Kleinigkeit herum. Mit den anderen Kindern im Kindergarten will sie nichts zu tun haben. Die sind angeblich alle doof.“

„Sie vermisst ihre alten Freunde. Du musst Geduld haben, Sophie, das wird schon werden.“

„Hoffentlich. Sie tut mir so leid, weißt du? Sie versucht, ihren Kummer durch Trotz zu kompensieren.“

Birte lachte leise. „Aus dir spricht die Erzieherin. He, alles wird gut. Du kannst dich so wunderbar in deine kleine Maus hineinversetzen. Warte nur ab, bald springt sie wieder glücklich herum.“

„Und wenn nicht? Ich habe so ein furchtbar schlechtes Gewissen, Birte. Ich fürchte, ich habe Kati zu viel zugemutet. Erst die Trennung von ihrem Vater, dann der Umzug in eine fremde Umgebung …“

„Du bereust, dass ihr weggezogen seid?“

„Ja und nein. Wenn ich das bloß wüsste. Du weißt ja selbst, wie kompliziert damals alles war. Carsten und ich hatten uns nur noch gestritten, und Kati hatte es mehr als einmal mitbekommen. Sie hatte uns unter Tränen angefleht, uns wieder zu vertragen.“ Bei der Erinnerung daran stiegen Sophie Tränen in die Augen. „Mein kleines Mädchen! Sie ist erst vier. Sie sollte so etwas noch nicht mitbekommen.“

„Es war trotzdem richtig, dass du dich von Carsten getrennt hast. He, er hatte zugegeben, seit über einem Jahr eine Affäre zu haben. Wenn Michi so was machen würde, den hätte ich hochkant rausgeschmissen! Und das hättest du mit Carsten auch machen sollen. Er hätte ausziehen müssen und nicht ihr beide.“

Sophie lachte bitter. „Ja, hinterher ist man immer schlauer, oder? Es war ja nicht nur der Ärger mit Carsten. Du weißt ja selbst, dass die Zustände in Coppum unerträglich geworden waren. Ich wollte nur noch so schnell wie möglich weg.“

Das war noch harmlos ausgedrückt. Böses Blut hatte es gegeben, sehr viel davon. Um keinen Preis hätte sie es dort länger aushalten können. Doch nun, wo sie weg war und sah, wie Kati litt, erschien ihr der Umzug immer mehr wie eine unüberlegte, kopflose Flucht, die sie in eine Sackgasse gedrängt hatte.

„Ich habe versucht, meine Probleme auf Katis Rücken zu klären“, gab sie leise zu und schämte sich. „Das war unverantwortlich.“

„Sei nicht zu streng zu dir. Du bist auch nur ein Mensch. Du hast getan, was dir in dem Moment richtig erschien. Wie du ja gerade schon gesagt hast, weiß man meistens erst hinterher, ob etwas richtig oder falsch war. Abgesehen davon, wie gehts dir sonst so?“

„Ganz ehrlich? Ähnlich wie Kati. Ich fühle mich fremd hier, so, als ob ich hier nicht hergehöre.“

„Hast du mal darüber nachgedacht, zurückzukommen? Es redet doch keiner mehr von … der Sache.“

„Ich denke jeden Tag darüber nach. Aber ich fürchte, es wäre falsch. Jetzt sind wir schon so weit gekommen, haben die Wohnung gemütlich eingerichtet … Wie du schon sagtest, muss ich wohl nur mehr Geduld haben, auch mit Kati. Sie wird sich schon eingewöhnen. So gern ich an Coppum denke und so gern ich natürlich wieder dort wohnen würde, so wenig will ich Emma über den Weg laufen. Und das wird sich dort nicht vermeiden lassen. Vor allem, wo soll ich arbeiten? Mein Job im Kindergarten ist weg.“

Besetzt von Emma. Immer wieder Emma.

Sophie presste ihre Hand so fest um das Telefon, dass ihre Knöchel weiß wurden. „Hier habe ich immerhin eine Stelle gefunden“, fuhr sie fort, nachdem sie tief durchgeatmet hatte.

„Und wenn es mit Kati nicht besser wird?“, hakte Birte nach.

Dafür schätzte Sophie ihre Freundin so. Sie ließ nicht locker, sie bohrte wie ein Zahnarzt, bis es wehtat und man das jeweilige Problem wirklich von jeder Seite beleuchtet hatte. Das war mitunter lästig und schmerzhaft, aber am Ende immer hilfreich. Birte wäre bestimmt nicht Hals über Kopf abgehauen, nur weil ihre Ehe kriselte und sie sich mit einer ehemaligen Freundin erzürnt hatte. Nein, sie hätte alle Möglichkeiten sorgfältig abgewogen und sicher eine bessere Lösung gefunden. Auch wenn Sophie keine Ahnung hatte, welche das hätte sein sollen.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie leise.

***

Am nächsten Morgen erwachte Sophie wie gerädert. Die halbe Nacht lang hatte sie gegrübelt, welche Möglichkeiten es gab, ihrer Tochter das Leben zu erleichtern.

Jetzt saß Kati am Frühstückstisch und biss winzige Häppchen von ihrem Nutellabrot ab.

„Schmeckt’s?“, erkundigte sich Sophie und lächelte.

