Leseprobe Dunkle Wolken über Norfolk

Prolog

Wolken verhüllten den Mond. Die Nacht war um einiges dunkler, als Adam erwartet hatte. Eine Taschenlampe zu benutzen, stand jedoch außer Frage, da er die anderen Männer nicht auf sich aufmerksam machen wollte. In der Ferne färbte ein unnatürliches, orangefarbenes Leuchten den Himmel unter den Wolken. Jeder aus dieser Gegend kannte dieses Leuchten. Es kam vom Bacton-Flüssiggasterminal, dessen Lichter als Schutzmaßnahme gegen mögliche Terroranschläge jede Nacht durchgängig brannten. Adam kämpfte sich durch eine Hecke und stieg hinunter in den Abflussgraben auf der Straßenseite des Feldes.

Er war jetzt schon außer Atem. „Ich bin zu alt für so was“, murmelte er. Dank seines Ruhestands und seiner Vorliebe für traditionell gebrautes Bier hatte er einiges an Gewicht zugelegt.

Mehrere Zentimeter rostfarbenes Wasser standen am Boden des Grabens. Darunter befand sich eine Schicht aus klebrigem Schlamm. Gott sei Dank hatte es in letzter Zeit kaum geregnet, sonst wäre er noch tiefer eingesunken. Trotz der warmen Nachtluft ließ ihn das kalte Wasser, das seine Hosenbeine durchtränkte, schaudern.

Gräben wie diese erstreckten sich durch viele der Agrarfelder ringsum. Zwei Tage zuvor hatte Adam nachgesehen und sichergestellt, dass ihn dieser hier bis zu den Scheunen führen würden. Irgendwo rechts von ihm zischte und wummerte eine Beregnungsmaschine, die auf dem Feld auf und ab fuhr. Salatpflanzen, Kartoffeln, Karotten: Sie alle brauchten bei diesem trockenen Wetter ein wenig Unterstützung.

Landwirtschaft! Wer hätte das gedacht? Er schüttelte den Kopf, stolperte und fluchte. Er griff nach der Böschung und schnitt sich die Hand an dem scharfkantigen Gras auf, das an ihr hinauf wucherte. Schimpfend rieb er seine blutende Hand über seine Jeans. Wenigstens überragte an dieser Stelle die Hecke den Graben um einige Meter, sodass er sich aufrichten konnte. Brombeerranken streckten ihre dornigen Spitzen nach der brandneuen Kamera aus, die an ihrem Gurt von seiner Schulter baumelte und immer wieder gegen seinen Bierbauch stieß. In der Nähe der Scheunen gab es keine Hecken.

Bei seinem Erkundungstrip hatte er alle Vorsicht walten lassen und ein überwuchertes Stück Wiese ausgewählt, wo er sein Auto hinter einer hohen Hecke parken konnte. Dort sollte es vor neugierigen Blicken verborgen bleiben. Ohnehin blieb zu hoffen, dass die unbefestigte Straße, die ihn hierhergebracht hatte, nur hin und wieder von ein paar Ortsansässigen genutzt wurde.

Gestern Nacht hatte er stundenlang in seinem Versteck geparkt und umsonst gewartet. Als das Licht des Junimorgens den Lampenschein von Bacton überstrahlt hatte, war er unverrichteter Dinge davongefahren. Heute Nacht hatte er erneut Stellung bezogen. Kurz nach Mitternacht hatte er beobachtet, wie ein einzelnes Fahrzeug die Schotterpiste von einer Straße hinunterfuhr und kurz anhielt, um drei Männer aussteigen zu lassen. Die drei waren einem Feldweg gefolgt, der sie direkt zu den heruntergekommenen Wellblechscheunen führte. Einer der Männer hatte eine große Werkzeugkiste getragen.

Adam hatte seine Schuhe gegen Gummistiefel eingetauscht, seine Kamera geschultert und das Auto abgeschlossen. Weil er sich immer noch nicht zutraute, sein Handy zuverlässig zu bedienen, hatte er es im Auto zurückgelassen, damit es nicht in einem ungünstigen Moment klingelte. Da er sich bei einer Konfrontation keine guten Chancen gegen Männer wie diese ausrechnete, konnte er sich nicht über den Feldweg nähern. Außerdem hatte er gar nicht die Absicht, sich mit ihnen anzulegen. Er war hier, um handfeste Beweise zu sammeln.

Bei der Aussicht darauf musste er grinsen. „Denen werde ich schon zeigen, dass ichs noch drauf habe.“

Knapp zwanzig Meter vor seinem Ziel hörte die Hecke auf. Geduckt schlich er weiter, während die Kamera wild hin und her schlenkerte. Er hielt sie mit einer Schlamm verschmutzten Hand fest und spähte über den Rand des Grabens.

Es gab zwei Scheunen. Eine war größer als die andere, und beiden standen in einer L-Form an den Rändern eines betonierten Platzes. Wie viele Bauern in der Gegend bewahrte Jack Ellis die meisten seiner Agrarmaschinen nicht in der Nähe seines Wohnhauses, sondern in der Nähe seiner Felder auf. Das Tor der kleineren Scheune stand offen. Drinnen konnte Adam das Flackern von Taschenlampen sehen, deren Licht wie Glühwürmchen über Wände und Decke huschte. Er kroch ein Stück die Böschung hinauf, um sich und die Kamera gut abstützen zu können. Einbrüche wie dieser hier fanden in der letzten Zeit wiederholt in der ganzen Gegend statt. Doch es schien, als ob niemand ausreichend Beweise sammeln konnte oder wollte, um dem Treiben ein Ende zu setzen. Tja, aber er, Adam Crane, würde mehr als genug Fotobeweise liefern, um die Akte zu vervollständigen, die er bereits angelegt hatte. Er hatte eine ziemlich gute Ahnung, wer von den Ortsansässigen in die Sache verwickelt war.

Aus der Scheune erklang ein schabendes Geräusch, gefolgt von einem Scheppern, als etwas zu Boden fiel. Einer der Männer sagte etwas. Adam konnte die Worte nicht verstehen, aber der Ton seiner Stimme ließ vermuten, dass er die anderen beiden zur Eile antrieb. Jemand öffnete den Kofferraum eines Autos. Jetzt zeigten die Lichtkegel der Taschenlampen alle auf dieselbe Stelle und die schattenhaften Gestalten starrten auf einen Motor.

Adam zog den Deckel vom Objektiv seiner Kamera und setzte sie vorsichtig auf den Rand der Böschung. Er stellte den Zoom auf maximale Vergrößerung, wie ein Paparazzo, der einen Filmstar entdeckt hatte. Dann drückte er auf den Auslöser.

Shit, shit, shit.

Die Kamera gab eine Reihe von explosiven Schnappschussgeräuschen von sich und ihr Blitzlicht blinkte grell in der Dunkelheit. Die aufgeregten Stimmen aus Richtung der Scheunen ließen keinen Zweifel daran, dass die anderen die Lichtshow bemerkt hatten. Adam rutschte die Böschung hinunter, dann eilte er den Graben entlang. Er gab sich alle Mühe, keinen Laut von sich zu geben, bis er den Schutz der Hecke erreichte. Dort sackte er gegen die Böschung. „Du verdammter Idiot“, zischte er.

Sein Herz hämmerte, seine Brust bebte vor Angst und ungewohnter Anstrengung. Er zwang sich, durch das Gewirr an Unterholz im unteren Teil der Hecke zu spähen. Zwei schattenhafte Gestalten traten aus der Scheune heraus und schwenkten die Lichtkegel ihrer Taschenlampen herum. Ein Bewegungsmelder reagierte, und die Scheinwerfer, die über dem Tor angebracht waren, strahlten über den Hof und hinaus auf die Felder. Die beiden Männer standen im Gegenlicht, sodass er ihre Gesichter nicht erkennen konnte.

