Leseprobe Ein Baron für die Lady

Kapitel 1

„Satt aller Lust, ersehnt‘ er fast sich Leiden, müßt‘ er, brächt’s Wechsel nur, sogar vom Leben scheiden.“

Junker Harolds Pilgerfahrt, Lord Byron

London, 1812

Sie hatte bisher nur eine Federzeichnung des Mannes gesehen, aber sie erkannte ihn sofort: an den wüsten Haaren, dem unbekümmerten Grinsen und an der Art und Weise, wie sich die Menge ehrfürchtig teilte, als er durch den Ballsaal schritt, und sich die Menschen hinter seinem Rücken seinen Namen zuflüsterten. Byron.

Lady Elsinore Cosgrove stand auf Zehenspitzen, um einen besseren Blick zu erhaschen, während er den Saal ein einziges Mal umrundete und dann in den Hauptflur des großen Anwesens einbog. Ist wahrscheinlich auf dem Weg zum Kartenspielzimmer … oder zu einem Rendezvous. Wie überaus romantisch.

Elsinore startete ein Manöver, das sie sich extra für eine höchst desaströse Situation aufgehoben hatte: Sie packte zwei der Perlenknöpfe an ihren Abendhandschuhen aus Satin und riss sie ab. „Ach du meine Güte!“, rief sie aus und versuchte, verzweifelt zu klingen. „Schau mal, Mama.“ Sie hielt die Knöpfe hoch, sodass ihre Mutter und ihre älteren Schwestern sie sehen konnten. „Meine Handschuhe fallen auseinander.“

„Oh du liebe Zeit!“ Ihre Mutter blickte finster auf die fehlerhaften Perlenknöpfe hinab. „Wie ich sehe, muss ich wohl mit dem Handschuhmacher ein Wörtchen darüber sprechen, dass er schäbige Waren verkauft. Geh in den Damensalon und suche eine Näherin, die dir eine Nadel leihen kann. Los jetzt“, befahl sie. „Du sollst die nächste Runde mit dem Marquess tanzen.“

Elsinore wandte den Kopf und bemerkte, dass ihre Mutter zu einem betagten Marquess schielte. Der Mann war so alt wie ihr Vater und doppelt so beleibt. Ihre Schwestern pflichteten ihr eine nach der anderen mit einem stummen Nicken bei und Elsinore erschauderte. Schon zu Beginn ihrer Saison hatte sie gewusst, dass ihre Tage als unverheiratete Frau gezählt waren. Diese heutige Kostprobe der Freiheit könnte ihre letzte sein. Sie sollte etwas aus der Gelegenheit machen.

Nach der Heirat ihrer älteren Schwestern hatte Elsinore mitangesehen, wie aus den halbwegs intelligenten, wortgewandten Menschen sittsame, anständige Matronen geworden waren. Jede von ihnen hatte die dürftigen Freiheiten, die die Ehe bot, vergeudet und war stattdessen ganz und gar häuslich geworden. Sie erinnerten sie inzwischen an die Automaten, die sie vor ein paar Jahren bei einer Ausstellung in den Spring Gardens gesehen hatte. Sie waren mechanische Wesen, die die Aufgaben des Lebens endlos und mit großer Präzision wiederholten, wobei von Emotionen jegliche Spur fehlte. Sie würde nicht zulassen, dass ihr dasselbe passierte.

„Ich beeile mich.“ Elsinore drehte sich um und duckte sich hinter eine Topfpalme, um zu entkommen, bevor noch eine ihrer Schwestern auf die Idee kommen würde, sie zu begleiten. Sie schlängelte sich ihren Weg durch den Raum, wich Tänzern aus, ignorierte das energische Winken der Tochter der Gastgeber, Libby, die auch ihre beste Freundin war, und pflügte geradezu durch die Menge. Sie würde die gesellschaftliche Ächtung, mit der ihre Mutter den armen Handschuhmacher morgen strafen würde, und den Kummer, dem ihm das verursachen würde, irgendwie wiedergutmachen. Aber Elsinore konnte nicht zulassen, dass heute Abend jemand ihrer Mission in die Quere kam.

Das Frontispiz von Byrons neuestem Werk, „Junker Harolds Pilgerfahrt“, lag klein zusammengefaltet wie ein verborgener Schatz in ihrem Pompadour. Was sie damit vorhatte, machte es zu mehr als nur einem schlichten Blatt Papier. Sie würde den als „verrückt, verdorben und gefährlich für alle, die ihn kennen“ verrufenen, genialen Dichter kennenlernen. Nicht offiziell, natürlich. Ihre Mutter würde niemals erlauben, dass man sie mit ihm bekanntmachte. Der Mann war schrecklich verrucht.