Kati nickte, ohne sie anzusehen oder etwas zu sagen, blickte auf ihren Teller und schob ein paar Krümel mit dem Finger hin und her. Schließlich blickte sie auf, die Augen groß und rund.

„Mama, kann ich nicht zu Hause bleiben?“

Der traurige Blick ihrer Tochter brannte sich wie Säure in Sophies Herz. Betroffen beugte sie sich vor und strich ihr sanft über die Wange. „Du weißt doch, dass das nicht geht. Ich muss zur Arbeit, und du gehst in den Kindergarten. He, ihr lernt gerade die ersten Buchstaben, oder? Stell dir nur vor, wie toll es ist, wenn du lesen lernst und bald die Pferdebücher lesen kannst, die ich dir geschenkt habe. Darauf freust du dich doch schon so.“

„Die sind mir egal.“ Die Vierjährige ließ den Kopf sinken. „Kannst du nicht von der Arbeit zu Hause bleiben?“

„Ach, Mäuschen, das geht leider nicht. Ich habe den Job noch nicht lange, weißt du? Da kann ich nicht gleich fehlen.“

„Aber warum kann ich denn nicht in Coppum in den Kindergarten gehen? Alle meine Freunde sind da. Die Kinder hier sind total blöd.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen, Süße. Du kennst sie nur noch nicht richtig. He, was hältst du denn davon, wenn du am Wochenende ein paar Kinder zu uns einlädst? Ich könnte einen Kuchen für euch backen, vielleicht einen bunten Einhorn-Kuchen, und ihr könnt euch eine schöne Zeit machen.“

Kati zuckte die Schultern. „Ich möchte viel lieber mit meinen Freunden aus Coppum spielen. Die brauche ich nicht kennenzulernen, die kenne ich schon. Melissa und Anna-Lena und Thies und …“

Die Erwähnung von Thies ließ Sophies Herz schneller schlagen. Thies, der gleichaltrige Sohn ihres alten Schulkameraden Sven. Sven, den sie immer noch nicht vergessen hatte. Ihr Herz gehörte ihm, daran hatte auch ihre Flucht nach Lüneburg nichts geändert. Seit ihrem Wegzug hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Wie es ihm inzwischen wohl gehen mochte?

„Bist du böse, Mama?“, fragte Kati leise und sah ihr prüfend ins Gesicht. „Weil ich lieber wieder in Coppum wohnen würde als hier?“

„Was? Oh, nein, Mäuschen.“ Beruhigend strich Sophie dem Mädchen über das kastanienbraune Haar. „Pass auf, ich bringe dich jetzt in den Kindergarten. Dort musst du unbedingt oft aus dem Fenster sehen, denn in der Wettervorhersage haben sie gesagt, dass es schneien soll.“

„Wirklich?“ Kati schniefte und wischte sich die Nase an einem Taschentuch ab, das Sophie ihr schnell hinhielt.

Sophie nickte. „Stell dir nur vor, wenn du die Erste bist, die die Schneeflocken entdeckt.“

„Na gut.“ Kati stand auf und lief in ihr Zimmer, um ihren kleinen Rucksack zu holen.

Rasch stellte Sophie das benutzte Geschirr in die Spüle und holte Katis Jacke, ehe die Kleine es sich wieder anders überlegte.

Als sie kurz darauf auf dem Flur vor dem Gruppenzimmer des Kindergartens standen, begannen Katis Tränen schon wieder zu fließen. Sophie schloss sie fest in die Arme und drückte sie an ihre Brust. Sobald Kati ihre Umarmung spürte, begann sie zu schluchzen, und vor Mitleid und Kummer begann auch Sophies Herz zu schmerzen. Rings um sie her lärmten Kinder, liefen Erzieherinnen über den Flur, brachten andere Eltern ihre Kinder zu den Gruppenräumen und warfen ihnen neugierige oder mitfühlende Blicke zu.

„Gefällt es dir hier denn überhaupt nicht?“, erkundigte sich Sophie, als Katis Atem endlich ruhiger ging, und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr.

Das Kind schüttelte den Kopf und schob trotzig das Kinn vor. Wenn sie so guckte, erinnerte sie Sophie immer an Carsten. Rasch schüttelte sie die Erinnerung ab.

„Die sind alle doof“, erklärte sie.

„Wer denn, die Kinder? Oder die Erzieherinnen?“

„Frau Hansen ist nett. Aber die anderen Kinder … Die sind so blöd!“ Sie warf drei Mädchen, die einige Schritte entfernt standen und sie anstarrten, bissige Blicke zu.

„Du musst ihnen eine Chance geben, Kati. Wenn du böse zu ihnen bist, so wie jetzt, sind sie natürlich auch blöd zu dir.“

„Ich will aber nicht!“

Mit einem Ruck riss sich Kati los und funkelte sie an. In dem Moment kam Frau Hansen, Katis Erzieherin, über den Flur auf sie zu.

„Guten Morgen, Kati“, rief sie betont fröhlich. „Heute wirst du dich freuen, denn ich werde euch eine schöne Pferdegeschichte vorlesen, die wird dir gefallen.“ Sie hielt ihr ihre Hand hin. „Komm mit, wir gehen zusammen hinein.“

Tatsächlich griff Kati danach, wenn auch zögernd.