Einer von ihnen ging an der Böschung des Grabens entlang auf ihn zu. Der andere bewegte sich auf dem Feldweg in die entgegengesetzte Richtung. Das Licht der Scheinwerfer warf pechschwarze Schatten von der Hecke über den Graben. Wenigstens war er schlau genug gewesen, schwarze Klamotten anzuziehen. Jede noch so kleine Bewegung würde die Aufmerksamkeit der anderen auf ihn lenken. Das wusste er, also versuchte er erst gar nicht, davonzulaufen. Stattdessen wappnete er sich und sank hinunter auf ein Knie. Stinkendes Wasser durchdrang seine Hosen und rann kalt wie Eis in seine Stiefel. Zitternd wartete er ab. Der Mann hielt am Rand der Hecke an und schwenkte das Licht seiner Taschenlampe umher. Adam versuchte, den Atem anzuhalten. Die Scheinwerfer gingen erst aus und schalteten sich kurz darauf wieder ein. Sein Verfolger drehte sich um und lief am Graben entlang zurück zu den Scheunen.

Er war noch mal davongekommen. Verdammt, das war knapp. Adam holte tief Luft. Der Mann trat gegen etwas, das im Gras lag, und beugte sich hinunter, um es aufzuheben.

Er hielt den Gegenstand in die Höhe, dann pfiff er in Richtung des Feldwegs und winkte den anderen Mann heran. Gemeinsam begutachteten sie das Fundstück.

„Objektivdeckel. Jemand spioniert uns nach. Kann noch nicht weit gekommen sein.“

Der zweite Mann richtete seine Taschenlampe auf den Graben und das gegenüberliegende Feld. Das Licht filterte durch die Hecke und streifte Millimeter über Adams Kopf durch die Luft. Sie patrouillierten entlang des Grabens, jeder in eine jeweils andere Richtung. Die Lichter ihrer Taschenlampen glitten durch die Nacht wie die Suchscheinwerfer eines Gefängnisses.

Die Angst fuhr wie ein Weckruf in Adams Körper. Er sprang auf und rannte den Graben entlang wie ein aufgeschrecktes Tier. Dabei platschte er laut durch das Wasser, kümmerte sich jedoch nicht mehr darum, wie viel Lärm er machte. Einer der Männer sprang mit einem Schrei in den Graben und nahm die Verfolgung auf. Adam sprintete weiter. Die Panik pumpte Adrenalin durch seine Adern. In all seinen fünfundsechzig Jahren hatte er sich noch nie so sehr gefürchtet wie jetzt. Nicht einmal dann, wenn er als Bereitschaftspolizist bei Aufständen eingreifen musste. Er hörte, wie seine Verfolger aufholten, dann erklang ein Aufschrei, unmittelbar gefolgt von einem Platschen. Adam hoffte, dass sich der Mann in denselben Brombeerranken verheddert hatte wie er zuvor. Das würde ihm eine etwas größere Chance zur Flucht verschaffen.

Ein Motor heulte auf und ein Land Rover Defender rollte mit gleißendem Fernlicht aus der Scheune. Jemandem war es gelungen, das Fahrzeug kurzzuschließen.

„Komm zurück“, hörte Adam den Kerl auf der Böschung nach seinem Komplizen rufen. „Im Land Rover sind wir schneller.“

Sie würden bewaffnet sein. Das waren Typen wie die hier immer. Er wäre sicherer, wenn er quer über die Felder rennen würde. Schwieriger aufzuspüren. Adam kämpfte sich voran. Seine Brust fühlte sich an, als würde sie mit einem Stahlriemen zusammengequetscht. Er atmete knapp und rasselnd und rote Flecken tanzten vor seinen Augen. Der Schlamm auf dem Grund des Grabens zerrte an seinen Stiefeln und seine Waden brannten vor Anstrengung, wenn er seine Füße nach oben zerrte. Ein Gummistiefel blieb im Schlamm stecken. Er wagte nicht, ihn einzusammeln, und stolperte einfach weiter. Schotter, aufgeschwemmte Äste und anderer Unrat stachen in seine Fußsohle und die wild wuchernden Grashalme hinterließen Kratzer auf seinem Gesicht und seinen Armen. Dornenranken krallten sich in seine Kleider wie teuflische Finger, die ihn festhalten wollten. Keuchend vor Panik und halb blind vor Erschöpfung prallte Adam gegen einen Erdwall. Sackgasse. Er musste irgendwo eine falsche Abzweigung in einen der angrenzenden Gräben genommen haben. Verzweifelt rutschte er an der Erdwand hinunter. Jeder Millimeter seines Körpers schmerzte.

Jenseits seiner keuchenden Atemzüge hörte Adam den Land Rover. Die zwei Männer waren immer noch dabei, zu diskutieren und das Feld mit ihren Taschenlampen abzuleuchten. Die Scheinwerfer des Fahrzeugs bewegten sich hinunter vom Hof und den Feldweg entlang zur Schotterstraße. Adams Irrtum hatte ihn dicht an den Feldweg geführt. Zu dicht. Hier gab es keine Hecken, die ihn schützen konnten.

Von Panik erfüllt kroch er auf Händen und Knien weg vom Feldweg und zwängte sich in ein dichtes Gestrüpp, das auf dem Boden des Grabens wucherte. Er lag auf der Seite im stinkenden roten Schlamm, streckte seinen Kopf aus dem rostbraunen Wasser und zwang sich dazu, ruhiger zu atmen. Das Fahrzeug näherte sich über den Feldweg. Alle paar Meter hielten sie an, und die Männer stiegen aus, um die umliegenden Felder und Gräben abzusuchen. Doch trotz ihrer Bemühungen fuhren sie wie durch ein Wunder an ihm vorbei. Als sie sich entfernten, nässte er sich beinahe ein vor Erleichterung. Nicht dass das einen Unterschied gemacht hätte – er war ohnehin von oben bis unten durchnässt.

Die Männer erreichten die Straße. Nach einem kurzen, heftigen Streit gaben sie auf. Die Türen des Fahrzeugs krachten zu und Adam hörte, wie sie entlang der schmalen Straße zurück nach Happisburgh fuhren.

Er lag noch eine lange Weile in dem abscheulichen Wasser und zitterte vor Kälte und Schock. Dann befreite er sich langsam aus dem Gestrüpp. Vorsichtig linste er über den Rand der Böschung und stellte sicher, dass er alleine war. Dass sie niemanden zurückgelassen hatten, der ihm auflauerte. Schließlich kletterte er nach oben und humpelte erschöpft auf den Feldweg zu. Sein ganzer Körper war übersät mit Kratzern, Schnitten und Prellungen. Seine Kleider waren durchweicht und zerschlissen. Jetzt brauchte er sich nicht mehr zu verstecken. Er hinkte über den Feldweg auf die Straße und sein Auto zu. Die neue Kamera baumelte von ihrem Riemen. Ihre Linse war zerbrochen und blutrotes Wasser troff aus allen Ritzen. Die Bilder, die er aufgenommen hatte, würden kaum zu retten zu sein.

„Das werde ich morgen bereuen“, murmelte Adam, während er sich voranschleppte. „Nein, eigentlich bereue ich es jetzt schon.“

Der Weg unter seinen Füßen war holprig und er zuckte bei jedem Schritt zusammen. Er näherte sich der Lücke in der Hecke, hinter der er sein Auto versteckt hatte, und tastete mit blutigen und tauben Fingern nach seinem Autoschlüssel.

Dann flammten ohne jede Warnung zwei Autoscheinwerfer auf und blendeten ihn.

Kapitel 1

Zum ersten Mal in ihrem Leben schloss sie die Tür ihrer komplett eigenen Wohnung hinter sich. Es war die pure Erleichterung. Endlich hatte sie die letzten Wochen überstanden und konnte dem bitteren Streit entkommen, der zwischen ihr und ihrer Mutter getobt hatte, seit sie ihre Auszugspläne verkündet hatte. Dabei hatte es nur an den horrenden Londoner Mietpreisen gelegen, dass sie mit fünfunddreißig noch zu Hause gewohnt hatte.

Im Erdgeschoss fiel eine Tür mit einem Krachen ins Schloss. Sara trat auf den kleinen, überdachten Balkon und sah nach unten. Drei Stockwerke unter ihr trat ein junger Mann hinaus auf den Gehweg, sah zu ihr hinauf und winkte.

Sie hatten sich um die Mittagszeit herum getroffen, als Sara und ihr Stiefvater Javed sich damit abmühten, einen riesigen Umzugskarton nach oben zu schleppen. Chris, ihr neuer Nachbar, war scheinbar für die Mittagspause nach Hause gekommen und hatte ihnen dabei geholfen, Saras Hab und Gut in die Wohnung zu tragen. Sobald der letzte Karton die Wohnung erreichte, hatte Chris sie für einen Imbiss mit in das kleine, unabhängige Café auf der anderen Straße genommen, dessen stolzer Besitzer er war. Am Abend hatte er bei ihr angeklopft und angeboten, ihr eine Pizza mitzubringen. Er schien ein netter Typ zu sein, wenn auch ein bisschen übereifrig. Sie hatte sein Angebot angenommen.