Nichtsdestotrotz würde sie selbstbewusst auf den Mann zugehen und sich als Bewunderin seiner Kunst vorstellen. Sollte er ihr die Gunst einer kurzen Unterhaltung zuteilwerden lassen, würde sie ihm sagen, dass sie ihren eigenen Lebensweg in Harolds Reise wiederfand. Auch sie war eines Lebens müde, das mit nichts als gesellschaftlicher Verpflichtungen und Vergnügungssucht gefüllt war. Dann würde sie ihm das Blatt überreichen und ihn bitten, es zu signieren.

Das Risiko, dass er sie vielleicht abweisen könnte, war es ihr wert. Denn falls es ihr gelänge, käme kein heiratswilliger Adliger umhin, ihre Dreistigkeit bei seiner Wahl zu berücksichtigen. Mit dieser einzigen kühnen Tat würde sie schon mal die spießigsten und kompromisslosesten der diesjährigen Meute von Heiratswürdigen ausmerzen. Sie hatte schließlich nur diese eine Saison, um die Vorauswahl zu reduzieren: Es sollten nur Männer übrigbleiben, die keine sanftmütige, gehorsame Ehefrau suchten, sondern eine Frau, die mehr sein wollte als nur schmückendes Beiwerk am Arm eines Mannes. Mehr als eine Frau, die bei feierlichen Anlässen vorgeführt und ansonsten alleingelassen wurde, sodass ihr Handarbeitszeug ihre einzige Gesellschaft war.

Als sie den Ballsaal verlassen und den Flur erreicht hatte, war Byron nirgends zu sehen. Trotzdem folgerte Elsinore, dass sie wohl nur einen Blick in jeden der Räume zu werfen brauchte, die von dem langen Flur abgingen. Wie schwierig konnte so etwas schon sein, wenn man so entschlossen war, wie sie?

Sie öffnete die erste Tür zu ihrer Rechten und trat mutig ins Zimmer, um darin … nichts vorzufinden. Es war ein ganz und gar gewöhnlicher Morgensalon. Ein langer Serviertisch war zur Vorbereitung auf das Mitternachtsmahl, das noch einige Stunden entfernt war, mit Silbertabletts eingedeckt worden. Aber es war kein Byron in Sicht. Mit einem leisen Seufzen schloss sie die Tür und machte sich auf den Weg in das nächste Zimmer. Jetzt, wo ihre Mutter und der dicke Marquess auf sie warteten, lief ihre Zeit ab – und somit auch die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben.

Ihre Mutter und ihre Schwestern hatten sich geschworen, noch vor Ende des Jahres einen Ehemann für sie zu finden. Und so sehr sie deren Einmischung auch fürchtete, so war sie sich doch der Konventionen, die bei der Jagd nach einem Ehemann galten, bewusst. Ihre Schwestern würden, basierend auf dem schier unerschöpflichen Schatz an Gerüchten, die in der besseren Gesellschaft kursierten, Informationen über heiratswürdige Herren an ihre Mutter weitergeben. Im Gegenzug würde ihre Mutter bei den anderen Matronen diskrete Nachforschungen anstellen, dabei alle Mittel einsetzen, die Müttern mit unverheirateten Töchtern zur Verfügung standen, und ihrem Vater ein paar Namen nennen. Ihr Vater würde als hochgeschätzter Herzog sicherstellen, dass der Mann über ein angemessenes jährliches Einkommen verfügte und Mitglied in den richtigen Clubs war. Man würde einen eindeutigen Favoriten auswählen und die Eheschließung würde bald darauf folgen. Alles, was sie tun musste, war, in der St. George’s zu stehen und zur richtigen Zeit zu murmeln: „Ich gelobe es.“

Wenn nur das Kriegsministerium auch so effizient wäre. Man denke einmal an all die Engländer, deren Leben gerettet werden könnte, wenn all diese Anstrengungen stattdessen darauf verwandt werden würden, die britische Krone zu verteidigen. Frankreich würde in einer einzigen Saison besiegt werden und Amerika in zwei Wochen. Kampferprobte Soldaten und Spione bekämen allein bei dem Gedanken daran, von einer resoluten zukünftigen Schwiegermutter verhört zu werden, weiche Knie.

Die Tür zum Nebenraum war leicht angelehnt und Männerstimmen drangen hindurch. Aha, das Kartenspielzimmer. Sie trat erwartungsvoll durch die Türöffnung. Ein blauer Rauchschleier vernebelte ihre Sinne und sie verengte die Augen, um auch in den hinteren Bereich des Raumes spähen zu können. Kein Byron. Aber ihr prüfender Blick war nicht unbemerkt geblieben.

„Suchst du einen Sitzplatz, du hübsches Ding?“ Der junge Lord, der der Tür am nächsten saß, schob seinen Stuhl zurück und tätschelte sein Knie.

