Leseprobe Ein Baby für Mr Right

1

Chris

Heute, Ende November

Ich bin schwanger, das ist alles was auf der Ansichtskarte steht, die heute mit der Hauspost in die Kanzlei geflattert ist. Eine Postkarte aus Hawaii, aus O’ahu, um genau zu sein. Was hat das zu bedeuten? Ist das ein Witz? Ich erinnere mich, dass ich Nika gebeten hatte, mich zu überraschen, aber das …?

Es muss ein Scherz sein – ein schlechter. Vermutlich möchte sie damit einen Rückruf meinerseits provozieren. Anders als ich es ihr versprochen habe, habe ich mich nämlich seit vier Wochen nicht gemeldet. Asche auf mein Haupt. Kaum hatte mich die Arbeit fest im Griff, waren der Urlaub und die wunderschöne Hawaiianerin, die ich dort getroffen habe, vergessen. Leider. Traurig aber wahr. Die Pflichten eines Strafverteidigers nehmen nie ein Ende. Freie Zeit ist permanent knapp bemessen.

Immer noch fassungslos, starre ich auf die drei Wörter: Ich bin schwanger.

Ist das überhaupt möglich? Ganz ehrlich?

Ich krame in meinem Gedächtnis, kann mich aber an keine Material- oder Nachschubprobleme erinnern. Wir haben jedes Mal ein Kondom benutzt. Ohne Ausnahme. Gummis an die Macht. Sogar bei unserer heimlichen Nacktbadeaktion habe ich darauf bestanden. Beim Thema Verhütung und Schutz mache ich keine Kompromisse. Ich habe ein aktives Sexleben und bin für Sicherheit auf ganzer Linie. In regelmäßigen Abständen lasse ich mich testen, weil es mir wichtig ist. Ich bin gesund. Und Nika ist ganz sicher nicht schwanger. Auf keinen Fall.

Das muss ein Irrtum sein.

Ein makabrer Spaß, der es schafft, mich von meinem hohen Arbeitspensum aufsehen zu lassen.

Wollte ich nicht einen Liebesbrief von ihr bekommen? Unter Umständen ist das ihre Art, Liebesbriefe zu schreiben. Haha. Ich konnte Liebeserklärungen noch nie etwas abgewinnen.

Zu kitschig.

Zu sentimental.

Zu viele Informationen zwischen den Zeilen.

Dass die Postkarte weder kitschig noch sentimental ist, noch versteckte Informationen enthält, ignoriere ich. Unverblümter als Ich bin schwanger geht es schließlich kaum.

Wieso habe ich Nika um einen Liebesbrief gebeten? An dem Morgen muss ich noch im Halbschlaf gewesen sein. Anders lässt sich das Dilemma nicht erklären. Für gewöhnlich verhalte ich mich anders.

Ein ziemliches Missverständnis. Ich muss völlig neben mir gestanden haben.

Fest entschlossen, Nika nach Feierabend anzurufen, lege ich die Postkarte mit der Schrift nach unten auf meinen Schreibtisch. Mir ist deutlich wohler, wenn ich nicht ständig das Wort schwanger vor Augen habe. Es verursacht mir eine Gänsehaut.

Der Plan, mit meiner Urlaubsliebelei erstmal zu telefonieren, ist gut, sogar grandios. Ich muss nicht Hals über Kopf in das nächste Flugzeug springen und nach Hawaii fliegen. Langsam an das Problem herantasten und nichts überstürzen, lautet meine Devise. Sollte Nika tatsächlich schwanger sein, wird sie mit mir am Telefon darüber reden. Und wenn sie es nicht von sich aus anspricht – aus welchen Gründen auch immer –, werde ich sie auf die wenig spaßige Liebesbriefpostkarte festnageln. Ich werde ganz sicher nicht Vater. Das ist unmöglich.

Ein Klopfen an der Tür holt meine Gedanken zurück ins Büro.

Argwöhnisch sehe ich auf die Uhr und rufe herein. Wer kann das sein? Termine habe ich heute keine mehr. Der Arbeitstag ist fast um.

„Hey.“ Mein Freund Pierce steckt den Kopf durch den Türschlitz. „Hast du Zeit oder bist du im Stress?“

„Komm rein.“ Da ich weiß, dass er aus dem Gericht kommt, wo gerade ein Fall verhandelt wird, bei dem sein Vater, eine nicht unerhebliche Rolle spielt, bin ich gerne bereit, meine kostbare Zeit mit ihm zu teilen. Dafür sind Freunde schließlich da. Pierce hat es gerade nicht leicht.

„Wie läuft es?“, frage ich, kaum dass mein Besucher sich gesetzt und lange ausgeatmet hat. Dem Anschein nach könnte es besser gehen.

„Mittelmäßig“, bestätigt Pierce meine Vermutung. „Der Staatsanwalt ist eine Ratte.“

Mehr sagt er nicht.

„Eine Ratte?“, frage ich nach.

„Yep. Eine fiese Irving-Ratte.“

„Du kannst Owen Irving also nicht ausstehen und das, obwohl er deinem Vater hilft, sich aus dem Drecksloch, in das er sich selbst befördert hat, zu befreien?“

„Richtig erkannt.“ Pierce fährt sich durch die Haare, die ungewöhnlich zerzaust aussehen. Zweifellos rauft er sich die nicht zum ersten Mal am heutigen Tag. „Die Art, wie dieser eingebildete Gockel durch den Gerichtssaal spaziert, macht mich wahnsinnig. Dieser …“ Mein Freund hält plötzlich inne – sein Blick ist argwöhnisch. „Warum liegt eine Ansichtskarte vom Diamant Head auf deinem Schreibtisch?“

Bravo und Tusch! Das hätte kaum schlechter laufen können. Mist!

„Äh …“

Natürlich ist es zu spät, die Post zu verstecken.

Der stets Wissbegierige schnappt sich die brisante Karte, bevor ich ihn aufhalten kann.

„NEIN!“, versuche ich es trotzdem.

Er runzelt die Stirn und sieht hoch, kaum dass er die wenigen Worte gelesen hat. „Wer ist schwanger?“

Noch mal Mist!

Nun verspüre ich einen Drang, mir die Haare zu raufen. Gleich nachdem ich meinem Freund die Karte aus der Hand gerissen und sie in meiner Schreibtischschublade verstaut habe.

„Niemand. Das ist ein Spaß.“ Ich schnappe mir die Karte, lasse sie verschwinden und fahre mir durch die Haare.

„Wer ist Wanika?“

Steht ein Name auf der Karte? Ist mir gar nicht aufgefallen. „Kennst du nicht. Du wolltest mir etwas über den Staatsanwalt erzählen. Was hat Irving gemacht, außer eingebildet zu stolzieren?“ Es ist ein schwacher Versuch, beim Thema zu bleiben.

Pierce mustert mich. Er wirkt perplex und verwirrt zugleich. „Wirst du tatsächlich Vater?“

Teufel! Bitte nicht!

„NEIN, zum Geier. Das ist ein Spaß. Ich werde Nika nachher anrufen und fragen, was dieser Quatsch zu bedeuten hat.“

Mit schüttelndem Kopf zeigt Pierce mir seine Fassungslosigkeit. „Erzähl mir bitte nicht, dass du in unserem Urlaub auf Kondome verzichtet hast. Wir sind keine Teenager mehr, Chris. Muss ich dir ernsthaft einen Vortrag über Verhütung halten?“

Gott bewahre. Was für eine grauenhafte Vorstellung.

„NEIN!“, kommt es zum dritten Mal lautstark über meine Lippen. Ich stehe auf, weil ich unmöglich sitzen bleiben kann. „Sex ohne Kondom kommt für mich nicht infrage“, stelle ich klar, damit mein Freund aufhört, mich anklagend anzustarren. Mich trifft keine Schuld.

„Gut.“ Erleichterung ist rauszuhören. „Aber Kondome können Materialfehler aufweisen. Winzig kleine Löcher … du verstehst. Gummis sind nicht hundertprozentig sicher.“

Grundgütiger. Der Mann kennt kein Erbarmen.