Während sie ihm nachsah, dachte Sara, dass er mit seinem ordentlich gestutzten Bart und den braunen, über den Ohren kurz gehaltenen Locken ziemlich gut aussah. Sie war größer als er, aber das war nicht ungewöhnlich. Sie war größer als die meisten Menschen. Sie entspannte sich und erlaubte sich, einen Moment lang die Aussicht über die Dächerlandschaft von Norwich zu genießen. Links von ihr ragte wie zweifellos seit Jahrhunderten der Kirchturm der Kathedrale aus der Innenstadt empor. In etwas weiterer Ferne thronte eine normannische Burg über den Häusern. Die ganze Stadt hatte einen vornehmen Anstrich. Unten, in der schmalen Straße, befanden sich mehrere Restaurants, Chris Café, eine Auswahl an schicken Geschäften und jede Menge Menschen.

Die von der Augustsonne aufgewärmte Luft stieg sanft nach oben und brachte die Gerüche von Norwich mit sich. Knoblauch aus den Küchen der Restaurants, frisch gemahlener Kaffee aus dem Café, gemischt mit dem Duft von frisch gemähten Gras, der aus einem nahen Park herüberwehte. Das Gesamtbild wirkte sehr idyllisch, vor allem im Vergleich zum Londoner Bezirk Tower Hamlets und dem Familienhaus, in dem sie mit ihrer Mutter Tegan gewohnt hatte.

Dort standen die Häuser dicht an dicht, Autos drängten sich auf jedem verfügbaren Zentimeter Parkfläche, und der Verkehrslärm im Hintergrund brach nie ab. An manchen Tagen, vor allem, wenn es so warm war wie heute, bestand das Londoner Geruchsaroma aus dem Gestank von überfüllten Mülltonnen und Smog oder dem Uringeruch, der aus der Gasse hinter der ehemaligen Sozialwohnung ihrer Mutter kam. An anderen Tagen wehte eine frische Brise von der Hafenseite der Themse herüber, die sich nur ein paar Straßen weiter befand. Dann war die Luft erfüllt von dem klärenden Ozongeruch des Flusses.

Es gab immer noch viel zu tun. Sara drehte sich zu ihrem Wohnzimmer um und seufzte beim Anblick des Verpackungsmaterials, das jede einzelne freie Oberfläche vereinnahmte. Im Schlafzimmer sah es schon besser aus. Ihr neues Doppelbett, das sie in einem Anflug aus Optimismus gekauft hatte, war aufgebaut und bezogen. Der Inhalt ihres Koffers lag halb auf dem Boden verstreut. Sara schob den Rest ihrer Klamotten beiseite und griff sich ihren wertvollsten Besitz. Vorsichtig trug sie die Blechdose ins Wohnzimmer. Sie schob Plastikverpackungen und Pappüberreste beiseite, stellte die Dose auf die Mitte des Couchtisches, räumte einen Platz auf dem Sofa frei und setzte sich.

Früher hatte die Dose in einem dunklen Königsblau geglänzt, aber mittlerweile verblasste die Farbe. Asiatische Schriftzeichen verzierten die Seiten der Dose. Ein Bild von zwei langbeinigen Vögeln, die einen Paarungstanz vollführten, war in Gold auf den Deckel geprägt. Früher hatten sich vielleicht Kekse oder teure Pralinen oder ein anderes, wertgeschätztes Geschenk in der Dose befunden. Heute enthielt sie eine Handvoll Briefe und ein paar alte Fotos, deren Aufnahmedaten bis in die 80er zurückreichten. In ihnen verbarg sich die Antwort auf eine Frage, die ihre Mutter nie hatte beantworten wollen. Wer war Saras Vater?

Sie war zufällig über die Dose gestolpert. Im Februar hatte sie im Wandschrank des Gästezimmers nach Klamotten gesucht, die Tegan bei einer 80er-Disco im Gemeindezentrum tragen konnte. Dabei hatte sie die längst vergessene Dose hinter einem Stapel alter Handtaschen und Schuhe gefunden. Neugierig hatte sie den Deckel geöffnet und der Inhalt hatte das Leben, das sie kannte, wie eine Bombe auseinandergesprengt.

Wochenlang hatte Sara die Briefe wieder und wieder gelesen, bis sie ihren Inhalt auswendig konnte. Sie hatte die Bilder so intensiv angestarrt, dass sie befürchtete, ihr Blick würde sie in Flammen aufgehen lassen. Die Schnappschüsse tauchten zu den unmöglichsten Augenblicken vor ihrem inneren Auge auf, lenkten sie ab, während sie auf Arbeit war. Das unscharfe Foto eines Mannes, von dem sie mittlerweile vermutete, dass er ihr Vater war, verfolgte sie in ihren Träumen. Sie hatte gewusst, dass sie ihre Mutter nicht nach ihm fragen konnte. Das würde sie nur aufwühlen. Also hatte sie beschlossen, einen anderen Weg zu finden, um das Rätsel zu lösen. Sie wollte ihren Vater ausfindig machen, bevor ihre Besessenheit ihr Leben komplett aus der Bahn warf. Sie wollte wissen, wer er war, selbst wenn er sich nicht mit ihr treffen wollte.

Liebste Tegan,

die Tage sind lang und einsam ohne dich. Hier im Norden ist es ziemlich langweilig, es gibt kaum Abwechslung. Gestern wurde ein kleiner Juwelierladen in der Mitte der Stadt ausgeraubt. Es handelt sich dabei offenbar um zwei Schwarze Männer, vermutlich Jamaikaner, mit Londoner Akzent. Da stand ich sofort im Mittelpunkt und alle haben mich angeschaut, als ob ich wissen müsste, wer die zwei waren. Nur weil ich bei der MET gearbeitet habe.

Hat auch alles einen bürgerlichen Mittelstand-Schick hier, auch wenn’s ein paar ärmere Ecken gibt. Aber kein Vergleich mit Brixton! Hier kommt auch längst kein so gutes Gemeinschaftsgefühl auf. Du hast mir wirklich die Augen dafür geöffnet, wie gut und wichtig das ist. Mir fehlen unsere Grillabende und das Jerk Pork deiner Mutter. Wer hätte das gedacht?

Ich rufe dich am Mittwoch an, aber ich habe Spätschicht, also wird es nach zehn werden.

Alles Liebe

A.

Und nun war Sara hier, in Norwich, weil die Briefe von hier verschickt wurden. Sie klopfte mit den Fingerspitzen auf die blaue Dose, als müsste sie sich vergewissern, dass sie wirklich da war. Dann versteckte sie sie hinter dem Fernseher. Vielleicht war ihre Entscheidung, nach Norfolk zu ziehen und nach einer Spur ihres verschollenen Vaters zu suchen, am Ende nichts mehr als eine Träumerei. Doch ihr Bauchgefühl hatte ihr eingeflüstert, dass sie hier mehr erreichen konnte. Und eine gute Polizistin hörte immer auf ihr Bauchgefühl.

Unten krachte erneut die Tür ins Schloss. Schritte trommelten die Treppen hinauf, dann klopfte es an Saras Tür.

„Pizzaservice“, rief Chris in freundlichem Ton. Sie öffnete die Tür und ließ ihn herein.

Kapitel 2

Agnes bekam nicht viel Besuch. Besonders nicht am Sonntagabend um acht Uhr. Sie hatte es sich gerade mit einer Tasse Tee und einer Packung Keksen vor dem Fernseher bequem gemacht, als es an der Tür klingelte. Mit einem geplagten Seufzen hievte sie sich aus ihrem durchgesessenen Sessel und ging auf müden Beinen hinüber zur Haustür. Sie ließ die Türkette eingehakt, auch wenn das einen entschlossenen Eindringling kaum aufhalten würde. Die meisten anderen Häuser in der Gegend wurden mittlerweile nur noch als Zweitwohnsitze genutzt. Ihre nächsten Nachbarn wohnten über eineinhalb Meilen weit entfernt.

