Leseprobe Echte Rockstars küsst man nicht

Prolog

Es war laut, kalt und nass. Ich ging ungeduldig von links nach rechts und sah zum wiederholten Male auf mein Handy. Keine weiteren Nachrichten von Basti. Er wusste, dass ich ihn ohnehin anmeckern würde. Seit einer Viertelstunde fror ich mir im Regenwetter den Hintern ab, weil der Herr mal wieder zu spät kam. Wenigstens hatte ich unter dem Vordach der U-Bahnstation Schutz vor dem stetigen Nieselregen gefunden, der auf meinen Brillengläsern einen verschwommenen Schleier hinterließ. Anfang Dezember sollten eigentlich Schneeflocken romantisch vom Himmel schweben, doch in Wien wurden Weihnachtsgefühle mit dem Gatsch in den Gully gespült. Da halfen auch die Lichterketten in den Imbissbuden oder die schickeren Sterne-Girlanden zwischen den Häuserblocks nichts. Im Dunst des feuchten Wetters wirkte einfach alles trostlos.

Ich kannte meinen Arbeitskollegen und besten Freund gut genug und hatte daher ausreichend Zeitpuffer einkalkuliert. Trotz seiner Verspätung würden wir nicht zu spät zum Konzert kommen, was nicht bedeutete, dass ich nicht genervt vom Warten war. Der Einlass in der Stadthalle hatte schon begonnen, aber die Golden Circle Tickets sicherten uns den limitierten Bereich direkt vor der Bühne. Dennoch fror ich und rieb meine steifen Hände aneinander. Auf dem Urban-Loritz-Platz tummelten sich mit mir etliche andere Menschen. Links und rechts fuhren auf dem Gürtel die Autos dicht gedrängt im Schneckentempo. Überfüllte Straßenbahnen kreuzten ihren Weg. Passanten kauften sich Kebab, Erdäpfelpuffer oder heiße Maroni. Eine einzigartige Aromamischung aus nassem Asphalt, Knoblauch und gebratenem Fleisch lag in der Luft. Bastis winkende Gestalt erregte endlich meine Aufmerksamkeit. Mit riesigen Schritten und flatterndem Mantel kam er angerannt. Er hielt sich eine zerknitterte Zeitung über seinen Kopf und sprang elegant über eine Pfütze.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und bemühte mich, finster dreinzusehen. Basti kam keuchend, aber breit grinsend vor mir zum Stehen. Sein Zahnpasta-Lächeln prallte nach zwei Jahren Freundschaft an mir ab.

»Du bist zu spät, du Depp«, brummte ich als Begrüßung.

Er zuckte mit den Schultern und strahlte mich unschuldig an. »Sorry Karo, ich bin pünktlich losgegangen, aber so ein Wappler stand mit seinem BMW in der Kreuzung auf den Schienen und die Bim konnte nicht weiter. Ist nicht meine Schuld!«

Sein Ego war groß genug, um das wirklich zu glauben. Ich wusste es allerdings besser. »Du hattest ein geschäftliches Meeting. Diese beinhalten meistens Cocktails und teure Zigarren. Wenn ich jetzt an dir schnuppere, was rieche ich dann?«, fragte ich herausfordernd und provozierte damit ein noch breiteres Grinsen auf seinen Lippen. Er hob abwehrend die Hände und schmunzelte. »Schon gut. Aber wegen meines Charmes sowie den geschäftlichen Beziehungen dürfen wir immer umsonst auf geile Events und in Konzerte!«

Das stimmte und ja, ich nutzte seine Kontakte in allen möglichen Medienbereichen sehr gerne. Ergeben seufzte ich und hakte mich bei ihm unter. Gemeinsam spazierten wir los in Richtung der Stadthalle. Der Regen tröpfelte nur mehr vor sich hin, reichte aber aus, meine Sicht erneut einzuschränken. In der Kälte kondensierte unser beider Atem in tanzenden Wölkchen. Wir reihten uns in den Strom der Menschen ein, die augenscheinlich ebenso auf dem Weg zum Konzert waren und ließen uns treiben.

»Freust du dich schon? Ich liebe diese Band«, schwärmte Sebastian von den Finnen, die uns bevorstanden.

»Ich bin sehr gespannt. Ich habe sie ja noch nie live gesehen, aber du weißt ja, ich steh auf Rock!«

Je näher wir der großen Konzerthalle kamen, desto dichter wurden die Menschentrauben. Fans standen rauchend auf dem weitläufigen Vorplatz und zitterten und froren genauso wie ich. Ein Absperrgitter lenkte uns in geordnete Bahnen, ehe wir zur Sicherheitskontrolle kamen und meine Brille kurz komplett aufgrund der Wärme anlief. Nach einem akribischen Durchsuchen meiner Handtasche zog der ältere, verschwommene Herr mit dem blonden Wuschelhaar ein kleines Deo hervor. Die Minivariante, die gerade mal so eben für zwei Achseln reichte, manchmal auch nur für eine.

»Das ist leider nicht erlaubt«, erklärte er mir.

Prompt schnaubte ich trotzig. »Was glauben Sie denn, was ich damit machen will? Das ist doch nur zugunsten aller, wenn ich nach Veilchen rieche und nicht nach Schweiß«, verteidigte ich mein Eigentum. Basti war schon durch die Kontrolle und verdrehte die Augen.

»Sie könnten es werfen und die Künstler oder andere damit verletzen. Es ist wie Reizgas zu behandeln«, argumentierte mein Gegenüber mit gelangweilter Stimme.