„Bist du bald fertig? Ich werde nicht Vater.“ Es auszusprechen, macht es irgendwie schlimmer. Ich muss dringend diese Unsicherheit loswerden. Was, wenn doch …?

„Möchtest du mir von deiner Wanika erzählen?“ Der Spaßvogel vor meinem Schreibtisch hebt eine Augenbraue. „Arbeitet sie zufällig im Lailani Beach Hotel?“

Ich habe verloren.

„Sie wird nur Nika gerufen. Außerdem geht dich das nichts an.“ Ich lasse mich zurück auf meinen Stuhl fallen. „Fliegst du am Wochenende zu Ana?“

Pierce beginnt zu strahlen. Mit dem ganzen Gesicht. Mit dem ganzen Körper. „Jaaaa.“

Wie ist es möglich, diese Verliebtheit mit nur einem Wort auszudrücken? Für einen knallharten Strafverteidiger benimmt sich Pierce unmöglich.

Dass seine Hand prompt und wie ferngesteuert zu dieser Hässlichkeit um seinen Hals wandert, ist beängstigend. Ich glaube, es ist ein Reflex, genau wie das dämliche Grinsen. Pierce bemerkt es nicht mal. Immer wenn ich ihn nach Ana frage, fasst er die Krawatte mit dem Ananasprint an. Sie ist scheußlich und passt farblich nur zur Hälfte seiner Anzüge. Dass sie unglaublich billig aussieht, können auch die teuren Maßanzüge, die er tagtäglich trägt, nicht wettmachen. Vermutlich ist das Ding aus Polyester.

Da lobe ich mir meinen Schneider. Bei mir stimmt alles farblich und qualitativ überein. Für jeden Anzug habe ich mindestens drei Krawatten zur Auswahl. Kein einziges Stück in meinem Kleiderschrank sieht billig aus. Wie auch? Nichts davon war billig. Nichts habe ich geschenkt bekommen.

Ich zwinge meinen Blick weg von der Krawatte. „Schön für dich“, kommentiere ich das Verhalten und gönne mir einen Seufzer.

„Möchtest du mitkommen?“, fragt er aus heiterem Himmel. „Ich könnte uns einen frühen Flug buchen.“ Mein Freund lacht über seinen eigenen Witz. Pierce hasst frühe Flüge, es sein denn, sie gehen von Chicago nach Honolulu. In dem Fall steht er auch mitten in der Nacht auf.

„Nein, danke“, antworte ich, kann aber den Gedanken nicht vollständig verbannen. Je nachdem wie das Telefongespräch mit Nika verläuft, überlege ich es mir möglicherweise noch anders. Die Sache ist äußerst merkwürdig.

Nika

Meine Handflächen sind feucht, mein Mund ist trocken und mein Herz schlägt schneller als üblich. So elendig habe ich mich noch nie gefühlt. Seit zwanzig Minuten laufe ich vor der Klinik auf und ab. Mein Termin ist in fünf Minuten. Viel Zeit habe ich nicht mehr, um die benötigte Kraft aufzubringen. Ich muss nur durch die Tür treten, mich an der Information melden und die Papiere, die mir vorher per E-Mail zugeschickt wurden, abgeben. Unterschrieben habe ich sie längst.

Und dann …

Was dann? Dann würde der Spuk ein Ende haben.

Ich sehe auf die Einwilligungserklärung in meiner Hand. Möchte ich die Abtreibung wirklich machen lassen und zum Mörder werden? Die Frage stelle ich mir, seit ich den Termin gemacht habe. Will ich wirklich einem kleinen unschuldigen Geschöpf verwehren das Licht der Welt zu erblicken, nur weil ich unachtsam war?

Oh Gott!

Stopp!

Der Gedanke, ein Leben, wenn auch noch nicht richtig begonnen, zu beenden jagt mir Angst ein, doch jede Frau hat ein Recht auf Selbstbestimmung. Eine Abtreibung macht eine Person nicht zu einem schlechten Menschen – oder?

Warum habe ich diese Gedanken? Es ist falsch – grundsätzlich falsch. Das Wirrwarr in meinem Kopf macht mich verrückt. Seit zwei Tagen habe ich nicht geschlafen und zu wenig gegessen.

Meine Füße tragen mich zu der Bank, die vor der Klinik steht und, den Kippen auf dem Boden zufolge, häufig für eine Zigarettenpause genutzt wird. Mit schwerem Herzen lasse ich mich auf der Sitzfläche nieder und lege meine freie Hand vor den Unterbauch. Die unbewusste Geste verwirrt mich … und das nicht zum ersten Mal. Als wollte ich mein Kind vor mir selbst beschützen. Vor dummen und überstürzten Entscheidungen.

Es ist zum Verzweifeln.

Verdammt!

Ich will nicht.

Ich kann nicht.

Tief in mir drin möchte ich nicht da reingehen und ein ungeborenes Leben beenden. Es geht nicht. Es wäre höchstwahrscheinlich eine vernünftige Entscheidung, aber es wäre nicht die richtige. Bestimmt gibt es Frauen, deren Zwangslage meiner ähnelt und für die eine Abtreibung die beste Entscheidung ist – mir steht ein Urteil darüber nicht zu, jede Situation ist anders – aber für mich möchte ich es nicht.

Nicht heute.

Niemals.

Obwohl ich das Gefühl verspüre, keine Wahl zu haben, stimmt das so nicht. Ich habe eine Wahl. Man hat immer eine Wahl. Der Leitspruch meiner Mutter hallt in mir nach, als hätte sie ihn in diesem Augenblick laut ausgesprochen. Warum muss ich ausgerechnet jetzt an sie denken?

Meine Mutter war gebürtige Hawaiianerin und eine unglaublich starke Frau. Eine der stärksten, die ich kennenlernen durfte. Inoa ‘Aulani hat mich allein großgezogen und dadurch auf vieles in ihrem Leben verzichten müssen. Genau wie ich, arbeitete sie jahrelang als Zimmermädchen in verschiedenen Hotels auf O‘ahu. Leider ist sie zu früh, mit achtundfünfzig Jahren, gestorben. Ich war gerade zwanzig geworden, als sie bei einem Verkehrsunfall starb und mich allein zurückließ. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. In meiner Kindheit habe ich meine Mutter oft nach ihm gefragt, aber sie hat sich stets geweigert über ihn zu sprechen. Er wäre nicht wichtig, lautete ihre Antwort meist. An einem melancholischen Tag, an dem zu viel Alkohol im Spiel war, verriet sie mir, dass er nicht auf Hawaii lebt und nie von mir erfahren hat.

Es ist erschreckend, wie das Leben sich in Dauerschleife wiederholt. Meine Mutter war ein alleinerziehendes Zimmermädchen ohne Perspektiven. Und ich?

Ich bin in neun Monaten ebenfalls ein alleinerziehendes Zimmermädchen ohne Perspektiven.

Repeat gedrückt. Alles auf Anfang gesetzt.

Mein Blick fällt auf die Einwilligungserklärung und schweift anschließend zur Eingangstür. Die Zeit rinnt. Die Ärzte warten nicht auf mich. Jetzt bin ich schon fünf Minuten über meinem Termin.

Bestimmt wird mir ein unverschämter Betrag in Rechnung gestellt, sollte ich den Eingriff, ohne abzusagen, sausen lassen. Aber das ist mir egal. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Gerade eben. Spontan und aus dem Bauch heraus.

Mein Baby wird zur Welt kommen.

Ja, das wird es.

Wanika ‘Aulani wird nicht kneifen und sich vor der Verantwortung drücken. Meine Mutter hat es auch nicht getan. Ohne ihren Schneit und den Mut, den es braucht, sich für ein Kind zu entscheiden, gäbe es mich nicht. Ich bin es meinem Baby schuldig, genauso zu handeln. Es gibt immer Möglichkeiten. Wenn ich es nicht behalten will oder kann, ist Adoption eine Lösung - eine von vielen. Mir wird schon etwas einfallen. Ich habe noch Monate lang Zeit, darüber nachzudenken. Genauer gesagt, knapp neun. Gut.

