Kapitel 1
Von seinem Versteck in der Nähe des prächtigen Stadthauses des Marquis of Ormsby am Grosvenor Square aus verfolgte Asher Cordell das Kommen und Gehen der vielen eleganten Kutschen, die sich auf der Straße vor dem hell erleuchteten Gebäude drängten. Alle Mitglieder der guten Gesellschaft, die Ende Juni noch in der Stadt weilten und zudem das Glück gehabt hatten, eine Einladung zu Lord Ormsbys jährlichem Maskenball zu erhalten, waren heute Abend hier versammelt. Vor über zwei Jahrzehnten hatte Lord Ormsby mit diesem Maskenball begonnen, und mit der Zeit wurde er zum Signal dafür, dass die Saison vorüber war. Nach diesem Abend würde sich der Großteil der vornehmen Gesellschaft bis in die entferntesten Ecken des Königreiches zerstreuen, um den Rest des Sommers auf ihren jeweiligen Landsitzen zu verbringen.
Nach Londoner Standards war es noch früh, kaum Mitternacht, und Asher entschied, dass er genug Zeit verschwendet hatte, sich zu vergewissern, dass alles so ablief, wie es sollte. Die Aufgabe, die er heute Nacht bewältigen wollte, war nicht sonderlich schwer. Es war ein einfacher Einbruch mit Diebstahl – für ihn ein Kinderspiel. Er hatte schon zwei Probeläufe unternommen und war – davon war er überzeugt – in der Lage, selbst mit verbundenen Augen ohne Schwierigkeiten seinen Weg über die Gartenmauer auf der Rückseite des Gebäudes und dann durch die für Londoner Maßstäbe ausgedehnten Gärten in Lord Ormsbys Bibliothek zu finden. Am Vorabend hatte er während des letzten Übungsganges mitten in der dunklen Bibliothek des Hausherrn gestanden und flüchtig erwogen, gleich da das berühmte Ormsby Diamanten-Halsband zu stehlen. Letztlich hatte er sich jedoch dagegen entschieden. Aus einer Laune heraus einen Plan zu ändern konnte, so hatte er am eigenen Leibe erfahren, fatale Komplikationen nach sich ziehen.
Im Schatten seines Versteckes verzog Asher das Gesicht. Himmel! Die Ereignisse im vergangenen Frühling auf Sherbrook Hall hatten das eindrucksvoll bewiesen, und er fragte sich unwillkürlich, ob das Endergebnis anders gewesen wäre, wenn er an seinem ursprünglichen Plan festgehalten hätte. Er seufzte. Vermutlich nicht. Collard hatte nichts Gutes im Schilde geführt; es ließ sich nicht sagen, wie es ausgegangen wäre. Schlimm genug, dass Collard diesen unangenehmen Wicht Whitley umgebracht hatte. Schlimm genug, dass er selbst Collard erschossen hatte, auch wenn er es aus Notwehr hatte tun müssen.
Er schüttelte die Erinnerung ab und konzentrierte sich auf die Aufgabe vor ihm. Dies würde sein letzter Diebstahl sein, rief er sich ins Gedächtnis, das letzte Mal, dass er so ein Risiko auf sich nahm. Nach dieser Nacht würde er sich nach Kent zurückziehen und seine Tage damit verbringen, die Leitung seiner Besitzungen zu übernehmen und endlich der angesehene und allseits geachtete wohlhabende Grundbesitzer zu werden, für den ihn alle Welt bereits hielt.
Eifrig darauf bedacht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, wollte er gerade um die Ecke auf die Rückseite des Gebäudes schlüpfen, als er den letzten Wagen erkannte, der soeben vor Ormsbys Türen anhielt. Das Gefährt war schon in die Jahre gekommen und wurde von vier wenig beeindruckenden Braunen gezogen, aber sobald es zum Stehen kam, nahmen die herumstehenden Gentlemen in ihrer makellosen Abendkleidung Haltung an, als seien königliche Herrschaften eingetroffen.
Asher musste grinsen. Wer hätte je gedacht, dass die achtzehnjährige Thalia Kirkwood London im Sturm erobern würde? In den vergangenen Monaten waren immer wieder Gedichte auf ihre Schönheit verfasst worden. Ihretwegen erlebten die Blumenstände in ganz London einen Aufschwung, weil ihre eifrigen Bewunderer sich darin zu übertreffen suchten, duftende farbenfrohe Blütenbouquets in das verhältnismäßig bescheidene Haus gleich neben dem Cavendish Square zu senden, das ihr Vater, der eher zurückhaltende Mr Kirkwood, für die Saison gemietet hatte. Man sagte, dass mindestens ein Duell wegen der reizenden Thalia ausgefochten worden war, und die Gerüchteküche behauptete, ihr Vater habe seit Mai wenigstens ein Dutzend Heiratsanträge abgelehnt – allesamt von in jeder Hinsicht infrage kommenden liebeskranken Herren, einige davon sogar mit Aussicht auf einen Titel. Mit unverhohlenem Missfallen und mit langen Gesichtern hatten viele junge Männer zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Wetten in den Herrenklubs im Moment dafür standen, dass noch bevor die Familie am Ende der Woche nach Kent zurückkehrte, Thalias Verlobung mit dem Earl of Caswell bekannt gegeben werden würde.
Offiziell handelte es sich bei dem heutigen Ereignis zwar um einen Maskenball, aber allgemein gab man sich wenig Mühe, sich zu verkleiden. So war auch Thalias weibliche Figur kaum zu verkennen, während sie gemessen die Stufen zum Hauseingang hinaufstieg und ihr silberhelles Haar im Licht der Fackeln schimmerte. Ihr Samtumhang war saphirblau, was den perfekten Kontrast zu ihrer blonden Schönheit abgab, und die Farbe ließ, wie er wusste, das Eisblau ihrer Augen aufleuchten. Die Herren umschwärmten sie wie Bienen eine duftende Blüte, die Diener verneigten sich und machten einen Kratzfuß, während sie die schwere Eingangstür für sie aufrissen.
Beinahe unbeachtet in dem Durcheinander, das Thalias Weg begleitete, blieb, dass ihre verwitwete ältere Schwester Juliana aus der Kutsche stieg. Obwohl ihr Ehemann inzwischen schon vier Jahre tot war, erschrak Asher immer, wenn er daran dachte, dass sie nun verwitwet war. Seine Lippen zuckten, als er beobachtete, wie sie die Falten ihres blassgrünen Kleides raffte. Mit ihren achtundzwanzig Jahren sah er sie immer noch in einem ganz ähnlichen Licht wie seine beiden jüngeren Schwestern, auch wenn er gerade mal fünf Jahre älter war. Sich allein schon vorzustellen, dass Juliana verheiratet war, war ihm nicht ganz leichtgefallen. Er schüttelte den Kopf. Verflixte Schande, dass ihr Ehemann, der jüngere Sohn eines Baronets mit ausgedehnten Ländereien in Hampshire, nur drei Jahre nach der Hochzeit an Schwindsucht gestorben war. Es gab keine Kinder, dennoch war Juliana bestens versorgt gewesen und hatte sich kurz nach dem Ableben ihres Gatten ein reizendes Anwesen gekauft, das nur knapp fünf Meilen auf der Landstraße von dem Zuhause entfernt lag, in dem sie aufgewachsen war. Da ihre Mutter schon lange nicht mehr lebte, war Juliana schon bald nach ihrer Rückkehr wieder in die Rolle einer Ersatzmutter für ihre jüngere Schwester geschlüpft. Weil Mr Kirkwood die endlose Abfolge von Abendgesellschaften und Bällen verabscheute, die für die erfolgreiche Londoner Saison einer jungen Dame unabdingbar waren, hatte sie für diese Zeit auch die Rolle der Chaperone ihrer jüngeren Schwester übernommen. Die Vorstellung, dass Juliana für irgendjemanden Anstandsdame spielte, war völlig absurd, soweit es ihn betraf, denn er musste unwillkürlich an einige ihrer jugendlichen Streiche denken. Wenn jemand einen Anstandswauwau brauchte, dann war es die ältere und nicht die jüngere der beiden Schwestern.
Aus schmalen Augen verfolgte er, wie Juliana, eingerahmt von je einem eleganten Gentleman, hinter ihrer Schwester die Stufen hinaufging. Ihr Umhang hatte einen weichen Lavendelton; sie war genauso groß wie ihre jüngere Schwester und bewegte sich mit der gleichen Anmut. Man konnte einen flüchtigen Blick auf ihr schwarzes Haar erhaschen, als Juliana unter den Fackeln zu beiden Seiten der Tür schritt, dann war sie seinen Blicken entschwunden.
Asher ärgerte sich über sich selbst, dass er sich von Thalias und Julianas Ankunft hatte ablenken lassen; er gab sich einen Ruck und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Nach einem letzten prüfenden Blick auf die Umgebung begab er sich zu dem Weg, der auf der Rückseite der prunkvollen Häuser entlanglief, die den Platz säumten. Seine dunkle Kleidung ließ ihn beinahe unsichtbar werden, sodass er wie ein Schatten an der Mauer entlangglitt. Er gelangte zu dem Bereich, in dem die Mauer die rückwärtige Grenze von Ormsbys Garten bildete, und schaute sich noch einmal gründlich um. Da er nichts entdecken konnte, was ihn beunruhigte, schwang er sich über die Steinmauer und landete beinahe lautlos auf der anderen Seite. Ein paar Schritte von der Stelle entfernt, an der er stand, befand sich der Händler- und Dienstboteneingang des Hauses, und im schwachen, flackernden Licht der kleinen Fackel über der Tür konnte er erkennen, dass alles verlassen lag.
Ausgezeichnet, dachte er, während er sich erneut langsam umsah. Es war unwahrscheinlich, dass es unter den Dienern heute Nacht heimliche Stelldicheins geben würde – aus Erfahrung wusste er, dass alle Dienstboten im Haus, sogar die, die eigens für den heutigen Ball angestellt worden waren, viel zu sehr damit beschäftigt sein würden, sich um die aristokratischen Gäste zu kümmern, als dass sie für eine Tändelei Zeit gehabt hätten.