Bevor sie losging, warf Frau Hansen Sophie noch einen Blick über die Schulter zu. „Gehen Sie ruhig, es wird schon alles gut gehen.“

„Danke.“ Sophie nickte ihr zu, warf noch einen Blick auf Kati, die gerade, ohne sich noch einmal umzudrehen, im Gruppenzimmer verschwand, und ging den Flur hinunter zum Ausgang. Nachdenklich öffnete sie die Tür und trat in den trüben Februarmorgen hinaus. Kati tat ihr furchtbar leid, aber es ging ja nun einmal nicht anders. Sie wusste, wie sehr ihre Tochter ihre Freundinnen aus Coppum vermisste. Melissa, die Tochter ihrer Freundin Birte, und Anna-Lena, die Tochter ihrer Freundin Verena, und natürlich Thies, Svens Sohn. Sie alle hatten sich immer so gut verstanden. Und war es nicht so, dass auch sie selbst sich zu ihrem Heimatdorf an der Nordsee zurücksehnte?

Nur aus einer Laune heraus noch einmal alles hinschmeißen konnte sie jedoch auch nicht. Sie war verantwortlich für Kati und sich selbst. Es gab keinen Mann in ihrem Leben, der ihr einen Teil ihrer Last abnahm. Das Trennungsjahr lief, die Scheidung von Carsten war unausweichlich, es gab kein Zurück.

Wenig später erreichte sie den Kindergarten, in dem sie arbeitete, und die folgenden Stunden vergingen wie im Flug. Kati ging in die Ganztagesgruppe, und Sophie bedauerte, dass in dem Kindergarten, in dem sie arbeitete, kein Platz mehr für ihre Tochter frei gewesen war und sie in eine andere Tagesstätte gehen musste. Die Eingewöhnung wäre bestimmt leichter für sie geworden, hätte sie ihre Mama immer bei sich gehabt. Als Sophie endlich Feierabend hatte und sie vom Kindergarten abholte, flog die Kleine ihr geradewegs in die Arme.

„He, hast du mich so sehr vermisst?“ Gerührt drückte sie das Mädchen an sich.

Kati nickte an ihrem Hals und klammerte sich an ihr fest.

„Dafür gibts heute auch dein Lieblingsessen. Ich koche uns gleich Spaghetti Bolognese, ja?“

Ihre Tochter nickte erneut, machte sich jedoch langsam von ihr los und griff nach ihrer Hand. Als sie losgehen wollten, hielt Frau Hansen sie auf.

„Frau Krüger, warten Sie bitte kurz?“

Besorgt blieb Sophie stehen und wartete, bis die Erzieherin sie erreicht hatte. Frau Hansen sah Kati an. „Kati, gehst du bitte noch mal ins Zimmer und siehst überall nach, ob die Kinder auch nichts vergessen haben?“

Kati sah sie misstrauisch an, doch als Sophie ihr lächelnd zunickte, lief sie los.

„Was ist denn?“, fragte Sophie beklommen.

„Dass Kati sich schwertut, sich in die Gruppe einzufügen, haben Sie ja schon mitbekommen. Das passiert öfters, besonders bei Kindern, die neu in der Gegend sind. Anfangs war Ihre Tochter einfach nur sehr zurückhaltend, stand lieber allein herum, statt mit den anderen zu spielen oder zu sprechen. Doch seit Kurzem ist sie immer öfter frech zu ihnen, sagt, sie seien blöd, und vorhin hat sie Magdalena an den Haaren gezogen.“

„Oh!“ Sophie war zutiefst erschrocken. „Das tut mir sehr leid. Ich werde gleich mit ihr sprechen, sobald wir zu Hause sind.“

„Tun Sie das bitte.“

Unvermittelt wechselte die mahnende Miene der Erzieherin, und sie lächelte freundlich. „Kati ist intelligent, sie malt sehr gern und lernt leicht. Sie ist geradezu versessen darauf, die Buchstaben zu lernen.“

„Das freut mich. Ich habe ihr bereits ein paar Pferdebücher geschenkt. Die will sie unbedingt so schnell wie möglich lesen können.“

„Wir bekommen das schon hin, Frau Krüger, mit Geduld und Liebe. Und wirken Sie bitte auf Kati ein, dass sie so etwas nicht machen darf.“

„Natürlich.“

„Gut. Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend.“

„Vielen Dank, Ihnen auch.“

Während zu Hause bald darauf die Nudeln kochten und Sophie die Bolognese umrührte, warf sie einen Blick auf Kati, die am Tisch saß und den Karton mit den Fotos öffnete. Das tat sie oft und gern.

„Ich hab das mit Magdalena gehört, Kati“, begann sie. „Du hast ihr wehgetan. Dass das so nicht geht, weißt du bestimmt selbst, oder?“

Kati blickte auf und presste die Lippen zusammen. „Ja.“ Sofort senkte sie den Kopf wieder über den Karton und zog ein Foto heraus.