Einverstanden, schließe ich einen Vertrag mit mir selbst und streiche mir über den Bauch. Es wird klappen. Irgendwie.

Mein Herz schlägt augenblicklich ruhiger, seit ich den Entschluss gefasst habe, mein Baby zu behalten. Mit dem Gefühl, das Richtige zu tun, erhebe ich mich, drehe der Klinik den Rücken zu und atme tief durch. Ruhigen Schrittes mache ich mich auf den Weg.

Hoffentlich macht Paulo mir keinen Strich durch die Rechnung. Für alle Beteiligten wäre es am besten, wenn er niemals erführe, dass ich mich für das Baby entschieden habe.

 

Obwohl ich mir für die Abtreibung eine Woche frei genommen habe, mache ich mich schnurstracks auf den Weg ins Lailani Beach Hotel. In der Luxusunterkunft, in bester Lage zum Strand, arbeite ich als Zimmermädchen in Vollzeit.

Ich muss Bitsy umgehend von meinem Entschluss, das Baby zu behalten, berichten. Sofort. Elisabeth Sutcliff, Spitzname Bitsy, ist meine beste Freundin. Wir arbeiten seit zwei Jahren für das gleiche Hotel. Bitsy stammt ursprünglich aus Delaware und ist nach einem Backpackertrip in Hawaii geblieben. Sie hat keine besondere berufliche Ausbildung, liebt die Natur und das spontane Leben. Irgendwann kommt sicher der Punkt, an dem sie die Ruhelosigkeit überkommt und sie weiterzieht. Im Stillen hoffe ich, dass es noch ein wenig dauert bis das passiert. Denn ich habe die freche und sehr empathische Draufgängerin in den letzten Jahren liebgewonnen. Mit ihr kann ich über alles reden. Sie ist die Einzige, die von der ungewollten Schwangerschaft gewusst und mich zu nichts gedrängt hat. So wie es sich für eine echte Freundin gehört.

Verständlich, dass ich, kaum dass ich mich entschieden habe, das Bedürfnis verspüre, mit ihr zu reden. Im Stillen hoffe ich, dass Bitsy eine Lösung für mich parat hat. Sie ist kreativ, mutig und offen für alles. Wenn mir jemand helfen kann, den richtigen Weg samt Baby im Gepäck zu finden, dann ist das Bitsy. Hätte ich sie gelassen, wäre sie heute mit mir zur Abtreibungsklinik gefahren, um meine Hand zu halten. Aber das Hotel ist personaltechnisch unterbesetzt, weswegen das nicht möglich war.

Ich lasse mir von James-Dean Makaio, den Bagagist des Hotels, die Tür aufhalten und betrete die Lobby. Der kleine, aber gutgebaute Hawaiianer zwinkert mir zu und zaubert mir mit seiner charmanten Art ein Lächeln ins Gesicht. James-Dean ist ein lieber Junge. Mit seinen sechzehn Jahren macht er sich wirklich gut. Das Lailani Beach Hotel kann sich glücklich schätzen, ihn ausbilden zu dürfen.

Schnurstracks biege ich nach links, um die Räume für das Personal anzusteuern, da bleibe ich abrupt stehen. Hat da jemand meinen Namen gerufen? Oder habe ich mich verhört?

Argwöhnisch drehe ich mich um und blicke zur Anmeldung. Nein. Keiner da.

Bevor ich mich abwenden und endlich nach Bitsy suchen kann, höre ich erneut meinen Namen. Diesmal lauter und aufgebrachter.

Oh Gott, Nika, … es hört sich an wie …

„Chris?“, kommt es mir über die Lippen, während ich mich der Stimme hinter mir zuwende. Überrascht und fassungslos starre ich auf das Szenario am Eingang.

Der Mann mit dem ich vor Wochen einen Urlaubsflirt begonnen hatte, versucht mit einem Handgepäckkoffer durch die Drehtür zu gelangen. Dabei stellt er sich äußerst ungeschickt an und bleibt mit dem ausgefahrenen Bügel im Innenbereich hängen. Die Ungeduld, die er dabei an den Tag legt, macht es ihm noch schwieriger, vorwärtszukommen. Warum nimmt er nicht den breiteren Eingang neben der Drehtür, der für die Gäste mit Gepäck gedacht ist? Und … noch viel wichtiger … was macht Christopher T. Markham auf Hawaii?

Kaum gedacht, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Mit Mühe versuche ich ein wenig trockene Spucke hinunter zu schlucken. Schockstarre.

Die Postkarte.

Die Offenbarung, dass ich schwanger bin.

Ups.

Boden tu dich auf und verschlucke mich. Mit einem Happs. Kurz und schmerzlos, bitte. Mach schnell.

Was habe ich angerichtet? So war das nicht geplant.

Teufel auch!

Der Tag, an dem ich auf das Stäbchen des Schwangerschaftstests gepinkelt habe, war der furchtbarste meines Lebens. Ich war auf das Ergebnis nicht vorbereitet. Das Pluszeichen, welches mir die Schwangerschaft bestätigt hat, hat mich völlig aus dem Konzept gebracht. Durcheinander und nicht zurechnungsfähig beschreiben meinen Zustand an dem Tag nur unzureichend. Ich war völlig durch den Wind. Total überfordert mit mir und der Situation.

Chris ist vor vier Wochen zurück nach Chicago geflogen und hat sich, anders als es ausgemacht war, nicht gemeldet. Nicht mal eine kurze Textnachricht hat er mir geschickt. Nada. Kein Lebenszeichen. Der Schwindler hat mir das Gefühl vermittelt, ich wäre nicht mehr als ein Urlaubsspaß, Sex inklusive. Sein Verhalten, das ich so nicht vorhergesehen hatte, hat mich verletzt und zu dieser wenig durchdachten Tat verleitet. Das war falsch. Ein Fehler, wie ich in diesem Augenblick feststellen muss. Für gewöhnlich verhalte ich mich nicht so kindisch und verbittert.

Für gewöhnlich lasse ich mich nicht mit Touristen ein. Außerdem gehöre ich nicht zu den Frauen, die auf One-Night-Stands stehen.

Ich bin achtundzwanzig und führe ein eher bedeutungsloses Leben. Es gab bisher lediglich zwei feste Beziehungen, die beide nicht länger als ein paar Monate gehalten haben. Dass ich Chris eine Chance gegeben habe, war eine Entscheidung, die ich spontan und unüberlegt getroffen habe. Der Anwalt aus Chicago ist, anders als zu Anfang vermutet, ein sympathischer und unglaublich lustiger Typ. Wir haben uns sofort verstanden und auf derselben Wellenlänge kommuniziert. Obwohl ich nicht an Liebe auf den ersten Blick glaube, war es irgendwie so ähnlich. Genau kann ich es nicht beschreiben. Es hat gefunkt und sich richtig angefühlt.

Wieso habe ich Dummkopf ihm nur diese Postkarte geschickt? Dieser Schnitzer wird sich nicht so leicht wieder ausbügeln lassen. Pech für mich.

Es hat nie in meiner Absicht gelegen, ihn nach Hawaii zu locken. Eigentlich wollte ich nur einen Rückruf provozieren. Nach der Hiobsbotschaft habe ich mich allein und verlassen gefühlt. Ich konnte zwar mit Bitsy reden, aber das hat nicht gereicht. Chris‘ weiche und aufmunternde Stimme hatte ich hören wollen. Außerdem sehnte ich mich nach einer starken Schulter zum Anlehnen. Weil ich zu feige war, ihn anzurufen, habe ich vor einer Woche die Karte in den Briefkasten geworfen und jetzt … ist er tatsächlich da und versucht sich durch eine zu enge Drehtür zu quetschen.

Verrückt!

Wie auf Knopfdruck füllen meine Augen sich mit Tränen. Oh, nein! Wieso passiert das? Sind das etwa die Hormone? Im Normalfall heule ich nicht. Nie. Ich bin eine starke Frau.