»Sie haben mich noch nie werfen gesehen. Ein Kleinkind mit Gummibärli wäre gefährlicher.«

Basti legte genervt den Kopf in den Nacken und brummelte etwas Unverständliches. Weil auch hinter mir das Getuschel immer lauter wurde, gab ich schließlich klein bei. »Na schön, behalten Sie das Deo, schenken Sie es Ihrer Freundin oder basteln Sie einen duftenden Flammenwerfer daraus.«

Der Herr sah kurz so aus, als wollte er mich fragen, ob ich wirklich vor hatte irgendetwas in dieser Halle anzuzünden, doch dann ließ er mich gewähren.

»Musst du jedes Mal mit den Sicherheitsleuten diskutieren? Du weißt doch, wie die Vorschriften sind«, beschwerte sich Basti, als ich zu ihm aufschloss.

»Klar weiß ich das. Ändert aber nichts daran, dass sie dämlich sind. Bald nehmen sie uns die Schnürsenkel und Gürtel ab oder wir dürfen nur noch nackt hinein.«

»Eine grauenhafte Vorstellung. Danke.«

Wir schlängelten uns weiter durch die Menge zum korrekten Eingang, wo Basti unsere VIP-Tickets das zweite Mal vorzeigte.

»Dark but it’s Rock haben eine eingefleischte Fangemeinde, obwohl die Finnen ganz dem Klischee entsprechend eher zurückhaltend sind für gefeierte Rockstars. Lauri Korhonen vor eine Kamera zu bekommen ist mittlerweile so exklusiv wie ein Foto von Kim Kardashian ohne Instagram Filter«, erklärte er missmutig.

Ich grinste ihn wissend von der Seite an. »Ach, gibt es wirklich einen Promi, den Herr Karla Kolumna alias Super-Journalist nicht für ein Exklusiv-Interview begeistern kann?«

Ein Brummen war seine Antwort, das mich nur weiter lachen ließ. Hektisch rieb ich mir die kribbelnden Finger, die in der Wärme der Halle langsam auftauten. Der Lärmpegel wuchs mit jedem Schritt, den wir dem endgültigen Bühnenzugang näherkamen. Der Duft von Popcorn und Hotdogs zog verführerisch in meine Nase.

»Ich habe fünf, hörst du … FÜNF Anfragen gestellt eine Story über das Konzert und die Band zu bringen. Doch das Management der Band hat nicht mal geantwortet. Dabei ist das ihr einziges Österreich Konzert in diesem Jahr. Ich verstehe es einfach nicht. Normalerweise freuen sich die Künstler in unserem Magazin abgedruckt zu werden, doch Lauri verkriecht sich im Backstagebereich und lässt sich nicht blicken. Seit fast einem Jahr gibt er keine Interviews mehr. So als wäre er vom Erdboden verschluckt worden und würde nur auftauchen, um auf der Bühne zu stehen«, plapperte Basti sichtlich erregt weiter. Ich nickte gespielt mitfühlend, als wir die Mäntel bei der Garderobe abgaben und unseren endgültigen Zugang ansteuerten. Sebastian war der erfolgreichste Redakteur beim Magazin und dafür bekannt immer das zu bekommen, was er wollte. Meistens waren das die Geheimnisse der Stars, die er ihnen ganz beiläufig entlockte. Er konnte die nationalen und internationalen Künstler umschmeicheln und betören. Kurz gesagt, er bekam immer ein Interview, ein Statement oder eine Telefonnummer. Trotzdem war er noch nicht an der Spitze seiner Karriereleiter angekommen und deswegen schlug sein Ehrgeiz manchmal etwas übers Ziel hinaus. Ich kannte Dark but it’s rock nur aus dem Radio, doch Sebastian benahm sich, als hätte der Sänger ihm den letzten Punschkrapfen vor der Nase weggeschnappt. Ich hakte mich wieder bei ihm unter und sah ihn musternd an. »Du wirst schon noch Chefredakteur, da wird dich ein schüchterner Rockstar nicht aufhalten können. Immerhin hast du die Freikarten bekommen. Los, holen wir uns ein Bier und genießen den Abend!«

Er bedachte mich mit einem letzten mürrischen Blick, ehe er nickte und uns zwei Becher besorgte. Am Eingang kontrollierte man zum dritten Mal unsere Karten und wir bekamen schicke Papierbändchen ums Handgelenk gelegt. Anschließend durften wir in den abgesperrten Bereich direkt vor der Bühne. Die Luft war jetzt schon stickig und der Lärm der vielen Menschen erdrückend laut. Ich mochte Konzerte, allerdings keine Menschenmassen. Ein Disput, dem ich regelmäßig gemeinsam mit Basti entgegentrat. Wir bahnten uns einen Weg in die Mitte, wo es nicht ganz so voll war, im Gegensatz zur Front Row, wo die Menschen bereits auf dem Boden saßen und ihre Plätze verteidigten. Ich kannte diese Kategorie Fans nur zu gut. Basti und ich besuchten viele Konzerte und es gab sie immer. Diese loyalen Anhänger, die sich vorher schon Nummern beim Warten auf die Hände schrieben, damit ihnen keiner den Platz wegnahm und fies dreinsahen, wenn man in die Nähe des vordersten Absperrgitters kam.