„Warum hast du das gemacht? Man zieht doch niemanden an den Haaren. Man tut überhaupt niemandem weh.“

„Magdalena ist doof. Die sagt, ich bin eine Zicke.“

„Nun, wenn du ständig sagst, dass alle doof sind, könnte sie damit recht haben, Kati. Wenn man freundlich zu den Leuten ist, sind sie auch freundlich zu einem.“

Unwillkürlich flogen ihre Gedanken zurück zu dem Tag, an dem sie erfahren hatte, dass Emma sich Sven geangelt hatte. Sie spürte wieder den Schmerz, den sie empfunden hatte, und die Traurigkeit, die sie befallen hatte wie ein Virus und seitdem nicht mehr vergangen war. Damals hatte sie begonnen, Fehler zu machen, schwerwiegende Fehler, die schließlich zu ihrer Flucht aus Coppum geführt hatten.

Sie war alles andere als nett gewesen. Aus Kummer.

Wie konnte sie ihrer Tochter etwas predigen, ohne sich selbst daran zu halten?

„Ich weiß, dass das mitunter nicht so einfach ist“, sagte sie leise und mehr zu sich selbst. Sie goss die Spaghetti ab und füllte sie mit der Soße auf zwei Teller. Als sie das Essen auf den Tisch stellte, sah sie, wie Kati unverwandt das Foto anstarrte, das sie in der Hand hielt. Im trüben Licht, das durch die Gardine fiel, erkannte Sophie nur das Profil der Tochter, ihre Stupsnase, ihre langen Wimpern, das zu einem Zopf geflochtene Haar, aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten. Doch deutlich erkannte sie, wie die Lippen ihrer kleinen Tochter zitterten. Das so gut bekannte Gefühl des schlechten Gewissens überspülte sie wie die Flutwellen das Watt.

„Du vermisst unser Zuhause, nicht wahr?“, fragte sie sanft und strich ihrer Tochter über das weiche Haar.

Kati nickte stumm, und Sophie nahm ihr das Foto aus der Hand, das sie nur zu gut kannte. Es zeigte sie, Kati und ihren Noch-Mann Carsten am Strand der Nordsee. Hinter ihnen glitzerten die Wellen in der Sonne, und sie alle strahlten um die Wette. Kati, auf dem Foto zweieinhalb Jahre alt, hielt ein halb geschmolzenes Eis in der Hand, und ihr ganzer Mund war verschmiert. Doch sie wirkte so glücklich, dass der Kontrast zu dem jetzt vor ihr hockenden Häufchen Elend Sophie fast das Herz brach.

„Können wir nicht zurückgehen?“, bat Kati und sah sie so flehentlich an, dass Sophies Augen feucht wurden.

„Ach, Süße. Das ist leider nicht so einfach. Weißt du, ich habe hier meine Arbeit, und wir haben unsere schöne Wohnung. Dein Zimmer gefällt dir doch, oder?“

Kati schien eine Weile zu überlegen, bevor sie den Kopf schüttelte. „In Coppum brauche ich gar kein eigenes Zimmer“, sagte sie leise. „Wirklich, Mama. Ein Bett würde mir genügen und meine Pferdebücher.“

Sophie brach vor Mitleid fast das Herz, und sie drückte ihre Kleine fest an ihre Brust.

„Warum gehen wir denn nicht zu Papa zurück?“, bohrte Kati weiter. „Den vermisse ich auch.“

„Das geht leider nicht. Wir vertragen uns nicht mehr gut.“

„So wie Magdalena und ich?“

Tränen traten Sophie in die Augen. „Genau, so wie ihr beide.“

Kati löste sich von ihr und zog mehr Fotos heraus, die sie vor ihnen zwischen den Tellern auf dem Tisch ausbreitete. Der Nordseestrand bei Sonnenschein. Coppum im Schnee. Kati im Kindergarten, umringt von ihren Freundinnen. Ein Hochzeitsfoto von ihr und Carsten. Kati und Thies auf dem Bauernhof seiner Großeltern. Strandkörbe am Strand in Cuxhaven. Dieses Foto hob Kati hoch und hielt es Sophie vor die Nase.

„Können wir da hinfahren, Mama? Bitte! Ich möchte mal wieder im Sand spielen.“

„Ach, mein Schatz.“ Sophie wusste, wie gern ihre Tochter an der Nordsee war.

„Und ich möchte mal wieder mit Thies spielen und mit Melissa und …“

Eine Idee nahm in Sophies Kopf Formen an, und sie begann zu lächeln. Wenn alles klappte, wie sie es sich vorstellte, würde sie Zeit gewinnen. Zeit, die Kati brauchte, um sich vielleicht doch noch an ihr neues Leben in Lüneburg zu gewöhnen.

„Wir könnten in den Osterferien an die Nordsee fahren, was hältst du davon?“

Der Kindergarten hatte zu der Zeit geschlossen, und alle Angestellten hatten deshalb Urlaub.

Voll Hoffnung sah Kati zu ihr auf, und ihre Augen begannen zu leuchten. „Wirklich? Oh, das würde mir so gefallen.“

Mahnend hob Sophie ihren Zeigefinger. „Aber nur eine Woche, länger geht es nicht. Danach müssen wir wieder zurückkommen. Du musst wieder in den Kindergarten gehen und ich zur Arbeit, in Ordnung?“

Kati nickte so heftig, dass ihr Zopf herumwirbelte, und schon flog sie ihr in die Arme. Beglückt spürte Sophie die Arme ihrer Tochter um ihren Hals und einen nassen Kuss auf ihrer Wange.