Was für eine Unverschämtheit! Der schlechte Modegeschmack ihrer Mutter war unter den Damen der besseren Gesellschaft allgemein bekannt. Heute Abend hatte ihr Versuch, Elsinore jung, tugendhaft und ganz und gar heiratsfähig erscheinen zu lassen, zu einem Kleid geführt, das eher für ein unzüchtiges Schulmädchen geeignet gewesen wäre. Wenn sie nicht vollkommen still dastand und nur flache, wohlüberlegte Atemzüge tat, quoll Elsinores Dekolleté auf solche Art und Weise aus ihrem Mieder, dass das kein Schultertuch der Welt ausreichend verbergen könnte. Sie steckte den Stoff wieder an seinen Platz zurück und war im Begriff, dem Dummkopf einen Rüffel zu verpassen, den er nicht so schnell vergessen würde, als der Mann, der neben ihm saß, den Arm ausstreckte und den ungezogenen Kerl auf den Hinterkopf schlug.

„Mach dich nicht lächerlich, Mercer. Das ist doch Wallingfords Jüngste.“

Das spöttische Lächeln des soeben gezüchtigten Lords verblasste und er begann, eine Entschuldigung zu stammeln. „Es tut mir so schrecklich …“

Elsinore trat zurück auf den Flur, bevor er seinen Satz beenden konnte. Die Bemerkung des Mannes bestätigte lediglich, was sie bereits wusste. Als Frau boten sich ihr auf der Welt nur drei Möglichkeiten: Sie konnte eine alte Jungfer, eine Ehefrau oder ein Weibsbild von zweifelhaftem Ruf werden. Ihr Leben würde von den Männern darin bestimmt werden – von ihrem Vater, ihrem Ehemann oder irgendeinem Wüstling. Ihre Gedanken und Wünsche zählten nicht das Geringste, es sei denn, ein Mann gestattete ihr, sie zu hegen. Schlimmer noch: Selbst ihr Handeln würde von dem Mann diktiert werden, der sie kontrollierte.

Heute Abend würde sie die Sache selbst in die Hand nehmen.

Wenn sie zeigte, dass sie mehr war als bloß „Wallingfords Jüngste“, würde das diejenigen Herren aussortieren, die nichts weiter wollten als eine fügsame, einfallslose Ehefrau. Der Marquess, auf den ihre Mutter ein Auge geworfen hatte, würde niemals zulassen, dass seine Frau so einem skandalösen Anlass beiwohnte wie einer Dichterlesung Byrons höchstpersönlich. Darauf hätte Elsinore ihr Taschengeld verwettet.

Die nächsten drei Zimmer waren ein Damensalon, eine Bibliothek und ein Musikzimmer. Alles lag ruhig und still da, wenn man das kichernde Paar ignorierte, das sich hinter dem Pianoforte versteckte. Sie trat rückwärts wieder aus dem Zimmer heraus und schloss leise die Tür hinter sich. Die Leidenschaft des Paares schien sie zu verspotten und ihre Tage als unverheiratete Frau waren gezählt. Wenn sie nicht sofort Maßnahmen ergriff, würde es für sie keine heimlichen Küsse und keine atemlosen Versprechen in irgendwelchen dunklen Zimmern geben. Ihr Leben wäre so langweilig und vorhersehbar wie bei so vielen ihrer Bekannten. Ein Leben voller Teestunden, Abendessen, Hauskonzerte, Feierlichkeiten auf dem Lande und unerträglicher Langeweile.

Es gab nur noch ein letztes Zimmer, in dem sie nachsehen konnte. Wenn Byron dort nicht war, würde sie sich einen anderen Plan ausdenken müssen. Zu scheitern konnte sie sich nicht erlauben – ihr Leben hing davon ab. Sie holte tief Luft und drückte die Tür auf. Und da war … nichts. Byron war spurlos in die Nacht verdampft.

Zum Kuckuck noch mal.

Das Flackern von Kerzenlicht, das sich hell in glänzendem Metall spiegelte, erregte ihre Aufmerksamkeit und sie machte einen weiteren vorsichtigen Schritt in das Zimmer. Dort, in der Ecke, stand auf einem stabilen Tisch neben einem schwarzen Ledersofa ein etwa einen Meter hohes Modell der berüchtigten französischen Guillotine. Die polierten Messingbeschläge leuchteten vor dem dunklen Mahagonirahmen in einem warmen Goldton und die hochgezogene Klinge blitzte silbern in dem schwach beleuchteten Raum.