»Wie war denn dein Gespräch mit Maria?«, fragte Basti plötzlich, während ich mich im Saal umsah. Er musste sich tief zu mir hinunterbeugen und direkt in mein Ohr sprechen, um nicht zu schreien. Ich verzog enttäuscht das Gesicht und er wusste sofort Bescheid, wie meine Unterhaltung mit unserer Chefin gelaufen war. Maria war die Geschäftsführerin des Vienna Lifestyle Magazins, welches sich seit vielen Jahren gut verkaufte. Nach meinem Journalismus-Studium und einem Jahr Volontariat hatte ich seit zwei Jahren einen festen Vertrag in der Redaktion. Allerdings nicht als aufregende Kolumnistin, wo ich meiner Leidenschaft fürs Schreiben und Recherchieren nachgehen konnte, sondern im Layout. Ich besaß ein Talent für Design und das wurde mir in meiner Fünfjahresplanung zum Verhängnis. Ich machte den Job derart gut, dass ich nicht vorankam, um aufzusteigen. Sebastian hingegen war schon fast oben angekommen. Seit acht Jahren bewegte er sich zwischen der Prominenz, wie ein Fisch im Wasser und hatte schon für aufsehenerregende Storys gesorgt.

Begeisterte Schreie füllten jetzt die Halle, als das Licht gedämpft wurde und sich die weißen Scheinwerferkegel auf der Bühne zentrierten. Erwartungsvolle Stille folgte, die auch in mir ein Bauchkribbeln hervorrief. Basti trat einen Schritt zur Seite und nahm einen tiefen Schluck vom Bier. In seinem schwarzen Hemd sah man die Schweißflecken nur dann, wenn man genau suchte, während ich bereits aussah wie eine fleckige Aubergine in meinem lilafarbenen Shirt. Basti trug immer Hemden. Nur, weil wir auch zusammen in einer WG wohnten, hatte ich ihn schon mal in etwas anderem gesehen. Ich blickte hoch, als vier blutjunge Kerle auf die Bühne traten und die Menge sie applaudierend begrüßte. Der Support als Vor-Act, den ich gar nicht kannte. Sie strahlten über das ganze Gesicht, klatschten mit dem Publikum und nahmen uns beinahe ehrfürchtig zur Kenntnis. Ein androgyner Kerl mit blau-grünen Haaren platzierte sich hinter dem Mikrofon.

»Kennst du die?«, fragte ich Basti, der daraufhin mit den Schultern zuckte.

»Sind ganz frische Küken, die ihren ersten Plattenvertrag abgestaubt haben. Album gibt es noch keines, aber ein paar erfolgreiche Singles. Haben Connections zu Dark but it’s Rock und dürfen sich deshalb da oben vor Freude nass machen«, erklärte er im geschäftigen Tonfall. Als die Jungs loslegten, bemühten sie sich, das Publikum mitzureißen, doch ihr Rock kam bei mir nicht gut an. Außerdem sahen sie aus wie zwölf und irgendwie weckten sie eher Muttergefühle in mir als Rockstar-Fantasien. Dennoch heizten ihre rasanten Songs die Stimmung in der Halle an, während ich näher an Basti rückte und an seinem Ellenbogen zupfte. Er beugte sich wieder zu mir hinunter.

»Was denkst du, muss ich tun, um endlich eine eigene Rubrik zu bekommen und zu schreiben? Meine Seele verkaufen?«

Vor uns hüpften die jungen Musiker wild auf und ab und animierten die Zuschauer zum Mitmachen. Sebastian warf ihnen einen amüsierten Blick zu, drehte sich dann aber wieder zu mir. »Blödsinn Karo, du bist doch erst seit zwei Jahren bei uns. Es ist nun mal gerade keine Stelle frei. Irgendwann kommt deine Chance. Du musst einfach immer wieder die Initiative ergreifen und weiter Vorschläge für Beiträge machen. Jetzt hör auf an die Arbeit zu denken und feiere mit mir.« Er legte seinen Arm um meine Taille und drückte mich an sich. Ein Blick in seine dunkelbraunen Augen reichte aus, um die frustrierenden Gedanken zu vertreiben. Fortan trank ich mein Bier und riss die freie Hand in die Höhe, um mit den anderen die Jungs auf der Bühne zu begleiten. Obwohl es nicht ganz mein Musikgeschmack war, ließ ich mich darauf ein und spürte schnell, dass es mir nach dem Stress der letzten Woche guttat. Etwa eine halbe Stunde lang rissen sich die Neulinge den Arsch auf und gingen dann zufrieden und verschwitzt von der Bühne. Nur kurz schwoll daraufhin die Geräuschkulisse unter den Fans an, bis es erneut dunkel wurde. Als ich unsere leeren Becher auf den Boden stellte, begann das eigentliche Konzert. Jedes Mal bereitete es mir eine Gänsehaut, wenn Tausende Menschen gleichzeitig mucksmäuschenstill wurden, um gebannt auf eine Bühne zu starren. Wie mussten sich erst die Musiker fühlen, wenn alle Augen auf sie gerichtet waren? In den Schatten machte ich Schemen aus, die von der Seite der Bühne aus nähertraten und sich routiniert positionierten. Kurz darauf sprangen die Scheinwerfer an, um die Band grell in Szene zu setzen. Mittig stand der Sänger mit gesenktem Kopf hinter dem Mikrofon. Seine dunkelblonden Haare schimmerten im Licht, als hätte jemand Glitter hineingesprüht. Dramatisch langsam hob er das Kinn. Die Augen hielt er geschlossen, wodurch man auf der großen Videowall, seitlich der Bühne, die schwarzen Lidstriche gut erkennen konnte.

»Oh man, der finnische Rocker schlechthin«, rief ich aus und Basti gluckste.

»Aber Lauri hat’s drauf«, sagte er mit einem spitzbübischen Ausdruck im Gesicht.