Endlich hat er es geschafft und sich durch die zu kleine Öffnung gezwängt. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck und raumgreifenden Schritten kommt mein Urlaubsflirt auf mich zu und zieht das Köfferchen, das so gar nicht zu dem großen und breitgebauten Mann passen mag, hinter sich her. Wie es für Chris üblich ist, trägt er einen Anzug. Natürlich steht er ihm ausgezeichnet, wie immer. Bei unserem ersten Aufeinandertreffen, hier im Hotel, hat er auch einen Anzug getragen. Mehr Tränen schießen mir in die Augen. Es fällt mir immer schwerer, sie zurückzuhalten.

Luftholen und ausatmen, Nika. Luftholen und ausatmen. Immer weiter.

Verdammtes Hormonchaos!

Ist Chris sauer? Auf mich?

Grund genug hätte er.

Reflexartig drücke ich die Einwilligungserklärung, die ich noch in den Händen halte, an meine Brust und ziehe die Nase hoch. Jetzt wird nicht geheult. Die Luft anhaltend, wappne ich mich für den Sturm, der mit hundert Sachen auf mich zugerast kommt.

2

Chris

„Nika!“ Ich komme völlig aus der Puste vor der Frau zum Stehen, die mich in den letzten achtundvierzig Stunden mit ihrer kryptischen Nachricht in den Wahnsinn getrieben hat. „Schaust du eigentlich jemals auf dein Handy? Hast du den Ton ausgestellt? Die Nummer gewechselt? Ist dein Akku leer? Oder ist das verfluchte Ding verloren gegangen?“, spreche ich in lautem Tonfall und registriere, dass die Gesuchte einen Schritt zurückweicht. „Verdammt! Nika! Ich habe mich bemüht, dich zu erreichen“, fahre ich sie schärfer als nötig an und nehme einen dringend benötigten Atemzug. „Mehr als einmal.“

„Ich …“

„Weinst du?“, unterbreche ich sie, bevor sie den Satz vollenden kann. Ich bin ein Idiot. Am liebsten würde ich mich selbst Ohrfeigen. Wie kann ich so aufbrausend über sie herfallen, kaum dass ich durch die Tür des Hotels getreten bin? Für gewöhnlich verhalte ich mich nicht so unsensibel wie ein Felsbrocken.

„Nein“, antwortet sie und wischt sich die Tränen ab, die nicht aufhören wollen zu laufen. Sie rollen immer wieder nach, obwohl Nika das sichtlich unangenehm ist.

Chris, du bist der größte Mistkerl auf dem Planeten.

Wir sehen uns einen Moment an, in dem wir schweigen. Einfach nur dastehen und abwarten. Nika wirkt verstört, aufgelöst und völlig durch den Wind. Ob von meinem Ausbruch oder aus einem anderen Grund, kann ich nicht sagen.

Vier Wochen ist es her, dass ich sie in O‘ahu zurückgelassen habe und in mein Leben nach Chicago zurückgekehrt bin. Vier Wochen lang habe ich mich nicht gemeldet, obwohl ich ihr ein Versprechen gegeben habe.

Mist! Ich bin ein Hornochse.

Ohne länger zu überlegen, lasse ich den verfluchten Handgepäckkoffer, der nur Ärger macht, los und nehme sie in die Arme. Kümmernd und ohne Worte halte ich sie. Mitten in der Lobby des Hotels schlinge ich die Arme um ihren zierlichen Körper. Ihr Kopf landet unter meinem Kinn und schmiegt sich an meine Brust. Nikas Schluchzen wird sogleich heftiger.

Ich streichele ihr über den Rücken und drücke sie an mich. Meine Erfahrung mit emotionalen Frauen ist quasi nicht vorhanden, trotzdem spüre ich, dass sie einen Moment braucht, um sich zu sammeln. Deshalb stehe ich nur da, warte und lasse sie in mein Hemd weinen. Die wenigen Hotelgäste um uns herum blende ich aus. Sie sind nicht wichtig. Sollen sie ruhig gucken.

Was habe ich nur angerichtet? Warum musste ich mich wie ein Berserker aufführen? Was bin ich für eine Niete?

Für mein Verhalten gibt es keine Entschuldigung.

Ich war überrascht und habe nicht damit gerechnet, Nika zu entdecken noch bevor ich das Hotel betreten habe. Die letzten achtundzwanzig Stunden habe ich ununterbrochen versucht, sie zu erreichen. Vergeblich. Zuerst habe ich es auf die Zeitverschiebung geschoben und vermutet, dass sie schläft und das Handy ausgeschaltet hat. Aber am nächsten Morgen blieb sie ebenfalls unerreichbar. Keine Mailbox und auch keine Antwort auf meine unzähligen Textnachrichten, die mit dem Verstreichen der Zeit an Unfreundlichkeit zugenommen haben.

Natürlich habe ich versucht, Nika über das Hotel zu erreichen. Zu dem Zeitpunkt war ich schon auf hundertachtzig. Leider habe ich lediglich die Auskunft bekommen, dass Wanika ’Aulani Urlaub genommen hat und erst nächste Woche wieder zur Arbeit erscheinen würde.

Da ich diese „mögliche Schwangerschaft“ nicht ungeklärt im Raum stehen lassen wollte, habe ich mich in das nächste Flugzeug gesetzt und bin nach Hawaii gerauscht. Zwei Tage nachdem mein Freund Pierce zu seiner Ana geflogen ist.

Und nun stehe ich hier an einem Montag, an dem ich eigentlich im Büro sein sollte, und halte die Frau in den Amen, mit der ich den schönsten Urlaub meines Lebens verbracht habe.

Was für ein Chaos.

Nika hat aufgehört zu schluchzen und atmet ruhiger. Gott sei Dank. Sie völlig aufgelöst zu sehen, gefällt mir überhaupt nicht.

„Nika?“, frage ich, mit deutlich sanfterer Stimme. Ich drücke ihr einen Kuss auf den Scheitel und sauge ihren Duft ein. Sonne, Meer und Salz; danach riecht sie. Kein Mensch, der in einer Großstadt lebt, könnte so unglaublich gut riechen. Es ist ein ganz eigener Duft, den es nur hier auf Hawaii gibt. Ein weiteres Mal atme ich Nika ein, dann löse ich mich ein winziges Bisschen, sodass ich ihr in die Augen sehen kann. Sie sind groß, braun, verheult und wunderschön. „Geht es wieder?“

Sie nickt. „Ja, bitte entschuldige. Ich weiß auch nicht, warum ich so überreagiere. Du hast mich überrascht.“ Sie bemüht sich um ein Lächeln. „Überrumpelt trifft es wohl eher.“

„Nein. Ich muss mich entschuldigen.“ Nika will sich lösen, aber ich lasse sie nicht. Es fühlt sich gut an, sie zu halten. „Ich hätte nicht derart aufbrausen dürfen. Mein Verhalten war falsch.“ Gott, was habe ich sie vermisst. Wie kann ich das erst jetzt bemerken, wo ich sie im Arm halte? Warum ist mir diese Tatsache nicht schon in Chicago bewusst geworden? Weil ich durch die Arbeit, die nie ein Ende nimmt, abgelenkt war, beantworte ich mir die Frage selbst.

Obwohl es mir widerstrebt, lasse ich sie los, als sie erneut zurücktreten will. Mit verkrampfter Hand drückt sie ein Blatt Papier gegen ihre Brust und verknittert es dabei völlig. Ich lese das Wort Einwilligungserklärung in der Überschrift.

Sofort bin ich hellwach.

Was ist das?

„Können wir irgendwohin gehen und reden?“, frage ich sie, da die Lobby nicht der richtige Ort für ein Gespräch wie unseres ist. Alle meine Sinne sind in Alarmbereitschaft.

„Natürlich. Komm.“ Sie greift nach meiner Hand und ich lasse mich von ihr führen. Beinahe hätte ich den vermaledeiten Koffer vergessen. Hätte ich das Ding doch zu Hause gelassen. Ich bleibe eh nur eine Nacht. Morgen muss ich zurück im Büro sein.

Nika führt mich einen Gang hinunter, vorbei an den Personalräumen und durch einen Raum, indem die Koffer der wartenden Gäste deponiert sind. Bevor wir die Hintertür nach draußen ansteuern, lasse ich meinen Koffer im Gepäckraum. Was für ein Glück. Endlich bin ich das lästige Ding los.

