Leseprobe Dünenträume und Meersalzküsse

Prolog

Nürnberg-Altenfurt, 20 Jahre zuvor

Die Tür, die von der Waschküche in die angrenzende Garage führte, quietschte. Schon als ich die beiden Betonstufen hinunterhüpfte, hörte ich, wie irgendein Werkzeug mit einem metallischen Scheppern auf den Boden fiel.

„Prinzessin, pass auf! Stolper’ nicht wieder über meine Beine“, rief mein Papa mit seiner freundlichen Brummbärstimme. Oben an der Decke baumelte immer noch die nackte Glühbirne, weil er lieber an seinem Auto bastelte, als eine Lampe zu montieren. Zeitverschwendung wäre das, sagte er immer, und Mama musste dann immer schmunzeln.

Ich tastete mich durch das schummerige Licht an der alten Werkbank entlang, vor der immer ziemlich viele Autoteile lagen. Nach ein paar Schritten war ich an den Hinterreifen angelangt und lugte um die schwarzen Kotflügel herum. „Deine Beine seh’ ich doch, Papa.“ Mit der Fußspitze kickte ich einen kleinen Karton mit Schrauben zur Seite. „Aber du müsstest hier echt mal wieder aufräumen.“

„Du bist eindeutig die Tochter deiner Mutter.“ Grinsend kam sein ölverschmiertes Gesicht zum Vorschein, als er das Rollbrett, auf dem er lag, mit Schwung unter dem Auto herausbeförderte. Etwas mühselig stand er auf, beugte sich zu mir herunter und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Anschließend stupste er mir, wie jedes Mal, mit dem Finger auf die Nase, woraufhin ich, auch wie immer, furchtbar übertrieben mit den Augen rollte. „Mann Papa, das Schwarze geht doch nicht mehr richtig weg!“

„Links auf dem Waschbeckenrand steht eine ganz tolle Erfindung, Prinzessin. Nennt sich Seife.“ Lachend strich er mir durchs kupferrote Haar, und ich rollte noch viel schneller mit den Augen.

„Ich bin gleich fertig.“ Seine Worte klangen feierlich. „Und weißt du was? Morgen fahren wir das allererste Mal mit ihr in die Stadt.“ Er deutete stolz auf das rot-schwarze Auto und ließ seinen Blick liebevoll über die Karosserie schweifen. Seit ich denken konnte, hatte er fast jeden Abend in der Garage verbracht. An den Wochenenden hatte ich ihm immer geholfen. Zu ihm unters Auto kriechen durfte ich nicht, weil das viel zu gefährlich gewesen wäre, aber ganz oft stand ich auf dem schmutzigen grauen Metallhocker und lauschte seinen Erklärungen, während wir beide über den Motorraum gebeugt waren. Ich reichte ihm Schraubenschlüssel und kleine Schlauchschellen, und ganz oft durfte ich auch gemeinsam mit ihm irgendwelche Teile einbauen. Die Zeit, die ich mit ihm hier in der Garage verbrachte, war besonders. Ich wusste, dass ihm sein Entchen, wie er das Auto mit glänzenden Augen immer nannte, sehr viel bedeutete. Noch viel mehr wert war ihm aber die Zeit, die er mit mir zusammen verbrachte. Das spürte ich. Das Basteln, wie er es immer nannte, war unser Ding, und die Garagenzeit gehörte nur uns beiden.

An jenem Samstag fuhren Papa, Mama und ich tatsächlich das erste Mal in seiner Ente. Mit leuchtenden Augen saß er hinterm Lenkrad und blickte mich immer wieder durch den Rückspiegel an. Um seine Augen herum hatten sich ganz viele Lachfältchen gebildet, weil er so glücklich war.

„Prinzessin, heute ist ein unglaublich schöner Tag“, sagte er und griff dabei nach Mamas Hand.

„Das sagst du jeden Tag, Papa“, lachte ich und streckte mich nach vorne, um durch seine kurzen schwarzen Haare zu wuscheln.

„Na, weil es doch stimmt!“ Sein Lächeln wurde noch breiter.

Er führte uns in die Stadt, in ein richtig schickes Restaurant, zum Essen aus. Ich durfte nicht nur einen riesigen Teller voller Nudeln und Bolognesesauce essen, sondern mir auch noch Tiramisu zum Nachtisch bestellen. Als er die Rechnung bezahlt hatte, bummelten wir noch ein bisschen durch die kleinen Gassen und sahen uns die Auslagen in den Schaufenstern an. Vor dem Geschäft eines Juweliers blieb ich stehen. Auf dunkelrotem Samtstoff lagen unzählige Schmuckstücke, die in der Nachmittagssonne herrlich glänzten und funkelten. Ein kleiner Anhänger ganz links, fast schon etwas versteckt, hatte mich in seinen Bann gezogen. Zu meinem fünften Geburtstag hatte Papa mir ein silbernes Bettelarmband geschenkt, zu dem jedes Jahr ein kleiner Anhänger dazugekommen war. Zwei Stück baumelten schon an meinem Handgelenk, und ich wünschte mir in diesem Moment so sehr, auch diese kleine silberne Krone dort in eins der Kettenglieder einclipsen zu dürfen. In der Mitte glitzerte ein geschliffener pinkfarbener Stein, und sie hatte sogar winzig kleine Kugeln auf den einzelnen Zacken.

„Zoe, guck mal, wie viel die kostet. Das ist zu viel für zwischendurch und einfach so. Aber du hast doch bald Geburtstag, wünsch sie dir doch, hm?“ Meine Mama drückte meine Hand, die sie hielt, ein kleines bisschen fester.

Seufzend wandte ich den Blick ab, entzog mich ihrem Griff und lief zu dem großen Brunnen, an dem immer Tauben Halt machten, um an dem munter vor sich hin plätschernden Wasser ihren Durst zu stillen. Mein Papa verschwand noch kurz in einem Elektronikladen, um irgendetwas für unseren Staubsauger zu kaufen, und wenig später saßen wir wieder in seinem Auto. Der Schlüssel steckte schon im Zündschloss, doch bevor er sein Entchen startete, drehte er sich zu mir um. Lächelnd streckte er mir ein kleines Kästchen entgegen. Erstaunt blickte ich auf, doch als er mir aufmunternd zunickte, nahm ich es zögerlich in die Hand. Der Deckel ließ sich ganz einfach aufklappen. Im Inneren befand sich ein mit dunkelblauem Stoff bezogenes kissenartiges Gebilde, in dessen Mitte etwas silbrig glänzte. Und pink funkelte. Die Krone! Selten hatte ich etwas Schöneres gesehen …

„Aber ich sollte sie mir doch erst zum Geburtstag wünschen“, stammelte ich und blickte wieder auf.

Papa sah erst Mama an und dann mich. „Du bist meine Prinzessin, und natürlich braucht jede Prinzessin eine Krone.“ Meine Augen füllten sich mit Tränen. „So, und jetzt fahren wir nach Hause, ja?“

Er startete den Motor.

1

Nürnberg-Innenstadt, heute

„So ein verdammter Mist!“ Laut vor mich hin fluchend drückte ich die Enter-Taste. Irgendwo in den Tiefen des Internets musste es doch einen adäquaten Tipp geben, wie sich eine Autorin so schnell wie möglich wieder aus einer Schreibblockade herausbefördern konnte. Und das natürlich auch möglichst unkompliziert, denn ich hatte weder vor, mir unzählige Kerzen in diversen Duftrichtungen zu kaufen, um mein kreatives Zentrum im Hirn anzuregen, noch wollte ich einen Trip nach Nepal machen, um dort am Fuße des Himalayas zu mir selbst zu finden. Gut, laut des Tipps dieses komischen Forums, auf das mich meine Suchanfrage geleitet hatte, sollte man, wenn man schon einmal da war, auch einen der Berge dort erklimmen ‒ bevorzugt natürlich den Mount Everest ‒, was aber erst recht nicht infrage käme. Ich legte schon keinen gesteigerten Wert darauf, mich den Berg zur Kaiserburg hoch zu quälen, obwohl die Aussicht von da oben wirklich fantastisch war. Ja, Nürnberg war schon eine wirklich schöne Stadt, zumindest wenn man sich im richtigen Viertel umsah und nicht gerade auf dem Balkon einer der Wohnungen am Frankenschnellweg stand, denn dann hatte man nicht nur einen überaus tristen Ausblick, sondern verstand auch sein eigenes Wort nicht mehr.

Ich liebte die schmalen Gässchen in der Innenstadt mit ihrem hübschen Stolperfallen-Kopfsteinpflaster und dem Trubel überall, an lauen Sommerabenden genauso wie in der Weihnachtszeit, wenn alles so wunderbar warm und stimmungsvoll beleuchtet war. Mindestens zweimal pro Woche kaufte ich beim Wurzelsepp meine Lieblingsglühweinbonbons in Herzform und ließ mich danach mit einem Eis in der Waffel und einem dampfenden Kaffeebecher auf den Sandsteinbrocken am Rand der Liebesinsel nieder, um meine Schuhe ganz knapp über der Wasseroberfläche der Pegnitz baumeln zu lassen. Dabei sah ich mit Vorliebe Touristen dabei zu, wie sie von der Fleischbrücke aus Fotos knipsten oder in kleinen und großen Grüppchen ungeduldig darauf warteten, von ihrem Stadtführer abgeholt zu werden. Katharina nörgelte jedes Mal, wenn sie dabei war, weil sie lieber zur Insel Schütt wollte.