Mühelos fand er die Tür zur Bibliothek, und innerhalb von zwei Minuten, nachdem er über die Mauer gestiegen war, war er in Lord Ormsbys Allerheiligstes vorgedrungen. Er wartete reglos, suchte mit den Augen das Zimmer ab. Ein schwacher Lichtschimmer drang unter der Tür zum Flur ins Innere des Hauses hindurch und unterbrach das sonst undurchdringliche Dunkel. Schwarze Schatten ragten hier und dort auf, aber er war mit der Einrichtung gut genug vertraut, sodass er sicher den Raum durchquerte und zum kunstvoll mit Schnitzereien verzierten Schreibtisch gelangte, der vor mehreren bodenlangen Fenstern stand.
Er hatte Ormsbys Versteck bereits in der ersten Nacht gefunden, in der er ins Haus eingebrochen war – wobei „eingebrochen“ nicht ganz das richtige Wort dafür war, weil er lediglich die Tür hatte aufstoßen müssen und einfach die Bibliothek betreten konnte. Er hatte während seiner Beobachtung der Tagesabläufe im Ormsby‘schen Haushalt festgestellt, dass es bis auf die Eingangstür vorne und die Tore auf der Rückseite des Gebäudes nichts gab, was jemanden aufgehalten hätte, der sich dem Haus mit unlauteren Absichten näherte. Das Haus war wie eine überreife Frucht, die darauf wartete, gepflückt zu werden. Er grinste. Was seine Aufgabe umso leichter machte. Er zog die unterste Schublade auf der rechten Seite des Schreibtisches heraus; seine geschickten Finger machten mit dem Geheimversteck dahinter kurzen Prozess. Eine Mischung aus Hohn und Genugtuung glitt über seine Züge. Glaubte Ormsby eigentlich wirklich, dass ein kluger Dieb das Versteck und dessen Inhalt nicht entdecken würde?
Asher brauchte kein Licht, um die berühmte Ormsby-Diamantkette zu finden, die Größe der Edelsteine und das schwere Gewicht des Schmuckstückes verrieten es ihm, sobald er es berührte. Er hatte das Halsband in Wirklichkeit nie selbst zu Gesicht bekommen; genau genommen war es bis auf die paar Gelegenheiten, zu denen der gegenwärtige Marquis es seinen verschiedenen Bekannten gezeigt hatte, in den vergangenen fünfzig Jahren nicht in der Öffentlichkeit zu sehen gewesen, also nicht mehr seit dem Tod von Ormsbys Mutter. Aber Asher hatte es auf Lady Marys Portrait betrachten können, die die erste Marchioness von Ormsby gewesen war und deren Gemälde in der großen Galerie in Ormsby Place hing.
Obwohl er sich das Halsband genau angesehen hatte, denn es war schließlich ziemlich berühmt, hatte er nicht daran gedacht, es zu stehlen … damals noch nicht. Wie ein pflichtbewusster Gast hatte er das Gemälde betrachtet, hatte sich mit erfahrenem Blick die Größe und Ausstrahlung der Diamanten eingeprägt, die sogar im Bild noch bemerkenswert war. Nein, da hatte er nicht vorgehabt, es zu stehlen, und er wäre heute Nacht auch nicht hier, um es aus der Geheimschublade zu nehmen und in die eigens dafür genähte Tasche seines Rockes zu stecken, wenn Ormsby nicht …
Sein Mund wurde schmal. Es war einer seiner Grundsätze, von niemandem zu stehlen, den er kannte, und er neigte auch nicht dazu, einen Groll gegen andere zu hegen, vor allem gegen Nachbarn nicht, auch wenn sie unerträglich eitel, arrogant und lästig waren, aber in Ormsbys Fall war er willens, eine Ausnahme zu machen. Der Bastard hätte nicht den Lieblingshund meiner Großmutter erschießen sollen, überlegte er grimmig.
War es kleinlich, ein unbezahlbares Familienerbstück wegen eines toten Hundes zu stehlen? Asher zuckte die Achseln. Vielleicht. Aber es würde lange Zeit dauern, bis er die untröstliche Miene seiner Großmutter würde vergessen können, als der leblose Körper ihres ältlichen Spaniels, ihrem vertrauten Gefährten und Freund seit vielen Jahren, von einem der Stallburschen Ormsbys vor ihren Füßen abgeladen worden war.
Mit der ganzen Arroganz seines Herrn hatte der Bursche gesagt: „Mylord lässt sein Bedauern ausrichten. Er hat das Tier auf der Straße gesehen und dachte, es sei der Hund, der in letzter Zeit Hennen gerissen hat; er hat ihn erschossen, ehe er bemerkt hatte, dass es Ihr alter Captain war.“
Asher hatte neben seiner Großmutter gestanden, die Hände zu Fäusten geballt, und mit Mühe den Drang niedergekämpft, loszugehen und Lord Ormsby an Ort und Stelle für seine Grausamkeit einer alten Frau gegenüber zu erwürgen. Tief im Innern wusste er genau, dass Captain absichtlich erschossen worden war. Gerade einmal zwei Tage vorher hatte Ashers Großmutter Ormsbys jüngstes Angebot, ihr mehrere hundert Morgen Land abzukaufen, die an seinen Besitz grenzten, ausgeschlagen, was den Marquis in unverhohlene Wut versetzt hatte. Ormsby hatte den Hund schlicht aus niederen Rachegefühlen umgebracht. Ein weiteres Beispiel dafür, überlegte Asher mit kaltem Zorn, wie Ormsby zu reagieren pflegte, wenn man ihm nicht zu Gefallen war und es sich um jemanden handelte, der schwächer war als er selbst.
Als der Stallbursche weggeritten war, hatte Asher seiner Großmutter mit versteinerter Miene ins Haus geholfen. Er hatte ruhig Anweisung gegeben, Captain bei ihrem Lieblingsrosenbusch zu begraben. Dort hatten die alte Dame und ihr alter Hund oft genug beieinandergesessen und den Garten und das milde Licht über den Büschen und Bäumen genossen. Während er zusah, wie die Erde in das Grab des Hundes fiel, hatte er sich geschworen, dass Ormsby irgendwie für das Leid würde zahlen müssen, das er seiner Großmutter zugefügt hatte. Der mächtige Lord des Distrikts würde dieses Mal nicht ungeschoren davonkommen.
Asher hatte eine Weile gebraucht, einen angemessenen Plan zu fassen, um dafür zu sorgen, dass Ormsby zum vielleicht ersten Mal in seinem anmaßenden Leben den Schmerz des Verlustes spürte, den er dem einfachen Volk in der Gegend oft genug selbst zufügte. Ihn umzubringen stand außer Frage, selbst Asher war nicht bereit, einen Mann zu töten, nur weil er einen Hund erschossen hatte – wenn auch aus niederen Beweggründen. Aber es musste etwas geben, mit dem er der aufreizenden Selbstgefälligkeit des anderen einen Stich versetzen konnte. Er lächelte im Dunkeln. Die Idee, die ihm schließlich gekommen war, war einfach perfekt: Ormsby liebte nichts mehr als sich selbst und seine Besitztümer. Welch bessere Möglichkeit, ihn leiden zu lassen, gab es also, als sein berühmtestes Erbstück, das Ormsby-Diamanthalsband, zu entwenden?
Was zum Teufel er mit dem verflixten Ding anfangen würde, wenn er es erst einmal in seiner Tasche hatte, wusste er auch nicht. Er brauchte das Geld nicht, und es zu verkaufen kam ohnehin nicht infrage. Das Halsband war dafür zu berühmt, das Aufsehen und der Wirbel, den sein Diebstahl erzeugen würde, verhinderten, dass einer seiner üblichen Kontakte es anrühren würde. Er konnte es natürlich auch auseinandernehmen und die einzelnen Brillanten neu fassen lassen, aber er scheute vor so willkürlicher Zerstörung zurück. Dem Porträt nach zu urteilen, war es ein wunderschönes und einzigartig gearbeitetes Stück Schmuck, und es widerstrebte ihm zutiefst, etwas so Schönes zu vernichten. Seine Lippen zuckten. Wenn er nicht wollte, dass man ihm den Hals am Galgen streckte oder ihn zu irgendeinem Kontinent am anderen Ende der Welt deportierte, dann musste er die Kette irgendwo verstecken, wo sie nie gefunden wurde.
Asher schob die Schublade wieder zu. Er würde das verflixte Ding irgendwo verscharren, wenn es sein musste, und einen Rosenbusch darüber pflanzen; ihm reichte es zu wissen, dass Ormsbys Stolz eine schmerzende Wunde erhalten hatte. Bastard. Er hätte den Hund meiner Großmutter nicht erschießen sollen.
Die Tür ging auf, und er erstarrte. Er sah flüchtig im Licht vom Flur die Umrisse einer Frau, ehe sie die Tür wieder hinter sich schloss.
Ohne einen Moment zu zögern, machte er lautlos ein paar Schritte zurück und verschmolz mit den schweren Samtvorhängen an den Seiten der Bibliotheksfenster. Er drückte sich mit dem Rücken fest an die Wand und griff nach der kleinen Pistole, die er immer in seiner Weste bei sich trug. Dann aber entschied er sich doch dagegen und ließ die Hände sinken. Ungesehen zu entkommen, das war sein Plan, und dem war es gewiss nicht zuträglich, einen Schuss abzugeben. Die Pistole war nur für den Notfall. Seine Gedanken überschlugen sich, er lauschte angestrengt, während der weibliche Eindringling sich rasch in seine Richtung bewegte. Hatte sie ihn gesehen? Nein. Er war zu vorsichtig gewesen, und er wusste, dass niemand bemerkt hatte, wie er in die Bibliothek geschlüpft war. Als sie die Tür geöffnet hatte vielleicht? Nein. Er war auf der anderen Seite des Raumes gewesen, verborgen in der Dunkelheit, außerhalb des aufblitzenden Lichtscheins, der ihr Eintreffen angekündigt hatte. Nein, sie konnte ihn unmöglich gesehen haben. Warum also war sie hier? Ihre Bewegungen hatten etwas Verstohlenes an sich, und er stellte fest, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, eine Kerze anzuzünden. Was hatte sie vor? Ihm fiel etwas ein, und er schloss die Augen in stummem Gebet. Bitte nicht. Kein heimliches Treffen eines Liebespaares!
Einen Augenblick später drang ein schwacher Lichtstrahl unter die Vorhänge; Asher spähte zwischen den Stoffbahnen hindurch und sah, dass der Eindringling nun eine kleine Kerze angezündet hatte. Die Frau kehrte ihm ihren Rücken zu, und er verfolgte verwundert, wie sie rasch den Schreibtisch erkundete, offensichtlich auf der Suche nach irgendetwas. Er lehnte seinen Kopf gegen die Wand. Noch jemand, der das Ormsby-Halsband stehlen wollte?