„Danke, Mama!“

„Gern, mein Schatz.“ Freude stieg in Sophie auf, als sie sich vorstellte, ihre Freundinnen wiederzusehen. Vielleicht sogar Sven. „Lass uns erst einmal essen, bevor noch alles kalt wird. Und dann rufe ich gleich mal bei ein paar Hotels an, ja?“

Unglücklicherweise hatte sie keine Möglichkeit mehr, direkt in Coppum wohnen zu können. Ihre Eltern waren schon vor Jahren nach Hamburg gezogen, weil sie dort im Alter besser versorgt waren. Und ihren Freundinnen wollte sie es nicht zumuten, gerade über die Feiertage, dort mit Kati unterzukommen. Doch vielleicht war es sogar besser, wenn sie nicht direkt in Coppum, sondern in Cuxhaven wohnten. Wahrscheinlich wäre Katis Kummer bei der Rückreise dann nicht ganz so groß. Und es würde ihr gefallen, direkt am Meer zu wohnen. Plötzlich schmeckten die Nudeln noch mal so gut, und sogar Kati zeigte ungewohnten Appetit und aß alles auf.

Nach dem Essen holte Sophie ihren Laptop und sah sich gemeinsam mit Kati diverse Hotels in Cuxhaven an. Ihre Wahl fiel auf die Strandperle. Das Hotel lag direkt an der Nordsee, und Kati liebte es jetzt schon. Ihre vor Vorfreude leuchtenden Augen waren Sophie jeden Preis wert, und kurz entschlossen buchte sie ein Zimmer für eine Woche.

Aufgeregt bewunderte ihre Tochter die einladenden Fotos und vor allem die schöne Lage direkt am Strand von Duhnen.

„Da kann ich jeden Tag im Sand spielen“, rief sie.

„Ja, wenn das Wetter mitspielt. Wir fahren Ende März, da könnte es kalt sein oder regnen.“

„Das ist doch egal. Und wir können Thies besuchen!“

Der Name von Svens Sohn ließ Sophies Herz schneller schlagen.

„Ja, vielleicht, mal sehen. Aber du kannst Melissa treffen und Anna-Lena.“

„Au ja!“

Als Sophie an diesem Abend im Bett lag, stellte sie fest, wie sehr sie sich selbst auf ihren Heimaturlaub freute.

Kapitel 2

Im Rückspiegel beobachtete Sophie Kati, die unentwegt aus dem Fenster sah, während ein glückliches Lächeln auf ihrem Gesicht lag, das sich intensivierte, je näher sie Coppum kamen.

„Sieh mal!“, rief Kati hin und wieder, wenn sie etwas entdeckte, das sie kannte. „Da ist die Eisdiele, wo wir schon so oft waren. Und hier ist das große Schwimmbad mit der riesigen Rutsche, weißt du noch?“

Sophie selbst wurde mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, immer leichter ums Herz. Die Freude ihrer Tochter war so überströmend, dass auch sie selbst davon überflutet wurde. Oder hatte sie ihr Zuhause mehr vermisst, als sie sich eingestehen wollte? Damals hatte sie es kaum erwarten können, hier wegzukommen.

Die vergangenen Wochen waren überraschend leicht gewesen. Seit sie das Hotel gebucht hatte, bereitete Kati im Kindergarten keine Probleme mehr. Nach wie vor war sie viel zu still und hielt sich zumeist von den anderen Kindern fern. Aber sie hatte niemandem mehr wehgetan oder sich gestritten. Auch Frau Hansen hatte sich in einem Gespräch lobend über Kati geäußert und war zuversichtlich, dass sie sich doch noch gut eingewöhnen würde. Manche Kinder brauchten dafür eben etwas länger, und Kati sei sehr sensibel und benötige besonders viel Zeit und Geduld.

Wie es schien, ging Sophies Plan auf, und sie waren auf dem richtigen Weg. Dieser Urlaub war der Lohn für Katis gutes Verhalten und die Mühe, die sie sich gab.

„Wollen wir durch Coppum fahren?“, erkundigte sich Sophie. „Oder lieber auf der Umgehungsstraße direkt nach Cuxhaven? Umso eher sind wir in dem tollen Hotel.“

„Durch Coppum“, erklärte Kati entschieden, ohne die Augen von der vorbeifliegenden Landschaft zu nehmen. Es war, als hätte sie Angst, ihr würde etwas Wichtiges entgehen. Oder als würde sie all die versäumte Zeit nun in sich aufsaugen wie ein Schwamm das Wasser.

Sophie fühlte Aufregung in sich aufsteigen. Fünf Monate lang war sie nicht mehr hier gewesen. Würde sich der kleine Ort überhaupt noch wie ihr Zuhause anfühlen? Oder würde sie sich fremd fühlen?

„Da ist es!“, schrie Kati von hinten und wies mit dem Finger auf das Ortsschild. Ihre Augen funkelten vor Freude und Glück. „Siehst du? Da steht C - o - p - p - u - Was ist der Letzte für ein Buchstabe, Mama?“

Schon passierten sie das Schild und fuhren in das Dorf hinein.

„Ein M. Wie toll du die Buchstaben schon gelernt hast“, lobte Sophie.