„Aber Zoe, da ist es doch viel schöner“ und „Komm schon Zoe, da wird die Jeans nicht schon vor dem Hinsetzen dreckig.“

Mit dem zweiten Argument hatte sie zugegebenermaßen recht, aber schöner fand ich es dort definitiv nicht. Geschmäcker waren ja bekanntlich verschieden, und ich war einfach kein Fan von quadratisch, praktisch, gut. Außerdem hatte man von meiner Insel aus einen Rundumblick, und es wurde auch niemals langweilig dort, weil einfach immer irgendwo Menschen vorbeihasteten, hungrige Tauben auf Futtersuche waren und Enten laut quakend ihre Schnäbel ins Gras steckten oder mit dem Hintern wackelten, wenn sie nach kleinen Fischen tauchten.

Bei meinen letzten Büchern hatte mir genau dieses Gewusel, diese Atmosphäre in dieser herrlichen Stadt, unglaublich dabei geholfen, mich in die Geschichten hineinzufinden, weil einfach überall und ständig neue Anreize auf mich einstürmten. Ich konnte mich komplett in die jeweilige Story hineinträumen und, wenn ich ehrlich war, hatte nicht ich sie erfunden, sondern sie hatte mich gefunden. Einfach so, ohne dass ich besonders viel dazu beigetragen hätte. Die Gedanken schossen nur so in meinen Kopf hinein und alles, was ich noch tun musste, war, sie aufzuschreiben. Und jetzt? Jetzt saß ich hier an meinem uralten, verschnörkelten und heiß und innig geliebten Sekretär, hatte den Laptop aufgeklappt vor mir stehen und wusste einfach nicht, wie ich weitermachen sollte. Die letzten Tage hatte ich praktisch ununterbrochen entweder auf meiner Insel oder in meinem Lieblingspub verbracht, und weder dieser kleine grüne Fleck im Herzen der Stadt, noch richtig gute irische Livemusik, ein paar Guinness zu viel und meine daraus resultierende kleine Tanzeinlage à la Michael Flatley hatten geholfen. Genauso wenig wie Katharinas Ratschlag mit Google.

Seufzend stand ich auf, um mir aus der Küche noch eine Tasse Kaffee zu holen. An der Wand zwischen Kühlschrank und Fenster, das den Blick auf den mehr oder weniger verwilderten Innenhof des Häuserblocks, in dem sich meine Wohnung befand, preisgab, hing die alte gusseiserne Bahnhofsuhr und tickte unaufhaltsam vor sich hin. Jede Sekunde einmal. Tick. Tick. Und jedes Mal, wenn dieses Geräusch ertönte, rückte der Abgabetermin wieder eine Sekunde näher. Fast hätte ich laut aufgelacht. Aber eigentlich war mir eher zum Heulen zumute. Es war Anfang August, und der Verlag wollte das Manuskript, das bisher aus genau dreihundertfünfundfünfzig Wörtern bestand, am 31. Oktober im Postfach haben. Normalerweise wäre das auch absolut kein Problem für mich gewesen, allerdings hatte ich es seit unglaublichen drei Wochen nicht geschafft, das dreihundertsechsundfünfzigste Wort zu schreiben. Vielleicht sollte ich mich doch dazu aufraffen, den Mount Everest zu besteigen. Stresshormone beflügelten ja angeblich die Hirnleistung.

„Sag mal, wie wär’s denn, wenn du einfach irgendwohin fährst?“ Katharina nahm einen Schluck aus ihrem Sektglas und musterte mich mit hochgezogener Augenbraue. „Du siehst echt total ausgelaugt aus. Irgendwie fertig.“

„Na herzlichen Dank auch.“

Von was sollte ich denn bitte ausgelaugt aussehen? Vom vielen Arbeiten wohl kaum, und so viel Guinness, dass es sich nachhaltig auf meine Optik hätte niederschlagen können, hatte ich dann doch nicht getrunken.

„Ernsthaft, Zoe. Mach ein bisschen Urlaub, irgendwo in der Pampa.“

„Gute Idee. Ich hab gehört, dass Nepal total klasse sein soll.“

„Geht’s bei dir vielleicht auch mal ohne Sarkasmus? Als ob du freiwillig in ein Flugzeug steigen würdest.“

Da hatte sie recht. Niemals würde ich fliegen. Höchstens auf die Nase, und zwar mit meinem neuen Buch, das es wohl niemals geben würde, wenn ich so weitermachte. Wenn ich an die Menschen dachte, die die ersten beiden Bände der Reihe gelesen hatten und schon sehnsüchtig darauf warteten, dass endlich der letzte Teil erschien, wurde mir ganz flau im Magen. Erst gestern hatte ich eine unglaublich lieb formulierte Email von einer Leserin bekommen, in der unter anderem stand, dass sie es kaum erwarten konnte, zu erfahren, ob Nils und Melissa im dritten Band endlich heiraten würden. Wie gut ich sie verstehen konnte! Mir ging es ja beim Lesen von Büchern meiner Lieblingsautorin genauso. Natürlich wollte ich wissen, ob die Liebe der Protagonisten, die ich doch bereits ganz fest in mein Herz geschlossen hatte, allen Schwierigkeiten trotzen würde. Aber trotzdem ‒ oder gerade deswegen ‒ war das noch lange kein Grund, deshalb an Urlaub zu denken oder anderen Hirngespinsten dieser Art Raum zu geben ‒ ganz im Gegenteil. Erstens war ich definitiv nicht ausgelaugt, sondern brauchte einfach nur etwas mehr Zeit und kreativen Input und zweitens war meine Auffassung von Urlaub die, den lieben langen Tag absolut nichts tun zu müssen. Alle fünfe gerade sein lassen zu können. Also das genaue Gegenteil meiner aktuellen Situation, die ich jetzt irgendwie und schnellstmöglich bewältigen musste.

Und was hieß denn bitte in der Pampa? Katharina wusste doch ganz genau, dass ich die Stadt brauchte wie die Luft zum Atmen. Der Trubel und das geschäftige Treiben überall weckten die Kreativität in mir, damit ich überhaupt erst schreiben konnte. Wenn ich Abgeschiedenheit gewollt hätte, hätte ich mich auch einfach für ein paar Stündchen irgendwo in den Wald setzen können. Rund um Nürnberg gab es ja quasi nichts anderes. Wollte ich aber nicht. Tief in mir spürte ich doch, dass ich schon sehr bald die zündende Idee haben würde, und wenn es so weit war, würden meine Finger wieder in Lichtgeschwindigkeit über die Tasten jagen.

Katharina stellte ihr leeres Sektglas geräuschvoll auf den knallroten Couchtisch und griff nach meinem, an dem ich bisher nicht einmal genippt hatte.

„Wollen wir uns bei Enzo eine Pizza holen? Du hast doch bestimmt Hunger, oder nicht?“

„Klar, Dicke haben immer Hunger, weißt du doch.“

„Mann Zoe, hör endlich auf mit dem Mist. Du bist nicht dick, und selbst wenn du es wärst, müsstest du doch trotzdem was essen!“ In ihrem Blick lag ein wütendes Funkeln. „Langsam nervt deine miese Laune aber richtig. Du bist die beste Freundin, die man sich nur wünschen kann, wirklich, aber ich glaub, es ist besser, wenn ich dich in Ruhe lasse, bis du dieses blöde Buch endlich fertig hast und vom Stinkstiefel wieder zu der Zoe mutierst, die ich kenne.“

Herzlichen Glückwunsch, Zoe. Gut gemacht.

***

In meinem Wohnzimmer war es dunkel. Nur das kaltweiße Licht der Straßenlaterne, die neben dem Haus an der Ecke stand, fiel durch das Fenster auf meinen Sekretär. Es war wieder viel zu heiß gewesen heute. So heiß, dass ein Flimmern über den Straßen gelegen hatte und selbst die Leute, die es immer eilig hatten, ein bisschen gemächlicher durch die Altstadt gelaufen waren. Die Enten lagen nur faul im Schatten herum und konnten sich nicht einmal dazu aufraffen, kurz in die Pegnitz zu hüpfen, um sich abzukühlen. Ich konnte sie verstehen. Eigentlich mochte ich den Sommer und diese ganz besondere Stimmung. Diese Fröhlichkeit, die es nur gab, wenn die Sonne schien und maximal ein paar Schäfchenwolken am endlos weiten, strahlendblauen Himmel dahinzogen. Ich mochte es, wenn der Geruch von frischer Minze und Wassermelone vom Markt durch die Gassen wehte. Das typische Kreischen kleiner Kinder, denen die von der Hitze ganz weich gewordene Eiskugel aus der Waffel gerutscht war und das Gebell der Hunde, die von ihren Besitzern durch die Stadt gequält wurden und die, während sie sich die Pfoten im Schatten der zahlreichen Bistrotische abkühlten, zumindest auf ein Stückchen herunterfallende Bratwurst spekulierten. Ich liebte das leise Rauschen der frischen grünen Blätter der großen Linden. Und ich wartete nur darauf, dass Frank, der Besitzer der Waffelbar in der kleinen Seitengasse hinterm Trödelmarkt, seinen provisorischen Tisch auf dem Kopfsteinpflaster aufbaute und direkt vor dem Laden den köstlichen Waffelduft einmal durch die ganze Stadt schickte. Vorrangig natürlich, um möglichst viele seiner herrlich knusprigen und gleichzeitig so butterweichen Kreationen zu verkaufen. Wir waren mittlerweile per Du und so wusste ich, dass es ihm hinter dem Tresen aber auch schlicht und einfach viel zu heiß war.