Fasziniert verfolge Asher, wie sie hastig erst eine, dann eine weitere Schublade durchsuchte. Unter anderen Umständen hätte ihn die Sache vielleicht amüsiert, aber solange das Ormsby-Halsband in seine Rocktasche ein Loch zu brennen schien, wünschte er sich momentan nur, dass, wenn sie die verflixte Kette haben wollte, sie ihm zuvorgekommen wäre. Eine Sekunde lang fragte er sich, was geschehen würde, wenn er hinter den Vorhängen vorträte und ihr das Halsband einfach in die Hand drückte. Außer als Mittel, um Ormsby zu demütigen, bedeutete ihm der Schmuck herzlich wenig. Er erwog die Idee. Nein. Das dumme Ding würde vermutlich nur aufkreischen, wenn er sich zeigte, und dann wäre die Hölle los.
Ergeben fügte er sich darein zu warten, bis die Frau ging; er hatte sich gerade wieder mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, als er sie nach Luft schnappen hörte. Er stieß sich ab und schaute nach, was sie erschreckt hatte. Die Tür öffnete sich wieder.
Sie löschte rasch die Kerze und lief dann – wie er vorhin – zu den Vorhängen, um sich zu verstecken. Unwillkürlich griff Asher nach ihr, legte ihr einen Arm um die Taille und zog sie dicht an sich, während er ihr im selben Moment eine Hand über den Mund legte. Dazu zischte er ihr ins Ohr: „Ich will Ihnen nichts tun – und um Himmels willen, schreien Sie nicht, und stehen Sie ganz still.“
Die schlanke Gestalt in seinen Armen versteifte sich, ein knappes Nicken war ihre Antwort, aber Asher hielt sie weiter fest und ihr den Mund zu. Frauen waren einfach zu verflixt unberechenbar.
Der letzte Neuankömmling stand einen Moment auf der Türschwelle, und das weiche Licht des großen Kerzenleuchters, den er in der Hand hielt, flutete ins Zimmer.
„Na, spielen wir Verstecken, meine Liebe?“, schnarrte der Mann. Als auf seine Worte weiter Stille herrschte, fügte er ungeduldig hinzu: „Komm schon, ich weiß, dass du hier bist. Hast du wirklich geglaubt, ich würde nicht sehen, wie du dich davonstiehlst? Dass ich nicht damit gerechnet habe, dass du irgendetwas ausprobierst?“
Asher biss beim Klang der öligen Stimme die Zähne zusammen. Ormsby! Zur Hölle mit ihm! Wenn Ormsby ihn hier in der Bibliothek entdeckte, dann würde er den Mistkerl am Ende doch erschießen müssen. Was die Frau anbetraf … Himmel! Wieso musste ausgerechnet bei diesem letzten, eigentlich recht simplen Diebstahl so viel schiefgehen?
Er lockerte seinen Griff um die Taille der Frau und betete nur, dass sie ihm keine zusätzlichen Schwierigkeiten machen würde, wenn er seinen Arm wegzog, um nach der Waffe zu greifen. Eine weitere Männerstimme war zu hören, und er erstarrte mitten in der Bewegung.
„Ormsby! Also wirklich, alter Junge, was treibst du hier so weitab vom Trubel? Solltest du nicht mit der reizenden Thalia Walzer tanzen?“
Asher stöhnte beinahe laut. Ormsby zu töten war eine Sache, aber auch noch einen weiteren Mann? Seine einzige Chance bestand jetzt in dem hohen Fenster hinter ihm und in der Hoffnung, dass der Himmel Mitleid hatte und ihn vor ernsten Verletzungen beim Sprung in den Garten bewahrte. Aber wenn er den Abgang durchs Fenster heil überlebte und zudem schnell genug die Gartenmauer erreichen konnte, dann mit der Dunkelheit verschmelzen … Ein übermütiges Grinsen flog über seine Züge. Diese Nacht wäre vielleicht doch noch zu retten …
„Ah, ja. Danke, Kingsley“, antwortete Ormsby, „dass Sie mich daran erinnern. Ich hatte es vergessen.“
„Was? Vergessen?“, rief Kingsley.
„Einen Tanz mit dem liebreizendsten Geschöpf seit Jahrzehnten, das London zu beehren bereit ist? Mein guter Mann, das ist überaus beunruhigend.“
In gelangweiltem Ton erwiderte Ormsby: „Ich denke, Sie vergessen, dass ich sie habe aufwachsen sehen. Wie Sie vielleicht wissen, sind die Kirkwoods meine Nachbarn. Daher bin ich gut bekannt mit der Familie.“
„Das erinnert mich an etwas, das ich Sie schon seit Wochen fragen wollte … Wie konnte es geschehen, dass Ihnen so ein hübsches Ding durch die Finger schlüpft? Ich hätte gedacht, Sie hätten sie unter Dach und Fach, ehe sie auch nur einen Fuß nach London setzt.“ Kingsley schmunzelte.
„Verlieren Sie etwa Ihren Schneid, alter Knabe? Ihre Verlobung mit dem jungen Caswell wird jeden Moment verkündet.“
„Darauf würde ich an Ihrer Stelle nicht wetten.“
„Sie wissen mehr als wir restlichen Sterblichen?“
„Mein Freund, wie Sie gut wissen, kann zwischen jetzt und gleich noch eine Menge passieren. Miss Kirkwood ist noch nicht Caswells Braut.“
„Wollen Sie sie ihm vor der Nase wegschnappen?“, fragte Kingsley erstaunt.
„Gerüchte sagen, dass es eine Liebeshochzeit ist – selbst jemand mit Ihrem Vermögen und Titel kann bei Liebe nicht mithalten. Wie also wollen Sie das schaffen?“
Ormsby lachte, obwohl wenig Humor darin schwang.
„Ich lasse mir nicht in die Karten sehen, aber ich rate Ihnen ab, dem jungen Paar jetzt schon ein Verlobungsgeschenk zu kaufen“, erklärte er.
„Jetzt kommen Sie mit, lassen Sie uns zu meinen Gästen zurückkehren. Ich habe sie viel zu lange sich selbst überlassen.“
Asher verfolgte, wie das Licht schwächer wurde, während Ormsby Kingsley zur Tür geleitete. Aber Kingsley schien es nicht eilig zu haben.
„Warum sind Sie überhaupt hergekommen? Das passt gar nicht zu Ihnen, einfach wegzugehen.“
Mit einem unangenehmen Unterton erwiderte Ormsby: „Ich hatte meine Gründe, glauben Sie mir, ich hatte meine Gründe.“
„Ja, aber …“
Die Tür schloss sich und in der Bibliothek waren nur noch dumpf die leiser werdenden Stimmen zu hören, während die Männer sich über den Flur entfernten.
Asher beschloss, keine weitere Zeit zu verschwenden, um zu sehen, wer noch alles der Bibliothek einen Besuch abstatten wollte. Noch bevor die Tür richtig ins Schloss gefallen war, schob er die junge Frau bereits hinter den Vorhängen vor ins Zimmer und dann weiter zu den französischen Fenstern, die zu den Gärten führten. Er hatte keinen genauen Plan; sein einziger Gedanke war, so rasch wie möglich wegzukommen. Die Frau war allerdings ein Problem. Er konnte sie nicht einfach gehen lassen. Oder?
Er dachte kurz darüber nach. Sie hatte jedenfalls ganz still dagestanden, während Ormsby in der Bibliothek gewesen war. Sie hatte eindeutig ebenfalls nicht entdeckt werden wollen. Er hatte keine Ahnung, weswegen sie Ormsbys Papiere durchsucht hatte, aber eines wusste er: Sie hatte nichts Gutes im Schilde geführt. Und wenn dem so war, dann hatte sie selbst guten Grund, keinen Alarm zu schlagen. Konnte er es wagen?
Seine Hand lag immer noch über ihrem Mund, mit der anderen hielt er sie am Arm, während er sie mit sich ins Freie zog. Sie vor sich her schiebend schritt er mit ihr durch den Garten. Asher blieb erst stehen, als die Gartenmauer vor ihnen auftauchte und die flackernde Fackel über dem Dienstboteneingang mit ihrem schwachen Licht das Dunkel durchdrang. Er hatte noch nicht entschieden, was er tun sollte, aber wenn er alles in Betracht zog, besonders den Umstand, dass sie keinen Versuch unternommen hatte, sich loszureißen und wegzulaufen, war es tatsächlich möglich, dass sie den Mund halten und keinen Alarm auslösen würde.
Er schaute auf die Mauer, überlegte noch. Selbst wenn sie schrie, wäre er längst darübergestiegen und verschwunden, ehe jemand diese abgelegene Stelle des Gartens erreichte.
Die Lippen dicht an ihrem Ohr, fragte er: „Wenn ich Sie gehen lassen, schwören Sie, nicht zu schreien?“
Sie nickte heftig, und wider besseres Wissen nahm er seine Hand von ihrem Mund.
Sobald er das getan hatte, wirbelte sie herum und schaute ihn an.
„Asher?“, fragte sie atemlos.
Ihm drohte das Herz stehen zu bleiben. Himmel. Juliana.
Die Hände in die Hüften gestemmt fragte sie: „Asher Cordell, was hattest du in Lord Ormsbys Bibliothek zu suchen? Ich bin beinahe vor Schreck gestorben, als du mich gepackt hast.“
„Ich glaube, die Frage sollte eher lauten“, erwiderte er rasch, „was hast du dort getrieben?“
„Das geht dich nichts an!“, entgegnete sie scharf.
„Ich bin ein geladener Gast auf Lord Ormsbys Maskenball – du nicht.“
„Und woher willst du das wissen? Ich bin durchaus achtbar – Eton, eine angesehene Familie und all das. Er hätte mich sehr gut einladen können.“
Juliana schnaubte abfällig.
„Versuch nicht, mir solche Geschichten aufzutischen. Er kann dich nicht ausstehen, wie du gut weißt.“
„Ja“, gab Asher betrübt zu.
„Seine Abneigung mir gegenüber belastet mich unglaublich.“ Er sah sie hoffnungsvoll an.
„Denkst du, ich könnte etwas tun, damit er mich besser leiden mag?“
Sie lachte kurz auf.
