Prolog
In manchen Nächten wachte Christopher schweißgebadet auf und roch wieder das Benzin. Dann spann seine Fantasie schreckliche Bilder zusammen. Von Feuerzeugen. Von Flammen, die ihn umhüllten.
Kapitel 1
April 2015 – Donnerstag
Verrückt! Total absurd und skurril!
Christopher schlürfte den letzten Schluck Kaffee und stellte den Becher vor sich auf den niedrigen Tisch. Weit entfernt von seinem Laptop, auf dem er soeben eine erstaunliche Videoaufnahme angesehen hatte. Er erhob sich vom Sofa. Steif und verspannt nach der dritten Nachtschicht in Folge. Als er sich streckte, streiften seine Fingerspitzen die Decke der Gartenlaube. Trotz der beengten Verhältnisse bot seine zeitweilige Unterkunft schlichten Komfort. Auf rund zwanzig Quadratmetern drängten sich eine Küchenzeile, das ausziehbare Schlafsofa, der Tisch, zwei Sessel, ein Büfett und ein Sideboard. An den Wänden hingen handgestickte Landschaftsbilder. Durch eine schmale Falttür gelangte man in ein winziges Bad mit Dusche und Chemieklo. Ein mobiler Heizstrahler sorgte bei Bedarf für behagliche Wärme.
Er trat ans Fenster. Jenseits der Scheibe erstreckte sich ein morgendliches Idyll. Die Sonne hob sich allmählich in den strahlend blauen Himmel. Vögel zwitscherten fröhliche Melodien. Ein leichter Wind bewegte die Blätter eines Apfelbaumes. Der musste einst sehr schön ausgesehen haben. Bevor ein durchgedrehter Landschaftsgärtner mit Axt und Laubsäge über ihn hergefallen war. Klaffende Lücken im Geäst zeugten von der mutwilligen Verstümmelung. Ein Kaninchen hoppelte über den Rasen. Vorbei an den Überresten bemalter Ostereier, die Stunden zuvor in ihrer hübschen Ganzheit an einem gelb blühenden Strauch gehangen hatten. Nun lagen sie zerbröselt über das Gras verteilt. Buntes Konfetti auf dunkelgrünem Grund. Dazwischen ein silbrig glänzendes Windspiel. Das Kaninchen schnupperte neugierig am Metallständer eines pinkfarbenen Flamingos, dessen langer Hals in einem nahezu perfekten Neunziggradwinkel abgeknickt war. Der Kopf zeigte auf den Apfelbaum. Ein höhnischer Gruß. Einige Schritte entfernt lag ein zweiter Flamingo im Gras. Gartenkunst à la Rambo.
Seit dem vergangenen Herbst war der Schrebergarten seiner Auftraggeber Schauplatz merkwürdiger Vorfälle. Umgekippte Gartenmöbel, abgerissene Blumenampeln, ein entwurzelter Rosenbusch. Farbspritzer an den Wänden der Gartenlaube und des Geräteschuppens. Hundekot auf der hölzernen Terrasse. Am vergangenen Ostermontag thematisch passend eine Attacke mit rohen Eiern. Während der Winterpause hatten diese Ereignisse aufgehört. Einen brachliegenden Schrebergarten zu verschandeln, machte wohl keinen Spaß. Doch nach den ersten Frühlingstagen begannen die Übergriffe erneut. In regelmäßigen Abständen ließ jemand seinen Ärger an dem kleinen Stück vom Glück aus, das Marita Haberling und ihr Ehemann Hubert seit zwanzig Jahren hingebungsvoll hegten und pflegten. Es geschah stets nachts und nie an den Wochenenden. Zeugen gab es bislang keine. Für die Haberlings standen die Schuldigen trotzdem fest: eine Gruppe Jugendlicher, die die Schrebergartenkolonie heimsuchte, um Joints zu rauchen, Alkohol zu trinken und grundsätzlich laut und verdächtig zu sein. Marita Haberling, eine streitbare Rentnerin, vertrieb die Störenfriede regelmäßig. Der Polizei lagen Strafanzeigen wegen Sachbeschädigung vor. Frau Haberling kannte ihre Rechte. Jedes Einzelne, im Detail. Aussichten, den oder die Täter auf frischer Tat zu ertappen, gab es kaum. Der Schrebergarten konnte nicht rund um die Uhr von Beamten überwacht werden.
Vorhang auf für die Privatdetektei Kleemeyer.
Wir übernehmen jeden Fall.
Christopher gähnte. Die Welt verschwamm vor seinen müden Augen. Er rieb sich das Gesicht und blinzelte, bis Farben und Formen zurückkehrten. Die Haberlings trafen um zehn Uhr ein. Ihm blieb eine Viertelstunde, um seine grauen Zellen in Schwung zu bringen. Die Kaffeemaschine in der Küchenzeile hielt den dringend benötigten Treibstoff bereit. Er füllte seinen Becher erneut mit der schwarzen Flüssigkeit. Gab Milch und Zucker dazu. Danach öffnete er die Eingangstür. Kühle Morgenluft strömte herein. Sie brachte den frischen Duft des Frühlings mit sich. Obwohl ihn in seinem T-Shirt fröstelte, ließ er die Tür offen. Sauerstoff war wichtiger als Wärme. Er setzte sich aufs Sofa, nahm einen Schluck des heißen Kaffees und spielte die Videoaufnahme ein viertes Mal ab.