Kaum im Freien, treten wir auf eine kleine Terrasse, die auf der Rückseite des Hotels liegt und dem Strand angeschlossen ist. Zwei Liegestühle stehen parat als würden sie auf uns warten. Der Ort ist idyllisch und der Blick aufs Meer grandios.

Nika lehnt sich an das hüfthohe Geländer der Terrasse und schaut aufs Meer hinaus. Ich sehe auf ihren Rücken und bin fasziniert. Die Frau und das Meer gleich vor meiner Nase – wunderschön. Sie trägt ein buntes Sommerkleid, das ihr bis zu den Waden reicht und hat die langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Zu gerne würde ich sie noch mal in den Arm nehmen und küssen. Ich will sie küssen. Wir haben uns noch nicht geküsst, stelle ich mit Erschrecken fest. Kein Begrüßungsküsschen. Nichts. Und alles wegen mir und meiner rüpelhaften Art hier aufzuschlagen.

Reiß dich zusammen, Chris! Ihr habt etwas zu bereden. Küssen hat keine Priorität.

Ich atme einmal tief durch, um mich zu fokussieren.

„Möchtest du mir erklären, was das für eine Einwilligungserklärung ist, die du mittlerweile völlig zerknittert hast?“, fange ich das Gespräch an. Besser ich taste mich langsam heran, als gleich nach der Schwangerschaft zu forschen. Sogar meine Stimme lasse ich fragend und nicht aufbrausend klingen. Ich bin ein Mann, der aus seinen Fehlern lernt.

Nika dreht sich um, sieht erst auf das Papier und anschließend zu mir. „Dies ist die Einwilligungserklärung für die Abtreibungsklinik.“ Sie seufzt, faltet das Blatt und steckt es anschließend weg. „Es gibt kein Baby mehr“, sagt sie und seufzt. „Entschuldige die Postkarte. Mein Handeln war unüberlegt und falsch. An dem Tag, an dem ich die Karte abgeschickt habe, ging es mir nicht gut. Es war eine Überreaktion auf den positiven Schwangerschaftstest. Bitte verzeih mir.“ Tränen füllen ihre Augen. „Du hättest deswegen nicht herkommen müssen.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe mein Handy in den letzten Tagen vernachlässigt und auf keinen Anruf reagiert. Das war verkehrt. Ich war durch den Wind und musste nachdenken. Du hättest nicht herkommen müssen“, wiederholt sie sich und zieht die Nase hoch.

Der Drang, sie in den Arm zu nehmen, ist wieder da. Sogar stärker als zuvor. Mit Mühe halte ich mich zurück. Wir müssen zuerst diese Unterhaltung beenden, es ist wichtig. Danach können wir uns umarmen so viel wir wollen.

„Du warst in einer Abtreibungsklinik?“, frage ich argwöhnisch. Meine Stimme halte ich neutral. Sie soll nicht denken, dass ich vorschnell urteile.

„Ja.“

„Ohne mit mir darüber zu reden?“ Dass ich zu 99,9% nicht der Vater ihres Kindes sein kann, lasse ich außen vor. Es ist später noch Zeit dieses Faktum zu klären.

„Ja.“

Langsam mache ich einen Schritt auf sie zu – pirsche mich heran. „Nika, du vergisst, dass ich Anwalt bin. Vielleicht warst du in einer Klinik, aber für gewöhnlich müssen Patienten ihre Einwilligungserklärung abgeben, bevor sie behandelt werden. Sie nehmen sie nicht wieder mit.“ Ich trete noch einen Schritt näher. „Es sei denn … sie überlegen es sich anders und verzichten auf den Eingriff.“

Treffer versenkt!

Nikas Blick verrät mir, dass ich richtig geraten habe. Sie hat keine Abtreibung machen lassen. Die wundervolle Frau, mit der ich meinen Urlaub verbracht habe, ist noch schwanger. Sie erwartet ein Baby.

Eine Träne rollt ihr über die Wange und ist mir Antwort genug.

Zur Hölle mit meinen Vorsätzen! Ich muss sie einfach in den Arm nehmen. Im Nu überwinde ich das letzte bisschen Abstand und umschlinge sie, wie eben in der Lobby. Erneut rutscht ihr Kopf an die Stelle unter meinem Kinn und erneut fängt sie an zu schluchzen. Ich bin verloren. Sowas von.

„Entschuldige. Ich weiß gar nicht, warum ich immer heule. Das ist nicht meine Absicht. Es passiert einfach.“

„Ist schon gut“, antworte ich und streiche ihr über den Rücken. Die sanfte Bewegung hat sie eben auch beruhigt. Wir stehen da und hören das Meer rauschen. An diesem Plätzchen hinter dem Hotel sind wir wunderbar ungestört.

„Du hast recht“, flüstert sie an meiner Brust und zieht die Nase hoch. „Ich wollte eine Abtreibung machen lassen. Aber … aber … ich konnte es nicht. In letzter Sekunde habe ich mich anders entschieden“, erklärt sie und lässt mich ihre emotionale Labilität spüren.

„Es tut mir leid, dass ich dich nicht erreichen konnte.“ Ich höre nicht auf, meine Hand über ihren Rücken zu bewegen.

Nika stößt ein kleines, wenig lustiges Lachen aus und löst sich. „Du kannst nichts dafür, wenn ich mein Handy ignoriere.“

„Stimmt.“ Ich lasse sie los, aber nicht aus den Augen. „Und jetzt?“ Irgendwie freue ich mich, dass sie sich für die Schwangerschaft entschieden hat. Nika habe ich als eine sehr empathische Frau kennengelernt. Die schwere und deprimierende Last einer Abtreibung hätte sie höchstwahrscheinlich nicht überwunden.

„Jetzt bekomme ich das Baby“, beantwortet sie meine Frage. „Ich werde in neun Monaten Mutter.“ Sogleich schlägt sie sich die Hand vor den Mund, als würde sie die Worte zum ersten Mal sagen. „Ausgesprochen hört sich das seltsam an. Ich kann es mir nicht wirklich vorstellen.“ Die Hand wandert von ihrem Mund zu ihrem Unterbauch.

„Das verstehe ich.“ Der Gedanke, bald die volle Verantwortung für ein neues Leben zu tragen, würde mich ebenfalls beunruhigen. „Hast du schon einen Plan?“ Erneut umschiffe ich die Frage nach der Vaterschaft. Meine Angst, es könnte doch einen unentdeckten „Kondomunfall“ gegeben haben, ist größer als gedacht. Solange Nika mir nicht ins Gesicht sagt, dass ausschließlich ich als Vater infrage komme, kann ich denken, was ich will. Alles ist offen. Wie schön es doch ist, sich selbst zu betrügen.

Sie fängt an, herzhaft und völlig untypisch für die Situation, zu lachen. Ohne aufzuhören, lässt sie sich mit einem Plumps in einen der Liegestühle fallen. „Nein! Kein Plan! Kein Schimmer! Keine Zukunft!“, sagt sie, kaum dass sie sich ein wenig beruhigt hat. „Ich komme gerade von der Abtreibungsklinik und habe erst vor wenigen Minuten beschlossen, das Baby zu behalten. Meine Entscheidung ist sozusagen ganz frisch. Ich habe spontan gehandelt.“

Ohne eine Wertung abzugeben, halte ich inne.

Was soll ich davon halten?

Wenn Nika die Abtreibung gewollt hätte, wäre ich zu spät gekommen. Kein schöner Gedanke. Von der Situation erschöpft und ziemlich verwirrt, setze ich mich in den Liegestuhl neben sie.

„Es gibt immer eine Lösung“, sage ich nach ihrer Hand greifend.

Nika schüttelt den Kopf, lacht aber gleichzeitig. „Du bist wie meine Mutter. Die konnte auch ausgesprochen gut mit schlauen Sprüchen um sich werfen.“

„Konnte?“

„Ja, sie ist vor Jahren gestorben.“

„Und dein Vater?“, frage ich, weil wir während meines Urlaubs nicht über unsere Eltern geredet haben. Wir haben in den paar Tagen sowieso wenig geredet. Wir haben andere Sachen gemacht.