„Nein! Jetzt ist es viel zu spät, um seine Meinung von dir zu ändern“, verkündete sie unverblümt. Mit mahnend gehobenem Finger fügte sie hinzu: „Vielleicht, wenn du die Schweine nicht in sein frisch angepflanztes Feld getrieben oder seinen besten Bullen nicht erst gestohlen und das Tier dann nicht auch noch zu Squire Ripleys jungen Kühen gesperrt hättest, wäre er vielleicht nicht so davon überzeugt, dass du ein Galgenvogel bist.“
Sie bedachte ihn mit einem strengen Blick.
„Und dabei haben wir ja nicht einmal von deinem schmählichen Verhalten ihm gegenüber gesprochen. Asher, du hast ihn im Januar auf dem Woodruff-Ball direkt angegähnt! Was hast du dir nur dabei gedacht?“
„Dass er stinklangweilig war?“ Als sie ihn aus schmal zusammengekniffen Augen ansah, fügte er hastig hinzu: „Juliana, ich war dreizehn, als ich die Schweine losgelassen habe, und du weißt sehr gut, dass es ein Unfall war – wie sollte ich wissen, dass das Gatter zerbrechen würde, wenn die alte Sau sich dagegen wirft?“
Sie schnaubte wieder.
„Und ich war nicht viel älter, als das mit dem Bullen passiert ist.“ Er musste bei der Erinnerung versonnen grinsen. Juliana starrte ihn stumm an.
„Na gut, ich gebe es ja zu“, sagte er, „ich war ein richtiger Lausebengel und der Schrecken der Gegend, aber du musst der Gerechtigkeit halber zugeben, dass im nächsten Frühjahr die Kälber des Squire zu den besten des ganzen Distrikts gehörten.“
„Der Squire hält dich vielleicht für einen feinen Kerl, aber diese Tat hat nicht dazu beigetragen, dich bei Ormsby beliebt zu machen“, erklärte sie. Verwundert musterte sie ihn im schwachen Licht.
„Warum gibst du dir nur solche Mühe, ihn gegen dich aufzubringen?“
Asher zuckte die Achseln.
„Wenn er selbst mehr Rücksicht gegenüber anderen zeigte, wäre ich nicht so geneigt, ihn so … äh, unhöflich zu behandeln.“ Das Halsband lastete schwer in seiner Rocktasche; er war sich der Zeit, die verstrich, bewusst … und dass mit jedem Augenblick die Entdeckung des Diebstahls wahrscheinlicher wurde. Daher erkundigte er sich: „Und so unterhaltsam dieses kleine Zwischenspiel auch gewesen sein mag, denkst du nicht, es wäre an der Zeit, sich zu den Gästen zurückzubegeben?“
„Erst nachdem du mir verraten hast, was du in der Bibliothek von Ormsby verloren hattest“, entgegnete sie fest.
Trotz seiner inneren Anspannung lehnte er sich lässig mit dem Rücken gegen den Stamm eines kleinen Baumes unweit der Gartenmauer. Er lächelte sie an.
„Selbstverständlich. Gleich nachdem du mir gesagt hast, weshalb du dort warst.“
Sie bedachte ihn mit einem wütenden Blick.
„Du bist das aufreizendste, unerträglichste Geschöpf, das ich in meinem Leben je kennengelernt habe!“
Er richtete sich auf, verzichtete auf die lässige Pose und verneigte sich tief vor ihr. Mit einem unverbesserlichen Grinsen erklärte er: „Man gibt sich Mühe, zu Gefallen zu sein.“
Ihr Busen schwoll vor Empörung.
„Ich habe gut Lust, Ormsby zu sagen, dass du in seiner Bibliothek warst!“, drohte sie, wusste aber so gut wie er, dass sie sich eher einem Rudel wilder Löwen stellen würde, als Asher zu verraten. Auch wenn er der unverschämteste Mann war und jemand, der selbst den Langmütigsten in Rage bringen konnte.
Alle Belustigung verschwand aus seinem Blick, und an die Stelle trat ein Ausdruck, den sie nie zuvor gesehen hatte. In all den Jahren, die sie ihn nun schon kannte – und das war beinahe ihr ganzes Leben –, hatte Asher sie immer schon fasziniert, empört, geärgert und maßlos wütend gemacht, aber nie zuvor hatte er ihr Angst eingejagt. Fast unbewusst wich sie einen Schritt zurück, versuchte beunruhigt, die Entfernung zum Haus zu schätzen.
Sich im Stillen verfluchend bemühte sich Asher, die Gewaltbereitschaft, die sie vermutlich in seinen Zügen gesehen hatte, zurückzudrängen, und die, so fürchtete er, inzwischen ein wesentlicher Teil von ihm geworden war. Er zwang sich zu einem Lächeln und strich ihr mit dem Finger sachte über die Wange.
„Lass uns in Frieden auseinandergehen, Juliana, jeder seiner Wege und mit seinen Geheimnissen. Einverstanden?“
Es gefiel ihm gar nicht, dass sie zurückzuckte, als er sie berührte, aber er behielt das freundliche Lächeln bei und lehnte sich wieder lässig gegen den Baum, während er auf ihre Antwort wartete.
Im nicht sehr hellen Licht sah sie ihn fragend an, dann nickte sie. Ohne ein weiteres Wort machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück zu den französischen Fenstern der Bibliothek.
Asher folgte ein paar Schritte hinter ihr. Als sie die Bibliothek betrat, schaute sie über ihre Schulter zu ihm zurück. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und sie suchte verzweifelt nach etwas, was sie sagen konnte, aber ihr wollte einfach nichts einfallen.
Beinahe wäre sie aus der Haut gefahren, als er sie an der Schulter berührte.
„Lauf schon“, sagte er leise, „ich warte hier, bis du sicher im Flur angekommen bist.“
Verärgert, aber außerstande, etwas anderes zu tun als das, was er verlangte, tat Juliana genau das. Vorsichtig öffnete sie die Tür zum Korridor und spähte hinein, sah, dass er verlassen dalag und trat rasch in die Diele. Hinter sich zog sie die Bibliothekstür ins Schloss und ging dann rasch den Flur entlang.
Asher wartete, bis er sicher sein konnte, dass sie nicht zurückkam, dann durchquerte er den Raum. Am Schreibtisch brauchte er nur einen Moment, um die Geheimschublade zu öffnen und das Ormsby-Halsband wieder zurückzulegen. Es war ein bitterer Moment. Er hatte das hier seit Wochen geplant, und jetzt war alles vergebens. Aber ihm blieb keine andere Wahl – Juliana wusste, dass er hier gewesen war, und wenn das Geschrei nach der Entdeckung des Diebstahls begann, würde sie wissen, dass er es gestohlen hatte. Als er wieder in den Garten trat, schnitt er eine Grimasse. Sie hatte ein so ehrliches und aufrichtiges Wesen, dass sie sich wegen ihrer Ehre verpflichtet fühlen würde, Ormsby von seiner Anwesenheit in der Bibliothek zu erzählen oder aber ihm selbst in den Ohren zu liegen, bis er es zurückgab. Da war es leichter, es jetzt gleich wieder in die Schublade zu legen und auf einen besseren Zeitpunkt zu warten.
Trotz des Ausgangs des Abends war Asher seltsam leicht ums Herz, als er über die Gartenmauer stieg und in der Dunkelheit verschwand. Er war ein hervorragender Planer. Es würde eine andere Gelegenheit geben.
Ohne Zwischenfall erreichte er seine Räume in der Nähe des Fitzroy Square und begann zu packen. Er war dieses Mal ohne Kammerdiener in die Stadt gekommen und hatte nur wenig Gepäck. Alle seine Habseligkeiten passten in eine Reisetasche; während er die Schnalle festzurrte, schaute er sich um, ob er etwas vergessen hätte. Das hatte er nicht.
Am nächsten Morgen würde er früh zurück nach Kent reiten, zu den Menschen, die ihm lieb waren. Er hegte Zweifel, ob er sich in das eher ereignisarme Leben eines wohlsituierten Gutsherrn finden konnte, aber die Vorkommnisse der heutigen Nacht zeigten, dass es dennoch ab und zu Aufregendes zu erleben geben würde. Es gab immer noch das Ormsby-Halsband, und früher oder später würde er einen Weg finden, es Ormsby direkt unter der Nase wegzuschnappen. Und Juliana … was zum Teufel hatte sie eigentlich gesucht? Er grinste. Ihr Geheimnis aufzudecken würde zweifellos für Aufregung in seinem Leben sorgen.
Kapitel 2
Juliana hastete den Korridor entlang; die Angst vor der Entdeckung durch Ormsby ließ ihr Herz so heftig und schnell klopfen, dass ihr fast schlecht wurde. Ihr Magen beruhigte sich ein wenig, als sie unentdeckt in dem ganz in Gold und Creme gehaltenen Ballsaal ankam. Binnen Sekunden hatte sie sich unter die prachtvoll gekleidete Gästeschar gemischt, die im Saal wogte.
Lächelnd und freundlich irgendetwas auf die Bemerkungen der Gäste erwidernd, die sie ansprachen, bahnte sie sich ihren Weg zu der Stelle, an der sie ihre Schwester zuvor zusammen mit ihrer besten Freundin Miss Ann Tilley sowie deren Mutter zurückgelassen hatte. Miss Tilleys Mutter war eine freundliche ältere Dame, die für ihre zwanglose Art bekannt war. Wie sie es sich gedacht hatte, war Thalia inzwischen von mehreren Bewunderern umringt, die alle miteinander um ihre Aufmerksamkeit wetteiferten. Ein rascher Blick in die Runde zeigte, dass Ormsby im überfüllten Raum nirgends zu sehen war. Als die Minuten verstrichen und Ormsby sich nicht zeigte, atmete Juliana erleichtert auf. Ein junger Mann aus dem Kreis um Thalia sah sie an und erkundigte sich höflich, ob sie gerne etwas Limonade hätte. Sie lehnte dankend ab und verfolgte belustigt, wie er sogleich seine Aufmerksamkeit wieder Thalia und Miss Tilley zuwandte. Witwen ohne großes Vermögen oder Schönheit übten wenig Reiz auf die Mehrheit der in dieser Nacht dort versammelten Herren aus – selbst wenn die Schwester besagter Witwe die regierende Schönheitskönigin der Saison war.