Zunächst sah man bloß eine Gestalt, die sich im Zwielicht des anbrechenden Donnerstags dem Schrebergarten näherte. Klein, schlank, gekleidet in einen dunklen Mantel, eine Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen. Vor dem Gartentor blieb die Gestalt stehen, den linken Arm seitlich an den Körper gepresst. Sie blickte sich verstohlen um. Machte sich am Tor zu schaffen und betrat das Grundstück. Die Szene rückte näher heran, als der Zoom des Camcorders betätigt wurde. Das diffuse Licht genügte, um unter der Schirmmütze das schmale Gesicht einer Dame in den frühen Siebzigern zu erkennen. Typ liebenswerte Großmutter, die stets selbst gebackene Kekse und wohlmeinende Ratschläge parat hielt. Umso erstaunlicher war, was nun folgte. Großmuttern knöpfte ihren Mantel auf und holte einen Golfschläger darunter hervor. Das Sportgerät wirkte riesig in ihren behandschuhten Händen. Sie trat auf den blühenden Strauch zu. Beäugte die Ostereier, die in gleichmäßigen Abständen an den Zweigen hingen. Zeit zum Abschmücken. Unvermittelt holte sie mit dem Golfschläger aus, schwang das Eisen in einem gekonnten Bogen und zertrümmerte das erste Ei. Für ihre Haltung hätte sie von jeder Wettkampfjury eine glatte Zehn bekommen. Sie holte ein zweites Mal aus, ein drittes Mal. Vernichtete systematisch Marita Haberlings in liebevoller Handarbeit erschaffenen Ostergruß. Sobald das letzte Ei vom Strauch geschlagen war, traf es das ewig klimpernde Windspiel im Apfelbaum. Die Golferin ließ den Schläger fallen und wandte sich einem der Flamingos zu. Mit einem Gesichtsausdruck lustvoller Bösartigkeit packte sie die Gartenverzierung und verbog den dünnen Hals. Danach versetzte sie dem zweiten Flamingo einen kräftigen Tritt.
Christopher hatte in seinem Versteck gekauert und fassungslos ein Beweisfoto nach dem anderen geknipst. Während der Camcorder auf dem dreibeinigen Ständer jede Sekunde des Geschehens aufzeichnete. So auch den abrupten Abgang der alten Dame. Sichtlich zufrieden mit ihrem Werk verbarg sie den Golfschläger wieder unter dem Mantel, trat durch das Gartentor, verschloss es und eilte davon.
Einige Sekunden lang zeigte die Aufnahme lediglich den Schrebergarten. Schließlich huschte er selbst durchs Bild, dunkel gekleidet, die Kamera um den Hals. Am Gartentor hielt er kurz inne, bevor er behände darüberkletterte.
Er stoppte die Aufnahme. In den Minuten bis zu seiner Rückkehr passierte nichts mehr.
Christopher war der alten Dame in sicherem Abstand bis zum Ausgang der Schrebergartenkolonie gefolgt. Dort war sie auf ein Damenrad gestiegen und mit dem Golfschläger in der Hand davongeradelt. Ihre Wahl des Fluchtmittels hatte dem absurden Erlebnis die Krone aufgesetzt.
Warum besaß die Golferin einen Schlüssel für das Gartentor? Stammte sie aus dem Bekannten- oder gar Freundeskreis der Haberlings? Was war ihr Motiv für die anhaltende Zerstörungswut? Fragen über Fragen. Die hoffentlich bald beantwortet wurden.
Inzwischen war ihm ausreichend kalt. Als er die Eingangstür schließen wollte, entdeckte er Marita Haberling. Die Rentnerin näherte sich im Laufschritt dem Schrebergarten. Trotz ihrer Leibesfülle erreichte sie ein beeindruckendes Tempo. Ihr nicht minder umfangreicher Gatte folgte weit abgeschlagen. Eine hervorragende Metapher für die Beziehungsdynamik der beiden. Christopher trat hinaus auf die Terrasse. Frau Haberling schloss soeben das Gartentor auf. Beim Anblick der Verwüstung entfuhr ihr ein spitzer Schrei.
„Diese unverschämten, dreisten …” Sie raufte sich das lilastichige Haar. „Das werden mir diese Kriminellen bezahlen! Jugendknast, da gehören sie hin! Weggesperrt, die ganze Bande!”
Wahrscheinlich hätte er ihr vorhin während des Telefonats von der wahren Täterin erzählen sollen. Aber in diesem speziellen Fall bevorzugte er die Live-Präsentation. Als kleine Belohnung für drei schlaflose Nächte.
Mittlerweile war Herr Haberling eingetroffen. Schnaufend wie eine Dampflok, das Gesicht knallrot vor Anstrengung. Das weiße Haar klebte ihm an der Stirn.
„Zeigen Sie mir die Aufnahmen!”, verlangte Frau Haberling. „Ich will sehen, wie diese Subjekte über mein Eigentum herfallen!”
„Bitte.” Er deutete auf die Gartenlaube. „Sie werden allerdings überrascht sein.”
Überraschung reichte bei Weitem nicht aus, um Marita Haberlings Reaktion zu beschreiben. Ein Kaleidoskop von Gefühlen spiegelte sich auf ihren Zügen wider, während sie neben ihrem Gatten auf dem Sofa saß und sprachlos die Videoaufnahme verfolgte.
Hubert Haberlings Miene wirkte hingegen wie versteinert. Das Stofftaschentuch, mit dem er sich den Schweiß von Stirn und Nacken getupft hatte, hielt er zerknüllt in der Hand.
Christopher stand neben dem Sofa und wartete gespannt ab. Eines wusste er mit absoluter Sicherheit: Seine Auftraggeber kannten die Täterin.
„Dieses verlogene Miststück!”, stieß Marita Haberling schließlich mit vor Wut zitternder Stimme hervor. „Der haue ich ihren Golfschläger um die Ohren!” Ohne ein Wort der Erklärung wuchtete sie sich vom Sofa hoch und stürmte hinaus in den Garten.
„Marita!” Ihr Mann kam mühsam auf die Beine. „Hase! Mach keinen Unsinn!”
„Moment.” Christopher hielt Hubert Haberling am Arm zurück. „Wer ist die Frau auf dem Video?”
„Roswitha Kuhnert. Parzelle 27. Kommen Sie, bevor ein Unglück geschieht!”
Auf dem Weg zum Gartentor hörten sie Marita Haberlings schrille Stimme.
„Roswitha! Wo steckst du? Ich weiß genau, dass du da bist!”
Christopher flitzte los. Durch das Tor und nach rechts. Frau Haberling stand vor einem anderen Grundstück, keine dreißig Meter entfernt. Er erreichte seine Auftraggeberin, als sie das verschnörkelte Gartentor aufstieß.
„Du verlogene Schlange! Du hinterlistiges Biest!”