„Nbend, Agnes. Ich hoffe, ich störe dich nicht?“

„Was willst du, Des? Meine Fernsehsendung fängt gleich an.“

„Oh, tut mir leid.“ Des Dixon klangt nicht so, als würde es ihm leidtun. „Kann ich reinkommen?“

Sie kannte Dixon schon seit Jahren und wusste, dass er nicht so einfach aufgeben würde, selbst wenn sie „Nein“ sagte. War wohl besser, sie fand heraus, was er dieses Mal von ihr wollte.

„Na gut.“ Agnes schloss ihre selten genutzte Haustür, entriegelte die Kette und öffnete die Tür vollständig. Ihr Besucher marschierte mit erstaunlicher Dreistigkeit durch den Flur ins Wohnzimmer. In der Zeit, die Agnes brauchte, um die Tür zu schließen und ihm zu folgen, hatte er es sich bereits auf dem Sofa bequem gemacht. Er lehnte sich zurück in die Kissen, als ob er hier schon sein ganzes Leben zu Hause gewesen wäre. Sie nahm wieder auf ihrem Sessel Platz.

„Willst du eine Tasse Tee?“ Agnes lehnte sich vor, um die Lautstärke des Fernsehers herunterzuregeln.

„Keinen Tee. Ich hab mich nur gefragt, ob du über mein Angebot für dein Haus nachgedacht hast.“

„Darüber brauche ich nicht nachzudenken. Ich habs dir schon gesagt: Kein Interesse.“

„Würde es helfen, wenn ich dir mehr Geld anbieten könnte?“

„Nein.“

„Ich habe mich noch mal schlaugemacht. Ich könnte mein Angebot auf 350.000 Pfund hochsetzen. Und das nur für dein Haus und den Garten.“

Das letzte Angebot hatte er ihr vor ein paar Wochen unterbreitet, als sie sich auf der Norfolk-Landwirtschaftsschau über den Weg gelaufen waren. Agnes hatte den Verdacht, dass dieses Treffen geplant gewesen und durchaus kein Zufall war, wie Dixon es behauptet hatte. Sie hätte den Wert ihres Grundstücks im Internet recherchieren können, aber die Mühe hatte sie sich nicht gemacht. Heutzutage verließ Agnes kaum ihre Farm, es sei denn, sie fuhr zum Einkaufen nach North Walsham oder Wroxham. Dort säumten mehrere Maklerbüros die Haupteinkaufsstraße. Deren Schaufenster hatte sie auch ignoriert. Dennoch war sie sich ziemlich sicher, dass ein frei stehendes Bauernhaus mit fünf Schlafzimmern, einem knapp ein Hektar großen Garten, einer Scheune und anderen Nebengebäuden mehr wert war als 350.000 Pfund. Auch wenn der Bauernhof seit dem Tod ihres Mannes ein wenig heruntergekommen war.

„Können wir uns wenigstens über das Grundstück oder die Wirtschaftsgebäude unterhalten?“

„Nein, Des, können wir nicht. Was bringt dich auf die Idee, dass ich meine Meinung geändert haben könnte?“

„Gar nichts. Ich war nur in der Gegend. Dachte, ich frage noch mal nach.“

Das war so abwegig, dass Agnes ihre Überraschung nicht verbergen konnte. Dixon machte nie etwas, ohne dabei ein Ziel zu verfolgen. Er lächelte, wodurch er mehr dem Immobilienhai ähnelte, der er hinter seiner Fassade wirklich war – wie Agnes nur zu gut wusste. „Bei meiner Bank liegt eine schöne Summe Bargeld. Die könnte dir gehören.“

Wenn Landwirte eines kannten, dann war es der Wert ihres Grundbesitzes. Agnes gehörten 700 Morgen Land. Die Hälfte davon waren Ackerflächen, der Rest war Weidefläche. Es war leicht, sich auszumalen, wo die Anreize lagen. Die leer stehenden viktorianischen Scheunen, die sich eine knappe Meile die Straße hinunter befanden, waren der Traum jedes Bauunternehmers. Wenn sie die verkaufte, wären die innerhalb kürzester Zeit zu Wochenendhäusern umgebaut. Dixon versuchte schon seit Jahren, ihr Grundstück in seine Krallen zu bekommen. Tatsächlich kreiste er wie ein Geier um sie, die alternde Besitzerin, herum. Und dann gab es auch noch Mark, ihren Sohn. Typisch, dass Dixon ihr 350.000 Pfund als eine „schöne Summe Bargeld“ andrehen wollte.

„Ich habs dir gesagt, der Bauernhof steht nicht zum Verkauf.“

„Du könntest dir einen schönen Bungalow in der Nähe kaufen. Keine Renovierungsarbeiten nötig, keine Treppen. Du könntest den Bauernhof weiter betreiben, auch wenn du nicht mehr direkt auf dem Grundstück wohnst.“

„Um Himmels willen, Des, ich bin erst siebzig. Ich habe noch nicht vor, die Füße hochzulegen.“ Oder den Löffel abzugeben.

Dixon rutschte nach vorn an den Rand des Sofas und lehnte sich dicht an sie heran. Sie konnte seinen Atem riechen. Er stank nach Alkohol.

„Das ist alles ziemlich groß hier für eine einzelne Person. Du wirst nicht auf ewig alleine klarkommen, weißt du. Du wirst Hilfe brauchen.“

„Des Dixon.“ Sie wich empört zurück. „Was fällt dir ein, hier auf meinem eigenen Sofa zu sitzen und so mit mir zu reden? Ganz abgesehen davon habe ich Frank, der mit anpackt. Und Mark wird nach Hause kommen, sobald er so weit ist.“

„Ja, irgendwann vielleicht.“ Dixon grinste und setzte sich wieder aufrecht hin. „Und ich schätze, du und Frank seit bisher gut klargekommen.“

Agnes war sich nicht sicher, ob das ein Kompliment oder eine Drohung sein sollte. Sie musste vorsichtig sein. Über die letzten Jahre hinweg hatte Dixon systematisch alle kleineren Bauernhöfe in der Gegend aufgekauft. Agnes Bauernhof mitsamt Ackerland lag genau zwischen seinem Argrargeschäftsimperium und Jack Ellis Bauernhof. Die Grundstücke von Agnes und Jack waren die einzigen, die Dixon sich noch nicht gekrallt hatte.

„Vielleicht mache ich ein paar Erkundigungen“, räumte sie ein. „Aber ich habs nicht eilig. Hör bitte auf, mich zu drängen.“

„In Ordnung. Aber versprichst du mir, dass du es mir zuerst anbietest?“

„Vielleicht.“

Dixon entspannte sich und lehnte sich zurück gegen die Sofakissen. Eine ungemütliche Stille senkte sich über der Raum.

Agnes beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und erinnerte sich daran, dass er als junger Mann ganz attraktiv gewesen war. Auch jetzt war er immer noch ein hochgewachsener, gut gebauter Mann. Sein Haar ergraute an den Schläfen und wie viele Menschen Mitte fünfzig hatte er etwas an Gewicht zugelegt. In der einheimischen Bauerngemeinde hatte Dixon keinen guten Ruf. Er war ambitioniert und verhielt sich bei Verkaufsverhandlungen und gegenüber seinen Mitarbeitenden notorisch rücksichtslos. Seine ohnehin kurze Zündschnur war noch kürzer geworden, nachdem ihn seine Frau vor drei Jahren verlassen hatte. Gerüchte gingen um, dass er gerne mal zuhaute.

Kurz fragte Agnes sich, ob er ihr je mit Gewalt drohen würde. Davor würde sie doch zumindest ihr Alter schützen, oder nicht? Sie war vielleicht klein und ihr Haar grau, aber noch war sie weder gebrechlich noch leicht einzuschüchtern. Würde Dixon es riskieren, dass man ihn anprangerte, weil er eine alte Dame geschlagen hatte? Nun, da der Gedanke sich in ihren Kopf geschlichen hatte, wurde sie ihn nicht mehr los. Wusste überhaupt jemand, dass er hier war? Die Überwachungskamera in ihrem Hof hatte vor ein paar Monaten den Geist aufgegeben. Frank drängte Agnes immer wieder dazu, sie reparieren zu lassen. Sie griff nach ihrem Handy, das auf dem kleinen Tisch neben ihrem Sessel lag – direkt neben ihrem Tee, der immer weiter abkühlte. Sie warf Dixon einen verstohlenen Blick zu, doch der schien sich auf den Fernseher zu konzentrieren. Dann tippte sie eine schnelle Nachricht an Frank.