Sie hatte Geschichten darüber gehört, wie die Franzosen ihre Adligen einen nach dem anderen unter das Fallbeil geschickt hatten, damit sie sich dort ihrer Köpfe entledigen ließen, bis sie alle tot gewesen waren. Ein Schauer lief ihren Rücken hinunter, als ihr klar wurde, dass auch ihr eigener Vater als Herzog ein Opfer des „öffentlichen Rasiermessers“, wie es in den Nachrichtenblättern so ungeniert genannt wurde, geworden wäre. Sie ließ sich auf das Sofa nieder, unfähig, ihre Augen von der Todesmaschine abzuwenden. Sie war von trügerischer Eleganz für eine so grässliche Waffe.

Elsinore zog ihren beschädigten Handschuh aus und wagte es, den Arm auszustrecken und das Metall zu berühren, sodass ein kleiner, perfekter Fingerabdruck auf der Seite der Metallklinge zurückblieb. Davon ermutigt, dass die Klinge nicht heruntergestürzt war, betrachtete Elsinore die Zahnräder und Flaschenzüge mit neuem Interesse. Das Gerät war auf so kuriose Weise grausam.

Sie fuhr mit den Fingerspitzen über das glatt geschliffene Holz und konnte nicht umhin, an die vielen Adligen zu denken, die ihren letzten Atemzug auf Erden in diesem Apparat getan hatten. Ihr Vater hätte sein Schicksal mit Würde hingenommen, weil er ein wahrer Gentleman war. Sie konnte sich vorstellen, dass er eine kurze, aber bewegende Rede gegeben hätte. Die Menge hätte ihm zugejubelt. Er hätte von der Familie verlangt, stark zu sein und keine Tränen zu vergießen. Ungeachtet dessen hätte ihre Mutter geschrien wie eine Todesfee.

Elsinore fragte sich, wie mutig sie selbst dem sicheren Tod ins Auge sehen würde. Würde sie etwas Prägnantes oder Patriotisches sagen? Oder wäre sie zu verängstigt, um überhaupt zu sprechen? Wie würde es sich anfühlen? Neugierig legte sie ihre Hand auf die Auflagefläche und ließ die hölzerne Manschette herunter, die sich mit einem lauten Klicken um ihr Handgelenk schloss. Nein, entschied sie, sie würde schweigend gehen, weil sie bei dem Gejammer ihrer Mutter und dem kollektiven Geplapper ihrer Schwestern sowieso nicht zu Wort kommen würde. Der gefürchtete Ausdruck „Wallingfords Jüngste“ wäre wahrscheinlich alles, was auf ihrem Grabstein stehen würde.

Ach, reiß dich zusammen, Elsinore. Sie musste immer noch Lord Byron aufspüren, bevor ihre Mutter einen Suchtrupp losschicken würde. Elsinore griff nach der beweglichen Manschette aus, die ihr Handgelenk umschloss, und zog daran. Das Ding rührte sich nicht. Sie versuchte es noch einmal mit etwas mehr Kraft, aber trotzdem wollte sie sich nicht bewegen lassen.

Vielleicht gab es auf der Rückseite einen versteckten Verschluss, den sie zuvor nicht gesehen hatte. Elsinore warf einen Blick in Richtung der Tür, um sicherzustellen, dass sie nicht gesehen wurde, und kniete sich unbeholfen auf das Sofa, sodass sie einen besseren Blick auf die Rückseite der Guillotine hatte. Aber es gab keinen Riegel, keine Schließe – und kein Entkommen.

Ein ängstlicher Schauer wanderte ihre Wirbelsäule hinauf. Sie zerrte mit den Zähnen an ihrem verbliebenen Handschuh und versuchte, die Manschette mit bloßen Fingern auseinanderzubiegen, aber sie hielt den Bemühungen stand. Elsinore versuchte, ihre Hand herauszuziehen, aber die Holzmanschette war gerade so eng, dass sie mit ihrer Hand nicht durch die Öffnung schlüpfen konnte. Ach, verdammt. Was sollte sie denn jetzt tun?

Elsinore atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen. Du machst dich lächerlich, sagte sie sich selbst. Deine Hand steckt nicht fest; das ist nur ein Taschenspielertrick. Gewiss würde niemand eine funktionstüchtige Guillotine in einem Salon stehenlassen, damit sie unwissenden Gästen auflauert.

Oder doch?

Bei diesem Gedanken stemmte sie ihre freie Hand gegen den Rahmen der Guillotine und begann, mit ganzer Kraft zu ziehen. Minuten später war ihr Handgelenk vom Holz rot und wundgerieben, aber sie war der Freiheit kein bisschen näher.

Sie würde um Hilfe rufen müssen. Bei dieser Erkenntnis wurde ihr ehemals hoffnungsvolles, frohes Herz mit einem Mal bleischwer. Sie würde sich diese Geschichte ihr Leben lang anhören müssen. Sie würde mit einem verstaubten alten Marquess verheiratet werden, bevor sie überhaupt ein Autogramm von Byron bekommen könnte oder eine ganze Saison erlebt hätte. Elsinore beäugte die Klinge, die im Kerzenlicht funkelte. Lieber würde sie ihre Hand verlieren.