Die Beschimpfungen galten einer älteren Dame in dunkler Kleidung, die vor einer Gartenlaube mit spitz zulaufendem Dach stand. In den Händen trug sie einen Stapel Blumentöpfe und im Gesicht einen verdutzten Ausdruck. Klein, schlank, die grauen Haare kurz geschnitten, Typ liebenswerte Großmutter, die Frau vom Video. Sie war nach der Tat zurückgekehrt. Während er sich erschöpft ein Nickerchen gegönnt hatte. Das war kaltschnäuzig.
„Lügnerin!” Marita Haberling walzte auf die ambitionierte Golfspielerin zu. „Du heuchelst Mitgefühl, tröstest mich und fluchst über diese unverschämten Jugendlichen. Dabei warst du es die ganze Zeit selbst!”
Verstehen spiegelte sich auf Roswitha Kuhnerts Zügen wider. Gefolgt von einem triumphierenden Lächeln.
Ein älterer Herr in dunkelblauer Latzhose und Holzfällerhemd trat aus der Laube. Er blickte sich verwirrt um.
„Rosi, was ist hier los? Marita?”
„Werner, deine Frau ist ein verlogenes Miststück!”, fuhr Frau Haberling den Neuankömmling an.
Herr Haberling erschien auf der Bildfläche. Er schnaufte an Christopher vorbei und wollte seine Frau beim Arm nehmen. Die wehrte ihn wütend ab.
„Ich verlange eine Erklärung!”
Frau Kuhnert setzte die Blumentöpfe seelenruhig auf einem Gartentisch ab. „Du hast es nicht anders verdient.”
„Wie meinst du das?”
„Seit Jahren terrorisierst du alle mit deiner ewigen Nörgelei. Niemand ist sicher vor deinen Belehrungen und Beschwerdezetteln. Die Hecken sind zu hoch, die Tomaten zu dicht gepflanzt, der Kompostbehälter steht an der falschen Stelle, die Kinder lachen zu laut. Es reicht!”
Den Haberlings verschlug es die Sprache. Werner Kuhnert wirkte ebenso verblüfft. Offenbar wusste er nichts von den nächtlichen Aktivitäten seiner Frau.
„Ist Ihnen keine andere Lösung eingefallen, als den Schrebergarten der Haberlings zu verwüsten?”, fragte Christopher in die Stille hinein. „Man kann durchaus das persönliche Gespräch suchen.”
„Auf gutes Zureden hört die feine Dame ja nicht. Die ist sofort beleidigt, wenn man sie anspricht.” Roswitha Kuhnert musterte ihn scharf. „Was mischen Sie sich überhaupt ein, junger Mann? Wer sind Sie?”
Marita Haberling antwortete für ihn: „Das ist Herr Diecks, von der Privatdetektei Kleemeyer.”
„Nein! Tatsächlich?” Frau Kuhnert klatschte mit höhnischer Verzückung in die Hände. „Du hast einen Privatdetektiv engagiert, um mir aufzulauern? Wenn ich das meinen Enkeln erzähle!”
„Der Spaß wird dir bald vergehen. Ich zeige dich an!”
„Bitte schön. Dann zeige ich dich an wegen …”, Roswitha Kuhnert suchte nach den passenden Worten. „Wegen penetranter Verletzung der Privatsphäre.”
Frau Haberling lachte auf, einen Hauch von Hysterie in der Stimme. „Ohne mich wäre diese Schrebergartenkolonie eine Schande! Würden sich alle an die Vorschriften halten, bräuchte ich die Leute nicht ständig auf ihr Fehlverhalten hinzuweisen.”
„Du selbstgefälliges Stück!”
„Senile Hexe!”
„Kleingartendiktatorin!”
Mit einem entrüsteten Schrei holte Frau Haberling aus und verpasste ihrer Streitpartnerin eine schallende Ohrfeige. Frau Kuhnert zögerte keine Sekunde, die Tätlichkeit schwungvoll zu erwidern. Nun brach das totale Chaos los. Herr Haberling und Herr Kuhnert hielten mühsam ihre jeweiligen Gattinnen fest, die sich keifend Beleidigungen entgegenschleuderten. Herr Haberling beschuldigte Herrn Kuhnert japsend der Mitwisserschaft, was dieser entschieden von sich wies und seinerseits Hubert Haberling vorwarf, seine tyrannische Ehefrau nicht im Griff zu haben. Es ging zu wie bei einer schlechten Doku-Soap.
Christopher entfernte sich unbemerkt von dem würdelosen Spektakel und rief die Polizei. Bevor einer der Kontrahenten ernsthaft verletzt würde.
Kapitel 2
Freitag
Bepackt mit Rucksack, Kameratasche und Camcorderständer, traf Christopher am nächsten Morgen in der Detektei Kleemeyer ein. Der gestrige Tag war anstrengend gewesen. Die Befragung durch die Polizeibeamten, die Beweisaufnahme und die Formalitäten hatten sich bis in den frühen Nachmittag hingezogen. Nach einer Begehung des Tatorts, die im nächsten Handgemenge endete, waren sie zur Wache gefahren. Die Kuhnerts im Streifenwagen, die Haberlings in ihrem Auto und er selbst in dem dunkelgrauen Volvo, den er seit zwei Monaten sein Eigen nannte. Auf der Wache hatte er seine Aussage zu Protokoll gegeben und Kopien der Videoaufnahme und Fotos zur Verfügung gestellt. Anschließend die Heimfahrt, völlig übermüdet. Christopher erinnerte sich vage an einen Austausch von Textnachrichten mit seiner Freundin Romy. An ein Telefonat mit seinem Chef. An verkochte Spaghetti in Tomatensoße, während irgendein Tierfilm im Fernsehen lief. Sein Bett. Augen zu. Sämtliche Systeme auf null. Heute früh Neustart. Zwölf wunderbare Stunden Schlaf hatten seine Akkus erfolgreich aufgeladen. Er fühlte sich dynamisch und voller Tatendrang.
Cindy, die struppige Seele der Detektei, vermittelte den gegensätzlichen Eindruck. Sie saß hinter dem Empfangstresen, eingekreist von Aktenordnern und Papierbergen, und verströmte akute Lustlosigkeit.
„Moin”, grüßte Christopher fröhlich. „Der Baum ist definitiv tot.”