Ruf mich an.

Bis vor zwei Jahren hatte Frank noch für Dixon gearbeitet. Bis zu dem Tag, an dem Dixon den sanftmütigen jungen Mann einmal zu oft angebrüllt und der daraufhin zum Schlag ausgeholt hatte. Dixon schlug zurück und landete im Gegensatz zu Frank einen Volltreffer. Danach feuerte er Frank fristlos. Also arbeitete Frank jetzt für Agnes. Sie war sich durchaus bewusst, wie viel Glück sie mit ihm hatte, und verließ sich auf ihn. Die Landwirtschaft lag ihm im Blut und er hatte ein instinktives Gespür für das Land, das sie zusammen bewirtschafteten.

„Wie läufts mit den Jungs in der Scheune?“, fragte Dixon.

„Gut. Ich bekomme nicht viel von ihnen mit. Sie machen nur ziemlich spät Feierabend, oder?“

„Na ja, tagsüber arbeiten sie für mich, und dann kümmern sie sich eben abends um die Autoreparaturen. Es war nett von dir, dass du ihnen die Scheune zur Verfügung gestellt hast.“

„Sie stand schon eine Weile leer.“

Agnes wusste, dass das nicht ihre beste Entscheidung gewesen war. Dixon hatte sie im April, kurz nach dem letzten, flüchtigen Besuch ihres Sohnes Mark erwischt. Mark war direkt nach dem Frühstück aufgebrochen, und das, obwohl er versprochen hatte, das Wochenende über zu bleiben. Seine Eile hatte sie verletzt und verwirrt. Und während sie noch vom Verhalten ihres Sohnes abgelenkt war, gelang es Dixon, sie breitzuquatschen, damit sie ihre Scheune ein paar Saisonarbeitern zur Verfügung stellte, die dort alte Autos herrichten wollten.

„Wenn deine Salatfelder in Long Acre so weit sind, schicke ich sie mit der Erntemaschine vorbei. Die Jungs räumen dein Feld an einem halben Tag ab.“

„Danke.“ Agnes wusste, dass ihr das viel Aufwand und Zeit sparen würde.

„Das ist Romanasalat, richtig? Wen belieferst du noch mal?“

„Kays.“

„Hast du schon die passenden Kisten?“

„Noch nicht.“

„Ich kümmere mich darum, mach dir keine Sorgen.“

Mit jedem weiteren Gefallen würde sie mehr in Dixons Schuld stehen. Plötzlich klingelte Agnes Handy. Erleichtert hob sie es hoch und wedelte damit durch die Luft. „Da muss ich kurz rangehen.“

„Nur zu. Hör mal, ich lass dich jetzt in Ruhe deine Sendung schauen. Du brauchst mich nicht zur Haustür zu begleiten.“

Agnes nickte, stand auf und nahm den Anruf an.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Frank.

„Jetzt schon.“ Sie ging zur Wohnzimmertür und winkte Dixon zu, als er die Haustür öffnete und nach draußen trat.

„Was ist los? Soll ich vorbeikommen?“

Agnes erklärte ihm die Situation, während sie zusah, wie Dixon die Tür hinter sich schloss. Sie ging ihm nach und hakte die Türkette zurück ins Schloss. Danach ging sie mit dem Handy am Ohr weiter die Küche. Dort stellte sich Agnes ans Küchenfenster, sah nach draußen auf den Hof und wartete ab.

„Er fährt jetzt weg“, sagte sie Frank, während sie beobachtete, wie Dixon in seinen brandneuen Range Rover stieg. Das Fahrzeug war schwarz, teuer, glänzte und hatte jene blickdichten Fenster, die Agnes immer das Gefühl gaben, dass der Fahrer etwas verstecken wollte. Während der Landwirtschaftsschau hatte sie ein paar Range Rover beim Stand des Autohändlers gesehen. Die Preise für diese Karossen starteten bei 100.000 Pfund. Ginge es nach dem Geizhals von ihrem Nachbarn, wäre ihr Zuhause gerade einmal so viel wert wie dreieinhalb von diesen Monstern. Ihr alter Defender sah daneben ganz kläglich aus.

„Du musst deine Überwachungskamera reparieren lassen.“ Frank war kein Mann der großen Worte. „Du solltest da draußen nicht alleine sein.“

„Lass uns das morgen besprechen.“

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“

„Ja, bin ich. Danke, dass du angerufen hast. Das hat Dixon schon gezeigt, dass ich nicht nur auf mich alleine gestellt bin.“

Der Range Rover schoss vom Hof hinunter und Kies spritzte hinter seinen Reifen hervor. Agnes befüllte ihren Wasserkocher und knallte ihn zurück auf seinen Sockel. Ihre Hände zitterten. So ging es ihr nach jeder Begegnung mit Dixon. Und was war mit Mark? Sie musste mit ihrem Sohn sprechen, musste herausfinden, was mit ihm los war. Sie sollte versuchen, ihn anzurufen – auch wenn er dieser Tage kaum ans Telefon ging.

Nicht heute Abend. Heute Abend würde Agnes ihre TV-Aufnahmebox zurückspulen und ihre Lieblingssendung ansehen. Sie machte sich eine frische Tasse Tee, dann setzte sie sich in ihren uralten Ohrensessel und machte das Beste aus ihrem Abend.

Kapitel 3

Regen kündigte sich an. Saras Stimmung passte zum grauen, schweren Himmel draußen. Auf dem Fensterbrett ihres Schlafzimmers stand eine Tasse kalter Kaffee. Die Nervosität hatte ihr den Appetit verdorben. Sie entschied, dass es besser war, schick auszusehen, als praktischere Kleidung anzuziehen, und zog ihren marineblauen Lieblingshosenanzug und die dazu passenden Lederpumps an. Der Anzug war im Ausverkauf bei L.K. Bennett ein Schnäppchen gewesen, und er gab ihr das Gefühl, kompetent auszusehen, was ihrem Selbstvertrauen an diesem Morgen einen nötigen Extraschub gab. An diesem Tag würde es sicher darum gehen, das Team kennenzulernen, und sie wollte an ihrem ersten Morgen einen guten Eindruck machen. So viel hing davon ab, wie die nächsten Tage verliefen.

Aus Angst, zu spät zu kommen, machte sie sich viel zu früh auf den Weg. Als sie aus dem winzigen Parkplatz hinter dem Apartmenthaus fuhr, herrschte in der Innenstadt bereits dichter Verkehr. Chris hatte sie gewarnt, dass die Rushhour in den noch mittelalterlich angelegten Stadtteilen für Chaos sorgte. Die Polizeistation befand sich nicht in Norwich, sondern in einem kleinen Ort namens Wymondham, etwa fünfzehn Minuten südlich der Stadt. Es gab jede Menge Parkplätze, und ihr flotter roter Fiat 500 fiel zwischen den dunkelfarbigen Fahrzeugen auf, die die meisten anderen Parkplätze füllten. Sara holte tief Luft und ging zur Rezeption.

„Sie müssen der neue Detective Sergeant sein“, sagte der diensthabende Sergeant mit einem breiten Lächeln. „Willkommen in Norfolk. Ich bin Trevor Jones. Sie können mich immer hier am Platz finden. Zumindest sagt das meine Frau. Setzen sie sich, ich spüre so lange Detective Inspector Edwards auf.“ Jones griff zum Telefon und bot ihr im gleichen freundlichen Ton einen Kaffee an. Sie lehnte ab. Sie ließen sie zwanzig Minuten warten, und dann, als wollten sie das wiedergutmachen, kam ihr neuer Chef persönlich herunter, um sie zu treffen. DI Edwards sah genauso aus, wie sie ihn aus ihrem Vorstellungsgespräch in Erinnerung hatte: Ende vierzig, schlank, muskulös und groß, sein dunkles Haar mit Silber durchsetzt. Seine Begrüßung war nicht so herzlich, wie sie es sich in ihrem jetzigen, überempfindlichen Zustand gewünscht hätte. Sein Händedruck fiel knapp aus, sein Lächeln lauwarm.