„Ich hab Frau Hansen gefragt, wie man Coppum schreibt“, erklärte Kati und drückte sich die Nase an der Autoscheibe platt.

Sophie verringerte die Geschwindigkeit und ließ ihre Blicke von links nach rechts schweifen und wieder zurück. Nichts hatte sich hier verändert, alles wirkte noch wie an dem Tag, als sie fortgegangen war. Nicht, dass es hier besonders viel zu sehen gab. Das Dorf war winzig.

Sie fuhren am ehemaligen Wohnhaus ihrer Eltern vorbei, das verkauft worden war, an der Bäckerei, dann am Kindergarten.

Kati verrenkte sich den Hals, um besser sehen zu können.

„Da ist gar keiner“, rief sie enttäuscht.

„Es sind doch Ferien“, erinnerte Sophie sie.

„Ach so, ja.“ Katis Blicke huschten hin und her, um nichts zu verpassen. Ein paar Sekunden lang schwieg sie.

Jetzt passierten sie das Haus, in dem Emmas Tante lebte und das ihre ehemalige Freundin gehütet hatte in der Zeit, als die Tante mit gebrochenem Bein im Krankenhaus lag. Damals hatten die Schwierigkeiten begonnen, auch wenn Sophie noch nichts davon geahnt hatte.

„Können wir Thies besuchen?“, riss Kati sie aus ihren Gedanken. „Nur ganz kurz. Bitte!“

Der Hof seiner Großeltern kam in Sicht. Die Scheune, der Stall und das große, rot verklinkerte Wohnhaus waren nicht zu übersehen. Daneben stand das Haus, das Sven vor Jahren für sich und Sandra gebaut hatte, seine verstorbene Frau.

Sophie schlug das Herz bis zum Hals, als sie langsam daran vorbeifuhren. Was, wenn Sven gerade vor die Tür trat und sie entdeckte? Würde er sie heranwinken? Und was, wenn es Emma war, die sie erkannte? Unwillkürlich duckte sich Sophie und versuchte, sich kleiner zu machen. Das würde ihr gerade noch fehlen. Alles lief gerade so gut. Sie hatte keine Lust auf einen Streit oder aufbrechende Konflikte.

„Schade“, seufzte Kati enttäuscht, als sie vorbei waren, ohne dass sie jemanden hatten entdecken können. „Ich würde Thies so gern sehen. Kannst du nicht anhalten?“

„Das geht jetzt nicht. Ein anderes Mal, okay?“

„Na gut.“

Schon hatten sie das Dorf verlassen und fuhren über die schmale Straße weiter in Richtung Nordsee. Zu beiden Seiten lagen von zartem Frühlingsgrün überzogene Wiesen. Sophie entdeckte links von der Straße den schmalen Graben, in dem sie so gern herumgewatet waren. Mit allen Sinnen sog sie die heimatlichen Eindrücke in sich auf.

„Gleich sind wir da“, erklärte sie. „Ich bin schon so neugierig. Du auch?“

Kati nickte heftig, sagte aber nichts. Konzentriert betrachtete sie einen Schwarm Krähen, der gerade aufflog.

Der Deich kam in Sicht, und Sophie folgte ihm, bis sie Cuxhaven erreichten, die Stadt an der Nordsee. Es herrschte mehr Verkehr, als sie erwartet hatte, und sie fädelte sich in Richtung Duhnen ein, den Ortsteil, der am Strand lag und wo sich ihr Hotel befand.

Direkt davor fand sie einen Parkplatz, und kurz darauf betrat sie die Lobby und trat an die Rezeption. Kati folgte ihr mit ihrem kleinen Trolley, den sie unbedingt allein ziehen wollte. Als Sophie schließlich die Zimmertür öffnete, fühlte sie sich so aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Eine ganze Woche Urlaub lag vor Kati und ihr. Sie würden Ostern hier verbringen und bräuchten während der Feiertage nicht allein in ihrer Lüneburger Wohnung sitzen.

„Oh!“, rief Kati, ließ ihren Trolley in der Tür stehen und stürmte an Sophie vorbei zum Fenster. Ungeduldig riss sie die Gardine zur Seite und sah hinaus. „Mama, guck doch nur! Das Meer, siehst du es?“ Atemlos drehte sich Kati zu ihr um.

Sophie trat zu ihr und streichelte ihre Schulter. „Ja, Mäuschen, ich sehe es. Wunderschön, nicht wahr?“

Vor dem Fenster lief eine schmale Straße vorbei, dahinter erstreckte sich der Deich. Aber da ihr Zimmer im fünften Stock lag, konnten sie darüber hinweg bis zur Nordsee sehen. Es herrschte Flut, und der Wind trug beständig schaumgekrönte graue Wellen an den Strand.

„Können wir gleich zum Strand gehen?“, bettelte Kati und sah Sophie an wie ein Hund am Esstisch sein Frauchen.

„Wollen wir nicht erst etwas essen? Hast du gar keinen Hunger?“

Sie hatten zwar unterwegs in einem Schnellrestaurant etwas gegessen, denn für Kati gehörten Pommes mit Mayo zum Wohlfühlprogramm, aber das war schon wieder eine Weile her.

Das Mädchen schüttelte den Kopf und starrte unentwegt zum Strand, Sehnsucht im Blick.