Die brünette Rezeptionistin/Sekretärin/Buchhalterin hob unbeeindruckt eine gezupfte Augenbraue.
„Tee?”, setzte er rasch nach, um sie versöhnlich zu stimmen. Ihr Becher mit dem blauen Schietwetter-Pott-Schriftzug stand leer neben dem Telefon.
Cindys Miene hellte sich auf. „Unbedingt!” Sie betrachtete den Papierstapel. „Ob Martin es merkt, wenn ich den ganzen Kram durch den Schredder jage?”
„Garantiert. Der Mann liebt seine Ablage.”
Mit einem Seufzer nahm sie das oberste Blatt und lochte es. „Das liest doch kein Mensch mehr.”
„Mir brauchst du das nicht zu sagen.” Er schnappte sich den Schietwetter-Pott. „Einen Kräutertee für die Dame an Tisch 1, kommt sofort.”
„Du bist ein Schatz.”
Bevor er in die Küche ging, stellte er die Ausrüstung unter seinem Schreibtisch ab und hängte die Jacke über die Rückenlehne des Bürostuhls. Eines Tages würde das Wunder der digitalen Ablage auch die Detektei Kleemeyer erobern. Vorerst schlich es auf leisen Sohlen durch die Räume und mogelte sich – von ihm tatkräftig unterstützt – in die Prozessabläufe. Sein Streben nach Papierreduzierung stieß auf verhaltene Gegenliebe. Sein Chef Martin und sein Kollege Andi gehörten zu den haptischen Typen. Sie wollten anfassen, umblättern, notieren. Außerdem plagte sie die Sorge vor einem Hackerangriff, der Kundeninformationen, Protokolle und andere sensible Daten unwiederbringlich löschte. Jedes Dokument wurde ausgedruckt. Die Aktenordner und Hängemappen drohten die begrenzten Lagerungsmöglichkeiten der Detektei zu sprengen.
Während das Teewasser heiß wurde, schenkte er sich den zweiten Koffeinschub des Tages ein. Cindy kochte hervorragenden Kaffee. Die schlaffe Brühe, die Martin und Andi produzierten, genügte als Grund für eine Anzeige wegen Körperverletzung. Aus einem der Hängeschränke holte er einen Beutel Kräutertee und hängte ihn in den Schietwetter-Pott. Sobald das Wasser heiß war, übergoss er den Beutel mit der dampfenden Flüssigkeit. Der Duft von Fenchel erfüllte die Luft. In jeder Hand einen Becher, verließ er die Küche. Auf dem Weg zum Empfangstresen fiel ihm Andis aufgeräumter Schreibtisch auf. Gewöhnlich bedeckte ein Wust von Papieren, Akten und Post-its die Tischplatte. Heute war sie blitzblank. Der Laptop wirkte regelrecht vereinsamt.
„Erwarten wir hohen Besuch?” Er stellte den randvollen Tee-Pott in gekonnter Kellnermanier vor Cindy ab.
„Um neun Uhr kommen Herr Conrad und Frau Oswald von der Firma RC Security sowie Herr und Frau Borchert von der Firma Lärmraum zu einem Beratungsgespräch vorbei.”
Cindys verschmitztes Lächeln irritierte Christopher. „Sollte ich mich an die Leute erinnern?“
„RC Security hieß früher ProSec. Die Firma wurde vor Kurzem umbenannt.“
In den Tiefen seines Langzeitgedächtnisses bimmelte ein Glöckchen. „Ach so, ProSec. Dahinter steckt Martins alter Schulfreund Rainer Conrad, richtig?”
„Richtig.“ Cindys Lächeln wurde zu einem Grinsen. „Er bringt Tara Oswald mit.”
Nun grinste auch Christopher. Natürlich. Am Nachnamen hatte er sie nicht erkannt. „Deshalb wird unser Andi auf einmal zum Putzteufel.”
Tara hatte die Detektei im vergangenen Dezember für kurze Zeit unterstützt. Während er nach der verschwundenen Nina Armin und ihrem Freund Simon suchte, war sie Andi und Martin bei einem anderen Fall zur Hand gegangen. Ihr fröhliches Wesen und ihre engagierte, professionelle Arbeitsweise hatten die beiden begeistert. Besonders Andi war aus dem Schwärmen nicht mehr herausgekommen.
Cindy lochte den nächsten Schwung Papiere. „Ich wette mit dir um zehn Euro, dass er heute seinen besten Anzug trägt.”
„Ich nehme grundsätzlich keine Wetten an, die ich verliere.”
Auf dem Tresen stand eine Schale mit übrig gebliebenen Ostereiern. Christopher nahm zwei mit Nugatfüllung und schlenderte zurück zu seinem Schreibtisch. Am Montag fand die Abschlussbesprechung mit den Haberlings statt. Bis dahin musste der Bericht verfasst sein.
Um halb neun erschien Andi in der Detektei. Im dunkelblauen Anzug mit rot-weiß gestreifter Krawatte und farblich passendem Einstecktuch. Das ehemals schwarze, mittlerweile grau melierte Haar wirkte frisch geschnitten. Ein Hauch von Hollywood in St. Georg. Sein Kollege erinnerte ihn stets an eine melancholische französische Bulldogge. Der quadratische Kopf, die leicht hervortretenden braunen Augen und die flache Boxernase drängten einem den Vergleich geradezu auf. Dazu gesellte sich eine eher trübsinnige Sichtweise auf das Weltgeschehen im Allgemeinen und seine eigene bescheidene Rolle darin im Besonderen. Heute war Andi allerdings eine äußerst beschwingte französische Bulldogge.
„Guten Morgen!”, schmetterte er fröhlich in die Runde.
„Moin, Mister Dressman.” Christopher rollte auf seinem Stuhl zurück und musterte den Neuankömmling demonstrativ. „James Bond hat angerufen. Er vermisst einen Anzug.”
„Spotte ruhig, junger Narr”, erwiderte Andi im Brustton moralischer Überlegenheit. „Auch du wirst eines Tages verstehen, wie wichtig es ist, seine Firma angemessen zu repräsentieren.”
Vom Empfangstresen kam das charakteristische Husten einer Rezeptionistin/Sekretärin/Buchhalterin, die sich soeben böse an ihrem Tee verschluckt hatte.