Ja, das war für mich Sommer. Auch wenn es für meinen Geschmack ein bisschen zu warm war. Normalerweise beflügelte diese herrliche Jahreszeit meine kreative Schreibader regelrecht. Immerhin hatte ich letztes Jahr im Juni und im August die ersten beiden Bände meiner neuen Liebesromanreihe geschrieben. Zwar waren sie nicht bis an die Spitze der Bestsellerlisten geschossen, was sich natürlich jeder wünschte, der Bücher veröffentlichte, aber die Rückmeldungen meiner lieben Leserinnen und Leser waren traumhaft gewesen. Ehrlich gesagt hatte ich wochenlang nichts anderes getan, als mich an jedem einzelnen Wort von ihnen zu erfreuen und ‒ natürlich ‒ auch alle Emails und Briefe persönlich zu beantworten. Was mir jetzt doch etwas auf die Füße fiel, denn während ich mich diesen lieben Menschen und dem einen oder anderen kleineren Projekt gewidmet hatte, war wertvolle Zeit verstrichen, in der ich eigentlich den Nachfolgeband hätte schreiben können. Oder müssen, schließlich gab es einen Vertrag, an den auch ich mich zu halten hatte.

„Okay, los jetzt, Zoe. Du schaffst das“, murmelte ich und zwang mich, meinen Blick vom sperrangelweit geöffneten Fenster abzuwenden, durch das das fröhliche Stimmengewirr und die Musik der Kneipe um die Ecke zu mir ins Wohnzimmer drangen. Ich klappte den silbrig glänzenden Laptop auf und klickte das Symbol meines Schreibprogramms an. Da waren sie wieder, die ‒ wohlwollend gerechnet ‒ knapp vierhundert Wörter. Und nach dem Punkt am Ende des letzten Satzes gähnende, strahlend weiße Leere, die genauso sehnlichst wie ich darauf wartete, dass ich sie endlich mit meiner Geschichte ausfüllen würde. Doch wieder passierte einfach nichts. Kein Fingerjucken, keine Gedankenblitze und keine Aha-Momente. Ich hatte heute extra schon dreimal geduscht, weil mir ganz oft die besten Ideen kamen, wenn es gerade unmöglich war, sie aufzuschreiben. Nils, der Hauptprotagonist, wollte nichts sagen, Melissa, seine Partnerin, hatte auch nichts zu erzählen und in meinem Kopf war sowieso Schicht im Schacht, sobald ich dieses beleuchtete weiße Dokument vor mir sah.

Also beschloss ich, ein bisschen zu recherchieren. Der dritte Teil sollte auf Sylt spielen, weil Melissa und Nils von ihrer Heimat in der Mitte Deutschlands dorthin ziehen würden, um einen Künstlerhof zu eröffnen. Vor ewig langer Zeit hatte ich eine Woche Urlaub auf der wohl beliebtesten Insel Deutschlands gemacht, allerdings war das so lange her, dass meine Erinnerungen nicht für eine authentische Beschreibung der Szenerie ausreichen würden. Außerdem war Recherche keine Zeitverschwendung, sondern Arbeit und gehörte schließlich genauso zum Autorinnendasein wie das Schreiben an sich. Das schlechte Gewissen, das mich seit einer gefühlten Ewigkeit jedes Mal quälte, wenn ich, die Finger tippbereit auf der Tastatur, am Sekretär saß, ins Leere starrte und einfach nichts zustande brachte, würde mich dabei also hoffentlich verschonen. Ein weiterer Klick auf den Bildschirm, diesmal auf das runde Internetzeichen, brachte mich zur Homepage meines Email-Anbieters, die ich als Startseite eingestellt hatte. Vergesslichkeit gehörte nämlich ebenfalls zu meinen stark ausgeprägten Fähigkeiten. Wenn ich diese Internetseite nicht direkt vor mir sah, vergaß ich einfach komplett, dass es durchaus Leute gab, die versuchten, mich per Email zu erreichen und kam gar nicht erst auf die Idee, meine Nachrichten abzurufen.

Gerade als ich meine Adresse eingegeben hatte und den Mauszeiger in das Feld für das Passwort manövrierte, ploppte ein kleines Fenster auf und verdeckte das Anmeldefeld.

„Meine Herrn, immer diese blöde Werbung!“ Und dann auch noch für Autos … Genervt wischte ich mit dem Zeigefinger auf dem Touch-Feld des Notebooks herum, bis der Mauszeiger das winzige rote Kreuzchen in der oberen Ecke erreicht hatte. Dabei schwor ich mir, endlich die alte Maus anzuschließen, die seit Ewigkeiten ein trostloses Dasein neben alten DVD-Rohlingen im Kramfach des Wohnzimmerschranks fristete.

Mein Finger hob sich leicht. Gerade, als ich ihn auf das Touch-Feld bewegen wollte, um das Werbefenster zu schließen, fror er geradezu ein. Das, was ich da auf dem Bildschirm sah, ließ die so wohltuende kühle Nachtluft, die zu mir ins Zimmer strömte, plötzlich ganz dünn werden. Die kleinen Härchen an meinen nackten Armen stellten sich auf, und mein Herz klopfte wie wild. Das Band um meine Brust, das in den letzten zehn Jahren immer lockerer geworden war, zog sich wieder ganz fest zusammen und nahm mir fast den Atem. Wie in Trance rückte ich den Zeiger ein paar Millimeter nach unten, weg vom Kreuzchen, und klickte auf das Bild. Vor zwei Sekunden noch war dort ein silbernes Mercedes Cabrio zu sehen gewesen, doch als das Foto der als Slideshow eingestellten Werbeanzeige des Gebrauchtwagenportals umsprang, erschien eine Ente. Genauer gesagt, ein Citroën 2CV, Sondermodell Charleston. Die runden Scheinwerfer, die wie Glubschaugen an den Seiten der Motorhaube herausragten, waren in ein rotes Gehäuse verbaut und nicht verchromt, was hieß, dass ich hier tatsächlich die Sonderedition vor mir hatte. Jene, die ich doch so gut kannte und die jedes Mal, wenn ich ein Modell daraus in einer Zeitschrift oder einer Reportage über längst vergangene Zeiten sah, ein unbeschreibliches Kribbeln in mir auslöste. Eines, das sich nicht entscheiden konnte zwischen Traurigkeit, die mich von Zeit zu Zeit schier zu zerfressen drohte und dem Gefühl, vor Sehnsucht fast platzen zu müssen. Und vor Dankbarkeit, dass ich Erinnerungen in meinem Herzen tragen durfte, die so wertvoll und vor allem in solchen Augenblicken auch wieder so präsent waren, dass sie für immer und ewig einen großen Teil von mir ausmachen würden. Von dem, was ich war.

„Achttausend Euro“, flüsterte ich. Die einzelnen Buchstaben der Anzeige begannen vor meinen Augen zu verschwimmen. „Das ist doch viel zu günstig.“

Auf den Fotos, die ich mir ganz langsam und ganz genau, eines nach dem anderen ansah, konnte ich keine einzige Roststelle entdecken. Die Bezüge der Sitze mit dem für dieses Modell typischen Hahnentrittmuster sahen nicht übermäßig beansprucht aus, der Lack außen glänzte und auch der komplette Innenraum war so sauber, dass man hätte vermuten können, die Ente hätte nur bei einem Sammler in der Garage gestanden. Diese runden Kotflügel vorne … Unzählige Male hatte ich meine flache Hand auf das kühle Metall gelegt, um sie über genau diese Rundung hinuntergleiten zu lassen. Noch immer konnte ich mich ganz genau an den Geruch erinnern, wenn mir mein Papa mit seinem schwarzen ölverschmierten Finger lächelnd auf die Nase gestupst hatte. Sein Prinzessin, pass auf! tönte immer noch in meinen Ohren, als hätte ich es erst gestern zum letzten Mal gehört. Seine Beine, die immer an irgendeiner Stelle unter dem Auto herausragten und den Glanz in seinen Augen, wenn er es wieder einmal geschafft hatte, günstig ein Originalteil aufzutreiben, würde ich niemals vergessen. All diese Bilder aus längst vergangenen Zeiten liefen gerade vor meinem inneren Auge und parallel zu den Fotos der Ente auf dem Bildschirm ab. Ich hatte mir viele unserer gemeinsamen Momente bewahrt, aber die allerschönsten waren die gewesen, in denen wir gemeinsam Zeit in der Garage verbracht hatten.