Julianas Herz beruhigte sich allmählich, aber sie konnte die Ereignisse des Abends nicht völlig von sich schieben. Es war nervenzehrend genug gewesen, beinahe von Ormsby in der Bibliothek ertappt zu werden, und dann Asher in seinem Versteck hinter den Vorhängen zu finden, war beinahe zu viel gewesen. Es würde noch lange dauern, ehe sie die kräftigen Hände würde vergessen können, die sie gefangen gehalten hatten, oder das Gefühl seines harten Körpers in ihrem Rücken. Ein warmer Schauer lief ihr über den Rücken, als sie sich wieder daran erinnerte, wie sich diese starken Muskeln angespannt hatten, während sie aneinandergepresst hinter den schweren Vorhängen standen. Sie hatte gewusst, dass Asher schlank war und in bester körperlicher Verfassung, sie hatte nur nicht gewusst, wie sehnig und gut trainiert er in Wahrheit war.
Thalia bedachte sie mit einem fragenden Blick und unterbrach so ihre Gedankengänge; Juliana schüttelte kaum merklich den Kopf. Mit den Lippen formte sie: „Später.“
Thalia wandte sich ab und begann dem jungen Mann, der ihr am nächsten stand, den Kopf zu verdrehen, was ihr keinerlei Mühe zu bereiten schien. Normalerweise hätte Caswell neben Thalia gestanden und die anrückenden Bewunderer in Schach gehalten, aber es war ihm nicht möglich gewesen, diesen Ball zu besuchen. Erst in der vorigen Nacht war er auf dem Heimweg von seinem Klub von Straßenräubern überfallen und übel zugerichtet worden. Als er an diesem Morgen bei den Kirkwoods seine Aufwartung gemacht hatte, hatte er schrecklich ausgesehen: seine hübschen Züge geschwollen, die Haut wund und voller Schrammen. Und aus seinen vorsichtigen Bewegungen schloss Juliana, dass ihm andere nicht sofort sichtbare Verletzungen Schmerzen bereiteten. Beide Schwestern waren über seinen Zustand entsetzt, und er hatte mehrere Minuten damit verbracht, sie zu beruhigen, hatte ihnen versichert, dass er zwar im Moment kein schöner Anblick sei und auch Schmerzen litte, sich aber in Kürze vollständig erholt haben würde.
Mit einem schiefen Lächeln hatte er hinzugefügt: „Allerdings bezweifle ich, dass ich heute Abend mein Gesicht bei Ormsby zeigen möchte.“
Die Schwestern hatten das bestens verstanden, denn er sah wirklich furchtbar aus. Thalia hatte sofort verkündet, dann werde sie ebenfalls dem Ball fernbleiben.
Mit einem sanften Ausdruck in seinen grauen Augen hatte er gesagt: „Meine Liebe, bitte geh. Lass London die bezaubernde Miss Kirkwood ein letztes Mal sehen. Geh für mich.“ Er hatte Thalias Hand an die Lippen gezogen.
„Wenn du das nächste Mal in die Stadt kommst, wird es als meine Braut sein.“
Thalia hatte ihm ein zitterndes Lächeln geschenkt und stammelnd erklärt: „D-dich st-stört es nicht, dass die Ankündigung unserer Verlobung verschoben wird?“
Er hatte den Kopf geschüttelt.
„Ich verstehe nicht, warum dein Vater sie aufschieben will, aber mir reicht es, dass er mir die Erlaubnis erteilt hat, um deine Hand anzuhalten, und du mich zum glücklichsten Mann auf der Welt gemacht hast, indem du dich bereit erklärt hast, mich zu heiraten.“ Er drückte einen Kuss auf ihre Finger und murmelte dabei: „Wann die Ankündigung erfolgt, ist egal, mein Lieb. Das Wichtigste ist, dass wir heiraten und bis zum Winter Mann und Frau sein werden.“
Mit einem erstickten Schluchzer und plötzlichen Tränen in den Augen hatte Thalia gerufen: „Oh, Liebster, das hoffe ich. Ich hoffe es so!“ Damit war sie mit gequälter Miene aus dem Zimmer gestürzt.
Von ihrem Tun völlig überrascht hatte Caswell sich besorgt erkundigt: „Stimmt etwas nicht? Habe ich etwas gesagt oder getan, das sie beunruhigt?“
Juliana hatte zuversichtlich gelächelt und erklärt: „Nein, nein, natürlich nicht. Ich bin sicher, es sind nur die Nerven.“
Und den Nerven meiner Schwestern wird es gewiss nicht zuträglich sein, dass ich heute Nacht versagt habe, überlegte Juliana betrübt. Dieser verflixte Ormsby! Sie konnte immer noch nicht glauben, dass er sie um ein Haar ertappt hätte. Sie war so sorgfältig gewesen. Aber offenbar nicht vorsichtig genug, und er war in die Bibliothek gekommen und hatte ihre Suche nach der einen Sache unterbrochen, die dem Glück ihrer Schwester im Wege stand.
Irgendwie gelang es den beiden Schwestern, den Rest des Balles zu überstehen; es entstand nur ein unangenehmer Augenblick, als es an der Zeit war, sich von ihrem Gastgeber zu verabschieden. Das selbstgefällige Lächeln auf Ormsbys Zügen, als sie vor ihm standen, um ihm eine gute Nacht zu wünschen, hatte in Juliana den brennenden Wunsch geweckt, ihm eine Ohrfeige zu geben. Und zwar eine kräftige.
Die arme Thalia hatte ihm nicht einmal in die Augen schauen können, und ihre Stimme war nicht lauter als ein Flüstern gewesen, als sie mit ihm gesprochen hatte. Er hatte ihre Hand länger gehalten, als es der Anstand erlaubte, und dazu gesagt: „Ah, unser Scheiden ist nicht für lange, nicht wahr, meine Liebe? Ich bin sicher, ich werde Sie diesen Sommer häufig in Kent sehen. Schließlich sind wir ja Nachbarn, und Sie wissen, wie teuer Sie und Ihre Familie mir sind. Man könnte sogar sagen, dass wir uns sehr nahe stehen, was?“
Seine Worte trafen Thalia wie ein Schlag, und sie stand sprachlos vor ihm, die wunderschönen blauen Augen weit aufgerissen und starr vor Schreck auf ihn gerichtet – wie ein Kaninchen vor einer Schlange.
Juliana biss die Zähne so fest zusammen, dass sie es beinahe knirschen hörte. Rasch schritt sie ein und trat neben ihre Schwester, drängte sie unauffällig in Richtung Tür. Mit einem kühlen Lächeln für Ormsby erklärte sie: „Es war ein wundervoller Ball. Wir haben uns ausgezeichnet unterhalten.“
Seine Lippen wurden schmal, weil sie sich einschaltete, aber der Marquis begnügte sich mit einem höflichen Nicken.
„Danke“, sagte er. Ein spöttischer Unterton klang in seiner Stimme mit, als er hinzufügte: „Ich hoffe, der Abend hat Ihre Erwartungen erfüllt.“
Juliana musste unwillkürlich an die Begegnung mit Asher denken und lächelte ehrlich erfreut.
„Oh ja, sogar mehr, als ich erwartet hatte.“
Was beinahe der Wahrheit entsprach, dachte sie bei sich, während sie ihrer Schwester die Stufen hinab und in die wartende Kutsche folgte. Ashers Anwesenheit war allerdings mehr, als sie erwartet hatte, und zum ersten Mal, seit sie die Bibliothek fluchtartig verlassen hatte, fragte sie sich, was er dort eigentlich getan hatte.
Sie hatte jedoch keine Zeit, weiter über den empörenden Mr Asher Cordell nachzudenken, weil Thalia sich in dem Moment, da die Kutschentüren geschlossen wurden, vorbeugte und sich besorgt erkundigte: „Du hast nichts gefunden?“
Juliana war sich der Nähe von Kutscher und Pferdebursche deutlich bewusst, daher antwortete sie mit gesenkter Stimme: „Nein. Aber wir sprechen nachher darüber.“ Das begleitete sie mit einem warnenden Blick zur Vorderseite der Kutsche und entspannte sich, als Thalia sich seufzend in die abgenutzten Samtpolster zurücklehnte, da sie verstanden hatte, was ihre Schwester meinte.
Dann kamen sie an dem für die Saison gemieteten Haus an und stiegen aus. Juliana entging Thalias Blässe nicht, und so sagte sie zu ihr, als sie das Gebäude betraten: „Heute musst du Vater nicht mehr sehen. Geh nach oben und lass dir von deiner Zofe helfen. Nachdem ich bei ihm war, werde ich dich besuchen kommen und dir alles erzählen.“ Sie verzog das Gesicht.
„Auch wenn es nicht viel ist.“
Dankbar, dass sie sich dem enttäuschten und tadelnden Blick ihres Vaters nicht würde stellen müssen, nickte Thalia. Sie gab dem wartenden Butler ihren Umhang, hauchte ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange und verschwand ins obere Stockwerk.
Juliana lächelte Potts an, den Butler, den ihr Vater für die Saison angestellt hatte.
„Mein Vater?“
Potts erwiderte ihr Lächeln und antwortete: „Ich glaube, er wartet auf Sie, Mrs Greeley. Sie finden ihn im Studierzimmer.“
Sie bedankte sich und ging den Flur entlang zu dem schmalen gemütlichen Raum. Als sie eintrat, sah sie ihren Vater in einem der großen Polsterlehnstühle aus schwarzem Leder sitzen, die vor dem grau gemaserten Marmorkamin standen. Der Schein mehrerer Kerzenleuchter spendete warmes Licht, aber Juliana vermisste das fröhliche Knistern und Knacken eines Feuers im Kamin.
Ihr Vater drehte sich bei ihrem Eintreten sogleich zu ihr um, Hoffnung flammte in seinem Blick auf. Sie schüttelte bedauernd den Kopf.
„Es tut mir leid, Vater“, sagte sie und ging zu ihm.
„Ich habe nichts gefunden.“
Ihr wurde das Herz schwer, als sie sah, wie die Hoffnung in seinen Augen erstarb. Er starrte in sein Glas, halb voll mit Brandy, das auf dem Tischchen neben seinem Stuhl stand und seufzte.
„Nun, du hattest ja schon erklärt, dass es unwahrscheinlich ist, dass er sie irgendwo aufbewahrt, wo sie leicht gestohlen werden können.“
Sie nahm auf dem Stuhl neben ihm Platz.