„Also gut. Aber du musst eine Jacke anziehen und die Mütze aufsetzen, ja? Es ist sehr windig draußen.“

„Klar.“ Schon rannte Kati los.

Wenige Minuten später traten sie vor die Tür. Ein frischer Wind wehte Sophie ins Gesicht, der nach Salz roch, und bewirkte, dass sie sich augenblicklich angekommen fühlte. Ja, sie war wieder zu Hause. Das Glücksgefühl tat unermesslich gut. Alle Sorgen, die sie in Lüneburg noch geplagt hatten, traten ganz weit in den Hintergrund.

Sie überquerten die Straße, stiegen auf den Deich und hielten den Atem an, als die Böen ihnen noch stärker entgegenschlugen. Kati war nicht mehr zu halten und lief die wenigen Stufen zum Strand hinunter. Sophie hingegen blieb für einen Moment auf dem Deich stehen und atmete tief die würzige Luft in ihre Lungen. Plötzlich fühlte sie sich so lebendig wie schon lange nicht mehr.

Langsam folgte sie ihrer Tochter durch den lockeren weißen Sand. Kati hockte bereits vor dem Spülsaum und begann, mit ihrer Schaufel einen Fluss in den Sand zu ziehen. Schon leckte die nächste Welle daran und füllte ihn mit Wasser, und Kati vertiefte den Kanal.

Sophie blickte aufs Meer hinaus, das grau und wild wogte. Ganz in der Nähe entdeckte sie ein großes Containerschiff, das auf die Elbmündung zusteuerte und auf dem Weg zum Hamburger Hafen war. Was mochte es wohl geladen haben?

Kati sicherte ihren Kanal inzwischen durch Dämme und zog ihn weiter auf den Strand. Lächelnd sah Sophie ihr dabei zu. Was für eine gute Idee dieser Urlaub doch war. So entspannt und zufrieden hatte sie ihre Tochter lange Zeit nicht mehr erlebt.

„Komm, Süße, ich helfe dir“, sagte sie, kniete sich in den Sand, buddelte mit den Händen weitere Kanäle und schüttete einen Deich auf. Bei jeder Welle schwappte Wasser herein und lief wieder hinaus. Sophie lächelte glücklich. So hatte sie es schon in ihrer eigenen Kindheit gemacht. Wie gut es tat, wieder hier zu sein und nun ihrer Kleinen dabei zusehen zu können.

„Wir bauen einen See“, rief Kati begeistert und begann, ein Loch auszuheben. Sofort füllte es sich mit Wasser, und gemeinsam mit ihrer Tochter vertiefte Sophie es.

„Ein Boot wäre toll.“ Nachdenklich betrachtete Kati ihr fertiges Werk. „Es könnte gut darauf schwimmen.“

„Wir können in den nächsten Tagen eins kaufen, wenn du magst.“

„Ja!“

Sophie stand auf und klopfte sich den Sand von den Händen und ihrer Hose. Sie lief ein wenig an der Wasserkante entlang, entfernte sich jedoch nicht weiter als ein paar Schritte von ihrer Tochter. Letztes Jahr war in Otterndorf etwas geschehen, das sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Fast hätte sie Kati durch ihre Unachtsamkeit verloren. Nie wieder durfte sich so etwas wiederholen.

Ihr Handy klingelte.

„Hallo, Birte“, begrüßte Sophie ihre Freundin.

„Moin. Na, seid ihr schon unterwegs?“

„Wir sind sogar schon da. Gerade sind wir am Strand, und Kati hat ihren Hang zum Ingenieurwesen neu entdeckt. Sie verwandelt den Strand in ein zweites Amsterdam.“

Kati sah auf, als sie ihren Namen hörte.

Birte lachte. „Das sind doch gute Aussichten für eine glänzende Zukunft. Wie sieht’s aus, bleibt es bei morgen?“

„Klar. Wenn es dir nicht zu stressig wird, an Ostern Besuch zu bekommen.“

„He, du bist meine Freundin, du stresst mich nicht. Was meinst du, wie ich mich freue, endlich mal wieder in Ruhe mit dir zu quatschen.“

„Und ich mich erst. Kati ist auch schon ganz aufgeregt und freut sich tierisch auf Melissa.“

„Dito. Die Lütte macht mich schon ganz tüdelig. Ostern und noch dazu Katis Besuch, sie kriegt sich gar nicht mehr ein. Ja, das war das Stichwort. Der Kuchen muss aus dem Ofen.“

„Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Bis morgen.“

Kati hatte inzwischen damit begonnen, ihre Dämme mit Muscheln zu verschönern. Gerade bückte sie sich, um eine aufzuheben. Ein plötzliches Hecheln hinter Sophie bewirkte, dass sie herumfuhr. Ein hellbrauner Hund, wohl ein Golden Retriever, lief auf sie zu, das Fell voller Sand. Neugierig begann er, an Katis Dämmen und Muscheln zu schnuppern, und als er über den künstlichen Kanal lief, rissen seine Pfoten Löcher in den Damm. Sophie erwartete schon, Katis empörte Ausrufe zu vernehmen. Stattdessen stand das Mädchen da und starrte den Hund so verzückt an, als bestünde er aus rosa Zucker statt aus nassem, sandigem Fell.