Sie holte gerade tief Luft, um nach einem guten und hoffentlich diskreten Samariter auf dem Flur zu rufen, als ein Mann in das Zimmer schlüpfte und die Tür hinter sich zuzog. Hastig schluckte sie ihren Hilferuf wieder herunter. Es war zwar nicht Byron, aber sie würde durchaus jede Hilfe in Betracht ziehen, die sie bekommen könnte.

Ihre Blicke trafen sich, als er einen spanischen Zigarillo aus seiner Brusttasche zog, und er betrachtete sie einige Sekunden länger, als höflich gewesen wäre. Es passierte selten, dass ein Mann ihr direkt in die Augen sah, aber sie fand seinen verwegenen Blick, mit dem er sie wohlwollend musterte, eher faszinierend als beunruhigend. Sie war diejenige, die zuerst die Sprache wiederfand, und etliche Jahre voller Lektionen darüber, was anständig und schicklich war, bestimmten jetzt ihre Worte: „Bitte, Sir, Sie müssen die Tür offenstehen lassen. Mit Ihnen hier zu sein, während die Tür geschlossen ist, wäre ziemlich ungehörig.“

„Tut mir schrecklich leid, Miss.“ Langsam verschwand das Tabakröllchen wieder in seiner Tasche und er verbeugte sich höflich. „Ich bitte um Verzeihung. Mir war nicht bewusst, dass bereits jemand im Zimmer ist.“ Erst dann ließ er den Blickkontakt abbrechen und wandte sich zum Gehen.

In den wenigen Augenblicken, die seine Antwort in Anspruch genommen hatte, hatte die Dringlichkeit ihrer Lage sich bereits gegen den Anstand durchgesetzt. „Nein, warten Sie. Bitte.“

Er drehte sich wieder zu ihr um und trat vorsichtig einen Schritt näher. „Soll ich Ihre Mama holen, Miss?“ Seine Stimme war hypnotisierend, tief und samtig. Gekoppelt mit dem gerollten ‚R‘ seines schottischen Akzents war sie das akustische Äquivalent zu warmem Karamell.

In dem flackernden Licht konnte sie gerade so den Hauch eines rötlichen Schimmers in seinem sonst braunen Haar erkennen. Also war er tatsächlich ein Schotte. Alles, was fehlte, waren ein Breitschwert in einer Hand und einen Dudelsack in der anderen. Das und ein Kilt. Der Gedanke daran, wie das männliche Wesen vor ihr aussehen würde, wenn es in voller Highland-Tracht ausstaffiert wäre, sodass seine offenbar kräftigen Beine ein Stück weit enthüllt würden, brachte ihr Gesicht dazu, plötzlich und unkontrollierbar zu erröten.

„Miss? Ihre Mutter?“

„Oh, nein, bitte nicht. Sie wird sehr wütend auf mich sein“, erklärte sie eilig, als sie sich wieder gefangen hatte.

„Haben Sie sich verletzt?“, fragte er und sie sah, dass sein Blick von ihrem Kopf zu ihren Zehen und wieder zurück wanderte.

Bei dieser intensiven Betrachtung weigerte sich das Blut, wieder aus ihren Wangen zu weichen.

Seine forschenden Augen sorgten dafür, dass ihr Gedanken in den Kopf kamen, die viel zu erwachsen für ihr blütenweißes Abendkleid waren. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend wünschte sie sich, es würde vernünftig passen. Sie griff nach unten und zerrte das Kleidungsstück zurecht, so gut sie konnte. „Nein, Sir. Und ich fürchte, ich habe mich selbst in diese missliche Lage gebracht.“ Mit ihrer freien Hand zeigte Elsinore auf das Objekt ihrer Schmach. „Ich scheine hier mehr oder weniger festzustecken.“

Die Augen ihres schottischen Retters weiteten sich und seine Kinnlade klappte herunter, als er noch einen Schritt nähertrat. Erneut sah er sie an, schüttelte den Kopf und blickte dann zurück zu der Guillotine. „Wie haben Sie das bloß geschafft?“

„Es war erstaunlich einfach, in diese Lage zu geraten, hat sich aber als unmöglich erwiesen, sich aus ihr zu befreien. Ich war nur neugierig, wie das wohl alles funktioniert, also habe ich meine Hand hineingelegt …“ Ihre Stimme verstummte, sie blickte verlegen auf und zuckte mit den Schultern. „Würden Sie mir bitte helfen?“

Er schien ihre Bitte ein paar unerträgliche Augenblicke lang abzuwägen, bevor sich einer seiner Mundwinkel nach oben bog.