Als der Sänger die Augen öffnete, erklangen die ersten Keyboardtöne hinter ihm. Die gesamte Band war aufeinander abgestimmt dunkel gekleidet. Zerrissene Jeans und Lederhosen, ärmellose Shirts sowie ein paar funkelnde Nieten. Ein Sammelsurium an Klischees aller Rockstars dieser Welt. Lauris finsterer Kajal-Blick schweifte einmal stoisch über das Publikum und allein das reichte schon aus, um ein schrilles Kreisch-Konzert in den vorderen Reihen auszulösen. Ich musste zugeben, seine Präsenz war ziemlich heiß. Er hob eine Hand, umfasste den Ständer des Mikrofons und holte tief Luft.

Ein unvorhergesehenes Kribbeln kroch über meinen gesamten Körper, als er die ersten Silben sang, oder eher raunte. Mit tiefer, vibrierender Stimme leitete er das Konzert ein. Nach und nach begleiteten ihn das Keyboard und die anderen Instrumente. Der Drummer schlug einen gemäßigten Takt an, der Bass kam hinzu. Der Gitarrist zupfte die ersten Saiten und ich musste mir über die Arme reiben, um das Prickeln abzuschütteln. Der Sänger löste das Mikrofon aus der Halterung, hob den Kopf weiter an und die Musik machte eine kurze spannungsvolle Pause. Zwei Atemzüge lang starrte er stechend geradeaus, ehe mit einem lauten Knall der Song explodierte. Ich zuckte quietschend zusammen, als die Musiker auf der Bühne energiegeladen loslegten. Das Publikum rastete aus und ließ sich voll und ganz auf den Rock ein. Ich hielt mir kurz durchatmend die Hand ans Herz, das wie wild schlug.

»Mach den Mund zu Karo, dir läuft der Sabber raus«, schrie mich Basti an, woraufhin ich tatsächlich meine Lippen schloss und schluckte. Ich brauchte noch ein paar Sekunden, um das Ganze zu verdauen, bis ich mich voll und ganz gehen ließ und abrockte.

»Der Gitarrist heißt Timo, der Drummer Nalle, der Bassist Mikko und der Kleine am Keyboard Niklas«, informierte mich Basti, doch ich merkte mir keinen einzigen Namen. Die Energie, die diese Finnen von der Bühne aus versprühten, war der Wahnsinn. Der Sänger rannte mit dem Mikro in der Hand von einer Seite auf die andere, ließ uns mitsingen und klatschen und fühlte offensichtlich jeden einzelnen Ton. Seine finstere Aura wich nur dann, wenn er zufrieden grinste oder frech zwinkerte. Er spielte die Rolle des düsteren Rockstars hervorragend. Nachdem der erste Song beendet war und ich bereits außer Atem keuchte vom Springen und Singen, schritt er wieder nach vorne und begrüßte seine Fans.

»Moi Wien!«, brüllte er und löste abermals Begeisterungsstürme aus. Danach hielt er sich nicht mit großen Reden auf, sondern warf seinen Freunden über die Schulter einen Blick zu. Daraufhin leitete der Drummer, der so klein war, dass man ihn kaum erkannte, mit rasanten Schlägen den nächsten Song ein.

Ich warf meine schwarzen Locken hin und her und genoss jede Minute. Mir rann der Schweiß zwischen den Schultern und den Brüsten hinunter und Durst brannte in meiner Kehle.

»Ich liebe sie!«, kreischte ich und Basti hob mir zustimmend seinen Daumen vors Gesicht. Auch er wippte im Rhythmus mit, schloss die Augen und stimmte in den Chorus mit ein. Er sah dabei mehr als nur cool aus. Basti war ein breit gebauter großer Mann, der auf sein Äußeres achtete und deswegen auch entsprechend gute Resonanz erzielte. Nur kurz verfiel ich ins Schwärmen für meinen besten Freund, bis Lauri auf der Bühne seine Lederjacke auszog und sie lässig nach hinten warf. Das zustimmende Gegröle der Frauen im Publikum war absolut verständlich, denn seine trainierten, feucht glänzenden Oberarme ließen auch mich begeistert die Augenbrauen hochziehen. »Wow«, entwich es mir und Basti stieß mich mit der Schulter von der Seite an, sodass ich mir fast auf die Zunge biss. Ich zuckte zusammen. »Hast du ihn mal angesehen?«, rief ich, woraufhin er die Augen verdrehte.

Wie Lauri im hautengen, durchgeschwitzten Tanktop auf der Bühne in die Hocke ging und leidenschaftlich mit tiefer Stimme sang, versetzte mich in einen inneren Aufruhr. Er sah wirklich attraktiv aus und bediente im Gegensatz zur Vorband meine Rockstarfantasien voll und ganz. Er war von der Statur her kein Cornetto … an ihm lecken könnte man allerdings durchaus. Dazu kam noch, dass er mit seiner Stimme verdammt gut umgehen konnte. Der Kajal-Finne hatte es drauf, so wie Basti es versprochen hatte.

Sie präsentierten uns eine Reihe von mitreißenden englischsprachigen Rockliedern, hatten dazwischen aber auch hinreißend schöne Balladen, die mich sofort berührten. Es war oberflächlich, doch obwohl die gesamte Band hervorragend harmonierte und performte, starrte ich wie ein begeisterter Teenager die ganze Zeit nur Lauri an. Auf der großen Leinwand blickte er mit dem markanten Gesicht in die Ferne. Ein Bartschatten zierte das Kinn und die dunkelblonden Haare strich er mehrmals schweißnass nach hinten. Blaue Augen vervollständigten den Mädchenschwarm-Look und ich ließ mich darauf ein. Es war befreiend einfach nur zu tanzen und dem Adrenalin freien Lauf zu lassen.

Nach fast zwei Stunden war ich trotzdem froh, dass das Konzert ein Ende fand, denn ich war fix und fertig. Die Kleidung klebte an mir und meine Füße brannten. Mir schmerzte der Rücken und auch die Arme und ich spürte, dass mein Hals kratzte.