Andi blieb unbeirrt. „Seriöses Auftreten ist die halbe Miete. Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Gelegenheit.”
„Pling, pling.”
„Bitte?”
„Das waren zwei Euro, die klimpernd ins Phrasenschwein gefallen sind.”
Sein Kollege öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schlagfertigkeit gehörte nicht zu Andis Stärken. „Hast du das Rätsel um den verwüsteten Schrebergarten gelöst?”, wechselte er rasch das Thema.
„Ja. Es war die alte Dame mit dem Golfschläger von Parzelle 27.” Die Formulierung war eine Anspielung auf Cluedo, Christophers Lieblingsbrettspiel aus Jugendzeiten.
„Was? Erzähl!”
Er fasste die Ereignisse des gestrigen Tages zusammen. „Eine klassische Nachbarschaftsstreitigkeit”, schloss er. „Frau Haberling terrorisiert die anderen Pächter mit ihrem ewigen Genörgel, und Frau Kuhnert rächt sich im Namen aller an der alten Meckerziege.”
„Verstehe. Also eher Frau Rechthaberling.”
An der Rezeption erlitt Cindy den nächsten Hustenanfall.
Andi grinste selbstzufrieden. Wahrscheinlich lauerte er seit Tagen auf eine Gelegenheit, dieses fesche Wortspiel einzustreuen.
„Der war gut”, lobte Christopher, ohne eine Miene zu verziehen.
„Danke. Wo steckt Martin?”
„Ist bestimmt im Anflug.”
„Schön, schön.” Sein Kollege rieb sich voll rastloser Energie die Hände. „Ich bereite das Besprechungszimmer vor.”
„Mach das.”
Mit seinem Laptop unter dem Arm verschwand Andi durch die entsprechende Tür.
Wenig später gab sich Martin Kleemeyer die Ehre, gekleidet in einen schwarzen Anzug mit dunkler Krawatte. Allmählich fühlte sich Christopher in Jeans und T-Shirt sträflich underdressed.
„Gut, dass du da bist”, legte sein Chef ohne Begrüßung los. „Um neun Uhr findet eine wichtige Besprechung statt. Bei der möchte ich dich auf jeden Fall dabeihaben.”
„Auch dir einen fröhlichen guten Morgen.”
„Richtig, guten Morgen.” Martin legte schwungvoll eine Aktentasche auf seinem Schreibtisch ab. „Erinnerst du dich an Rainer Conrad?”
„Dein ehemaliger Schulkamerad. Tara Oswald arbeitet für ihn.”
„Kompliment, exzellentes Gedächtnis. Rainers Firma stellt den Objektschutz für einige Musikbunker im Hamburger Raum. Seit Anfang des Jahres kam es dort vermehrt zu Einbrüchen. Wir sollen das untersuchen.”
„Klingt interessant.”
„Vorsicht mit der Begeisterung. Beim letzten Mal gab es einen Verletzten. Apropos Verletzte: Was machen deine rabiaten Rentner?”
Christopher rollte die Augen gen Decke. „Was für ein Zirkus! Frau Haberling und Frau Kuhnert haben die halbe Wache zusammengeschrien. Und die Ehemänner mittendrin. Alles wegen ein paar Quadratmetern Rasen und bekloppter Regeln, die vorschreiben, wie eng Tomaten gepflanzt werden dürfen.”
„Manchen Menschen bedeuten diese paar Quadratmeter Rasen alles. Sie investieren viel Zeit, Geld und Mühe in ihre Grundstücke. Da kann das rechte Maß gelegentlich verloren gehen.”
„Wie verständnisvoll.”
„Meine Eltern waren leidenschaftliche Kleingärtner. Als Kind habe ich fast jedes Wochenende und viele Schulferien im Schrebergarten verbracht.”
„Sollte ich jemals auf die Idee kommen, einen Schrebergarten zu pachten, darfst du mich einweisen lassen. Das gebe ich dir gern schriftlich.”
Martin schmunzelte. „Ich werde dich beizeiten daran erinnern.”
Die Tür des Besprechungszimmers wurde geöffnet. Andi steckte den Kopf heraus. „Ich habe alles vorbereitet. Wir können nachher ohne Verzögerung starten.” Sein Blick traf Christopher, wurde missbilligend. „In diesem verlotterten Aufzug nimmst du nicht an der Besprechung teil!”
„Du hast recht. Ich ziehe mich sofort um.” Beim Aufstehen vermied er es, Martin anzusehen. Der grinste garantiert wie ein Honigkuchenpferd.
Im Ruheraum rechts von der Küche stand neben einem Bett und einem wuchtigen Safe auch ein Wäscheschrank. Darin hing ein Kleidersack, in dem sich ein dunkler Anzug, zwei weiße Hemden und eine Auswahl an Krawatten befanden. Im untersten Fach lagerte ein Paar schwarzer Lederschuhe samt Socken. Seine Notfallausstattung. Für spontane Kundengespräche, Missgeschicke mit Lebensmitteln und Kollegen in der Midlife-Crisis, die junge Frauen beeindrucken wollten.
Christopher mühte sich noch mit dem Krawattenknoten ab, als es an der Tür klingelte. Rasch richtete er den seidigen Stoff und streifte das Jackett über. Ein prüfender Blick in den Spiegel. Pumuckl im Anzug.
Am Empfangstresen nahm Cindy gerade die Jacken der vierköpfigen Delegation entgegen. Es folgte ein Durcheinander von Händeschütteln und Begrüßungen. Andi bedachte Tara Oswald mit einem angedeuteten Handkuss, den sie souverän mit einem Knicks beantwortete. Sie trug das honigblonde Haar kürzer als im vergangenen Winter. Der sportliche Schnitt brachte ihre hohen Wangenknochen zur Geltung und verlieh ihr etwas Freches, Draufgängerisches. Kein Wunder, dass Andis Synapsen verrücktspielten. Als sie Christopher die Hand gab, glitzerte Belustigung in ihren grünen Augen.
„Nette Kostümparty.”