Elsinore entschied, das als den Versuch eines freundlichen Lächelns zu deuten – von einem Mann, der offensichtlich nicht viel Übung im Lächeln hatte. „Also“, fragte sie, „Helfen Sie mir?“

„Natürlich. Ich habe mich nur gerade gefragt, ob es mich mehr überrascht, dass Lord Winchcombe eine Guillotine besitzt, oder, dass irgendein junges Mädchen seine Hand hineingesteckt hat. Haben Sie denn nicht bedacht -“

„Es war nicht meine Absicht, meine eigene Hand abzutrennen, Sir“, unterbrach sie. „Ich war fasziniert von dem Apparat und habe irgendwie die Funktionsweise falsch eingeschätzt. Dieses Teil hier“ – sie zeigte auf die Holzmanschette – „müsste sich auf und ab bewegen lassen, aber das tut es nicht. Wenn es sich logisch verhalten würde, wäre ich nicht in dieser misslichen Lage.“

„Wenn der Apparat sich logisch verhalten würde, wären Sie nicht in dieser misslichen Lage?“, wiederholte er, wobei sein Gesicht und sein Tonfall von Skepsis zeugten. Dieser unverfrorene Mann versuchte, nicht zu lachen, und es gelang ihm nur mit Mühe und Not. Sie warf ihm einen der hochmütigsten Blicke zu, die sie je bei ihrer Mutter gesehen hatte, und er täuschte ein höfliches Husten vor, um die Belustigung aus seinem Gesicht zu vertreiben. „Logisch betrachtet, Miss, bezeichnet man dieses Teil“ – er zeigte auf das fragliche Stück – „als Lünette und sie verhält sich genau wie beabsichtigt. Ihr Zweck ist es, das Opfer, in diesem Fall Ihr Handgelenk, fest an Ort und Stelle zu halten, bis die Klinge gefallen ist. Erst danach soll sie es wieder freigeben.“

„Danach?“ Ihr Mund wurde trocken, während sie die strahlende Metallschneide der Klinge beäugte. Sie musste sich die Lippen lecken, um weitersprechen zu können. „Sie meinen also, ich kann nicht einfach …“ Ihre Stimme versagte, als sie über die Alternative nachdachte.

„Wir könnten es auch einfach rausziehen.“ Er ging in den hinteren Bereich des Zimmers, um den Armleuchter zu holen, stellte ihn näher heran und ließ sich auf ein Knie sinken, um einen besseren Blick auf alles zu haben. „Hören Sie auf, Ihre Hand so viel zu bewegen. Das Gelenk beginnt anzuschwellen, und das wird die Sache nur noch schwieriger machen.“ Er streckte die Hand aus, hielt ihren Arm ruhig und versuchte sein Glück an der Lünette, während er die Klinge argwöhnisch beäugte. „Ich werde einen Lakaien rufen und sehen, ob er etwas Fett aus der Küche besorgen kann. Mit einem Schmiermittel werden wir Ihre Hand gleich abbekommen – ich meine raus. Rausbekommen, natürlich.“

„Sehr lustig“, sagte Elsinore und funkelte ihn düster an. „Meine Schwestern werden mir diese Geschichte mein Lebtag lang vorhalten, wissen Sie. Wenn sie das herausfinden, wird ganz London bis Ende der Woche Bescheid wissen und ich werde überhaupt niemals eine Saison haben. Ich werde einen alten Marquess heiraten oder als Jungfer leben müssen.“ Sie holte tief Luft und sah ihm in die Augen, wo sie sich einen Moment lang verlor, bevor sie weitersprach. „Ich will nicht die traurige, kauzige alte Tante sein, die von einem Verwandten zum nächsten gereicht wird, bis sie allein in einer elenden, stinkenden Hütte landet – nur mit ihren zehn Katzen und ihrer Haushälterin als Gesellschaft.“

„Zehn Katzen, sagen Sie?“ Jetzt lächelte er richtig – es war ein warmes Lächeln, in dem kein Spott lag, und sie begann zu glauben, dass sich vielleicht, nur vielleicht, alles doch noch zum Guten wenden würde.

„Oh, ja“, antwortete sie. „Kauzige alte Tanten haben immer Katzen.“

„Frettchen.“

„Wie bitte?“

„Meine Großtante hat Frettchen gehalten“, erklärte er. „Die beißen.“

„Ich werde das im Kopf behalten, bis es so weit ist.“

Er nickte daraufhin und stemmte die Hände in die Hüften. Elsinore kannte diese konzentrierte Geste von ihrem Vater.