»Oh mein Gott war das geil!«, krächzte ich vollkommen überfordert mit meinen Emotionen. Basti hatte sich sogar die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und ein dünner Schweißfilm zierte seine Stirn. Ich tänzelte ausgelassen um ihn herum, was ihn zum Lachen brachte.

»Ich danke dir! Das war genau das, was ich gebraucht hatte.«

Es dauerte eine Weile, bis sich die Menge in der großen aufgeheizten Halle auflöste. Nur langsam schlenderten die Zuschauer nach draußen. Von den Tribünen aus ging es noch schleppender voran und im Foyer bei der Garderobe staute es sich.

»Ich bin am Verdursten. Lass uns noch einen Spritzer trinken, bis sich die Lage beruhigt hat«, schlug ich vor, weil ich wusste, dass die Öffis und Taxis kurz nach jedem Konzert voll waren. Wir bahnten uns einen Weg zur Bar, die etwas abseits vom Trudel in der Halle platziert war und orderten unseren Wein. Sitzplätze waren keine frei, daher lehnte ich mich erschöpft auf den Stehtisch, bis Basti mit zwei Gläsern zurückkam.

»Für dich mit extra Zitronenscheibe«, sagte er. Außerdem brachte er uns Mineralwasser mit, das ich sofort gierig leerte. Der erste Schluck vom prickelnden Wein danach verbesserte meinen Zustand spürbar. Basti holte sein Handy hervor, was mich nicht störte, weil ich es von ihm gewohnt war. Ohne hinzusehen, wusste ich, dass er bei Instagram nach Fotos, Videos und Berichten über das Konzert suchte. Ganz der Journalist aus dem Kulturbereich, oder wie ich ihn immer nannte: Mr. Klatschtante.

Die Halle leerte sich und mir gingen die Energiereserven endgültig aus. Zwei Spritzer später war mein Kopf schwammig von der Kombination aus Alkohol und Müdigkeit.

»Ich gehe noch schnell auf die Toilette und dann hole ich unsere Sachen von der Garderobe«, versprach er.

Fast wäre ich im Stehen eingeschlafen und schreckte daher merklich hoch, als Basti mir meinen Mantel fürsorglich um die Schultern legte. »Fahren wir doch mit dem Taxi nach Hause«, schlug er vor und ich nickte gähnend.

Aneinander gelehnt verließen wir die Stadthalle, wo mir in der Kälte kurz der Atem stockte, als die eisige Luft auf meinen überhitzten Körper traf. Rasch zog ich den Mantel richtig an und vergrub die Hände in den Taschen. Auf dem großen Platz war es längst nicht mehr so überfüllt, wie vor dem Konzert. Mit langsamen Schritten bugsierte er mich mit einer Hand auf meinem Rücken zur Straße.

»Bin ich froh, dass wir Gleitzeit haben und morgen ausschlafen können«, murmelte ich noch mal gähnend und fantasierte bereits von meinem flauschigen Bett. Basti hatte mir schon in meiner ersten Arbeitswoche angeboten, bei ihm in der Wohnung einzuziehen. Obwohl er fünf Jahre älter und erfahrener im Business war, hatten wir uns von Anfang an gut verstanden. Weil er ein gutes Herz besaß, hatte er mir sofort vorgeschlagen, bei ihm Untermieterin zu werden, als ich aus meinem Studentenwohnheim raus musste. Außerdem hatte ich ihn mit einem Punschkrapfen bestochen. Es funktionierte problemlos, weil wir ein eingespieltes Team waren und uns genügend Freiraum ließen.

Ein schrilles, euphorisches Kreischen riss mich aus meinen Erinnerungen. Ich schreckte hoch, stolperte und Sebastian fing mich auf.

»Was war das?«, fragte ich desorientiert. Basti lachte und drehte uns nach rechts.

»Das sind Fans, die hoffen, dass sich jemand erbarmt, ein Selfie mit ihnen zu machen. Kennst du doch. Das obligatorische Warten auf die Stars.«

Tatsächlich versammelten sich ein paar Gestalten in dicken Jacken und Mänteln seitlich bei der Stadthalle. Sie wären mir kaum aufgefallen, wenn sie jetzt nicht hektisch ihre Köpfe herumrissen, laut kicherten und quietschten. Basti schob mich vorsichtig weiter. Wäre ich nicht so fertig gewesen und vom Wein angesäuselt, hätte ich wahrscheinlich eher bemerkt, dass er uns mitten hinein manövrierte.

»Du mieser kleiner …«, zischte ich, doch er drückte mir einen Kuss auf die Wange und schmiegte sich an mich, um mich zu wärmen. Es war klar, dass Sebastian sich mitten ins Geschehen schummeln wollte. Er war zwar schon eine Liga höher und musste seinen Interviewpartnern nicht mehr auf der Straße auflauern, aber so eine Chance konnte er sich nicht entgehen lassen.

Aus einem unscheinbaren Ausgang, nur von einer flackernden Neonröhre beleuchtet, trat nun eine plaudernde Gruppe in die Kälte hinaus. Die Stimmen verstummten schnell, als sie die Wartenden entdeckten. Wir standen zwar nicht in vorderster Reihe, aber durch die nervös wackelnden Köpfe, hatte ich einen guten Blick. Zunächst glomm nur die Spitze einer brennenden Zigarette rot auf. Erst als diverse Handydisplays aufblitzten und die Männer ausleuchteten, konnte man Umrisse erkennen. Nicht, dass ich irgendjemanden hätte identifizieren können, aber ein schrill geschrienes »LAURIII«, dicht neben meinem Ohr, sorgte für Klarheit. Plötzlich stützte sich eine Frau auf meiner freien Schulter ab, nur um noch höher springen zu können.