Scheinbar galt meine Schreibblockade nur für Manuskripte, denn ganz automatisch fingen meine Finger an, über die Tasten zu huschen und hörten erst wieder damit auf, als ich meinen Namen unter den Text gesetzt und das Kontaktformular mit meiner Nachricht abgeschickt hatte.

2

„Ernsthaft, Zoe?“ Katharina, die mit Sicherheit gerade wieder an ihrer rechten Augenbraue herumzupfte ‒ so, wie sie es immer tat, wenn ich eine meiner Schnapsideen, wie sie meine Träumereien regelmäßig nannte, verwirklichen wollte ‒ war unüberhörbar aufgebracht.

„Warum denn nicht? Außerdem ist das doch genau das, was du mir geraten hast.“

„Ich hab dir geraten, ein Auto zu kaufen? Na, das wüsste ich aber“, schnaubte sie ins Telefon, während ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, nicht allzu sehr ins Wanken zu geraten.

Der Regionalexpress, in den ich vor knapp vierzig Minuten in Oldenburg umgestiegen war, würde gleich in Wilhelmshaven einfahren und holperte jetzt über die Weiche, die unser Gleis kreuzte. Schon als ich zugestiegen war, hatten sich die Leute dicht an dicht in den Gängen gedrängt, aber seit dem letzten Halt wusste ich definitiv, wie sich eine Ölsardine fühlen musste. Die Luft im Waggon war furchtbar stickig, und weder die Ausdünstungen mancher Fahrgäste, noch meine Vermutung, dass jemand den Schalter der Klimaanlage mit dem der Heizung verwechselt hatte, trugen so wirklich zu meinem Wohlbefinden bei. Für einen kurzen Moment verfluchte ich mich wieder dafür, diese Reise überhaupt angetreten zu haben.

„Du warst der Meinung, ich sollte mal raus aus der Stadt, und genau das tue ich gerade. Ab in die Pampa sozusagen. Aber Süße, lass uns aufhören, wir sind da und ich muss hier echt so schnell wie möglich raus. Ich klingel’ nochmal durch, wenn ich im Hotel bin, ja?“

„Wo ist denn da?!“, hörte ich sie noch rufen, als der Zug mit quietschenden Bremsen hielt.

Ich quetschte mich als Erste durch die sich langsam öffnenden Türen, sprang auf die Bahnsteigkante und atmete tief durch, bevor die Menschenmassen wie Popcorn aus einem viel zu kleinen Topf hinter mir aus dem Zug herausquollen.

Der einzige Weg nach draußen führte vom Bahnsteig schnurstracks in ein Einkaufszentrum, über dessen Tür auf blauem wellenförmigem Hintergrund in großen Lettern Nordseepassage geschrieben stand und das dafür, dass die Stadt direkt am Meer lag und die Sonne auch hier vom wolkenlosen Himmel herunterbrannte, ganz schön voll war. Bestes Strandwetter und die Leute gingen lieber shoppen? Auf der anderen Seite hatten die Einheimischen die Nordsee ja das ganze Jahr über vor der Nase. Vielleicht war das also gar nicht so merkwürdig, wie ich dachte. Neue Klamotten brauchte schließlich jeder irgendwann mal.

Positiv denken, Zoe. Die zwei Tage hier oben wirst du ja wohl irgendwie aushalten, oder?

Kaum merklich nickend gab ich mir selbst die Antwort, während ich mich von der Menge treiben ließ und es schließlich schaffte, aus dem Strom nach rechts auszubrechen und mir in der Filiale einer kleinen Bäckerei einen Becher mit heißem duftendem Kaffee kaufte, an dem ich mich festhalten konnte. Beruhigt darüber, dass es im Norden nicht nur Ostfriesentee zu geben schien, machte ich mich auf den Weg zu den Bussen. Der mit der Nummer 121 würde mich direkt nach Schillig bringen, wo ich mich morgen mit Maren, der Besitzerin der Ente, treffen würde. Für heute allerdings hatte ich mir absolut nichts weiter vorgenommen, außer im Hotel einzuchecken, kurz unter die Dusche zu springen und sofort danach in die hoffentlich wunderbar weiche Matratze zu sinken.

Die Fahrt hierher war durch das viele Umsteigen und diese ätzende schwüle Hitze in den Zügen wirklich anstrengend gewesen, und da mich bei diesem Wetter weder ein von zahlreichen Touristen besiedelter Strand, noch Wasser, das über die Dimension einer Pfütze hinausging, anzogen, wollte ich die beiden Tage nutzen, um endlich mal wieder genug Schlaf zu bekommen. Zu Hause brauchte ich immer ewig, um ins Reich der Träume hinüberzugleiten, weil einfach viel zu viel in meinem Kopf herumspukte. Zwar nichts, was ich für meinen Liebesroman hätte verwenden können, aber eine kleine Geschichte hier, eine Idee für einen Plot da und auch klitzekleine alltägliche Gedanken hielten mich trotzdem vom Schlafen ab. Ob es dieses Jahr im November wohl schneien würde zum Beispiel oder ob ich aus Versehen mein nagelneues weißes Sommertop in die dunkle Wäsche gesteckt hatte.

Meine Hoffnungen wurden nicht enttäuscht, denn das Hotel hatte nicht nur herrlich bequeme Matratzen, sondern war auch noch total niedlich eingerichtet und trotz der Hochsaison sehr ruhig. In meinem Zimmer angekommen konnte ich gerade noch die halbtransparenten, weit gebauschten Vorhänge vor das geöffnete Fenster, durch das eine laue Brise des warmen Abendwindes ins Zimmer wehte, ziehen und die paar Schritte zum Bett zurückgehen, bevor mir die Augen zufielen. Mein letzter Gedanke war, dass ich vielleicht in nächster Zeit öfter mal lange Bahnfahrten unternehmen sollte, dann würde ich abends immer ruckzuck einschlafen und wäre am nächsten Morgen so ausgeruht, dass ich endlich dieses verdammte Buch schreiben könnte.

***

„Moin, du musst Zoe sein.“ Die Begrüßung kam über die Lippen einer sehr sympathisch wirkenden jungen Frau, die mir auf dem Parkplatz unsicher ein paar Schritte entgegenlief. Schon vom Eingang meines Hotels aus, das praktisch direkt am langgezogenen Sandstrand lag und von dem es nicht einmal fünfhundert Meter bis zu dem riesigen Parkplatz waren, auf dem wir uns treffen wollten, hatte ich sie gesehen. Nicht Maren, sondern die Ente, die mich auf eine magische Art und Weise anzuziehen schien. Der rote und schwarze Lack funkelte im gleißenden Licht der Sonne, die trotz des frühen Vormittags schon fast senkrecht am Himmel stand. Langsam mit einem aufgeregten Flattern im Brustkorb, ging ich die letzten Meter, bis ich schließlich direkt vor ihr stand und mich schlagartig in eine Zeit zurückversetzt fühlte, die viel zu kurz gewesen war und die ich vermisste wie kaum etwas anderes in meinem Leben.

„Zoe?“

Nur mit einiger Mühe konnte ich meinen Blick von dem Fahrzeug abwenden. Ich stand nicht nur direkt vor dem Auto, sondern auch direkt vor Maren, die mich mit einem leicht besorgten Ausdruck in ihren Augen unverhohlen musterte.

„Ähm … hallo, Maren“, antwortete ich und streckte ihr, immer noch leicht abwesend, meine Hand entgegen.

„Schön, dass es geklappt hat.“ Sie lächelte, als wir uns begrüßten, doch trotz ihres wirklich freundlichen Auftretens irritierte mich irgendetwas an ihr. Ihre ganze Körperhaltung wirkte so, als drückte eine riesengroße Last auf ihre Schultern. Obwohl ihre Mundwinkel immer noch nach oben zeigten, bildete ich mir ein, dass der heitere Glanz in ihren Augen getrübt war. Wir hatten uns vorgestern über das Kleinanzeigenportal, in dem sie ihr Auto inseriert hatte, einige Nachrichten geschrieben, doch da war es vorrangig um den Zustand der Ente und natürlich auch um den Treffpunkt gegangen. Klar hatte ich mich gewundert, warum sie nur achttausend Euro für ihr Auto haben wollte, aber wer war denn bitte so dämlich und schrieb einem Verkäufer, dass der von ihm geforderte Preis viel zu günstig war? Jetzt allerdings drängte sich mir ein Verdacht auf, und während sie mir das Auto zeigte und vom Kofferraumgriff bis zu den aufklappbaren Fenstern wirklich jedes Detail auf solch eine liebevolle Art erklärte, als spräche sie über etwas ganz Besonderes ‒ was sie ja auch tat ‒ wurde mir klar, dass der Preis weder gerechtfertigt, noch durch ihre Unwissenheit entstanden war.