„Vielleicht könnten wir es mit etwas Flüssigkeit als Schmiermittel versuchen?“, fragte sie hoffnungsvoll. „Dort drüben steht eine Karaffe mit irgendetwas.“ Elsinore drehte ihren Kopf zur Seite und deutete mit einem Fuß, der in einem Slipper steckte, zu der Anrichte. Durch ihre Bemühungen wurde ihr Knöchel entblößt und sie bemühte sich, ihre Füße wieder unter ihr Kleid zu stecken, bevor ihn das zu irgendwie geartetem unanständigem Verhalten verführen konnte. Er war schließlich Schotte. Es hieß doch, dass sie vulgär wären, oder nicht? Vielleicht waren das aber auch die Franzosen, die in diesem Ruf standen, denn bis jetzt war er abgesehen von seinem dreisten Humor ein ziemlicher Kavalier gewesen.

Er holte die Karaffe und stellte sie auf den Tisch. „Bleiben Sie ganz ruhig, ich werde ein wenig davon hier drauf gießen.“ Er zeigte auf ihr Handgelenk. „Es könnte ein bisschen brennen, weil Ihre Haut bereits wund gescheuert ist. Dagegen kann ich nichts tun.“

„Ich bin sicher, es wird deutlich weniger wehtun als guillotiniert zu werden.“

Während die Minuten verstrichen, stellte sie sich vor, dass ihre Mutter und ihre vier Schwestern wohl gerade verzweifelt den Ballsaal und den Park auf der Suche nach ihr durchkämmten und sich auf das Schlimmste gefasst machten. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen könnte, wäre, mit einer fehlenden Gliedmaße aufgefunden zu werden. Ihre Mutter würde sie dafür schelten, dass Blut auf Lady Winchcombes Marmorboden getropft war, und ihre Schwestern würden mit der Zunge schnalzen und im Chor sagen: „Ich hab’s ja gleich gewusst!“, während sie langsam verblutete und darauf wartete, dass die Familienkutsche vorgefahren kam. Wenn es ihr gelänge, bald – und mit vollzähligen Gliedmaßen – zu ihnen zurückkehren, würde sie sich bloß einen strengen Vortrag anhören müssen. Oder auch drei.

„Sobald das Ganze schön glitschig ist“, begann er in einem Tonfall, der, wie sie fand, perfekt für Dichterlesungen geeignet wäre, „werden wir beide kräftig daran ziehen und Sie befreien – am Stück.“

Wieder lächelte er und sie bemerkte, wie sehr sich sein Gesicht dadurch veränderte. Seine Züge, die man vielleicht als ernst und wortkarg empfinden könnte, wirkten mit nur einer simplen Wölbung seiner Lippen gutaussehend und charmant.

„Danke, dass Sie so tun, als wäre meine Situation nicht vollkommen lächerlich.“ Sie musterte aufmerksam sein Gesicht, während sie sprach. Er war auf eine verwegene Art und Weise gutaussehend und ein ganzer Mann. In dem Kerzenlicht leuchteten seine Augen in einem satten Grünbraun und hoben sich von seinem sonnengebräunten Teint ab. Seine lange, gerade Nase stand ihm gut, genau wie sein voller, ausdrucksstarker Mund. Sie schätzte ihn auf ungefähr dreißig – sicher war er nicht mehr als zehn Jahre älter als sie. Er war höchstens halb so alt und halb so schwer wie der Marquess.

„Werden Sie in dieser Saison noch bei anderen Anlässen in der Stadt zugegen sein?“ Elsinore war von ihrer kühnen Frage selbst überrascht.

Besorgt legte sich seine Stirn in Falten. „Ich weiß noch nicht. Warum fragen Sie?“

Sein Verhalten hatte sich so abrupt geändert, dass sie stammelnd nach einer angemessenen Antwort suchte. „Nur so. Ich … ich wollte mich nur unterhalten.“

Daraufhin starrte er sie unnachgiebig an und machte einen finsteren Gesichtsausdruck.

Gerade als sie sich allmählich Sorgen machte, dass er sie sitzen lassen könnte, griff er nach unten, zog seinen linken Schuh aus und verkeilte ihn unter der Klinge. „Nur für den Fall, dass … Sie wissen schon“, sagte er. „Bereit?“

Auf ihr Nicken hin fing er an, zu ziehen.

„Aua, das tut weh!“ Sie begann sich zu winden, weil der Alkohol sich schmerzhaft in ihr Handgelenk brannte.

„Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Halten Sie still und dann wird es schon bald aufhören.“ Er goss eilig noch eine Portion auf ihre Hand und bewegte sie in verschiedene Richtungen. „Es sollte jetzt glitschig genug für einen Versuch sein.“

„Bitte beeilen Sie sich.“ Ihre Stimme brach. „Es tut weh.“

„Entspannen Sie sich ein wenig, wenn es geht“, sagte er. „Es sollte alles bald vorbei sein.“

„Ich glaube nicht, dass es da durchpassen wird.“

Ein breites Grinsen entschlüpfte ihm, als er ihren Protest hörte. „Vertrauen Sie mir“, sagte er mit einem Augenzwinkern und dem Anflug eines Kicherns. „Es ist alles eine Frage der Technik.“

Gelächter drang vom Flur herein und erinnerte Elsinore daran, dass sie so schnell wie möglich ihre Mission wiederaufnehmen musste. „Wir haben nicht mehr viel Zeit.“

Er stemmte sich mit einem Fuß gegen den Tisch, packte mit einer Hand die Todesmaschine und mit der anderen ihren Arm. Sie wimmerte erneut, weil es sicher gleich sehr wehtun würde. „Ziehen“, befahl er.