»Oh mein Gott, siehst du ihn? Wie sieht er aus? Hat er uns bemerkt?«

Basti schob sich zwischen uns, damit sie von mir abließ. Ich hob einen Finger und ließ ihn in kreisenden Bewegungen neben meinem Kopf rotieren. Das beschrieb die Umlaufbahn des kleinen Vögelchens, das dieser Frau gerade durch die Hirnwindungen flog und mit den gerupften Federn verstopfte. Ich war ein eher pragmatischer Mensch und durch Bastis Arbeit schon mit einigen prominenten Menschen in Berührung gekommen. Sich als Fan für etwas zu begeistern, empfand ich als vollkommen legitim. Vor der Bühne war ich gern die leidenschaftliche Schwärmerin. Es ist Teil des Spiels und des Spaßes, abseits aller Scheinwerfer waren das aber alles nur Menschen, die den Fantasien meist überhaupt nicht entsprachen. Hinter die Fassade zu blicken ernüchterte einen oft.

Die Gruppe Männer schlenderte unbeeindruckt an uns vorbei. Auch mein Promi-geiler Kumpel bekam nicht viel zu sehen, denn sie blickten nicht einmal auf. Ihre Mützen waren tief in die Gesichter gezogen und meist verdeckte ein Schal oder ein Jackenkragen den Rest. Die Straßenbeleuchtung reichte nicht aus, um mehr erkennen zu können. Statt einer Mütze, schützte Lauri eine weite Kapuze vor den Blicken der Fans. Er zog an der Zigarette, sodass man seinen verkniffenen Mund erahnen konnte. Die Mädchen hüpften, winkten und riefen Namen, doch es folgte keinerlei Reaktion. Ihr Ziel war ein großer Nightliner; ein riesiger Bus, der links von uns auf dem Platz parkte und abfahrbereit den Motor startete. Die Scheinwerfer leuchteten grell auf und blendeten mich. Fast hatte die Band ihn erreicht, als ein unbekanntes Objekt nach vorne flog und Lauri direkt an der Schläfe traf, sodass ihm vor Schreck die Zigarette aus dem Mund fiel. Ein Elch klatschte schmatzend in eine Pfütze. Kein echter, sondern einer aus Plüsch mit Glitzergeweih. Kurz wurde es leise, weil Lauri abrupt stehen blieb und das flauschige Ding ein paar Sekunden lang neugierig musterte. In Zeitlupe bückte er sich und hob es auf. Als er sich in unsere Richtung drehte, waren bereits zig Handykameras auf ihn gerichtet. Die Kapuze verrutschte und enthüllte sein ausdrucksloses Gesicht. Seine Schminke war verschmiert und er hatte die Stirn in tiefe Falten gezogen. Nur kurz streifte sein Blick mich, doch ich zuckte trotzdem schuldbewusst zusammen.

Niemand bekannte sich zum Elch. Ein anderer Mann, viel kleiner und gedrungener, vermutlich der Drummer, schritt zu Lauri und nahm ihm das Kuscheltier aus der Hand. »Kiitos Paljon«, rief er uns zu. Von Lauri war kein Mucks zu hören.

Kurz danach verschwand die gesamte Gruppe im Bus, ohne auch nur ein Foto gemacht zu haben. Basti seufzte, als er sich seine eigene Paparazzi-Ausbeute ansah. »Na ja, besser als nichts.«

Die Fans verharrten an Ort und Stelle, als der Bus mit knirschenden Reifen losfuhr. Nörgelnd zog ich Basti weiter zur Straße.

Auf dem Rücksitz eines Taxis lehnte ich meinen Kopf gegen Basti. »Danke noch mal für die Karten. Es war wirklich befreiend, ich brauche offenbar dringend Urlaub.« Der ständige Druck endlich voranzukommen, lastete schwer auf mir. Ich arbeitete oft bis spät in die Nacht, um neben meinen normalen Layout-Aufträgen, Berichte über Reisen, spannende politische Ereignisse oder einfach nur Events in Wien zu verfassen. Ich versuchte mich in allen Themen, doch nichts davon fruchtete bei Maria.

Basti nickte langsam, scrollte aber immer noch durch Bilder und Videos. »Ja, ich auch. Es wäre schön, mal wieder aus der Stadt herauszukommen und etwas anderes zu sehen.«

Ein paar schweigsame Minuten verstrichen, in denen nur der Handy-Navigator des Taxifahrers leise Anweisungen sprach und ich eindöste. Plötzlich ging ein Ruck durch Basti und er blickte triumphierend von seinem Telefon auf. Blinzelnd glitt ich zurück in die Realität.

»Was hältst du davon Skifahren zu gehen?«

Träge hob ich den Kopf und kämpfte gegen meine schweren Augenlider an. »Wie bitte? Auf dem Schneeberg?«

Er lachte laut auf, verneinte aber. »Blödsinn. Das wäre ja wohl kaum Urlaub. Ins finnische Lappland! Bei meinen Recherchen zur Band von heute habe ich ein bisschen was über Finnland aufgeschnappt. Wir könnten doch die Tage zwischen Weihnachten und Silvester freinehmen und dorthin fliegen.«

Ich blinzelte noch ein paar Mal perplex, um darüber nachzudenken, was er gesagt hatte. »Finnland? Lappland?«, wiederholte ich ungläubig.