„Wir haben noch Zeit. Caswell scheint es zufrieden, mit der offiziellen Bekanntgabe der Verlobung noch zu warten.“
„Aber wie lange noch? Wir können ihn nicht immer wieder vertrösten, sonst erreichen wir am Ende noch das, was Ormsby will: die Chance auf eine Heirat zwischen Caswell und deiner Schwester vernichten.“
„Ich glaube, du unterschätzt die Tiefe der Gefühle von Caswell für Thalia. Er ist so rettungslos in sie verliebt wie sie in ihn. Ich bin davon überzeugt, dass er bis in alle Ewigkeit auf sie warten würde.“
„Ich hoffe nur, dass du recht hast.“ Er sah sie betrübt an.
„Was hat sie sich nur gedacht? Was hat sie dazu veranlasst, so indiskret zu sein? Ich kann kaum glauben, dass eine meiner Töchter so unüberlegt und dumm handeln konnte!“ Er barg sein Gesicht in den Händen.
„Wenn sie uns nur früher von den Briefen erzählt hätte! Wenigstens bevor ich Caswell die Erlaubnis erteilt habe, ihr den Hof zu machen, und sie seinen Antrag angenommen hat. Jetzt kann ich dem Earl kaum sagen, dass ich meine Meinung geändert hätte oder dass Thalia einen Sinneswandel hatte. Was für eine teuflische Klemme.“
Juliana seufzte.
„Ich weiß, sie hätte sich uns früher anvertrauen müssen, aber sie hat nie damit gerechnet, dass Ormsby sie weiterhin verfolgen würde, nachdem wir in London waren. Mir erging es jedenfalls so. Ich dachte, er zieht sich mit Anstand zurück, nachdem sie seinen Antrag abgewiesen hatte. Natürlich wussten wir da auch noch nichts von den Briefen.“ Nachdenklich fügte sie hinzu: „Ich denke, niemand war entsetzter als Thalia, als Ormsby seinen Antrag gemacht hat. Vergiss nicht, sie war erst siebzehn, gerade erst aus dem Schulzimmer heraus, als sie sich einbildete, in ihn verliebt zu sein, und diese Briefe geschrieben hat. Was sie letzten Sommer für Ormsby empfand, das war nur eine Backfischschwärmerei – ihr Herz war nicht beteiligt. Diese Briefe sind sicher ungehörig, aber auch nicht mehr als die schwärmerischen Ergüsse eines unschuldigen jungen Mädchens, das glaubte, es liebte einen aufregenden Mann, der deutlich älter war als sie.“ Sie biss die Zähne zusammen.
„Wenn jemandem Vorwürfe gemacht werden sollten, dann Ormsby. Wenn du dich erinnern willst, er hat dich nie um Erlaubnis gefragt, sie zu umwerben, hat nie einen Hinweis fallen lassen, was er vorhatte. Er kam als Nachbar und Freund in dein Haus und hat hinter unserem Rücken mit ihr angebandelt. Ja sicher, sie hätte es ablehnen sollen, sich mit ihm heimlich zu treffen, und hätte ihm auch nie solche leidenschaftlichen Briefe schreiben dürfen, aber du weißt sehr gut, dass er derjenige war, der sie zu solch unangemessenem Verhalten angestiftet hat.“ Ihre Lippen wurden schmal.
„Du wirst mich nie davon überzeugen, dass er nicht genau wusste, was er da tat.“
„Schwärmerische Ergüsse!“, rief Mr Kirkwood.
„Glaubst du, Caswell wird das glauben, wenn Ormsby ihm diese Briefe vorlegt?“
Es lag ihr auf der Zunge, vorzuschlagen, dass sie Ormsby die Giftzähne zogen, indem sie es darauf ankommen ließen. Sie glaubte, dass Caswell Thalia genug liebte, um zu erkennen, dass diese verflixt indiskreten Briefe nicht mehr enthielten als den ungelenken Gefühlsüberschwang eines naiven Mädchens, das dem erfahrenen Charme eines älteren Mannes erlegen war. Das Problem bestand darin, dass, während Thalia praktisch sofort wieder zu Sinnen gekommen war, das bei Ormsby leider nicht der Fall war. Schlimmer noch, er hatte es auf unangenehme Weise klargemacht, dass er vorhatte, sie zu heiraten. Juliana schnitt eine Grimasse. Obwohl sie den Mann nicht sonderlich mochte, wäre rein äußerlich betrachtet eine Verbindung zwischen dem Marquis und Thalia nicht notwendigerweise schlecht. Ormsby war wohlhabend, hatte einen Titel – und es war nicht ungewöhnlich, wenn ältere Männer eine wesentlich jüngere Ehefrau hatten.
„Wenn Thalia sich nicht in Caswell verliebt hätte, hättest du dann die Verbindung mit Ormsby gutgeheißen?“, wollte Juliana auf einmal wissen.
„Gütiger Himmel, Juliana, er ist beinahe so alt wie ich!“, entfuhr es ihrem Vater verärgert.
„Und er ist zudem ein liederlicher Wüstling. Ein derart widerlicher Kerl wie Ormsby wäre gewiss nicht auf meine Liste mit möglichen Ehekandidaten für eine meiner Töchter geraten, und besonders nicht für meine jüngste.“ Er schüttelte den Kopf.
„Ich habe mir einen Großteil an dem, was geschehen ist, selbst zuzuschreiben. Ich hätte ihm nie erlauben sollen, so bei uns ein und aus zu gehen, wie er es letzten Sommer getan hat. Ich kannte schließlich seinen Ruf, allerdings hätte ich nie gedacht …“ Er atmete tief ein und erklärte dann: „Aber um deine Frage zu beantworten, wenn deine Schwester ihn haben wollte … wenn sie ihn liebte …“ Er seufzte schwer.
„Ich nehme an, ich würde letztlich meine Einwilligung zu ihrer Hochzeit geben.“ Neugierig sah er sie an.
„Warum fragst du?“
Sie verzog das Gesicht.
„Ach, es ist nur, dass es so viel einfacher wäre, wenn sie sich in ihn verguckt hätte.“
„Jetzt sag aber nicht, dass du es gerne sehen würdest, wenn ein Unschuldslamm wie Thalia mit einem Lebemann wie Ormsby verheiratet würde.“
Juliana schüttelte den Kopf.
„Ich würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um das zu verhindern“, erwiderte sie mit Nachdruck.
„Er ist all das, was du eben genannt hast – ein Wüstling und Lebemann. Nein, ich würde es niemals wollen, dass Thalia mit jemandem wie Ormsby verheiratet wird.“
„Aber was unternehmen wir dagegen?“, fragte Mr Kirkwood.
„Ormsby hat alle Trümpfe auf der Hand. Wenn ich Caswell nicht seiner Wege schicke und Thalias Hand Ormsby gebe, dann, so schwört er, werde er die Briefe Caswell geben oder sie veröffentlichen. Was auch eintritt, das Glück deiner Schwester wäre in Scherben. Sie wäre am Boden zerstört, ihr Ruf in Fetzen, wenn die Briefe bekannt werden.“
Juliana senkte den Blick, sie konnte die Verzweiflung in seinen Augen nicht länger ertragen. Die Worte ihres Vaters enthielten nichts als die Wahrheit, und wenn es ihnen nicht gelang, die Briefe in ihren Besitz zu bringen, sah Thalias Zukunft trüb aus. Wenn Caswell sie wegen der Briefe fallenließ, würde es Thalia das Herz brechen, und es würde viel Gerede geben. Die Verlobung war noch nicht öffentlich gemacht worden, aber alle rechneten jeden Tag mit der Ankündigung. Die Gerüchte würden sich überschlagen, wenn Caswell und Thalia plötzlich getrennte Wege gingen. Selbst wenn Caswell Thalia so liebte, wie Juliana glaubte, und sie dennoch heiratete, wäre Thalia immer noch nicht in Sicherheit. Geschlagen und Thalia an einen anderen verloren, wäre Ormsby sehr wohl fähig, die Briefe trotzdem herumzuzeigen, einfach aus Rachsucht – und das Wissen um die Briefe und ihren vertraulichen Inhalt würde dazu führen, dass Thalia angestarrt und über sie geflüstert werden würde. Ihr gesellschaftlicher Rang würde sie nicht notwendigerweise schützen, und viele Gastgeberinnen der guten Gesellschaft würden sie nicht einladen.
Thalia würde Ormsby niemals heiraten, dessen war sich Juliana sicher, aber er konnte sie immer noch ruinieren. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Dieser verflixte Ormsby, überlegte sie wütend. Er war bösartig genug, die Briefe öffentlich zu machen, nur um Thalia dafür zu strafen, dass sie ihn abgewiesen hatte. Die bittere Tatsache blieb bestehen; solange Ormsby die Briefe besaß, lag Thalias Zukunft in seinen Händen.
„Was sollen wir tun?“, fragte Mr Kirkwood erneut und unterbrach Julianas Gedanken.
Mit mehr Zuversicht, als sie empfand, sagte sie: „Wir holen uns die Briefe zurück. Ganz einfach.“
„Aber wie?“, rief ihr Vater und starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
Juliana stand auf und schüttelte die Falten ihrer Röcke aus.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete sie, „aber ich bin mir sicher, dass mir noch etwas einfällt.“ Sie ließ ihn ihre eigenen Bedenken nicht sehen, sondern lächelte ihn an und sagte aufmunternd: „Wir können jetzt im Augenblick nichts tun, daher schlage ich vor, dass wir genau das machen, was wir vorhatten, und am Ende der Woche nach Hause zurückkehren. Vergiss nicht, Mrs Tilley mit ihrer Tochter und die Crawleys mit ihrer Tochter werden uns auf Kirkwood besuchen kommen. Sobald wir zu Hause sind, werden wir alle Hände voll zu tun haben, alles für unsere Hausgäste vorzubereiten. Caswell und seine Freunde Mr Bronson und Lord Hartley kommen vielleicht sogar schon früher. Über kurz oder lang wird unser Heim aus allen Nähten platzen.“
„Aber …“, begann er einzuwenden.
Entschlossen fiel sie ihm ins Wort.
„Es gibt nichts, das wir im Moment wegen der Briefe unternehmen können, und ich weiß auch, dass es nicht leicht ist, aber wenn wir mit betrübten Gesichtern herumlaufen oder plötzlich unsere Pläne ändern, werden alle wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist.“ Sie holte tief Luft.
„Caswell wird einfach seine Ungeduld zügeln müssen, der Welt mitzuteilen, dass Thalia ihn heiraten wird. Und wenn er zur Eile drängt, müssen wir uns eben eine gute Ausrede einfallen lassen.“ In ihre Augen trat ein unnachgiebiger Ausdruck.