„Nicht meine Idee”, raunte er ihr zu. Die Besucher trugen fast alle bequeme Freizeitkleidung. Lediglich Frau Borchert hatte für den Anlass ein buntgeblümtes Kleid gewählt. „Toll, dass wir uns wiedersehen”, fügte er lauter hinzu.
„Finde ich auch. Obwohl es kein schöner Anlass ist.”
„Martin hat erzählt, dass es beim letzten Einbruch einen Verletzten gab.”
„Ein Freund von mir wurde zusammengeschlagen. Er liegt im Krankenhaus.”
„Das tut mir leid. Hoffentlich geht es ihm bald besser.”
„Wollen wir?” Sein Chef deutete einladend auf die Tür des Besprechungszimmers.
Ihre Besucher nahmen an der Fensterseite des ovalen Tisches Platz, Andi und Christopher gegenüber. Auf einem Rollwagen standen Getränke und Geschirr bereit. Martin schenkte Kaffee, Tee und Wasser aus. Sobald alle versorgt waren, schaltete er Laptop und Beamer ein. An der Wand neben der Tür erschien die Startfolie einer PowerPoint-Präsentation.
Während sein Chef im Stehen die übliche Einführung über die Geschichte der Detektei und die angebotenen Leistungen hielt, musterte Christopher verstohlen die Borcherts und Herrn Conrad.
Linus Borchert war in den frühen Fünfzigern. Durchschnittlich groß, hager, fliehendes Kinn, prominenter Adamsapfel. Kurz geschnittenes Haar in Salz-und-Pfeffer-Optik. Hinter einer randlosen Brille verrieten seine dunklen Augen Skepsis und Ungeduld. Vor ihm auf dem Tisch lag eine blaue Pappmappe.
Dorina Borchert mochte Ende vierzig sein. Sie überragte ihren Mann um einige Zentimeter und besaß das breite Kreuz und die muskulösen Arme einer Schwimmerin. Das dunkle Haar trug sie kinnlang. Ein Hauch von Make-up umrahmte ihre blauen Augen. Sie strahlte freundliche Ernsthaftigkeit aus.
Rainer Conrad saß zurückgelehnt da, einen Arm lässig über der Rückenlehne des Stuhls hängend. Sein helles Poloshirt spannte über einem Medizinball, der von zu vielen deftigen Mahlzeiten und zu wenig Bewegung zeugte. Das Doppelkinn unterstrich diesen Eindruck. Lachfältchen zierten sein gutmütiges Gesicht. Dunkelblondes Haar lichtete sich an den Schläfen zu Geheimratsecken.
Sobald Martin den Vortrag beendet hatte, ergriff Linus Borchert das Wort. „Vielen Dank, Herr Kleemeyer. Das war sehr informativ”, sagte er mit sonorer Stimme. „Bevor wir zu den Details unseres Anliegens kommen, möchte ich Ihnen kurz unsere Firma vorstellen.” Sein Adamsapfel hüpfte einige Male wie auf einem unsichtbaren Trampolin auf und ab. „Meine Frau Dorina und ich haben Lärmraum mit dem Ziel gegründet, erschwingliche Probe- und Hobbyräume für Künstler zu schaffen. Während meines Musikstudiums habe ich selbst in einer Band gespielt. Damals war es sehr schwierig, einen geeigneten Raum zu finden. Vor gut zwanzig Jahren ergab sich die Gelegenheit, in Hamm-Nord günstig einen Hochbunker zu erstehen. Wir haben die Baumasse renoviert, mit Lüftung, Beleuchtung, Sanitäranlagen und Elektrik ausgestattet und alle dreiundvierzig Räume schallisoliert.” Er legte eine Kunstpause ein, um die Informationen wirken zu lassen. „Inzwischen bietet Lärmraum im Hamburger Stadtgebiet auf elf Immobilien verteilt über vierhundertachtzig Räume an.”
„Zahlreiche unserer Mieter sind Profimusiker, die sich eigene Tonstudios eingerichtet haben”, übernahm Frau Borchert versiert die Gesprächsstaffel. „Die Diebstähle sorgen für enorme Verunsicherung. Es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis die Medien davon erfahren.”
„Es wäre das Ende von Lärmraum!”, setzte ihr Ehemann dramatisch nach. „Wir haben sämtliche Ersparnisse in die Firma investiert. Kredite müssen abbezahlt werden. Wir stünden vor dem Ruin!”
„Na, na, na.” Rainer Conrad hob beschwichtigend die Hand. „Dazu wird es nicht kommen. Herr Kleemeyer und seine Mitarbeiter gehen der Angelegenheit auf den Grund. Ich habe größtes Vertrauen in ihre Fähigkeiten.”
„Vielen Dank.” Martin setzte sich auf den freien Stuhl neben Andi. „Frau Borchert, um alle auf denselben Wissensstand zu bringen: Wie viele Einbrüche gab es bisher?”
„Fünf.”
„Ohne erkennbaren Rhythmus?”
„Die zeitlichen Abstände variieren. Mal sind es zwei Wochen, mal drei.”
„Immer in einem anderen Bunker?”
„Ja.”
„Ereignen sich die Diebstähle tagsüber oder nachts?”
„Schwierig zu sagen. Nicht alle Räume werden regelmäßig genutzt. Weil es keine auffälligen Einbruchsspuren an den Türen gab, wurden die vier Diebstähle erst von den Mietern selbst entdeckt. Der letzte Einbruch fand Dienstagabend statt. Das wissen wir leider sehr genau.” Sie bedachte Tara mit einem mitfühlenden Blick.
„Gab es Einbruchsspuren an den Schlössern selbst? Zum Beispiel Schäden an den Profilzylindern oder Kratzer im Metall?“
„Da bin ich überfragt.“ Frau Borchert sah zu ihrem Mann. Der zuckte die Achseln.
„Das lässt sich bestimmt herausfinden“, gab Martin zurück. „Welche Gegenstände wurden entwendet?”
„Musikinstrumente, Mikrofone, Lautsprecher, Computer, in einem Fall ein Mischpult.”
„Das hat niemand bemerkt?”
Ein Kopfschütteln.
Sein Chef kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Sie erwähnten vier Diebstähle. Obwohl es fünf Einbrüche waren.”