Er zuckte mit den Schultern. »Wieso denn nicht?«

Ich schnaubte und richtete mich auf. »Weil ich vor allem keinen Geldesel daheim auf dem Balkon halte, der Euros kackt. Ich kann mir das nicht leisten.«

Dieses Mal schnaubte er. »Wir finden schon einen Weg. Ich spendiere dir den Flug und wir tun so, als wäre das dein Weihnachtsgeschenk. Das obligatorische Parfum kriegst du heuer halt nicht. Vielleicht schießt das Magazin ja etwas zu, wenn wir ein paar hübsche Fotos von verschneiten Bäumen als Urlaubsbeitrag verwenden. Eventuell darfst du sogar etwas dazu schreiben. Zwei Wiener im Schnee … neueste Mode im Lappland, jetzt auch in Wien, oder etwas in der Art.«

Sein Vorschlag klang albern, aber nicht unmöglich. Wenn man ein Mittagessen mit Basti als Businesstalk abtun konnte, gab es auch eine Chance für Schneefotos. Ich freundete mich augenblicklich mit romantisch weißen Landschaften und finnischen Holzhauscharme an.

Kapitel 1

Begegnung mit Einheimischen

Drei Wochen später, am ersten Weihnachtsfeiertag, begann unsere Reise ins finnische Lappland. Sebastian hatte sich ins Zeug gelegt, um diesen Urlaub zu organisieren. Er sprach zwar von einer romantischen Hütte im Wald, doch ich kannte seine Ansprüche. In einem bescheidenen Häuschen mit Plumpsklo würden wir gewiss nicht residieren.

Nach knapp zwei Stunden Flug in einem ausgebuchten Finnair-Flieger, waren wir in Helsinki gelandet. Nun stand ich hier und starrte die auserwählte Tafel Schokolade im Automaten an, die nicht herausfiel, obwohl ich schon drei Mal eine Münze eingeworfen und am Automaten gerüttelt hatte. Der Flughafen Helsinki-Vantaa war klein, aber modern. Es gab nur zwei Terminals und ich hatte die Wege innerhalb von fünfundvierzig Minuten abgelaufen. Das Interessanteste war eine authentische Weihnachtshütte samt echtem Christbaum auf Kunstschnee, hell beleuchtet und geschmückt zwischen den Shops. Darin wurden regionale weihnachtliche Designerstücke ausgestellt. Mickrige dreißig Minuten hatte mich das unterhalten, blieben also nur noch zwei Stunden Wartezeit, bis unser Anschlussflug in den Norden ging. Ich seufzte gelangweilt. Basti schlief auf einem Kunststoffstuhl in verrenkter Haltung tief wie ein Baby. Wie bei uns herrschte hier in der Ferienzeit reger Betrieb auf dem Flughafen. Unzählige Familien waren auf den Weg in den Urlaub. Stimmengemurmel, das Rumpeln von Kofferrollen und Durchsagen in verschiedenen Sprachen erfüllten die langen Gänge. Ein Weihnachtsmann verteilte Süßigkeiten und ich war kurz davor meinen Stolz zu überwinden, um mir etwas davon zu holen, weil der Automat mir den Zucker verweigerte. Draußen war es stockduster, doch beim Landen war mir die dicke weiße Schneeschicht aufgefallen, ausgeleuchtet von den Flughafenscheinwerfern.

»Ach komm schon! Sei lieb und gib mir die Schokolade. Du willst es doch auch«, redete ich auf die störrische Maschine ein, nahm die Münze aus dem Retourenfach und rieb sie mit der Oberfläche am Automaten, um sie anschließend wieder langsam hineingleiten zu lassen. Sie rutschte durch und ich knurrte. Als ich nach anderen Münzen kramte, griff plötzlich ein langer Arm von hinten über meine Schulter hinweg. Ich erschrak, da drückte der Mann bereits eine Karte gegen den Scanner und brachte ihn zum Piepsen. Für mich hatte das Ding nicht einmal geknackst.

»Was möchtest du?«, fragte er mit seltsamem Akzent. Ich drehte mich überrascht um und schaute hoch in ein ansehnliches Männergesicht. Sehr groß, sehr blond und sehr attraktiv war der Gesamteindruck.

»Habe ich das richtig gesagt? Du kommst aus Deutschland, oder?«, fragte er. Sein Anblick kam mir irgendwie bekannt vor, zuordnen konnte ich meine Gedanken dazu aber nicht. Überrumpelt schüttelte ich den Kopf. »Ich will diese blaue Schokolade mit den Geistern drauf und nein, ich komme nicht aus Deutschland, sondern aus Österreich!«

Lächelnd drückte er die passende Nummer auf dem Bedienfeld und endlich spuckte dieser meine Wahl aus. Der Fremde bückte sich und reichte sie mir.

»Die Automaten hier am Flughafen sind kompliziert mit Bargeld. aber mit Karte lässt sich fast alles bezahlen«, erklärte er jetzt auf Englisch. Er trug einen engen grauen Pullover und eine lockere Jeans. Absolut unauffällig, mein Déjà-vu Gefühl blieb aber.

»Dankeschön«, sagte ich glücklich mit der Schokolade in der Hand. Von Fremden sollte man keine Süßigkeiten annehmen, aber manchmal durfte man Ausnahmen machen.

»Das sind übrigens keine Geister, sondern Hippos. Moomins«, korrigierte er mich schmunzelnd und zog sich selbst zwei Päckchen Fruchtgummi.

»Du sprichst gut Deutsch«, lobte ich ihn, obwohl ihm Englisch deutlich leichter fiel.