Das Büro der Abteilung für Schwerverbrechen befand sich am Ende eines Korridors im zweiten Stock gegenüber den Toiletten. Es sah aus, als wäre das Büro absichtlich hier platziert worden, so weit weg von den anderen Abteilungen wie möglich. Edwards hielt ihr die Tür auf. Die übrigen Mitstreiter des kleinen Teams warteten hinter ihren Schreibtischen. Die Atmosphäre wirkte gedämpft. In einer Ecke befand sich ein Raum mit Glaswänden und einer Glastür. Darin stand eine weitere Person, an die sich Sara aus ihrem Interview erinnerte, und blickte aus dem Fenster: der stellvertretende Polizeipräsident Miller in voller Pracht und Uniform. Als die Tür aufging, drehte er sich um und schritt pfeilgerade durch das Büro auf sie zu, die Hand ausgestreckt.

„Willkommen bei der Polizei von Norfolk, DS Hirst“, sagte er. „Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier.“ Er begrüßte Sara mit einem kräftigen Händedruck.

„Danke, Sir.“ Sara hatte nicht damit gerechnet, dass er anwesend sein würde. Sie warf einen Blick auf die anderen Teammitglieder. Es waren nur zwei.

„Darf ich Ihnen Ihr neues Team vorstellen?“, fragte Miller. Er deutete auf einen etwas rundlichen Mann mittleren Alters. „Detective Constable Mike Bowen, in Norfolk geboren und aufgewachsen. Er kann Ihnen bei allen ortsspezifischen Fragen helfen.“ DC Bowen machte keine Anstalten, seinen Platz zu verlassen oder das Wort zu ergreifen, und aus irgendeinem Grund beobachtete er sie mit einem herausfordernden Blick. Der stellvertretende Polizeipräsident ignorierte Bowens Unhöflichkeit und wandte sich dem anderen Teammitglied zu, einer sportlich aussehenden Frau in Jeans und einem schicken Sommerpullover. Ihr hellblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und ihr Mund stand offen.

„Detective Constable Ellie James“, fuhr Miller fort, ohne den Gesichtsausdruck der anderen Frau zu bemerken. Sara spürte eine unangenehme Anspannung in diesem Büro. Miller war der Atmosphäre gegenüber entweder unempfindlich oder er ignorierte sie mit Absicht. „Bald Detective Sergeant, nicht wahr, Ellie? Sie hat vor Kurzem ihre Prüfung zum Sergeant bestanden.“

DI Edwards räusperte sich hinter Saras Rücken, aber Miller redete weiter. „Die Abteilung für Schwerverbrechen braucht Beamte wie Sie, DS Hirst. Sie werden es bei uns vielleicht nicht so aufregend finden wie die MET, aber Ihre Gegenwart wird unser Gesamtbild aufpäppeln, da bin ich mir sicher.“

Sara hörte, wie DI Edwards Luft holte, während Miller in einem, wie er wahrscheinlich hoffte, onkelhaften Ton fortfuhr. „Wenn Sie also irgendwelche Probleme haben, kommen Sie zu mir. Meine Tür steht immer offen.“

Dann ging er, fegte wie ein kleiner Hurrikan den Flur entlang, ohne zu ahnen, welche Schäden er in der Schneise hinter sich zurückließ. Mit einem erstickten Schluchzen drängte sich DC James an Sara vorbei und eilte über den Flur zur Damentoilette. Hatte Saras neuer Chef gerade wirklich gesagt, dass sie „das Gesamtbild“ der Abteilung „aufpäppeln“ würde? Die Aussage stieß ihr sauer auf. Ihr Aussehen hatte nichts mit ihren Fähigkeiten zu tun. Und warum war die blonde Frau so verärgert?

„Wo soll ich mich hinsetzen?“, fragte sie. Im Büro waren mehrere Schreibtische leer.

„Suchen Sie sich einen aus“, sagte Edwards. „Wir haben ein bisschen zu wenig Personal, also haben Sie freie Wahl. Ellie nutzt diesen hier, Mike sitzt dort drüben. Der Tisch am Fenster hat eine schöne Aussicht. Die Computerleute werden gleich hier sein, um Ihren Arbeitsplatz einzurichten.“

Saras neuer Chef plapperte so nervös wie ein Teenager, den man im Laden an der Ecke beim Anschauen eines Pornomagazins erwischt hatte. Sara fragte sich, was ihn so in Verlegenheit gebracht hatte. Er zog sich dann auch prompt in sein Eckbüro zurück, setzte sich und begann, in irgendwelchen Akten zu blättern. So einfach ließ er sie mitten im Raum stehen wie nicht abgeholt. DC Bowen hatte ihr den Rücken zugewandt und konzentrierte sich auf seinen Computerbildschirm. Sara ging zu dem Tisch am Fenster und stellte ihre Tasche darauf ab.

„Kann ich irgendwas tun?“, fragte sie.

„Ja, setzen Sie den Kaffee auf“, sagte Bowen.

„Okay.“ Sara war sich nicht sicher, ob das ein Scherz sein sollte, lächelte aber trotzdem. „Wo befülle ich die Kaffeemaschine?“

„Ellie holt das Wasser normalerweise in der Damentoilette.“

Sara nahm die leere Glaskanne und ging auf die Toilette. Dort spritzte sich die junge DC James gerade Wasser ins Gesicht.

„Holen Sie das Wasser für ihren Kaffee wirklich hier?“, fragte Sara. Die andere Frau nickte. Sara nahm sich einen Moment Zeit, um die Kanne mit kaltem Wasser zu füllen, und wartete indessen, bis DC James sich wieder gefasst hatte. „Geht es Ihnen gut? Was hat Sie denn so aufgewühlt?“

„Es ist nicht Ihre Schuld“, murmelte die Polizistin. „Ich dachte nur … wir dachten beide … dass ich die Beförderung bekommen würde.“

Sara hielt inne, um diese Aussage einzusortieren. Das konnte nur eines bedeuten. „Sie meinen, Sie haben gedacht, Sie bekommen meinen Job?“

„Ja. Ich habe meine Prüfung kurz vor den Vorstellungsgesprächen abgelegt.“

„Und sie haben Sie interviewt?“

„Ja. Mike und ich gingen irgendwie davon aus, dass ich den Posten bekommen würde, da ich bereits Teil des Teams bin. Vor allem, da seit der Umstrukturierung sowieso alles in der Schwebe hängt.“

„Sie haben mir den Job vor Wochen angeboten. Haben sie es Ihnen nicht gesagt?“, fragte Sara.

„Nein. Ich dachte, keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten. Als der stellvertretende Polizeipräsident heute hier ankam, dachte ich, sie würden mir sagen, dass ich den Job habe. Stattdessen habe ich von Ihnen erfahren.“

„Während ich unten an der Rezeption gewartet habe?“ Sara war entsetzt. „Kein Wunder, dass Sie das aufregt.“

„Hier in der Gegend gibt es nicht viele Jobs“, erklärte DC James. „Es könnte eine Ewigkeit dauern, bis ich eine neue Chance bekomme.“

„Und DC Bowen wollte, dass Sie die Stelle bekommen? Er wollte sie nicht selbst haben?“

„So hat er es mir gesagt. Er hat die Prüfung zum Sergeant nie abgelegt und hat anscheinend auch nicht die Absicht, das je zu tun.“ DC James sah Sara direkt an. „Wir sollten den Kaffee aufsetzen. Die warten bestimmt schon darauf.“

„Kochen Sie immer den Kaffee?“, fragte Sara.

„Normalerweise. Hören Sie, nichts davon ist Ihre Schuld. Sie können mich Ellie nennen, wenn Sie wollen.“

„Danke.“

Die beiden gingen zurück ins Büro. Ellie nahm die Kanne und startete die Kaffeemaschine. Sara ging zu Bowen, der an seinem Schreibtisch saß. Er sah auf, runzelte die Stirn und ihre Blicke trafen sich. Er sah zuerst weg und die Rollen seines Stuhls knirschten, als er aufstand.

„Woran arbeiten Sie?“, fragte Sara.

„Diebstahl.“

„Nur an einem?“

„Nein, an vielen.“

Bowen starrte sie trotzig an. Er würde ihre Anwesenheit nicht akzeptieren. Zumindest nicht, bevor sie hart dafür gearbeitet hatte. Sara biss die Zähne zusammen, um jede emotionale Reaktion von ihrem Gesicht zu verbannen. Dann ging sie ein Risiko ein.