„Ich bin überzeugt, dass mir in nicht allzu ferner Zukunft etwas einfällt, wie ich diese leichtfertig geschriebenen Briefe Ormsby abjagen kann.“ Damit beugte sie sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn.
„Mach dir keine Sorgen, Vater, ich werde mich darum kümmern.“
„Danke“, erwiderte er leise. Brummig fügte er hinzu: „Ich weiß, dass ich dir das hier nicht aufbürden sollte, dass ich, wenn ich ein Mann wäre, der etwas auf sich hält, Ormsby fordern sollte.“
„Wag das ja nicht!“, rief sie und sah schon im Geiste ihren Vater in seinem Blut tot auf dem Duellierfeld liegen.
Er lächelte müde.
„Keine Sorge, das tue ich nicht. Ich kenne Ormsbys Ruf und weiß, dass das den sicheren Tod für mich bedeuten würde.“ Mit harter und entschlossener Miene fügte er eindringlich hinzu: „Du weißt das, nicht wahr? Dass ich alles in meiner Macht Stehende täte, um dich zu beschützen?“
Sie lächelte zittrig.
„Ja, das tue ich. Aber ich denke nicht, dass es uns in irgendeiner Weise hilft, wenn du dich von Ormsby abschlachten lässt.“ Erleichtert, dass er nicht ernsthaft mit dem Gedanken spielte, Ormsby zu fordern, bemerkte sie mit ruhigerer Stimme: „Überlass es nur mir. Ich schaffe das schon.“
Unter halb gesenkten Lidern musterte sie ihn und stellte fest, dass die Reise nach London und die Sorge um Thalias Zukunft seine angeschlagene Gesundheit weiter strapaziert hatten und neue Sorgenfalten in seine hageren Züge gegraben hatten. Als eher schüchterner, zurückgezogen lebender Mann, der an das ruhige und seinem gewohnten Rhythmus folgende Leben auf dem Lande gewöhnt war, fühlte er sich hier in dem Lärm und der Geschäftigkeit der Hauptstadt fehl am Platze. Seine ganze Welt drehte sich um seine zwei Töchter und seinen Landsitz Kirkwood, und Juliana wusste, dass er stark unter seiner Unfähigkeit litt, die Bedrohung von Thalias Glück abzuwenden.
Als seine Frau und ihre Mutter noch am Leben gewesen war, hatte sie ihren ahnungslosen Gatten umsorgt und vor Unannehmlichkeiten beschützt und ihre beiden Töchter verhätschelt. Wir waren eine glückliche Familie, dachte Juliana wehmütig. Es war Mrs Kirkwood gewesen, die den Haushalt mit ihrer ansteckenden Fröhlichkeit geleitet und die wichtigen Entscheidungen getroffen hatte. Zufrieden, alles den fähigen Händen seiner Frau zu überlassen, hatte Mr Kirkwood sich in seine Bibliothek zurückgezogen und mit seiner Korrespondenz beschäftigt oder war über den Besitz geritten, wobei er die Verbesserungen, die seine nimmermüde Frau bewirkt hatte, bewunderte und sie zu neuen ermutigte.
Zum Entsetzen aller war es ausgerechnet die lebhafte und eher robuste Mrs Kirkwood gewesen, die an einer Lungeninfektion gestorben war, die in der Gegend umging, als Juliana achtzehn war und Thalia gerade mal acht Jahre. Ihr Tod traf alle tief, aber besonders Mr Kirkwood, der in den Monaten nach ihrem Dahinscheiden wie benommen durchs Haus und über seine Ländereien wanderte. Fast war es, als sei es ihm nicht möglich, die Tragödie, die ihn getroffen hatte, zu begreifen.
Er hatte sich nie, das wusste Juliana, von dem Verlust seiner Frau erholt. Keiner von ihnen hatte das, erkannte sie, und es versetzte ihr einen Stich. Ihre Mutter fehlte ihr unsäglich, und bis zum heutigen Tag rechnete sie insgeheim noch immer damit, dass die Tür aufgehen und ihre Mutter auf der Türschwelle stehen würde, mit geröteten Wangen und triumphierend lächelnd wegen eines Erfolgs im Garten, in der Küche oder in einer Auseinandersetzung mit dem brummigen Gutsinspektor auf Kirkwood. Jetzt mehr noch als sonst wünschte sich Juliana die ruhige Hand ihrer Mutter an den Zügeln ihrer aller Leben. Mutter hätte genau gewusst, wie man mit Ormsby umgehen musste, überlegte sie. Mutter hätte gar nicht erst zugelassen, dass es überhaupt so weit kam. Mutter hätte seine Drohungen nicht geduldet und ihn mit einem Paar Ohrfeigen seiner Wege geschickt. Schuldgefühle überwältigen sie schier. Ihre Mutter hätte sofort gewusst, was Ormsby im Schilde führte und es ihm untersagt, Nachbar oder nicht, Marquis oder nicht, weiter Thalia nachzusteigen. Es ist meine Schuld, gestand sich Juliana schmerzlich ein. Ich hätte Thalia besser mit allem vertraut machen müssen, sie vor möglichen Gefahren warnen und besser auf sie achten müssen. Mutter hätte das getan und Mutter hätte einen Weg gefunden, Ormsby in die Schranken zu weisen. Entschlossenheit durchflutete sie. Und das werde ich auch, schwor sie sich. Das werde ich.
Juliana schob energisch das Kinn vor, und sie sagte laut: „Ich werde einen Weg finden, uns sicher aus der Klemme zu holen – mach dir keine Sorgen. Thalia wird ihren Earl heiraten, und wir werden Ormsby mit seinen eigenen Waffen schlagen.“
Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen erwiderte Mr Kirkwood leise: „Du klingst genau wie deine Mutter. Sie war sich immer so sicher, dass sie alle Schwierigkeiten überwinden konnte, die sich vor ihr auftaten.“
Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und hauchte einen weiteren Kuss auf seine Stirn.
„Nun gut“, erklärte sie, „dann werden wir einfach in Mutters Fußstapfen treten, ja? Sie hätte sich von Ormsby nicht unterkriegen lassen, und wir werden das auch nicht.“
Erschöpfter, als sie vorher bemerkt hatte, stieg Juliana die Stufen hoch. Sie scheute vor der Unterhaltung mit Thalia zurück. Nicht weil Thalia ihr Vorwürfe machen oder ihr die Schuld für den Misserfolg des heutigen Abends geben würde, sondern weil dieses unglaublich liebreizende Gesicht sich verziehen würde, die seelenvollen blauen Augen sich mit Tränen füllen und Thalia schließlich von Schuldgefühlen geplagt, zusammenbrechen und schluchzen würde. Das war für Juliana schwer zu ertragen. Niemand machte sich mehr Vorwürfe als Thalia sich selbst, dass sie sie in diese missliche Lage gebracht hatte. Niemand litt mehr darunter. Das Kind reibt sich völlig auf, und damit muss Schluss sein, entschied Juliana, als sie vor der Tür zum Zimmer ihrer Schwester stehen blieb.
Es war nicht zu leugnen, dass Thalia einen Fehler gemacht hatte, und Juliana versuchte auch gar nicht, so zu tun, als sei es anders. Während es also in der Tat Thalias Fehler war, hatte Juliana wiederholt versucht, Thalia zu der Einsicht zu bewegen, dass sie nicht völlig allein dafür verantwortlich war. Der Hauptteil der Schuld lag bei Ormsby. Selbst wenn er von Beginn an vorgehabt hätte, sie zu heiraten, war Juliana der Ansicht, hätte er die Sache nie so angehen sollen, wie er es dann getan hatte. Ihre Augen wurden schmal. Der hinterhältige Schuft wusste, dass ihr Vater Thalia nie eine Verbindung hätte eingehen lassen, bevor sie ihre erste Saison erlebt hatte; daher hatte Ormsby sich daran gemacht, ihnen auf hinterhältigste Weise den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Verärgerung brannte in ihrer Brust, als sie sich an Sonntagabend und Ormsbys grässlichen Besuch erinnerte. Als er den ersten von Thalias Briefen vor ihrem Vater auf den Tisch gelegt und alles gestanden hatte, war er so selbstgefällig gewesen, so zuversichtlich, dass er den Raum als Thalias zukünftiger Ehemann verlassen würde. Er war davon überzeugt gewesen, dass seine Drohung, die Briefe öffentlich zu machen, ihm die sofortige Zustimmung zu seinem Antrag einbringen würde. Und dem wäre auch so gewesen, wenn die Geschichte mit Caswell nicht bereits so weit gediehen gewesen wäre. Wenn Thalia sich nicht rettungslos in den Earl verliebt hätte und wenn ihr Vater nicht bereits seine Einwilligung zu der Verbindung gegeben hätte, dann hätte Mr Kirkwood höchstwahrscheinlich im Angesicht von Thalias Briefen Ormsbys Verlangen stattgegeben und ihm Thalias Hand zugesagt.
Juliana lächelte entschlossen. Die Dinge waren nicht so gelaufen, wie Ormsby es geplant hatte. Ihr Vater war entsetzt gewesen, aber er hatte dem Marquis kühl erklärt, sein Verhalten sei zu verurteilen, und dass er nie seine Zustimmung zu der Verbindung geben würde. Nach Ormsbys scharfer Entgegnung, er werde Thalia heiraten, egal ob mit fairen oder unfairen Mitteln, war er aus dem Haus gestürmt. Daran angeschlossen hatte sich ein tränenreiches Gespräch zwischen einer erschütterten Thalia, Juliana und Mr Kirkwood. Im Moment war das Verhältnis zwischen ihm und seiner jüngeren Tochter gespannt und so unangenehm, wie es in jener Nacht gewesen war. Er war verletzt und enttäuscht und Thalia von Schuldgefühlen und Reue geplagt, und Juliana konnte nur daneben stehen und nichts tun.
Wir stecken hier in einer ganz schrecklichen Klemme, gestand sich Juliana ein, als sie die Tür zu Thalias Schlafzimmer öffnete.
Ihre Schwester sprang aus dem Stuhl auf, auf dem sie bei Julianas Eintreten gesessen hatte.
„V-vater? Ist er immer noch sehr böse auf mich?“ Thalia sah in dem weit geschnittenen Nachthemd aus jungfräulich weißem Batist sehr jung und verängstigt aus.
Juliana lächelte und schüttelte den Kopf.