Ich blickte vom Tacho, auf den ich gerade gestarrt hatte, auf. Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt. Schnell versuchte sie fast schon krampfhaft, sie wegzublinzeln. Auf meine Frage, ob sie die Ente aus einer Not heraus verkaufen müsste, fand sie keine Worte.

***

„Wollen wir ein Stückchen gehen?“ Ich deutete mit dem Kopf in Richtung der schmalen Promenade, die vor uns lag und die nicht allzu überlaufen war. Die meisten Menschen ließen sich in den Strandkörben in der Sonne braten oder waren mit ihren Kindern auf dem weitläufigen Spielplatz beschäftigt. Ich wollte erst heute Abend wieder nach Hause fahren. Zwar ging ich davon aus, dass es mein neues Auto bis nach Nürnberg schaffen würde, allerdings war auf den Autobahnen nachts natürlich um Welten weniger los als tagsüber und somit tendierte auch das Risiko, in einem Stau zu landen, gegen null. Fachlich kannte ich mich mit solch alten Autos nicht wirklich aus, aber die Schilderung eines ehemaligen Bekannten, dessen Oldtimer sich im Stand überhitzt hatte, hatte plausibel und auch ziemlich abschreckend geklungen, also wollte ich auf Nummer sicher gehen und die kühleren Nachtstunden für die lange Fahrt nutzen.

Nach einem schnellen Blick auf ihre Armbanduhr nickte Maren und warf mir ein kurzes nervöses Lächeln zu, bevor wir in Richtung Strand losspazierten.

„Weißt du, es ist ziemlich schwierig, mit einer vollkommen Fremden über all das zu reden.“ Sie strich sich eine lange blonde Haarsträhne hinters Ohr. „Also, versteh mich bitte nicht falsch, du bist sehr nett, aber …“

„Schon okay, Maren. Ich versteh dich, wirklich. Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht möchtest.“ Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Doch, ich möchte.“ Sie holte tief Luft und fokussierte sich auf einen Punkt irgendwo weit draußen auf dem Meer. „Es ist so, dass mein Mann sich von mir getrennt hat. Vor drei Wochen.“ Sie hielt kurz inne, und ich konnte sehen, dass ihre schmalen Schultern leicht zitterten. „Ich hab ihn erwischt, als er mit … Nun ja, als er mich betrogen hat. Und scheinbar möchte er lieber mit dieser anderen Frau zusammen sein.“ Achselzuckend guckte sie jetzt nach unten und malte mit der Spitze ihrer Sneaker kleine Kreise in den Sand. Ich hatte das dringende Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen. Sie sah so schrecklich hilflos aus und so traurig, dass es mir ganz schwer ums Herz wurde. „Maren, das tut mir unglaublich leid. Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst …“

„Sie hat keine Kinder, weißt du.“

„Und du schon?“

Sie nickte. „Ja, zwei. Es sind auch seine, aber wenn ich ehrlich bin, wusste ich von Anfang an, dass sich seine Vaterqualitäten in Grenzen halten würden.“ Ihr Lachen klang bitter. „Der Kleine ist erst vier Monate alt“, ergänzte sie seufzend. Ich hätte so gerne etwas zu ihr gesagt. Ihr Mut zugesprochen oder ihr irgendetwas anderes mit auf den Weg gegeben. Aber mir fehlten schlicht und einfach die Worte. Seine Frau auf diese Art und Weise zu hintergehen war das eine und an und für sich schon wirklich schlimm, aber was für ein Mensch musste man sein, um sein gerade erst geborenes Kind zu verlassen? Als ob sie meine Gedanken lesen konnte, sprach sie weiter. „Die Kinder sind ihm egal. Das hat er genau so zu mir gesagt, bevor er gegangen ist. Seitdem hat er nicht einmal angerufen und sich nach ihnen erkundigt.“

Diesmal konnte ich nicht anders, als ganz behutsam meine Arme um sie zu legen. Marens Schultern senkten sich ein kleines Stückchen und ich spürte die feuchte Spur ihrer Tränen an meiner Wange. Für einen kurzen Augenblick standen wir da, einfach so. Mitten auf der Promenade. Die hochstehende Sommersonne über uns, deren kraftvolle warme Strahlen es jedoch nicht schafften, das leise Frösteln, das sich in mir ausgebreitet hatte, zu vertreiben.

„Die Ente ist ein Notverkauf, stimmts?“

Sie nickte kaum merklich und löste sich langsam aus der Umarmung. Betreten schaute sie seitlich an mir vorbei. „Ich kann die Miete für das Haus alleine nicht bezahlen, und ob er jemals Unterhalt zahlen wird, steht in den Sternen. Ich kann nur halbtags arbeiten, wegen der Kinder. Zum Glück habe ich eine kleine Wohnung gefunden, die ich mir hoffentlich leisten kann.“ Sie kam ins Stocken, sprach jedoch weiter, als ich ihr sanft über den Arm strich. „Sie liegt in der Stadt und ich kann dann alles mit dem Bus oder der Straßenbahn erreichen. Es gibt nur ein Problem …“, setzte sie an und blickte mich zögerlich an.

„Probleme sind dazu da, gelöst zu werden“, antwortete ich. „Was für Schwierigkeiten gibt es denn?“

„Ich muss die Ente verkaufen, das steht fest. Und zwar jetzt, weil die Miete für den letzten Monat noch aussteht und ich auch neue Möbel kaufen muss, weil wir das Haus damals mit Inventar übernommen haben. Das Geld wird nicht für alles reichen, aber ohne Auto wird der Umzug wirklich schwierig. Eigentlich unmöglich. Wir haben nichts Sperriges außer unsere Betten, aber es hat sich über die Jahre so viel Kram angesammelt. Alleine die Klamotten für Lene und Julian – ich möchte gar nicht dran denken.“

In meinem Kopf ratterte es. Achttausend Euro waren wirklich ein Witz für dieses Auto. Sammler würden um einiges mehr dafür bezahlen. Bei einem Notverkauf allerdings ging es ja darum, so schnell wie möglich zu verkaufen, weswegen man dann den Preis gewaltig nach unten hin korrigierte. Fieberhaft überschlug ich ihm Kopf meine Ersparnisse. Ich verstand Maren und ihr Dilemma, und sie war mir so sympathisch, dass ich ihr unbedingt helfen wollte.

„Okay, ich hab eine Idee.“ Behutsam fasste ich sie an den Schultern. „Das Auto ist mehr wert, das wissen wir beide. Was hältst du davon, wenn ich dir zwölftausend Euro dafür gebe?“ Das wäre immer noch ein Schnäppchen für mich und ihr würden die viertausend Euro, die sie mehr bekam, mit Sicherheit auf irgendeine Art und Weise helfen.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie mich an. „Zoe, das ist unglaublich großzügig von dir, aber …“

„Nichts aber, Maren. Ich betrachte hiermit die Verhandlungen als beendet und bezahle dir zwölftausend Euro. Und ich brauche die Ente auch nicht sofort. Die Gegend hier ist schöner, als ich gedacht hätte.“ Langsam ließ ich meinen Blick über den weitläufigen Strand wandern. Zumindest das türkisblaue Meer mit den kleinen, weißen Schaumkrönchen auf den Wellen sah aus wie gemalt. „Du bist sicher, dass euer Umzug in zwei Wochen geschafft ist?“ Sie nickte. „Gut, dann machen wir jetzt den Vertrag und ich zahle die Hälfte an. In vierzehn Tagen, wenn ich die Ente abhole, bekommst du den Rest. Deal?“

Immer noch sah Maren aus, als wäre ihr soeben ein Geist begegnet. „Aber“, fing sie abermals an, doch ich fiel ihr sofort ins Wort. „Deal?“, wiederholte ich, und diesmal schwieg sie. Die Dankbarkeit, die in ihren braunen Augen lag, war Antwort genug.

3

„Oh Süße, du bist einfach zu gut für diese Welt.“ Katharina seufzte in ihr Smartphone. „Jedem anderen wäre das doch total egal gewesen. Hauptsache, man hat ein Schnäppchen gemacht. Und du? Ohne Worte, echt. Hast du wenigstens deinen Laptop dabei? Und wo willst du die Kohle für das Hotel hernehmen? Soll ich dir was leihen?“

„Nee“, erwiderte ich. „Total lieb von dir, aber das wird schon irgendwie gehen. Als Maren sich wieder beruhigt hatte, hat sie erwähnt, dass es ein paar Kilometer weiter wirklich günstige Ferienhäuschen gibt, da wollte ich gleich mal anrufen. Vielleicht ist ja noch was frei. Und klar hab ich den Laptop dabei.“

„Sehr gut, dann kannst du ja die nächsten zwei Wochen wenigstens fürs Schreiben nutzen. Mit der traumhaften Kulisse da oben klappt das bestimmt, wirst sehen.“

Gut, der Begriff traumhaft war definitiv Auslegungssache ‒ im Gegensatz zu meiner besten Freundin war ich absolut kein Fan vom Meer und ich fand auch die Wesensart der Leute hier oben, die man ihnen quasi überall ‒ und vor allem im südlichen Teil des Landes ‒ nachsagte, mehr als gewöhnungsbedürftig. Franken war jetzt auch nicht unbedingt dafür bekannt, dass die Menschen sich gegenüber Touristen und sogenannten Zugereisten aufgeschlossen verhielten, aber an der Nordsee waren alle so furchtbar wortkarg. Gerade für mich als Autorin war das doch ziemlich ungewohnt. Mit Moin und einem Moin als Antwort darauf, in dem scheinbar auch gleich die Beschreibung des aktuellen Gemütszustandes, der prognostizierte Wetterbericht für die nächsten drei Tage und auch noch eine Verabredung für abends mitschwangen, gewann man schließlich keinen Preis für den besten Dialog. Aber okay, es waren ja nur vierzehn Tage, und vielleicht beflügelte dieses Nichts hier ja doch meine schriftstellerische Ader. Vielleicht hatte Katharina recht. Und wenn ich Maren mit diesen läppischen zwei Wochen ungeplanten Urlaubs an der Nordseeküste aus ihrer Misere heraushelfen konnte, dann würde ich das selbstverständlich auch tun.