„Ich habe ihn nie kennengelernt. Mein Baby wird ohne Großeltern aufwachsen.“ Sie zögert und räuspert sich. „Das hast du durch die Fragen doch erfahren wollen, oder?“

Erwischt. „War das so deutlich?“ Ich kratze mich am Kopf und versuche, nicht verlegen drein zu schauen.

Nika zuckt mit den Schultern. „Ein bisschen. Sie müssen an ihren Fähigkeiten der Befragung arbeiten, Herr Anwalt.“

Frechheit.

Schmunzelnd beuge ich mich zu ihr und bringe mein Gesicht dicht vor ihres. „War das ein Witz, süße Nika?“

Die schlechteste Witzeerzählerin der Welt hält die Luft an. „Es war ein Versuch“, antwortet sie und bringt ihren Mund vor meinem in Position. „Mit meinem Humor ist es momentan nicht weit her.“

Ein unwesentlicher Fakt.

„Ich werde dich jetzt küssen“, informiere ich sie und spüre, wie die Spannung sich in mir aufbaut. Es kribbelt und knistert bereits zwischen unseren Köpfen. Da ich alle Zeit der Welt habe, diesen Augenblick zu genießen, schiebe ich meine Hand in ihren Nacken, unter ihre gebändigte schwarze Mähne.

„Chris …“ Mein Name klingt gepresst und atemlos.

Keine Unterbrechung, bitte!

„Erst küssen Nika, dann reden.“ Im nächsten Augenblick liegen meine Lippen auf ihren. Warm und feucht spüre ich ihre weiche Haut. Nika stößt einen wohlig klingenden Laut aus und öffnet ihren Mund für mich. Mehr Einladung brauche ich nicht. Meine Zunge schiebt sich vor und sucht ihre. Wow. Ungeahnte Emotionen überrollen mich.

Es fühlt sich an wie nach Hause kommen.

Wahnsinn! Ich möchte mehr.

3

Nika

Wie habe ich diese allesverschlingenden Küsse in den letzten vier Wochen vermisst. Chris küsst unvergesslich gut. Er ist einfühlsam und fordernd zugleich. Bei ihm kann ich mich fallen lassen. Einfach so, ohne nachzudenken.

Nur genießen.

Bevor der Kuss ausartet, löse ich mich von ihm und hole tief Luft. „Danke.“

„Wofür?“ Chris wirkt verwirrt.

Ich zucke mit den Achseln. „Für den Kuss. Dafür, dass du hergeflogen bist … für alles. Einfach, dass du da bist.“

Chris wirkt nachdenklich. Zu nachdenklich.

Sein plötzliches Schweigen bereitet mir Kopfzerbrechen und lässt ein unbehagliches Gefühl in mir aufsteigen. Dass er noch nicht gefragt hat, ob er der Vater meines Babys ist, wundert mich. Hätte das nicht gleich als erstes passieren müssen? Gleich nachdem er mich angeschrien hat, weil ich nicht auf seine Anrufe und Nachrichten reagiert habe?

Zugegeben, eventuell war die Gelegenheit nachzufragen bisher nicht günstig. Schließlich habe ich geflennt und mich wie ein Klammeräffchen an ihn gekrallt, als wäre er mein letzter Halt. Aber trotzdem …

Gut möglich, dass dieses Verhalten eine verdrehte Anwaltstaktik ist, die ich nicht verstehe. Will er mir Sicherheit bieten und anschließend auf den Zahn fühlen? Ein Verhör, wie bei einer Befragung im Zeugenstand, kann ich mir bei Christopher T. Markham durchaus vorstellen. Bisher habe ich eher seine weiche und verständnisvolle Seite kennengelernt. Doch Chris ist ein erfahrener Anwalt. Es wird sicher eine knallharte Markham-Version geben, die ich noch nicht kenne. Ganz bestimmt sogar.

„Nika …“ Chris stockt. „Erzähl mir –“

Bevor er den Satz beenden kann, geht die Tür hinter uns auf. Wir drehen uns zeitgleich um und entdecken James-Dean Makaio, den Bagagist des Hotels, der mir vorhin so freundlich die Tür aufgehalten hat. Seinen, für einen Hawaiianer ungewöhnlichen Namen trägt er, weil seine Mutter ein eingefleischter James Dean Fan ist. In den Liegestühlen, die mit dem Rücken zur Tür stehen, sitzen wir geschützt, sodass er uns nicht sofort entdeckt. Der Junge hält drei Brieftaschen in den Händen und grinst breit und hocherfreut als wäre heute Weihnachten.

Was hat das zu bedeuten?

Was macht der stets freundliche James-Dean mit drei Brieftaschen? Wo hat er die her? Gefunden? Drei auf einmal? Das ist nur schwer vorstellbar.

In dem Moment, in dem er das Bargeld aus einer der Brieftaschen nimmt, räuspert Chris sich und macht auf sich aufmerksam.

James-Deans Blick schnellt nach oben und seine Hände wandern ruckartig, samt der Brieftaschen, hinter seinen Rücken.

Zu spät.

Verstecken nützt nichts.

Geflashed von dem, was ich gerade gesehen habe, klappt mir der Mund auf. Ist James-Dean ein Dieb? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Das kann nicht sein. Aber das Bild vor mir sagt etwas anderes aus.

„Äh … hallo“, stottert der ertappte Langfinger und tritt auf der Stelle. „Ich wusste nicht, dass schon jemand hier ist.“ Mit zögerlichen Schritten bewegt er sich rückwärts. Dabei lässt er Chris nicht aus den Augen. „Entschuldigt die Störung, am besten ich …“

„Stopp!“ Der Mann neben mir ist auf den Beinen, bevor James-Dean sich aus dem Staub machen kann. „Was machst du hier?“ Chris hält ihn an der bordeauxfarbenen Weste fest, die alle männlichen Angestellten des Lailani Beach Hotels tragen.

Ich kann an James-Deans Miene ablesen, wie er händeringend nach einer Antwort sucht.

„Äh … ich bin Bagagist … hinter mir ist der Gepäckraum. Ich habe einige Koffer gebracht und wollte … äh …über die Terrasse zum Strand.“

Stille Wasser sind bekanntermaßen tief. Die Tatsache, dass der hilfsbereite Auszubildende nicht so brav und unschuldig ist, wie ich immer vermutet habe, muss ich erst mal verdauen. Normalerweise kann ich Menschen besser einschätzen.

„Gib mir die Brieftaschen.“ Chris Stimme klingt kalt und unnahbar. Also doch. Wie ich vermutet hatte, gibt es noch einen anderen Chris Markham, eine erbarmungslose Version.

Die beiden Männer scheinen mich völlig vergessen zu haben. Chris funkelt James-Dean an und der Junge versucht, nicht einzuknicken. Es wird ihm nicht gelingen. Da bin ich sicher.

„Warum? Es sind meine.“

Selbstverständlich. Wer‘s glaubt.

„Ich möchte die Brieftaschen.“ Chris streckt die Hand aus. „Aber zackig.“

Oh Gott, ich glaube, ich werde schwach. Der Tonfall und das Auftreten, kombiniert mit diesem Körper, der im Anzug eine unschlagbare Figur macht … wow! Wie soll eine Frau da keine weichen Knie bekommen?

Ich schweige und genieße. Was soll ich auch sonst tun?

„Erst Pierce und nun Sie, ich bin anscheinend vom Pech verfolgt.“ Mit den Worten reicht der Bagagist seinem verdutzten Gegenüber die Beute.

„Was hat Pierce damit zu tun?“ Chris legt den Kopf schief. „Willst du behaupten, dass mein Freund weiß, dass du im Hotel die Gäste ausnimmst?“ Beide Augenbrauen schießen in die Höhe, als ihn die Erkenntnis trifft.

„Nicht von Anfang an.“ James-Dean zuckt mit den Schultern. „Aber nachdem er mich erwischt hat schon.“

Chris schweigt. Er runzelt die Stirn und wirkt angespannt, als würde er eine hochkomplizierte Matheaufgabe lösen.