„Benni hat die Täter überrascht”, antwortete Tara. „Deshalb sind sie nicht zum Zug gekommen.”
Christopher hob die Hand. „Wie viele Personen haben deinen Freund zusammengeschlagen?”
„Eine. Ein maskierter Mann. Benni schwört, im Hintergrund einen zweiten Mann gesehen zu haben.”
„Eine organisierte Bande?”, fragte er in die Runde.
Martin wiegte bedächtig den Kopf. „Möglich. Sprechen wir zunächst über die Sicherheitsvorkehrungen in den Bunkern. Anschließend können wir uns Gedanken über den möglichen Täterkreis machen.”
„Wir haben die wichtigsten Informationen zusammengestellt.” Herr Borchert schob die Pappmappe über den Tisch. „Die Außentüren sind alle mit einem Hightech-Profilzylinder ausgestattet. Das beste Modell auf dem Markt, nach den höchsten Sicherheitsstandards. Mit Vertragsabschluss erhält jeder Mieter die von ihm benötigte Anzahl von Schlüsseln. Die Türen zu den vermieteten Räumen sind mit Panzerriegeln ausgestattet. Wir vergeben drei Schlüssel für die Riegel und behalten selbst keine Kopien zurück. Für das Schloss an der Raumtür besorgt sich jeder Mieter einen eigenen Profilzylinder. Die dazugehörigen Schlüssel verbleiben in seinem Besitz.”
„Das klingt sehr sicher.” Martin schlug die Mappe auf. Er überflog das oberste Blatt. „Gibt es Überwachungskameras?”
„An den Ein- und Ausgängen. In den Bunkern selbst bis dato keine.”
Eine erste Sicherheitslücke.
„Wie sieht es mit Fenstern oder Außentreppen aus?”, erkundigte sich Christopher.
„Einige Bunker besitzen Freitreppen. Fast alle haben Feuerleitern, die allerdings für Transporte gänzlich ungeeignet sind. An vier Objekten gibt es Fenster. Die im Erdgeschoss sind vergittert. Es bräuchte einen Schneidbrenner oder schweres Werkzeug, um die Metallstreben zu entfernen. Das ist in keinem der Fälle geschehen. Die höher gelegenen Fenster erreicht man höchstens über eine Leiter.”
Seine Gedanken wirbelten umher. Gab es andere Möglichkeiten, die Gebäude ungesehen zu betreten und zu verlassen? „Die Bunker stammen aus Kriegszeiten. Befinden sich in den Kellerräumen unterirdische Zugänge?”
„Sie meinen verborgene Verbindungstüren? Geheime Fluchttunnel, die in die Kanalisation führen?”
„Zum Beispiel.”
Herr Borchert lächelte spöttisch. „Ihre Kreativität in allen Ehren, Herr Diecks, aber mit der Idee können Sie sich als Drehbuchschreiber beim Tatort bewerben.”
Überheblicher Blödmann. Christopher zwang sich zu einem neutralen Gesichtsausdruck.
„Mein Kollege hat eine berechtigte Frage gestellt”, erwiderte Martin mit Stacheldraht in der Stimme.
Linus Borcherts Mundwinkel näherten sich seinem fliehenden Kinn. „Wir überprüfen das.”
„Danke.” Sein Chef wandte sich Frau Borchert zu. „Wie sieht es mit Untermietern aus?”
Sie nickte. „Viele Mieter nutzen diese Möglichkeit, um die monatlichen Kosten zu senken. Die Untermieter erhalten ebenfalls Schlüssel für alle Türen und den Panzerriegel.”
„Ist es leicht, Kopien anfertigen zu lassen?”
„Nicht bei den Außentüren. Die Profilzylinder werden alle mit einer Sicherungskarte geliefert. Möchte ein Mieter eine Schlüsselkopie in Auftrag geben, muss er die entsprechende Karte vorlegen. Die händigen wir selbstverständlich niemals aus. Für die Panzerriegel gibt es keine Sicherungskarten. Auf die Profilzylinder der Raumtüren haben wir, wie gesagt, keinen Einfluss.”
„Wurden Schlüssel als verloren oder gestohlen gemeldet?”
„Es gab in den vergangenen Monaten drei Fälle. Jedoch nicht bei den betroffenen Bunkern.”
Christopher drehte nachdenklich seine Kaffeetasse in den Händen. „Wer versichert die Musikinstrumente und das Equipment?”
„Die Mieter”, antwortete Linus Borchert. Nach Martins Zurechtweisung klang er leicht angefressen.
„Ihre Firma erfährt nicht, welche Werte sich in den Räumen befinden?”
„Das geht uns nichts an. Größere Instrumenten- und Equipment-Transporte müssen allerdings im Voraus bei RC Security angemeldet werden.”
Herr Conrad gab einen zustimmenden Laut von sich. „Wenn jemand zwei Gitarren von A nach B befördert, ist uns das gleich. Aber wenn ein Mieter mit seinem kompletten Tonstudio ein- oder auszieht, stellen wir einen Mitarbeiter zur Überwachung ab.”
Christopher runzelte die Stirn. „Kann man aus diesen Anmeldungen den Wert der zu transportierenden Gegenstände ableiten? Oder Rückschlüsse auf die zukünftige Ausstattung eines bestimmten Raumes ziehen?”
Rainer Conrads Gesicht verlor leicht an Farbe. „Das ist möglich.”
Betretenes Schweigen erfüllte den Raum.
Martin griff nach seinem Wasserglas. „Wir überprüfen, ob ein zeitlicher Zusammenhang zwischen den angemeldeten Transporten und den Einbrüchen besteht.” Er nahm einen Schluck. „Welchen Personen wird neben den Mietern und Untermietern Zutritt zu den Bunkern gewährt?”
Herr Borchert löste den anklagenden Blick von Rainer Conrad. „In der Mappe finden Sie eine Liste der Firmen, mit denen Lärmraum zusammenarbeitet. Hausmeister, Elektriker und Sanitärfachleute sind Externe. Für die Reinigung der Gebäude und sanitären Anlagen beschäftigen wir eigene Mitarbeiter. Wir haben keine Kontrolle über fremde Personen, die von den Mietern hereingelassen werden.”