Gefühlte fünfzig Telefonate später hatte ich die Hoffnung, mich irgendwo spontan einmieten zu können, aufgegeben. Überall hatte ich die gleiche Antwort bekommen: Alle waren wegen der Hochsaison komplett ausgebucht. Selbst auf diversen Wohnungstauschseiten im Internet war ich nicht fündig geworden. Gerade als ich mein Handy erneut in die Hand nahm, um schweren Herzens Maren anzurufen, klingelte es.

Auf dem Display stand eine Nummer, die mit der örtlichen Vorwahl anfing, und obwohl ich normalerweise Gespräche mir unbekannter Anrufer nicht entgegennahm, drückte ich auf den grünen Button. „Hallo?“

„Moin, wer spricht denn bitte?“, antwortete eine fröhliche Frauenstimme. Sie klang schon ein bisschen älter, und augenblicklich war es mir ziemlich peinlich, mich nicht mit meinem Namen gemeldet zu haben.

„Oh, entschuldigen Sie bitte, hier ist Zoe. Zoe Manitz. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Anneliese. Du suchst einen Schlafplatz, nich wahr?“

„Das stimmt, ja. Hätten Sie denn vielleicht eine Idee, wo ich noch einen finden könnte? Ich hab’s echt schon überall versucht.“

„Nein, hast du nich“, lachte sie glucksend. „Bei mir zumindest nich. Zwei Wochen meinte Uwe, ne?“

„Wer auch immer Uwe ist, er hat recht.“ Ich musste grinsen. Obwohl ich sie nur durchs Telefon hörte, war ihre beschwingte Art ziemlich ansteckend.

„Na, der Uwe vom Strandhuus natürlich. Mit dem war ich ja schon in der Schule, und er hat gesagt, dass eine ziemlich verzweifelte junge Frau bei ihm angerufen hat.“

Verzweifelt? Dann musste das besagte Strandhuus einer meiner letzten Anrufe gewesen sein …

„Eigentlich vermiete ich mein Haus ja gar nicht mehr, aber der Uwe … ach, ich sabbel’ schon wieder viel zu viel.“ Wieder dieses glucksende Lachen. „Wenn du möchtest, komm ins Friesenhuus, für zwei Wochen oder auch zehn. Ist nicht weit weg von dir.“

Zehn Wochen?! Gott bewahre …

„Wow, ganz lieben Dank, Anneliese. Ich nehme Ihr Angebot sehr gerne an. Aber ich glaube, die zwei Wochen reichen dicke.“

Schon wieder lachte sie. Ehrlich, ich mochte diese Frau jetzt schon.

„Könnten Sie mir vielleicht noch sagen, wie viel Ihr Haus für diese Zeit kostet? Ich würde gerne gleich bei der Ankunft bezahlen.“

„Das machen wir am Schluss, min Deern. Wärst nicht die Erste, die länger hierbleibt, als sie es geplant hat.“

Natürlich war diese Vorstellung mehr als absurd, schließlich hätte Maren in zwei Wochen ihren Umzug bewältigt und brauchte die Ente dann nicht mehr, aber trotzdem war ich dieser Frau namens Anneliese sehr dankbar dafür, dass sie mich in ihrem Ferienhäuschen aufnahm. Die Idee, einfach in vierzehn Tagen nochmals mit dem Zug bis nach Schillig zu fahren, war zwar kurzzeitig vor meinem geistigen Auge aufgeblitzt, allerdings hatte Katharina sie mir bei unserem letzten Telefonat sofort wieder ausgeredet. Stichwörter: Abgabefrist des Manuskripts, der mich beflügelnde Ortswechsel und die Preise der Deutschen Bahn für kurzfristige Zugbuchungen. Und da ja jetzt, dank dem mir unbekannten Uwe und der fröhlichen Dame, die Anneliese hieß, die Sache mit meiner Unterkunft geklärt war, stand meinem Schreiburlaub nichts mehr im Wege.

***

Als ich fast am Friesenhuus angekommen war, warf ich für einen klitzekleinen Moment alles, was ich bisher über die Küstengegend gedacht hatte, über Bord und konnte nicht anders, als stehen zu bleiben und das, was ich vor mir sah, mit großen Augen auf mich wirken zu lassen. Der Weg bis zum Haus war etwas beschwerlich gewesen, vor allem, weil ich natürlich kein passendes Schuhwerk für einen Marsch durch heißen, unter den Füßen nachgebenden Sand eingepackt hatte. Der Bus hatte etwa dreihundert Meter oberhalb der Dünenlandschaft, die das kleine Schilliger Nachbarstädtchen vom Meer trennte, gehalten. Das letzte Stück musste ich zu Fuß gehen. Der Weg aus alten, leicht verwitterten und von Wind und Wetter ausgewaschenen Bohlen endete auf halber Strecke mitten im Sand, sodass ich auf den letzten Metern einfach meine Schuhe auszog, um mit den Absätzen nicht ständig im lockeren Untergrund zu versinken. Am Ende würde ich noch umknicken, müsste hier ins Krankenhaus und könnte nicht mit meinem neuen Auto zurück nach Hause fahren.

Langsam lief ich zwischen zwei Dünen, auf denen sich das raue hohe Gras im frischen, überraschend kühlen und herrlich angenehmen Wind zur Seite neigte, hindurch. Als das Rauschen der Wellen immer lauter wurde und das Kreischen der Möwen immer durchdringender, tauchte Annelieses Ferienhaus vor mir auf. Ganz einsam stand es da, inmitten einer Landschaft, die zauberhafter nicht hätte sein können. Die weiß getünchten Mauern reflektierten das helle Sonnenlicht und strahlten förmlich, genau wie der halbhohe Gartenzaun aus Holz, der den kleinen Vorgarten umrahmte. Überall neben dem rötlich verklinkerten schmalen Weg, der vom Gartentürchen bis zur Haustür führte und der an einigen Stellen von Sand bedeckt war, wuchsen pink blühende Wildrosen, die an der Fassade hochwuchsen und bis fast aufs reetgedeckte Dach hinaufragten. Ihr herrlicher, süßer Duft vermischte sich mit dem salzigen Geruch der Nordsee und stieg mir direkt in die Nase. Je näher ich kam, desto mehr Details konnte ich erkennen, und als ich die liebevoll arrangierten Deko-Elemente entdeckte, bekam ich trotz der heißen Sonne, die auf meine nackten Oberarme knallte, eine wohlig-leichte Gänsehaut. Die Fensterbänke der alten Sprossenfenster waren mit bunten Keramiktöpfen, in denen die schönsten Blumen ihre Köpfchen in die Luft reckten vollgestellt und auf dem schmalen gepflasterten Bereich direkt darunter stand eine gusseiserne Bank mit himmelblau gestrichenen Latten, die nur darauf zu warten schien, dass sich jemand auf ihr niederließ, um die Seele baumeln zu lassen. Inmitten der Wildrosen stand eine blaue Vogeltränke, in der sich just in diesem Moment zwei Vögel vergnügten, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Dieses zauberhafte Idyll wurde malerisch eingerahmt von den sandweißen Dünen und einem wunderbaren Nichts. Nur der alte Blockbohlenweg, der urplötzlich ein paar Meter vom Gartenzaun entfernt wieder aus dem Sand auftauchte, trennte dieses unglaubliche Anwesen vom Strand, der, soweit ich es von meinem Standort aus durch die beiden Dünen hindurch sehen konnte, selbst jetzt, zur Hochsaison, menschenleer dalag. Und vom Meer mit seinen glitzernden Schaumkrönchen und dem leisen, stetigen Rauschen der Wellen.

„Moin, Zoe“, drang es an meine Ohren, gerade als ich mich anschickte, den geschwungenen Griff des Gartentürchens hinunterzudrücken.

Ich wirbelte herum, als wäre ich bei etwas Verbotenem ertappt worden, doch das Lächeln der Frau, die auf mich zukam, beruhigte mich sofort. Das musste Anneliese sein, und sie hatte ja schließlich gesagt, dass die Tür nicht abgeschlossen war und ich einfach ins Haus gehen sollte.