„Du!“, platzt es Sekunden später aus ihm heraus. „Du hast mir die Brieftasche gestohlen. Vor vier Wochen, als ich Pierce hier im Hotel besucht habe – am Anreisetag. Du hast mir das komplette Bargeld abgenommen.“ Er lässt die Weste los und tritt entsetzt einen Schritt zurück. „Ich fasse es nicht. Du kleiner Scheißer hast mich beklaut und belogen.“

James-Dean rollt mit den Augen. „Pierce hat Sie getäuscht, ich bin unschuldig. Ihr Freund hat behauptet, ich könnte das Bargeld behalten, wenn ich ihm Ihre Brieftasche zurückgebe.“ Der Junge vergräbt die Hände mit einer unschuldigen Geste in den Hosentaschen. „Was regen Sie sich eigentlich so auf? Sie haben sie doch zurückbekommen, oder nicht?“

Die Situation ist unfreiwillig komisch.

Ich muss ein Lachen unterdrücken. Unschuldig ist der gute James-Dean sicher nicht. Wenn der Hotelmanager von diesem Nebenverdienst erfährt, ist er seine Arbeit los. Ebenso die Chance, irgendwo auf der Insel einen neuen Job im Hotelgewerbe zu bekommen. Sollte sich das rumsprechen, kann er nur noch auswandern.

„Na warte“, spricht Chris mehr zu sich selbst als zu uns. Oh-je. Ich möchte nicht in Pierce‘ Haut stecken, wenn er das nächste Mal auf seinen Freund trifft. Ich habe Pierce Huxley jun. vor vier Wochen nicht persönlich kennengelernt, aber ich weiß, dass die beiden Männer eng befreundet sind. Sonst hätte Chris nicht den weiten Weg von Chicago nach Hawaii auf sich genommen, um ihm zu helfen. Sie sind mehr als nur ehemalige Studienkollegen.

„Wieso beklaust du unsere Gäste?“, nehme ich das Ruder in die Hand.

„Ich stehle nur das Bargeld. Die Brieftasche samt ID und Kreditkarten bekommen die Gäste zurück. Alles ganz easy“, macht der Neunmalkluge einen auf cool.

Unfassbar.

„Nur das Bargeld zu nehmen, macht es keinen Deut besser“, fahre ich meinen Arbeitskollegen an. „Hast du eine Vorstellung, was passiert, wenn Mr. Okalani davon Wind bekommt?“ Der Hotelmanager ist streng und wird von allen Beschäftigten gefürchtet. Nur der Gast ist König im Lailani Beach Hotel, die Untergebenen müssen spuren. Als langjährige Angestellte habe ich schon den ein oder anderen unkontrollierten Wutausbruch miterlebt. Und meist wegen Kleinigkeiten. Zum Beispiel, wenn ein Gast sich über ein paar Körnchen Sand auf der Terrasse beschwert hat. Durch die Nähe zum Strand ist es unmöglich, die Terrasse durchgängig frei von Flugsand zu halten. Leider versteht Mr. Okalani das nicht.

„Er darf es eben niemals erfahren“, sagt James-Dean mit einem Grinsen, wie es nur sorglose Teenager draufhaben.

„Du wirst damit aufhören“, schaltet sich Chris in unsere Unterhaltung ein. „Du wirst keine weiteren Hotelgäste mehr beklauen und lediglich deine Arbeit erledigen.“

James-Dean hört nicht auf zu grinsen. „Alles klar“, kommt es ihm viel zu schnell über die Lippen. Der Junge lügt, und das nicht mal besonders gut.

Chris bemerkt es auch. „Lass mich raten … das gleiche hat Pierce von dir gefordert. Und du hast ihm, folgsam wie du bist, versprochen, das Stehlen in Zukunft zu unterlassen.“

James-Deans Miene verändert sich, ein Seufzen kommt ihm über die Lippen. „Ja … aber …“ Er schnauft und wendet sich ab. „Es ist nicht leicht. Wir brauchen das zusätzliche Geld. Honolulu ist ein teures Pflaster. Das Leben auf einer Insel ist kostspielig. Dafür kann ich nichts. Es ist schwer.“

Mitgefühl überkommt mich.

Ich habe Verständnis. Der Minderjährige hat, soviel ich weiß, eine kranke Mutter und muss helfen, die vierköpfige Familie über Wasser zu halten. Für einen Jungen, in seinem Alter, ist das eine schier unlösbare Aufgabe.

Und nun?

Das gleiche scheint auch Chris zu denken. Ein Haufen zwiespältiger Emotionen huschen ihm übers Gesicht, bevor er James-Dean die Brieftaschen zurückgibt. „Hier. Mach damit, was du immer machst.“ Er stockt und hält einen Moment inne. „Aber … mache es zum letzten Mal.“ Seine Stimme ist ernst und unnachgiebig. „Wenn ich dich erneut erwische, bin ich es, der dich zur Polizei schleppt und Anzeige erstattet. Verstanden?“ Chris Tonfall ist mit jedem Wort schärfer geworden.

„Na sicher doch! Wenn Sie es sagen“, fordert James-Dean sein Schicksal schlechtgelaunt heraus. Der Junge scheint es darauf anzulegen, in naher Zukunft Schiffbruch zu erleiden. Am liebsten würde ich ihn schütteln, damit er aufhört, sich freiwillig ins Unglück zu stürzen. Warum weiß er nicht, wann es genug ist?

Chris bleibt ruhig und besonnen. Regungslos steht er da und strahlt eine Ruhe aus, die mehr sagt als tausend Worte. Schon wieder werden mir die Knie weich. Dieses überlegene Ich-weiß-was-ich-tue-Gehabe gefällt mir. Es macht etwas mit meinem Inneren, lässt meine weibliche Seite schwach werden.

Auch James-Dean scheint die stille Überlegenheit zu spüren. Er steckt die Brieftaschen weg und nickt. Nicht sehr tief und ohne etwas zu sagen. Dass er plötzlich leicht blass um die Nase wirkt, entgeht mir nicht. Hoffentlich ist das ein gutes Zeichen. Ich wäre traurig, wenn Chris seine Drohung wahr machen müsste. Selbstverständlich würde ich es verstehen, aber trotzdem wäre es herzzerreißend. Der Junge hat etwas Besseres verdient als eine Anzeige, die weitreichende Folgen für sein gesamtes Leben und seine Familie nach sich zieht.

Lauter als nötig räuspere ich mich. Die Stille spannt sich an. Es ist Zeit weiterzumachen. Womit auch immer.

„Hast du ein Zimmer hier im Hotel gebucht?“, frage ich Chris, um irgendetwas zu sagen. James-Dean und seine verstockte Miene ignoriere ich.

„Ja. Für eine Nacht. Morgen fliege ich zurück.“

„Gut, in dem Fall solltest du vielleicht jetzt einchecken. Ich begleite dich, dann können wir im Anschluss endlich reden.“ Warum schlage ich das vor? Will ich überhaupt reden? Es ist deutlich einfacher über James-Deans Fehler zu philosophieren als über meine. Gleich werde wieder ich im Mittelpunkt stehen. Wie unangenehm. Der Tag weist für meinen Geschmack einige Höhen und Tiefen zu viel auf.

Chris wirft dem mies dreinblickenden Bagagist einen letzten Blick zu, danach wendet er sich ab, geht durch die Tür und schnappt sich seinen Handgepäckkoffer, den er eben dort abgestellt hat.

Die Zeit der Offenbarung beginnt.

Ich folge ihm. Aber nicht ohne lange und ausgiebig zu seufzen. Warum sitze ich nicht bei Bitsy im Pausenraum? Wir könnten Tee trinken und überlegen, welche Möglichkeiten sich mir bieten meinen Alltag und die Schwangerschaft zukünftig in den Griff zu bekommen. Wie ich meine Freundin kenne, hätte sie tausend und einen Vorschlag, um mir das Leben zu erleichtern. Bitsys Glas ist stets halbvoll.