„Ellie hat mir erzählt, dass keiner hier wusste, dass ich den Job bekommen habe“, sagte sie.

„Kann schon sein.“ Er schwieg, dann fügte er hinzu: „Sie ist eine gute Polizistin und verdient eine Beförderung.“

„Ganz bestimmt tut sie das. Aber woher wissen Sie, dass ich sie nicht auch verdiene?“

„Ich weiß nichts dergleichen, aber DC James ist eine von uns.“ Bowen sammelte ein paar Stifte von seinem Schreibtisch auf und marschierte zu einem anderen Tisch, auf dem eine große Karte ausgebreitet lag.

Sara ging zum Eckbüro des DI und klopfte, obwohl die Tür offen stand. „Kann ich kurz mit Ihnen sprechen, Sir?“

„Natürlich, kommen Sie rein. Was gibt es?“

„Ich brauche nur ein bisschen Orientierung, Sir.“ Sie schloss die Tür und setzte sich. Ihre Personalakte lag offen auf seinem Schreibtisch. „Scheinbar hat meine Ankunft den Rest des Teams ein wenig überrascht.“

„Ah, ja.“ Er hatte zumindest den Anstand, verlegen dreinzuschauen. „Der Fairness halber muss ich gestehen, dass ich dem Team nicht explizit mitgeteilt habe, dass die Stelle besetzt wurde. Aber sie wussten, dass wir mehrere Leute interviewt haben.“

„Auch interne Kandidaten und Kandidatinnen?“

„DC James war die einzige interne Kandidatin. Sie und Mike haben Vermutungen angestellt, die ich weder bestätigen noch dementieren konnte, bis der stellvertretende Polizeipräsident Ihre Ernennung offiziell genehmigt hatte. Die anderen werden darüber hinwegkommen.“

„Das hoffe ich, Sir.“

„Ich habe jahrelang mit den beiden zusammengearbeitet. Wir sind ein gutes Team. Aber wie Sie wissen, könnte Ellie immer noch befördert werden und in eine andere Abteilung wechseln.“

Also war er seinen Leuten gegenüber loyal. Hatte er es deshalb nicht über sich gebracht, ein hart arbeitendes Teammitglied zu enttäuschen, indem er ihr im Vorfeld die Wahrheit sagte? Sara wusste nicht, was sie davon halten sollte. Machte ihn das schwach oder fürsorglich? Oder hatte er sich vor seinen Pflichten gedrückt, sodass Ellie weiterhin davon ausgegangen war, dass der Job an sie gehen würde, während Sara in London bereits an ihrer Versetzung arbeitete? Es war wohl angebracht, ihnen allen zunächst einen Vertrauensvorschuss zu geben.

„Ellie hat etwas von einer Umstrukturierung erwähnt“, sagte Sara.

„Ja, die fand vor etwa sechs Monaten statt. Hatte ich während des Vorstellungsgesprächs erwähnt.“

Gut möglich, dass einer von ihnen darüber gesprochen hatte. Sara war damals viel zu nervös gewesen, um sich an die Einzelheiten zu erinnern.

„Früher waren wir ein größeres Team. Wir haben uns mit allem befasst, von Mord bis Bandenkriminalität. In letzter Zeit haben wir einen enormen Anstieg der drogenbezogenen Fälle erlebt, also hat der Polizeipräsident beschlossen, die Teams aufzuteilen. Wir haben jetzt eine eigene Sittenpolizei, ein separates Drogenteam und die Abteilung für Schwerverbrechen räumt alles auf, wovon die anderen denken, dass es nicht in ihre Zuständigkeit fällt. Norfolk ist kein sonderlich gewaltgeplagter Ort.“

„Die Hälfte Ihres Teams ist woanders hingegangen?“

„Mehr als die Hälfte. Dann ging eins meiner langjährigen Teammitglieder in Rente, unsere Verwaltungskraft bekam einen Job in der Stadt, und hier sind wir nun.“

„Alles innerhalb von sechs Monaten? Das ist ein ziemlicher Umbruch, Sir.“

„So könnte man es ausdrücken“, sagte er.

„Ich glaube, es gibt bald frischen Kaffee. Möchten Sie vielleicht eine Tasse?“

„Ja, gleich.“ Er spielte mit seinem Stift. „Hören Sie, das alles hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun.“

Das wiederholten sie alle in einem Fluss. Sara beobachtete den DI, ohne zu antworten.

Der DI redete weiter. „Ich dachte nur, dass der Job für eine ortsansässige Kandidatin einfacher sein könnte. Die Leute hier verhalten sich mitunter ein wenig distanziert, besonders gegenüber jenen, die sie für Außenseiter halten. Da hilft es, wenn man die örtliche Mentalität kennt, die Bauerngemeinde, die Stadt, die Universität.“

Wenns nach ihm gegangen wäre, hätte Ellie den Job bekommen. Wenn Sara so an die Begrüßung des stellvertretenden Polizeipräsidenten dachte, dann war sie selbst vermutlich Millers Wahl gewesen. Sara verspürte einen Dämpfer. Wenn ihr Chef sie und das Team auf die Probe stellte, würde es alles nur noch viel schwieriger machen.

„Ich verstehe. Ich werde mein Bestes geben, Sir.“

„Ich auch.“ Edwards plapperte wieder los. „Sie haben ja die allerbesten Referenzen. Ich selbst bin auch zugezogen, ich komme ursprünglich aus Newcastle. Es hat Jahre gedauert, bis ich hier angenommen wurde. Und obwohl ich seit zwanzig Jahren hier lebe, zähle ich immer noch nicht als Einheimischer. Sie werden wahrscheinlich auf Vorurteile stoßen oder es wird Ihnen schwerfallen, das Vertrauen der Leute zu gewinnen, besonders auf dem Land.“

Sara nickte. „Jeder braucht Zeit, um sich auf einem neuen Posten einzugewöhnen. Kaffee, Sir?“

Er seufzte. „Ja, bitte.“

Die Kaffeemaschine gluckerte in ihrer Ecke. Auf einem Tablett daneben stand eine Auswahl nur mäßig sauber aussehender Tassen und eine Tüte Zucker, deren Inhalt sich bereits zu einer Kruste verhärtete. Wenigstens sah die Milch frisch aus. Sara wählte vier der am wenigsten schmuddeligen Tassen aus und brachte sie zu dem Schreibtisch, um den sich der Rest des Teams versammelt hatte.

„Mike, warum erzählen Sie uns nicht von unserem neuesten Fall?“, bat Edwards, als Sara die Tassen hinstellte. Bowen blickte von der Landkarte auf, die er mit Filzstiften in verschiedenen Neonfarbtönen ausgemalt hatte.

„Ist nicht sonderlich aufregend. Nur ein paar willkürliche Fälle von Farmdiebstählen.“

„Farmdiebstähle? Sie meinen, die stehlen Bauernhöfe?“, witzelte Sara. Es war kein besonders guter Witz, aber Bowen lachte. Es war allerdings kein freundliches oder versöhnliches Lachen.

„Wir sind hier auf dem Land. Klar gibt es noch Norwich. Normalerweise sind die Prügeleien auf der Prince of Wales Road an einem Samstagabend das Interessanteste in der Stadt. Das ist die Nachtklubecke. Aber das meiste, was wir bearbeiten, dreht sich um Bauern, häusliche Gewalt oder Einbrüche. Wenn Sie nach Aufregung suchen, hätten Sie bei der MET bleiben sollen.“

„Die Diebstähle, Mike“, rügte Edwards in scharfem Tonfall. Bowen runzelte die Stirn.

„Das klingt sehr beschaulich.“ Sara wagte noch einen Versuch, sich freundlich anzunähern. „Eine Abteilung für Schwerverbrechen, für die es keine schweren Verbrechen zum Aufklären gibt.“

„Wir kümmern uns um die fiesesten Kriminellen, die Norfolk zu bieten hat.“ Ellie brachte die Milch und die fast prall gefüllte Tüte Zucker herüber. „Offen gesagt sind die meisten, die bei uns landen, nicht sonderlich fies. Zumindest nicht mehr, seit wir eine eigene Abteilung für Drogenkriminalität haben.“

„Wir befassen uns auch mit Kriminellen von außerhalb“, fügte Bowen hinzu und schnappte sich seine Filzstifte, als ob jemand sie ihm wegnehmen wollte.