»Meine Verlobte kommt aus Deutschland, aber ich lerne noch. Ich bin Jari, freut mich.« Er reichte mir seine große Hand, die ich erfreut ergriff. »Macht ihr Urlaub hier?«

»Ja, aber wir müssen noch rauf in den Norden. In einen Ort, den ich nicht aussprechen kann. Wir wollen Skifahren … oder einfach vor einem Kaminfeuer sitzen und viel trinken und essen.«

»Jari!«, rief jemand unüberhörbar laut seinen Namen. Er sah nach hinten, winkte und verdrehte grinsend die Augen. »Sorry, ich muss zurück. Hat mich gefreut und viel Spaß beim Skifahren«, sagte er, bevor er sich abwandte. Er gesellte sich zu seinen Freunden, die an einem Tisch, der voll beladen mit Tabletts und Essen war, warteten. Bei seiner Ankunft, zeigte er mit einer Hand auf mich. Prompt ruckten alle Köpfe in meine Richtung. Vor Schreck stolperte ich zurück, nur um um Haaresbreite einem Kinderwagen auszuweichen. Die Mutter meckerte mich in Russisch an, obwohl ich mich rasch entschuldigte. »Sorry.« Nachdem sie weg war, blickte ich zurück zum Tisch. Dort stand ich nach der Showeinlage erst recht im Fokus. Instinktiv hob ich meine Hand zum Gruß und winkte krampfig aus dem Handgelenk heraus. Ich sah aus wie eine dieser japanischen Glückskatzen. Wie doof war das denn? Während Jari amüsiert lachte und zurückwinkte, starrten mich die anderen neugierig an. Einer von ihnen zog Jari sichtlich genervt am Ellenbogen, damit er das Blickduell mit mir beendete. Das war das Zeichen, mich etwas weniger peinlich zu verhalten und zurück zu Basti zu gehen.

Mit hochgezogenen Schultern flitzte ich an ihnen vorbei, stur geradeaus starrend. Weit kam ich allerdings nicht, denn ein lautes Scheppern ließ mich erschrocken zusammenfahren. Ich biss mir in die Wange, strauchelte und stolperte über einen Koffer. Wenn das so weiter ging, mutierte ich noch zur allgemeinen Gefährdung an diesem Flughafen. Einer von Jaris Begleitern stand über den Tisch gebeugt da, sein Gesicht durch eine Kapuze verborgen, mit der flachen Hand auf dem Tablett. Cola rann tröpfelnd aus einer umgeworfenen Flasche zu Boden, während Jari und seine Freunde versuchten, das Schlimmste mit Papierservietten zu verhindern. Es wurde geflucht, gleichzeitig beschwichtigt und diskutiert. Davon abgelenkt bemerkte ich die drei Frauen erst jetzt, die zusammengedrängt danebenstanden. Jari lächelte sie an und schien sich zu entschuldigen, verstehen konnte ich sie nicht. Auch seine Kumpels sprachen auf sie ein.

Der Kapuzenmann hingegen ignorierte die Sauerei einfach und stampfte davon … genau auf mich zu. Zumindest stand ich wie angewurzelt im Weg, denn unter seinem Pullover hielt er das Kinn gesenkt und starrte auf den Boden. Mit eiligen Schritten näherte er sich mir so schnell, dass die Kapuze nach hinten rutschte und seinen dunkelblonden, zerzausten Kopf freigab. Wir beide sahen uns erschrocken an, wobei ich die Reaktionszeit einer Weinbergschnecke hatte. Er griff strauchelnd nach meinem Arm, ich ebenso nach seinem und presste ihm dabei die Schokolade gegen den Bauch. Durch das Plastik hindurch fühlte ich, wie sie sich verformte.

»Entschuldigung«, murmelte ich, doch das brachte mir nur einen skeptischen Blick ein. Der Mann sah mir direkt in die Augen und zog dabei die Stirn tief in Falten. Auch jetzt durchdrang mich erneut das Gefühl des Wiedererkennens. Dieses Mal arbeiteten meine Gehirnwindungen schneller. Ohne Glitter im Haar, in einer normalen Jeans und vor allem ohne Schminke … das war der Kajal-Rocker Lauri. Jener Rockstar, der Basti überhaupt erst zu dieser Reise inspiriert hatte. »Hi«, platzte es aus mir heraus, weil ich nicht nur stumm dastehen konnte. Sein Blick bescherte mir ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Als er mich abrupt losließ, krallte ich mich in die Tafel, damit sie nicht runterfiel.

»Schokolade?«, fragte ich piepsig. Gerechtfertigterweise weiteten sich Lauris Pupillen. Zeitgleich trat er einen großen Schritt zurück. Im Gegensatz zur angeschmolzenen Schokolade, die jetzt vermutlich die Form seines Bauchnabels angenommen hatte, stand ich stocksteif da. Ohne darauf einzugehen, wandte er sich kommentarlos ab. Vermutlich hatte auch er gelernt, von seltsamen fremden Frauen nichts Süßes anzunehmen. Verstört von dieser skurrilen Szenerie setzte ich meinen Weg zu Basti fort. Ein Finne in Helsinki war nicht sonderbar, trotzdem sah ich weiterhin Lauris misstrauisches Gesicht vor mir. Vielleicht war er allergisch auf Schokolade?

Basti war wieder wach, streckte sich ächzend in dem zu kleinen Sitz und sah mich verschlafen an.

»Wie spät ist es?«, murmelte er.

Ich ließ mich neben ihm nieder und schleckte die weiche Bauchnabel-Schokolade aus der Verpackung. »Noch eine Stunde bis zum Boarding.«

»Alles in Ordnung Karo? Dein Gesicht ist so rot.«

Schmatzend nickte ich langsam. »Ja, ziemlich langweilig und heiß hier«, antwortete ich betont lässig, ohne meine Begegnung mit den Einheimischen zu erwähnen.