Gemächlichen Schrittes folge ich dem Mann, den ich gerne besser kennen würde. Er flucht leise vor sich hin und schüttelt auf dem Weg zur Rezeption hin und wieder den Kopf. Missbilligung liegt in der Luft. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass er sich nicht über mich echauffiert. Mich und den Grund, warum er diese Reise auf sich genommen hat, scheint er nahezu vergessen zu haben. Die Gelegenheit wäre günstig, sich aus dem Staub zu machen.

Nein! Den Gedanken weise ich von mir, kaum dass ich ihn zu Ende gedacht habe. Chris ist extra hergeflogen. Nur weil ich ihm in einem unbedachten Moment diese Postkarte geschrieben habe. Er verdient ein klärendes Gespräch.

Ich habe Durst, großen Durst. Meine Zunge ist trocken und mein Hals auch. Wann habe ich zuletzt etwas getrunken? Da ich nüchtern in der Abtreibungsklinik erscheinen musste, wundert mich das pelzige Gefühl in meinem Mund nicht. In meinem Magen sieht es kaum besser aus. Dort herrscht gähnende Leere.

Ich brauche dringend einen Tee.

Wo steckt nur Bitsy?

Verdammt.

Minuten später bekommt Chris die Schlüsselkarte für das Zimmer gereicht und geht schnurstracks zu den Aufzügen. Da er bereits hier war, kennt er sich im Hotel aus. Es stört mich, dass er sich nicht zu mir umdreht, sondern voraussetzt, dass ich ihm wie ein Hündchen hinterherdackele. Hat mich seine tonangebende und machtvolle Ausstrahlung eben noch in Schlabbermasse verwandelt, ist sie jetzt nur noch nervig. Ich unterdrücke einen Seufzer. Schluss! Heute habe ich oft genug geseufzt, es ist Zeit, damit aufzuhören. Dadurch wird nichts leichter.

„Es ist nicht zu fassen, dass Pierce mich im Ungewissen gelassen hat. Sogar mein Bargeld hat der Mistkerl dem Jungen zugesprochen, wenn ich das richtig verstanden habe.“ Chris steigt ein, als die Fahrstuhltüren sich öffnen. Ich folge ihm, enthalte mich aber jeden Kommentars. Seinem Freund Pierce bin ich noch nie begegnet. Außerdem habe ich weiß Gott andere Sorgen als Chris‘ Bargeld, welches er vor vier Wochen verloren hat.

Ich. Bin. Schwanger.

Der Gedanke fühlt sich ungewohnt an. Bestimmt werde ich ihn öfter denken müssen, um ihn vollends zu begreifen.

„Sobald ich zurück in Chicago bin, werde ich meinen lieben Freund zur Rechenschaft ziehen. Was für ein verlogener Mistkerl. Diese Show hat er mit voller Absicht abgezogen. Zu seinem Vergnügen. Na warte! Bei nächster Gelegenheit werde ich mich rächen.“

Ich schweige und versuche meinen trockenen Mund anzufeuchten, indem ich die Zunge in die Backe schiebe. Vielleicht war es doch keine gute Idee Chris auf sein Zimmer begleiten zu wollen. Jetzt gerade fühlt es sich falsch an.

„Chris?“, versuche ich seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. „Vermutlich ist es schlauer, du gehst erst mal allein auf dein Zimmer und rufst deinen Freund an. Verschaffe dir Klarheit. Wir können uns später treffen. Wenn du möchtest, essen wir zusammen zu Abend. Hier im Hotelrestaurant.“ Eine gute Idee, wie ich finde. „Wir machen jetzt eine Zeit aus, oder du meldest dich auf meinem Handy, wenn du alles geklärt hast. Ich verspreche auch dran zu gehen.“ Das kleine Lächeln, das die Worte begleitet, kommt automatisch.

Chris wendet sich mir zu und … durchbohrt mich mit seinem Blick. Es scheint als würde ihm meine Anwesenheit erst jetzt richtig bewusst werden.

„Nein! Ganz sicher nicht. Wie kommst du auf so einen Blödsinn?“ Sein Kiefer malt und auch die Ader auf seiner Stirn beginnt zu pochen.

Ich zucke mit den Schultern und rede Klartext. „Mein Gefühl sagt mir, dass du lieber deinen Freund anrufen und ihn zerreißen möchtest als mit mir zu reden.“

„Dein Gefühl ist Mist.“ Chris Augenbrauen ziehen sich zusammen und er hält einen Moment inne. „Du liegst falsch. Völlig falsch.“

Ach ja? Liege ich das wirklich? Das Schlucken fällt mir schwer. Warum ist meine Kehle so ausgedörrt? „Ich habe Durst“, sage ich, obwohl ich besser etwas anderes von mir gegeben hätte.

Chris Miene entkrampft sich, wirkt sogar eine Spur besorgt. „Ich auch. Sobald wir oben sind trinken wir etwas.“

Wie es in angespannten Aufzugsituationen üblich ist, dauert die Fahrt ewig. Dass wir uns gegenseitig anstarren, macht es nicht besser. Die zehnte Etage scheint im Himmel zu liegen. Mein Begleiter schweigt, seine Aufmerksamkeit liegt auf mir. Hat er mich eben nicht beachtet, so lässt er mich jetzt nicht aus den Augen. Ich sollte aufhören, die akrobatischen Tänzchen mit der Zunge aufzuführen. Das sieht höchstwahrscheinlich ziemlich bescheuert aus. Außerdem verschwindet das trockene und pelzige Gefühl davon nicht.

Kaum im Zimmer angelangt, geht Chris an den Kühlschrank der Minibar und holt eine winzige Flasche Wasser heraus. Er hat eine Suite mit Vollausstattung gebucht. Da sie einen Balkon zur Strandseite hat, ist sie meiner Ansicht nach die schönste im ganzen Hotel. Chris hatte Glück, sie zu bekommen.

„Hier.“

Bevor ich Stopp rufen kann, hat er den Deckel abgedreht und das Siegel am Verschluss gebrochen. „Zu spät. Jetzt werden dir fünf Dollar in Rechnung gestellt.“

Chris wirkt verwundert. „Du hast gesagt, du hast Durst.“ Er reicht mir das Fläschchen und nimmt sich ebenfalls eins. „Hat sich das geändert?“

„Nein. Natürlich nicht.“ Da die Flasche schon offen ist, kann ich sie auch trinken. „Ich könnte den Inhalt eines kompletten Wassertanks hinunterstürzen, so durstig bin ich.“ Kaum an die Lippen gesetzt, ist die Flasche auch schon leer. Zu wenig, aber trotzdem gut. „Danke. Das habe ich gebraucht.“

Ich will Chris die leere Flasche reichen, da gibt er mir im Austausch eine neue. „Hier. Nimm.“ Auch dieses Siegel ist gebrochen. „Chris. Du kannst doch nicht so viel Geld für Wasser verschwenden.“

„Wer sagt das?“ Er kippt den Inhalt seiner Flasche in einem Zug hinunter und nimmt sich eine neue. Die Dinger sind wahrlich winzig.

Will er mir etwas demonstrieren? Dass er Unmengen an Geld hat, weiß ich bereits.

„Setz dich doch bitte auf den Balkon oder die Couch, wo du es am bequemsten hast. Ich bestelle uns kurz etwas zu essen und mehr zu trinken und danach komme ich zu dir.“

Da ich unglaublich froh bin, dass Chris das Ruder in die Hand nimmt, tue ich wie mir geheißen. Ich gehe auf den Balkon und genieße für einen Moment die Ruhe. Anschließend lasse ich mich auf einen der Stühle sinken, der neben einem kleinen Tischchen steht.

Ich war schon oft in dieser Suite, aber nie, um hier zu sitzen und die atemberaubende Aussicht zu genießen. Es fühlt sich komisch an, nicht darauf zu achten, dass alles gerade und im richtigen Winkel zum Tisch steht. Von dem Sand unter meinen Füßen ganz zu schweigen. Es ist nicht viel. Trotzdem möchte ich meinen Kolleginnen nicht mehr Arbeit als nötig bereiten. Unzählige Gäste hinterlassen die Hotelzimmer in einem entsetzlichen Zustand.