„Fällt Ihnen jemand ein, der Ihrer Firma schaden möchte? Ein ehemaliger Mitarbeiter? Die Konkurrenz?”
„In unserer Branche geht es seriös zu, Herr Kleemeyer. Kieztaktiken sind unnötig.” Linus Borchert richtete pikiert seine Brille. „In der Vergangenheit gab es Kündigungen, aber diese Einbrüche trauen wir keiner der betroffenen Personen zu.”
„Wie sieht es mit den aktuellen Mitarbeitern aus? Hat jemand offen Unmut über ein bestimmtes Thema geäußert? Ist eine erwartete Gehaltserhöhung oder Beförderung ausgeblieben? Geldprobleme können ein Motiv sein.”
„In jedem Team gibt es Reibereien”, erwiderte Frau Borchert. „Die Grundstimmung in unserer Firma ist sehr gut.”
„Und bei dir?”, wandte sich Martin an Rainer Conrad. „Gibt es faule Äpfel bei RC Security?”
„Tara und mir fällt niemand ein.”
„In dem Fall empfehle ich eine Überprüfung der aktiven und ehemaligen Mitarbeiter beider Firmen. Ebenso der externen Dienstleister.”
„Wissen Ihre Mitarbeiter von diesem Treffen?”, stellte Andi die erste Frage. Bei Kundengesprächen hielt er sich meist zurück. Hörte zu, beobachtete, sammelte Informationen.
„Nein”, antwortete Rainer Conrad. „Einzig die Personen in diesem Raum sind eingeweiht.”
„Das ist gut. Falls nötig, können wir einen von uns bei RC Security oder Lärmraum einschleusen. Um vor Ort zu recherchieren.”
Unsichtbare Gewitterwolken türmten sich über Linus Borchert auf. „Das klingt nach einem ausgedehnten Einsatz. Wir hatten auf eine schnelle Lösung des Problems gehofft. Wer soll das bezahlen?!”
Dorina Borchert legte ihrem Mann beruhigend die Hand auf den Unterarm. „Wie lange werden die Nachforschungen dauern?”
Herr Borchert nippte derweil mit geröteten Wangen an seinem Wasser. Es gibt so etwas wie zorniges Trinken.
„Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten”, erwiderte Martin. „Ich schlage vor, wir setzen die Ermittlungen zunächst für zwei Wochen an.”
Rainer Conrad stimmte sofort zu. Die Borcherts wirkten unentschlossen.
Martin erhob sich. „Wir lassen Sie einige Minuten allein. Entscheiden Sie in Ruhe, wie es weitergehen soll.”
Sie warteten vor der Küche, mit höflichem Abstand zum Besprechungszimmer.
„Was gibt es da zu entscheiden?”, machte Andi seinem Unverständnis im Flüsterton Luft. „Wollen die Däumchen drehen, bis die Täter erneut zuschlagen?”
Christopher betrachtete die Milchglastür, hinter der schemenhaft die Silhouetten ihrer Besucher zu erkennen waren. „Ich hätte auch keine Lust, unverschuldet Tausende von Euro ausgeben zu müssen.”
„Das Problem kann bei RC Security oder Lärmraum liegen”, erwiderte Martin. „Vielleicht bei beiden. Wenn sich die Firmen die Rechnung teilen, schmerzt es nicht ganz so arg.”
Martins Vorschlag überzeugte die Borcherts, den Ermittlungen zuzustimmen. Linus Borchert erklärte sich bereit, für alle betroffenen Bunker die Überwachungsaufnahmen der vergangenen drei Monate zur Verfügung zu stellen. Die Stunden vor und nach der Prügelattacke auf Taras Freund Benni waren von der Polizei ausgewertet worden. Ohne Ergebnis. Bei den restlichen Aufnahmen würde es dauern. Zu viel Filmmaterial, zu wenig Personal.
Die Borcherts verabschiedeten sich bald darauf. Rainer Conrad und Tara blieben länger. Bei Kaffee, Tee und Ostereiern besprachen sie die nächsten Schritte.
„Rainer und ich sichten die Überwachungsaufnahmen”, bestimmte Martin.
Sein alter Schulfreund seufzte. „Der aufregendste Job von allen.” Zum Trost biss er genüsslich in ein Marzipanei. „Jemand sollte Benni befragen”, sagte er kauend. „Vielleicht hat er etwas gesehen oder gehört, das uns weiterhilft.”
Tara wirkte skeptisch. „Der Vorfall hat ihn ziemlich fertiggemacht. Keine Ahnung, ob er alles noch einmal erzählen möchte.”
„Du könntest mitkommen”, schlug Christopher vor. „Zur moralischen Unterstützung.”
„Das übernehmen Tara und ich”, schaltete sich Andi sofort ein. „Ich habe eine äußerst beruhigende Wirkung auf Menschen.”
Quality Time mit der hübschen jungen Frau. Sein Kollege war sooo durchschaubar.
Martins Mundwinkel zuckten. Das unterdrückte Schmunzeln wanderte hoch zu seinen Augen, wo es sich in ein amüsiertes Funkeln verwandelte. „Überlassen wir das Topher und Tara. Junge Leute unter sich, ein lockeres Schwätzchen …”
„Ich kann sehr locker sein”, protestierte Andi.
„Das bestreitet niemand. Aber wir müssen eine Vielzahl von Personen überprüfen. Darin besitzt du weitaus mehr Erfahrung.”
„Na gut. Solange Topher mich später unterstützt.”
„Natürlich.”
Nachdem das geklärt war, rief Tara bei Benni im Krankenhaus an. Es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit, bevor er dem Besuch zustimmte.
„Seine Eltern werden dabei sein.” Sie sah zu Christopher. „Ich hoffe, das ist in Ordnung.”
„Klar.” Er erhob sich. „Ich ziehe mich schnell um.” Bloß raus aus den feinen Klamotten. Andis strenger Blick ließ ihn innehalten. „Oder soll ich den Anzug aus Gründen der Seriosität lieber anbehalten?”
Tara musterte ihn mit schelmischem Grinsen. „Bennis Mutter wäre bestimmt sehr angetan.”
Er seufzte. Es war stets von Vorteil, die Mutter auf seiner Seite zu haben.