Sie hatte halblanges blondes Haar, durch das sich ein paar graue Strähnen zogen und das durch den Wind in alle Richtungen vom Kopf abstand. Sie lachte mir fröhlich entgegen und hüpfte schon fast durch den Sand. Als sie schließlich bei mir angekommen war, streckte sie ihre Arme aus, beugte sich ein bisschen nach vorne und reckte sich nach oben. Nur eine Millisekunde später fand ich mich in einer der womöglich herzlichsten Umarmungen wieder, die mir je zuteilgeworden war. Zumindest von einer mir vollkommen Fremden.

„Hui, die friesische Liebenswürdigkeit hatte ich mir aber anders vorgestellt“, presste ich heraus und musste lachen, was durch die überraschende Kraft, mit der sie mich an sich drückte, eher klang wie ein Hustenanfall. Sofort ließ sie mich wieder los, hielt mich aber weiterhin an den Schultern fest und musterte mich skeptisch, was es mir endlich ermöglichte, japsend nach Luft zu schnappen.

„Hm. Denn man rein mit dir, min Deern, ich mach uns einen Tee, ja?“

Den Zusatz Nicht, dass du noch krank wirst sparte sie sich, denn genau dieser stand ihr ins Gesicht geschrieben. Bevor ich ihr allerdings versichern konnte, dass bei gefühlten vierzig Grad im Schatten jedwede Erkältung schon weggebrutzelt worden wäre, bevor sie sich auch nur im Ansatz hätte anbahnen können, hatte sie schon die quietschende Klinke des Türchens heruntergedrückt und war mit mir im Schlepptau zwischen den Rosen hindurch zum Eingang des Hauses geeilt.

Schon im Eingangsbereich setzte sich die liebevolle, aber auch ein wenig chaotische Gestaltung des Gartens fort. Alles war entweder weiß, blau oder kunterbunt. Das fing schon bei den scheinbar wahllos an der Wand platzierten bemalten Hufeisen an, die als Garderobe dienten. Es endete auch dann nicht, als ich in der Küche auf einem der hellblauen Holzstühle Platz nahm, auf denen kleine gestreifte Flickenteppiche als eine Art Sitzpolster dienten und ich einen ersten Blick in den Küchenschrank neben dem Fenster werfen konnte, den Anneliese aufriss, um zwei bunt geringelte Tassen herauszuholen. Während sie einen dieser uralten Wasserkessel, von denen ich dachte, es gäbe sie nur noch in entsprechenden Museen, befüllte und ihn auf die heiße Herdplatte stellte, schaufelte sie lose Teeblätter in eine bauchige Kanne und zündete anschließend das Teelicht eines kleinen Stövchens an, das in der Mitte des runden Tischchens stand. Zu meinem großen Erstaunen redete sie die ganze Zeit über, womit ich absolut und überhaupt nicht gerechnet hatte. Waren die Norddeutschen nicht eigentlich ein total wortkarges Völkchen? Kam Anneliese vielleicht gar nicht von hier?

Als ob sie Gedanken lesen könnte, was ich einigermaßen beängstigend fand, fing sie an, von ihrer Kindheit hier in Nienersiel zu erzählen und zerstreute somit all meine Gedankengänge in diese Richtung. Und auch meine Vorbehalte gegenüber allen, die nördlich vom schönen Frankenland wohnten, bekamen durch sie einen ersten kleinen Knacks.

„Hier Zoe, nimm dir ruhig schon.“ Sie schob ein Schüsselchen mit weißen kristallartigen Brocken zu mir und stellte ein Kännchen daneben.

Wie brachte man einer älteren, durch und durch herzlichen Person, die einem gerade auf ganz altmodische und wirklich zeitintensive Weise einen Tee zubereitet hatte bei, dass man diesen ‒ und auch alle anderen ‒ verabscheute wie der Teufel das Weihwasser? Besser gar nicht. Ich würde mich einfach zusammenreißen und das Zeug in einem Zug runterstürzen, schließlich war ich hier zu Gast und ihr ziemlich dankbar dafür, dass ich nicht wieder nach Hause fahren musste, nur um in vierzehn Tagen die Fahrt noch einmal anzutreten. Allerdings wollte ich definitiv keine Milch im Tee haben, und ich hatte keine Ahnung, wie viele von diesen Brocken ich mir nehmen sollte. Ich nahm an, dass es eine Zuckervariation war, aber die Süßkraft konnte ich überhaupt nicht einschätzen. Man konnte ja bekanntlich fast alles herunterschlucken, wenn es denn gesüßt war. Der Ketchup der nicht-herzhaften Dinge sozusagen. Aber Zuckerwasser würde selbst ich nicht herunterbekommen. Als Anneliese sich setzte, rührte ich deswegen etwas verlegen mit dem Löffel in meiner Tasse und sah dem Strudel, der sich in der rotbraunen klaren Flüssigkeit gebildet hatte, beim Herumwirbeln zu.

Ganz sanft und mit einem Lächeln im Gesicht legte sie ihre Hand auf meine. „Nicht rühren, Zoe. Ist aber nicht so schlimm, weil noch nichts drin ist. Guck, ich zeig’s dir.“

***

So schnell, wie Anneliese aufgetaucht war, war sie auch wieder verschwunden. Nicht aber, ohne mir nochmals zu versichern, dass ich auf jeden Fall so lange bleiben könnte, wie ich wollte. Auch ihre Telefonnummer und ihre Adresse hatte sie mir vorsichtshalber aufgeschrieben, damit ich sie jederzeit erreichen konnte, wenn ich etwas wissen wollte oder etwas brauchte, auch wenn ich mein Handy verlegen sollte. Ich wusste jetzt bereits, wie ich zum Supermarkt kam und auch, dass der Strandabschnitt direkt vor dem Ferienhaus das ganze Jahr über menschenleer war, weil er zu weit weg von den Hotels und Pensionen lag. Lediglich Spaziergänger verirrten sich ab und zu hierher, und im Sommer fanden Surfkurse statt, weil das Meer hier wohl zuverlässig die perfekten Wellen für Einsteiger hervorbrachte.

„Wenn dir langweilig wird, kannst du ja mal gucken gehen. Der Surflehrer ist sehr nett, der dürfte dir gefallen“, hatte sie fast schon verschmitzt und mit einem mehr als auffälligen Augenzwinkern gesagt, bevor sie sich wieder so herzlich von mir verabschiedet hatte. Ich und Surfen … na klar. Selbst wenn ich gewollt hätte, hatte ich ja überhaupt keine Zeit für so etwas, weil ich mich jetzt voll und ganz in mein Manuskript vertiefen würde.

Kaum war Anneliese aus der Tür und durch den lockeren Sand in Richtung Straße gegangen, klingelte mein Handy. Katharina stand auf dem Display. Einen Sekundenbruchteil, nachdem ich den Annehmen-Button nach rechts gewischt hatte, schnatterte ihre Stimme durch den Lautsprecher. Natürlich wollte sie wissen, ob ich eine Unterkunft gefunden hatte. Noch während ich von Anneliese und dieser merkwürdigen Teezeremonie erzählte, brach sie in schallendes Gelächter aus.

„Oh Zoe, die zelebrieren das richtig. Hast du das nicht gewusst? Das Knistern vom Kluntje, die Sahne … Und wehe, du rührst das um!“

„Nee, hab ich nicht gewusst. Und woher kennst du das bitte? Hättest du mir ja mal sagen können. Das ist laut Anneliese nämlich die wichtigste Zeremonie überhaupt hier oben.“

„Ja klar, weil ich ja wusste, dass du spontan da Urlaub machst und mit netten, älteren Damen ein Teekränzchen abhältst.“ Ich konnte Katharinas Augenrollen förmlich hören.

„Ach, und übrigens … Zoe, die Nordsee ist ziemlich nass und Sand im Bikinihöschen echt unangenehm. Und pass auf, Möwen kacken auch beim Fliegen.“

„Als ob ich mich im Bikini an den Strand lege! Ich hab ja nicht mal einen. Und hör auf, so doof zu kichern!“

„Sorry, Süße, ich hatte grad Kopfkino. Und wegen des Bikinis … dann kauf dir doch endlich mal einen. Da wird’s ja wohl irgendwo ein Geschäft geben. Es ist bullig heiß, und du bist am Meer!“ Das letzte Wort zog sie betonend in die Länge, und ich seufzte leise auf.

„Oder willst du dich wieder in der Jeans aufs Handtuch legen wie am Baggersee?“

„Dann kommt wenigstens kein Sand in mein Höschen.“

Natürlich hatte sie theoretisch recht, aber halbnackt in der Öffentlichkeit herumzulaufen, wäre wirklich das Allerletzte, was ich tun würde. Und das wusste sie ganz genau.