„Nein, Kleines, er ist nicht böse auf dich. Das war er nie. Er ist über die Situation verbittert.“
„Aber das ist alles nur meine Schuld. Ich verdiene es nicht, Piers zu heiraten! Oh, ich wünschte, ich wäre nie geboren worden.“
Damit warf sich Thalia aufs Bett und begann mit heftig zuckenden Schultern haltlos zu schluchzen. Juliana ließ sich auf der Matratze neben ihr nieder und rieb ihr beruhigend den Rücken, wartete, bis das Schlimmste von dem Sturm vorüber war.
Schließlich hob Thalia ihr tränenfeuchtes Gesicht und sah ihre Schwester niedergeschlagen an.
„Oh, Juliana, was sollen wir nur tun? Ich kann Ormsby nicht heiraten! Ich hasse ihn! Ich weiß, ich dachte, ich sei in ihn verliebt, aber das stimmt nicht. Er ist grässlich.“ Ein sorgenvoller Ausdruck legte sich über ihre Züge.
„Vater wird mich nicht dazu zwingen, oder?“
„Sei kein Schaf! Vater hat nicht die leiseste Absicht, Ormsby zu erlauben, seinen Willen zu bekommen.“ Sie strich Thalia eine ihrer herrlichen silberblonden Locken aus der Stirn.
„Und wann hätte Vater dich je zu etwas gezwungen, das du nicht wolltest, hm?“
Thalia rang sich ein Lächeln ab.
„Ich weiß, dass ich verwöhnt bin, aber ich hatte nie vor, je solchen Ärger zu verursachen.“ Sie schaute weg.
„Es war nur so aufregend zu der Zeit. Ich wusste, dass es falsch war, aber ich fühlte mich so erwachsen – zum ersten Mal in meinem Leben. Niemand hatte mir vorher viel Aufmerksamkeit geschenkt, so wie er. Es ist nicht so, dass ich mich nicht geliebt gefühlt habe von dir und Vater oder dass ihr mich vernachlässigt hättet oder irgend so etwas Schreckliches. Aber Vater vergräbt sich ständig in seinen Büchern, und du hast immer zu tun, sodass ich mich manchmal wie ein Schatten gefühlt habe, der das Leben aller anderen nur beobachtet. Lord Ormsby war an mir interessiert.“ Ein flehender Ton schlich sich in ihre Stimme, als sie fragte: „Kannst du das verstehen?“
Jedes ihrer Worte traf Julia wie ein Stich mitten ins Herz. Ja, das konnte sie verstehen. Sie waren mit ihren eigenen Leben beschäftigt gewesen, und weder sie noch ihr Vater hatten erkannt, dass Thalia, frisch aus dem Schulzimmer und voller Eifer, ihre Flügel auszubreiten, sich ausgeschlossen und unbeachtet gefühlt hatte. Ormsby, überlegte Juliana bitter, hatte die Situation rücksichtslos ausgenutzt.
„Ich verstehe, Kleines, und ich mache mir selbst Vorwürfe deswegen“, erklärte Juliana.
„Wenn ich doch nur …“
„Oh, Juliana, nicht. Ich bitte dich, es ist ganz bestimmt nicht deine Schuld. Du warst immer nur wunderbar zu mir. Ich, ich allein bin schuld. Ich allein.“ Thalia barg ihr Gesicht in den Laken und begann wieder zu schluchzen.
„Es würde mir nur recht geschehen, wenn ich Ormsby heiraten müsste. Ich bin ja so schlecht!“
„Was du bist“, widersprach Juliana ruhig, „ist todlangweilig. Solche Theatralik und so viele Tränen. Ich sage dir, ich glaube nicht, dass ich je so eine Tragödien-Liese gesehen habe – noch nicht einmal auf der Bühne! Warte! Vielleicht wäre das eine Möglichkeit für dich, wegzulaufen und zur Bühne zu gehen.“
Thalia verschluckte ein halbes Lachen und setzte sich auf.
„Danke“, antwortete sie und wischte sich die Tränen von den Wangen.
„Du verhilfst mir immer zu der Einsicht, wie dumm ich mich anstelle.“ Ihre wunderschönen Augen spiegelten ihre Sorgen wider.
„Aber was tun wir jetzt?“
„Wir werden“, sagte Juliana und stand dabei auf, „Ormsby eins auswischen. Er hat deine Briefe irgendwo. Ich habe fest vor, sie zu finden.“
Ehrfürchtig schaute Thalia sie an und fragte: „Oh, Juliana, kannst du das?“
„Natürlich kann ich das“, erklärte Juliana rundheraus.
„Jetzt ab ins Bett mit dir. Wir können es nicht zulassen, dass wenn Piers morgen kommt, seine liebreizende Braut ihn mit verquollenen Augen und einer roten Nase empfängt. Gütiger Himmel! Es ist schlicht undenkbar, dass die hinreißende Miss Kirkwood unter solch gewöhnlichen Beschwerden leidet.“
Thalia kicherte.
„Dann ist es ja nur gut, dass er mich nicht gesehen hat, als ich Mumps hatte. Erinnerst du dich noch, wie geschwollen mein Gesicht war?“
Juliana erschauerte übertrieben.
„Entsetzlich. Er wäre höchstwahrscheinlich schreiend aus dem Haus gerannt.“
„Danke“, sagte Thalia noch einmal, und ihre blauen Augen waren sanft und voller Zuneigung.
„Es kann keine klügere und bessere Schwester auf der ganzen Welt geben als dich.“
Ihr eigenes Gesicht spiegelte ihre Liebe zu ihrer Schwester wider, als Juliana sich vorbeugte und einen flüchtigen Kuss auf Thalias Stirn hauchte.
„Du bist ein gutes, süßes junges Mädchen und wirst von allen geliebt. Vergiss das nicht, wenn du einschläfst.“
Damit verließ sie ihre Schwester und betrat ihr eigenes Schlafzimmer. Es gelang ihr, ihre Zofe Abby anzulächeln und mit ihr über den Ball des vergangenen Abends zu plaudern, während Abby ihr beim Ausziehen behilflich war und ihr ein weiches Nachthemd über den Kopf streifte. Erst als Abby gegangen und Juliana wieder allein in ihrem Zimmer war, verblasste ihr Lächeln, und ihre Schultern senkten sich.
Im Dunkeln lag sie im Bett, und die Bürde der Verantwortung lastete schwer auf ihr, alles wieder in Ordnung zu bringen. Sie befanden sich in einer prekären Lage, und es war nun eindeutig an ihr, alles wieder ins Lot zu bringen. Sie musste Ormsby diese Briefe abjagen! Thalias und ihres Vaters Glück hingen davon ab.
Wenn sie nur in der Lage gewesen wäre, Ormsbys Schreibtisch heute Nacht gründlich zu durchsuchen und die Briefe zu finden! Aber Ormsby, der Teufel, war ihr nachgegangen und hatte alle Hoffnung darauf zunichtegemacht. Allerdings, wenn Asher nicht da gewesen wäre, versteckt hinter den Vorhängen, hätte sie, sobald Mr Kingsley seinen Freund Ormsby abgelenkt und aus dem Zimmer entfernt hatte, ihre Suche beenden können, ehe sie in den Ballsaal zurückkehrte.
Sie runzelte die Stirn und dachte über das nach, was Ashers Anwesenheit an diesem Abend in Ormsbys Bibliothek bedeutete. Was hatte er im Schilde geführt? Keinen Augenblick glaubte sie, dass er zum Ball eingeladen gewesen war. Trotzdem hatte er sich in Ormsbys Bibliothek versteckt … Ob Ormsby Asher am Ende auch erpresste?
Juliana setzte sich in ihrem Bett auf, ohne etwas von dem nächtlichen Lärm auf den Londoner Straßen zu merken, während sie über die Geschehnisse in der Bibliothek nachdachte. Asher hatte nichts Gutes vorgehabt, das lag auf der Hand. Warum sonst hätte er sich hinter den Vorhängen verborgen? Warum sonst hätte er ihr den Mund zugehalten und ihre Anwesenheit geheim gehalten? Er hätte so tun können, als hätten sie ein heimliches Stelldichein, aber das hatte er nicht getan. Ihre Augen wurden schmal. Asher hatte nicht mehr in Ormsbys Bibliothek entdeckt werden wollen als sie … was nur heißen konnte, dass er etwas zu verbergen hatte.
Da sie Asher kannte, war es sehr gut möglich, dass Ormsby etwas Schändliches über ihn wusste, von dem Asher lieber nicht wollte, dass es bekannt würde. Asher Cordell war immer schon geheimnisvoll gewesen, war in der Gegend immer wieder aufgetaucht und verschwunden, ganz nach Belieben, und ohne je zu erklären, wo er gewesen war oder was er dort getrieben hatte. Die Quelle seines Vermögens, von dem es hieß, es sei ansehnlich, war ebenso ein Geheimnis. Seine Großmutter, die liebe Mrs Manley, hatte gelegentlich vage Andeutungen über Investitionen gemacht, aber sonst herzlich wenig erzählt. Juliana rümpfte die Nase. Niemand wäre so unhöflich, genauer nachzufragen, außer Ormsby …
Konnte Ormsby etwas Ehrenrühriges über Asher herausgefunden haben? Und Asher versuchte es sich zu holen? Hmm. Wenn Asher ohnehin in Ormsbys Sachen herumschnüffelte, nach etwas suchte, was auch immer es war, das ihn heute Nacht in die Bibliothek geführt hatte, war er vielleicht bereit, ihr bei der Aufgabe zu helfen, Thalias Briefe zurückzubekommen.
Ein schrecklicher Gedanke kam ihr. Aber wenn Asher Erfolg hatte, tauschte sie dann am Ende den einen Erpresser gegen einen anderen ein? Sie schüttelte den Kopf. Nein. Auch wenn er sie bis zur Weißglut reizen konnte, Juliana war überzeugt davon, dass Asher nicht so tief sinken würde, sie zu erpressen. Sie kicherte fast. Außerdem wollte er Thalia ja gar nicht heiraten. Und wenn er Ormsbys Sachen durchwühlte, konnte er gleich auch noch für sie suchen.
Zum ersten Mal seit Ormsbys Besuch am vergangenen Sonntag legte sich Juliana in ihre Kissen und verspürte Hoffnung. Während der Schlaf sie langsam überwältigte, formte sich in ihrem Kopf ein nebulöser Plan. Sie würde mit Asher sprechen. Asher würde ihr helfen.