„Kriminelle von außerhalb?“

„Hauptsächlich Londoner, die denken, wir wären ein leichtes Ziel. Ein paar von ihnen sind vor einiger Zeit hierhergekommen, um einen Banküberfall zu begehen. Die wurden von den bewaffneten Kollegen weniger als eine Meile vom Tatort entfernt abgefangen.“

„Ja, das war wirklich Glück“, sagte Ellie lächelnd. „Die Bank war in Hellesdon, und das Tactical Firearms Team war auf einer Übung am Flughafen Norwich, nur fünf Minuten entfernt. Wie trinkst du deinen Kaffee?“

„Wenns keinen Cappuccino gibt, dann gerne mit Milch und ohne Zucker.“ Sara deutete auf die Karte. „Und was bedeutet das alles?“

„Uns wurden mehrere Farmdiebstähle gemeldet.“ Ellie drehte die Karte herum, um sie Sara zu zeigen, und deutete auf einen Stapel Aktenordner. „Wir haben die Tatorte auf der Karte aufgezeichnet, um zu prüfen, ob es ein Muster gibt.“

Edwards schüttete Milch in seinen Kaffee und nahm ihn mit in sein Büro, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Ellie erklärte Sara die Farbcodierung, die sie sich ausgedacht hatten. Bowen beobachtete sie mit verschränkten Armen. Obwohl der DI ihn darum gebeten hatte, machte er keine Anstalten, Sara irgendetwas zu erklären. Saras Wissen über die Geografie der Gegend beschränkte sich auf das, was sie ihm Internet herausgefunden hatte. Es fiel ihr schwer, dem Informationsfluss zu folgen, und sie war dankbar, als jemand Neues in den Raum kam. Der junge Mann erklärte, er sei von der IT und wäre gekommen, um ihre Passwörter einzurichten.

„Soll ich dich herumführen, während Matt sich um deinen Computer kümmert?“, fragte Ellie.

Sara lächelte. „Das wäre großartig. Ich muss auf jeden Fall die wichtigsten Orte kennenlernen. Zum Beispiel die Kantine.“

Das Gebäude hatte drei Stockwerke, die jeweils um ein zentrales Glasatrium herum arrangiert worden waren. Auf einem der Stockwerke befanden sich die üblichen Zellen und Befragungsräume, auf den anderen befanden sich die Büros der unterschiedlichen Abteilungen, der Buchhaltung und anderen Verwaltungsorganisationen. In der Kantine war viel los, das Essen roch gut, und Saras Magen begann zu knurren. Scheinbar kehrte ihr Appetit zurück. Nicht alle Abteilungen waren hier stationiert, erklärte Ellie. Manche arbeiteten in anderen Gebäuden. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder in ihrem Büro waren, und sie kamen offenbar früher zurück als erwartet. Bowen stand mit dem Rücken zum Hauptraum im Büro des DI und hielt eine Akte in der Hand. Edwards saß hinter dem Schreibtisch.

„Miller sagt, wir werden nachlässig. Dass wir jemanden brauchen, der frischen Wind hereinbringt“, sagte Edwards. „Damit müssen Sie sich abfinden.“

„Bei uns ist alles in Ordnung.“ Bowen blätterte wütend durch die Seiten und hielt die Akte dann mit einem Foto oben hoch. „Das wird ihr nicht gerecht, oder?“

„Nein.“

„Aber egal, wie hübsch sie ist, sie wird hier überall auffallen. Die einzige Schwarze Beamtin in der ganzen verdammten Truppe.“

„Zum Teufel, Mike.“ Edwards schnappte sich die Akte. „So können Sie heute einfach nicht mehr reden. Passen Sie auf, was Sie sagen, sonst haben Sie bald eine Anzeige am Hals. Reißen Sie sich zusammen.“

Matt aus der IT sah auf, als die beiden Frauen hereinkamen, und blickte dann rasch zu den Männern hinüber. Einen Moment lang herrschte eisiges Schweigen. Egal, wie eng die Leute im Team miteinander befreundet waren, Bowen hatte kein Recht, ihre Personalakte anzusehen. Was auch immer sonst vor sich ging, Sara wusste, dass sie das nicht auf sich sitzen lassen konnte. Sie ging ins Büro, nahm Edwards die Akte aus der Hand und betrachtete das Foto.

„Kein besonders gutes Foto, oder?“, sagte sie. „Meine Großeltern kamen mit der Windrush Generation nach England. Meine Mutter wurde hier geboren und ist genauso britisch wie Sie, obwohl sie sich auch immer noch als Jamaikanerin betrachtet. Mein Vater war ein Junge aus dem East End, weiß wie eine Schneeflocke. Also ja, ich bin eine in Großbritannien geborene Polizistin of Colour. Und stimmt, ich stamme tatsächlich aus London. Bin ich hier damit wirklich die einzige?“

„Nicht ganz“, antwortete Edwards. Sara reichte ihm die Akte. Bowen schlurfte ein paar Schritte zurück und drehte sich weg, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Das Telefon auf dem Schreibtisch des DI begann zu klingeln.

Sarah kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück und ließ sich auf den Stuhl neben Matt aus der IT fallen. Was für ein toller Start in den neuen Job. Ein doppelter Fall von Sexismus und Rassismus in weniger als einer Stunde. Wahrscheinlich würde ihr neuer Chef sie jetzt als schwierige Mitarbeiterin abstempeln, obwohl er das Problem überhaupt erst geschaffen hatte. Während sie sich ihre neuen Passwörter notierte, konnte sie sehen, wie Edwards sich hektisch Notizen machte.

„Wenn Sie Fragen haben, hier ist meine Durchwahl.“ Matt aus der IT schrieb eine Nummer auf einen Zettel. „Ich bin die ganze Woche tagsüber auf Abruf.“

„Tja, unser Tag ist gerade viel interessanter geworden“, verkündete Edwards. Er marschierte aus seinem Büro und hielt seinen Notizblock in die Höhe.

„Warum?“, fragte Ellie. „Was ist passiert?“

„Man hat eine Leiche in einem Graben gefunden.“

„Mord?“ Bowen sah fast vorfreudig aus. „Das hatten wir schon ewig nicht mehr.“

„Was heißt ewig?“, fragte Sara.

„Der letzte passierte vor ungefähr einem Jahr. Wie du gesagt hast, wir sind eine Abteilung für Schwerverbrechen ohne schwere Verbrechen“, sagte Ellie. „Der letzte Mordfall hing jedenfalls mit häuslicher Gewalt zusammen. Die Täterin hat nach ein paar Tagen gestanden.“

„Ja, waren zwei Lesben in Aylsham. Eifersucht. Die eine hat ihre Partnerin mit einer Schrotflinte abgeknallt“, sagte Bowen.

„DI Edwards hat recht.“ Sara stand auf und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. „Sie sollten sich dringend ein weniger problematisches Vokabular zulegen, DC Bowen. Obwohl die MET ein Wort für Leute wie Sie hat.“

Sie ließ die Stille gerade lange genug anhalten, um unangenehm zu sein, dann sagte sie: „‚Unverbesserlich.‘“

Edwards unterdrückte ein Lachen. Bowen sah verwirrt aus. Ellie stieß den angehaltenen Atem aus.

„Obwohl ‚Dinosaurier‘ auch ein gutes Wort wäre.“

Bowen grinste Sara an. „Okay, Sie haben ja recht. Aber nehmen Sie mich nicht ganz so hart in die Mangel.“

„Also ist es Mord?“ Ellie klang aufgeregt angesichts der Möglichkeit.

„Zu früh, um sicher zu sein. Einer der uniformierten Polizisten hat es gerade gemeldet. Ein Landarbeiter hat die Leiche beim Heckenschneiden gefunden. Bei dem Zustand, in dem sie sich befand, gehen sie davon aus, dass sie schon ein paar Tage dort gelegen hat.“

„Na ja, das sollte auf jeden Fall spannender sein als all diese verdammten Diebstähle. Sind die Leute von der Spurensicherung unterwegs?“ Bowen zog bereits seine Jacke an.

„Ja, sind sie. Und wir auch. Schnappen Sie sich Ihre Sachen. Wir fahren nach East Ingham. Sieht so aus, als hätten wir viel zu tun.“