„Du, es hat geklopft, ich ruf dich morgen wieder an, ja?“

„Ich hab gar nichts gehört.“

„Du bist ja auch ziemlich weit weg. Hab dich lieb.“

„Ich dich auch, du Knalltüte. Bis morgen.“

Natürlich hatte es nicht geklopft, aber Diskussionen mit Katharina waren generell sinnlos, und zu diesem Thema hatten wir nun mal grundsätzlich verschiedene Meinungen. Am wohlsten fühlte ich mich in Jeans oder meiner Jogginghose und Schlabbershirts, und da das kein von der Allgemeinheit toleriertes Outfit für See- oder Strandaufenthalte war, hielt ich mich eben von solchen Orten fern, sobald auch nur annähernd Badewetter herrschte. Ich persönlich hatte damit auch überhaupt kein Problem, nur Katharina nervte jeden Sommer aufs Neue, weil sie die Wasserratte schlechthin war, aber keine Lust hatte, immer alleine zu baden. Ich allerdings konnte eben gut auf diese Fleischbeschau verzichten, weswegen ich meine Sommeraktivitäten darauf beschränkte, irgendwo in der Altstadt im Schatten zu sitzen, Kaffee zu trinken und die Pegnitz höchstens von einer Brücke aus oder eben auf der Liebesinsel von oben zu betrachten. Zu der Tatsache, dass ich mich nicht auszog, kam auch noch erschwerend hinzu, dass ich niemals in einem See oder gar im Meer schwimmen würde, weil ich nicht sehen konnte, was sich unter mir befand. Selbst im Rothsee gab es riesige Hechte und Welse, und von dem armen Dackelwelpen, der in Mönchengladbach von einem dieser Fische verspeist worden sein soll, waren damals die Zeitungen voll gewesen. Ob diese Geschichte stimmte oder nicht war für mich vollkommen irrelevant, denn alleine auf die Tatsache, dass theoretisch ‒ und vor allem praktisch ‒ ein zwei Meter langes Tier zwischen meinen Beinen hindurchgleiten könnte und mir dann vielleicht auch noch in den Hintern biss, konnte ich getrost verzichten. Das Meer war noch viel schlimmer, schließlich verirrten sich zusätzlich zu den heimischen Haien mehr oder weniger regelmäßig auch riesige Vertreter dieser Spezies dort hinein. Selbst jetzt, nur beim Gedanken daran, ertönte in meinem Kopf die Melodie des Films Der weiße Hai, und ich bekam von den Zehen bis zum Haaransatz Gänsehaut.

***

Es war bereits kurz nach neun, als ich endlich meine Reisetasche ausgepackt und geduscht hatte. Außer den hochhackigen Pumps hatte ich an Schuhwerk nur noch meine dicken Plüschsocken mitgenommen, ohne die ich nicht schlafen konnte und die mir jetzt auch als Hausschuhersatz dienten. Meine Haare waren noch feucht und hingen in langen, einigermaßen glatten Strähnen bis auf die Mitte meines Rückens, wo sie nasse Spuren auf meinem dünnen Shirt hinterließen. Nicht lange und sie würden sich wieder zu schwungvollen Locken kringeln, die mir, wenn ich sie nicht frisierte, wirr vom Kopf abstanden und mich aussehen ließen wie das weibliche Pendant zu Albert Einstein, nur mit feuerroten Haaren statt hellgrauen. Hier allerdings sah ich absolut keine Notwendigkeit für stundenlanges Föhnen und irgendwelche Schäumchen, im Gegenteil. Ich war hier im Haus ganz alleine, und auch draußen war weit und breit niemand zu sehen, den es hätte interessieren können, wie ich aussah. An Schicksal glaubte ich nicht und falls mein Traummann um die Ecke käme, während ich hier mit dieser Frisur, wenn man es denn so nennen konnte, auf der Veranda stand und aufs Meer hinausblickte, wäre das der größte Zufall meines Lebens. Nein, hier konnte ich einfach ich sein, im Schlabberlook auf dem Sofa herumliegen, im Schlafanzug kochen und bis spät in die Nacht mit eben diesen wirren Haaren in die Tasten hauen.

Ich sah durch die Dünen, wo sich der Himmel am Horizont immer rötlicher färbte, während hoch über mir die Nacht hereinbrach. Von Minute zu Minute kamen mehr Sterne im schier endlosen Dunkelblau zum Vorschein, und gleichzeitig schien das Meer zu glühen. Die untergehende Sonne tauchte die Dünen rings um mich herum mit ihren trockenen Grasbüscheln, die sich gegen den glutroten Himmel abhoben und die sich sanft im lauen Abendwind hin und her wiegten, in ein geheimnisvolles Licht. Die Luft um mich herum war mit einem Mal so seltsam klar und rein und gleichzeitig war alles so wunderbar still, dass es mir fast unwirklich vorkam. Nur das leise Rauschen der Wellen und das Glucksen, wenn sie sanft am Strand ausliefen, waren zu hören. Zwar genoss ich diese Ruhe gerade mehr, als mir eigentlich lieb war und auch mehr, als ich gedacht hatte, und einsam fühlte ich mich auch nicht, aber trotzdem hatte ich urplötzlich das Gefühl, dass ich der Sonne beim Untergehen zusehen sollte, während sich meine Zehen in den vom Sommertag noch aufgeheizten Sand bohrten. Was ich sehr merkwürdig fand, denn eigentlich wollte ich nichts lieber tun, als mich mit einer Tasse Kaffee aufs Sofa zu verkrümeln. Ganz gewiss hatte ich keine Lust auf nächtliche Ausflüge in einsame, sandige Gefilde. Und trotzdem war es eher ein Bedürfnis denn ein Gefühl, hinauszugehen. Ja fast schon ein innerer Zwang.

Vorsichtig zog ich die Glastür der Terrasse hinter mir zu und ging langsam und barfuß die beiden Holzstufen hinunter, um neben dem Bohlenweg durch die Dünen und das gedämpfte Licht der auf den glitzernden Wellen reflektierenden letzten Sonnenstrahlen zum Strand zu laufen. Der Sand unter meinen Füßen war tatsächlich noch warm und schmiegte sich bei jedem Schritt, den ich machte, um meine Füße wie eine fein rieselnde Decke. Je näher ich dem Wellenrauschen kam, desto mehr frischte auch der Wind auf, und es wurde merklich kühler, je freier sich die Fläche um mich herum zeigte. Als ich aus dem Schatten der Dünen herausgetreten war und den Strand im schummerigen Licht in seiner vollen Länge vor mir liegen sah, stockte mir für einen Moment der Atem. Diese Szenerie hier war wirklich wunderschön! Niemals hätte ich das zugegeben. Dies war schließlich die Nordsee und nicht der wildromantische Teil des Alten Kanals, von dem ich mich jedes Mal, wenn ich dort war, kaum wieder trennen konnte. Aber vielleicht jauchzte genau deswegen gerade alles in mir auf. Vielleicht hämmerte mein Herz deswegen so unglaublich schnell in meiner Brust. Der rot-violette Himmel, der das Meer ganz sanft zu berühren schien, wurde immer dunkler und gab nun auch die Sterne über dem endlos weiten Wasser frei, die funkelnd und glitzernd mehr und mehr wurden und schließlich zu Abertausenden größeren und kleineren Himmelskörpern anwuchsen. Ganz deutlich hob sich die Milchstraße in südlicher Richtung ab, und der Große Wagen leuchtete direkt entgegengesetzt über mir. Ich machte staunend und mit nach weit oben gewandtem Gesicht einen langsamen Schritt nach dem anderen. Langsam, weil ab und an spitze Muschelteilchen in meine Fußsohlen piksten, doch so richtig nahm ich sie gar nicht wahr. Dazu war dieser gigantische Sternenhimmel einfach viel zu fantastisch. Erst als meine Füße in den feuchten, kalten Sand tapsten, blieb ich stehen und senkte den Kopf wieder. So weit mein Auge reichte und es die dunkler werdende Nacht zuließ, konnte ich nichts anderes erkennen außer dem breiten Strandstreifen. Auf der einen Seite wurde er von den Dünen eingerahmt, die wie Berge bis in den Himmel hineinragten und auf der anderen Seite waren die Schaumkronen der Wellen zu sehen, die zugleich sanft und auch fordernd auf dem nassen Sand ausliefen. Gleich darauf zogen sie sich gluckernd zurück, nur um erneut ihre Kraft zu bündeln und mir wieder um die Knöchel zu streichen.

Ich atmete tief ein und wieder aus und spürte ein seltsames Kribbeln in der Magengegend. Eines, das ich schon sehr lange nicht mehr gefühlt und das ich all die Jahre über so sehr vermisst hatte. Nicht dieses Verliebtheitskribbeln, nein. Es war eher eines, welches man spürte, wenn man früher als Kind das Zugfenster geöffnet hatte, seinen Kopf hinausstreckte und die Geschwindigkeit des Fahrtwindes einem kurzzeitig das Gefühl gab, das Herz würde gleich stehenbleiben. Wenn man innerlich aufjauchzte, weil einen das Gefühl von Freiheit und Luft gerade vollkommen zu überwältigen drohte.

Plötzlich durchbrach eine tiefe, leise Stimme die Stille. „Schön, oder?“