Dem Hund folgte ein Mann in dunkler Jacke und mit braunem Haar, das unter einer Mütze hervorblitzte. Schietwedder-Mütz stand darauf. Mit zusammengekniffenen Augen stemmte er sich gegen den Wind und fixierte den Hund.

„Vorsicht, Odin, was machst du denn?“, rief er. „Du zerstörst ja das ganze Kunstwerk.“

Odin fuhr zu ihm herum und sah ihm mit heraushängender Zunge entgegen, und fast wirkte es, als würde er fröhlich grinsen.

Als er sie erreichte, blieb der Mann stehen und betrachtete beschämt die Lücken in den Dämmen. Die nächsten Wellen nutzten ihre Chance und brachen größere Brocken heraus. Dann drangen sie durch die entstandenen Lücken ein und bildeten einen kleinen Teich.

„Sieh nur, was du angestellt hast“, tadelte der Spaziergänger das Tier. „Das Mädchen hat sich so eine Mühe damit gegeben, und du trampelst einfach durch.“ Er hob den Blick und sah erst Kati und dann Sophie an, ein entschuldigendes Lächeln im Gesicht.

„Macht nichts“, verkündete Kati großzügig und streckte die Hand nach dem Hund aus. „Darf ich ihn streicheln?“

„Wenn du dir die Hände noch schmutziger machen willst, gern.“

Sophie beobachtete, wie ihre Tochter Odin über den Kopf strich. Der kniff leicht die Augen zusammen, als würde er es genießen.

„Jetzt wird er auch noch dafür belohnt“, sagte der Mann und seufzte. „Tut mir wirklich leid.“ Erneut sah er Sophie ins Gesicht.

„Wenn meine Tochter kein Problem damit hat, hab ich auch keins“, erwiderte sie.

Der Mann hatte freundliche Augen, wie sein Hund. Sie waren von einem hellen Braun. Sophie schätzte ihn auf Anfang dreißig.

„Da bin ich ja beruhigt. Er ist so ein Trampeltier.“

„Ich finde ihn niedlich“, rief Kati. Immer noch streichelte sie Odins Kopf, und der wedelte so wild mit dem Schwanz, als wollte er abheben.

„Mir gefällt er auch“, gab Sophie zu. Und als sie erneut einen Blick des Mannes auffing, wusste sie nicht mehr so ganz, ob sie nur den Hund damit meinte.

„Ja, dann gehen wir mal lieber weiter, ehe Odin noch das ganze Werk Ihrer Kleinen zerstört. Haben Sie noch einen schönen Tag.“

„Danke, wünsche ich Ihnen auch.“

Damit zogen Hund und Herrchen von dannen. Doch statt weiter im Sand zu spielen, sah Kati ihnen hinterher.

„Mama, können wir nicht auch einen Hund kaufen? So einen wie Odin. Das würde mir gefallen.“

„Oh, Mäuschen, für einen Hund braucht man viel Zeit. Ich muss jeden Tag arbeiten, und du gehst in den Kindergarten. Wer soll sich dann kümmern?“

„Vielleicht kannst du weniger arbeiten. Und wenn er es lernt, kann er bestimmt auch mal alleine bleiben.“

„Unsere Wohnung reicht gerade so für uns beide. Wir haben gar nicht genug Platz für einen Hund.“

„Dann eben nur einen ganz Kleinen. So einen, wie Thies hat.“

Die Erwähnung des Jungen brachte wie üblich unwillkürlich die Erinnerung an seinen Vater Sven zurück. Natürlich hielten Birte, Verena und ihre anderen Freundinnen Sophie stets über die Vorkommnisse in Coppum auf dem Laufenden. Und so wusste sie, dass Thies damals, kurz nach ihrem Wegzug nach Lüneburg, einen Hund bekommen hatte. Einen plüschig-weißen West Highland White Terrier. Nach dem Tod seiner Mutter hatte der Junge sehr schwere Zeiten erlebt, und als er sich schließlich einen Hund wünschte, mochte ihm Sven seinen Wunsch nicht abschlagen. Soweit Sophie es mitbekommen hatte, ging es Thies seither großartig. Wäre das vielleicht eine gute Idee, vielleicht sogar die Lösung ihrer Probleme? Würde Kati aufblühen und sich leichter an ihr Leben in Lüneburg gewöhnen, wenn sie einen Hund hatte? Einen treuen Freund an ihrer Seite, der sie nicht enttäuschte? Womöglich sollte sie tatsächlich mal genauer darüber nachdenken.

Aber nicht jetzt, denn langsam drang der Wind durch ihre Jacke bis auf ihre Haut, und ihr wurde wirklich kalt.

„Darüber reden wir noch, in Ordnung? Jetzt lass uns lieber zum Hotel zurückgehen, ich friere. Dir muss doch auch schon ganz kalt sein, oder?“

„Nee.“ Kati schüttelte den Kopf.

„Trotzdem. Pass auf, wir wärmen uns etwas im Hotel auf, und später fahren wir zum Ostermarkt, was hältst du davon?“

„Au ja“, jubelte Kati.

Zufrieden ging Sophie mit ihr zurück ins behagliche Hotelzimmer. Wenn der Urlaub sich weiterhin so schön entwickelte, war er wirklich die beste Idee seit Langem.