Elsinore gehorchte. In dem Augenblick, als ihre Hand herausglitt, kippte der Tisch, die Guillotine schwankte lautstark, ihre Klinge sauste mit einem entschiedenen Rumms herunter, die Karaffe kippte um und ein großzügiger Schluck roter Portwein traf Elsinore mitten ins Gesicht. Während sie prustete und um Luft rang, rutschte sein nur mit Strümpfen bekleideter Fuß auf dem jetzt nassen Boden aus und sie sah, wie er langsam zu Boden fiel. Unbedacht streckte sie die Hand aus und schaffte es, mit der Hand seinen Mantels zu packen, als er wegrutschte.

Aber sie hatte sowohl seine Größe falsch eingeschätzt als auch die Tatsache, wie stabil ihre Sitzposition auf dem Sofa war, und so folgte sie ihm zu Boden, während ihr Kleid beinahe widerstandslos von dem Lederpolster glitt. In einem letzten, verzweifelten Versuch, sich aufzurichten, trat Elsinore mit den Füßen um sich, was lediglich zur Folge hatte, dass das Geräusch von reißendem Stoff an ihre Ohren drang, weil sich der Absatz ihres Tanzschuhs im Saum ihres Kleides verfangen hatte.

„Uff!“ Die Luft wurde aus ihren Lungen gepresst, als sie auf ihm landete.

Sein hoffentlich stabiler Schädel prallte mit einem scheußlichen, dumpfen Geräusch hart auf den Boden und sie öffnete gerade rechtzeitig ein Auge, um zu sehen, dass er träge blinzelte und Mühe hatte, bei Bewusstsein zu bleiben. Als sie sich in eine sitzende Position hochdrückte, hallte ein lauter Schrei durch die Luft und Elsinore wandte den Kopf, um zu sehen, was diese neuerliche Störung bedeuten sollte. Die Tür, die sie, wie es sich gehörte, angelehnt gelassen hatten, stand jetzt weit offen. Erstaunte Gesichter erwiderten ihr Starren. Da waren weit aufgerissene Augen, offenstehende Münder – und, im Hintergrund, die große, unverkennbare Silhouette ihres Vaters, der die Menschenmenge teilte wie einst Moses das Rote Meer.

Sie hörte, wie der Mann unter ihr murmelte: „Daingead.

So verwirrend die Situation auch war, ihr Gehirn reagierte schnell und musste einige Tatsachen feststellen: Ihr Kleid war ruiniert. Sie war mit Wein besudelt. Und sie lag zusammen mit einem fremden Mann auf dem Boden.

Eine sonderbare Erinnerung trieb aus den tiefen ihres Unterbewusstseins an die Oberfläche – sie war sechs Jahre alt und spielte bei Sonnenuntergang draußen im Garten. Ihre Gouvernante hatte ihr ein Glas gegeben, damit sie Feen einfangen konnte, und sie schaute unter Blütenblättern nach, weil sie gehört hatte, dass sich selbige dort gerne versteckten. Ihr Bruder lachte sie aus und erklärte ihr, dass es keine Feen gäbe. Empört konfrontierte sie die Gouvernante mit ihren neuen Erkenntnissen. Die Frau erklärte ihr, dass, wenn man einmal aufgehört hatte an Feen zu glauben, nichts jemals mehr dasselbe wäre.

Elsinore blickte wieder zu dem Mann unter sich herab. Nichts würde jemals wieder so sein wie zuvor. Also machte sie, was jedes intelligente Mädchen an ihrer Stelle getan hätte.

Sie beugte sich hinab und küsste ihn.

Kapitel 2

„Kennzeichnen Sie den von Ihnen ausgewählten Jagdhund mit einem einfachen Halsband, falls er noch nicht bereit ist, die Wurfkiste zu verlassen. Widerstehen Sie dem Drang, die Ohren des Welpen mit einer Kerbe zu versehen, bis Sie sich bei Ihrer Wahl ganz sicher sind.“

Oglethorpes Traktat über den folgsamen Hund

Quin Graham fühlte, wie die Bewusstlosigkeit nach ihm griff, und versuchte, sie zu bezwingen, indem er blinzelte. Auf seinem Brustkorb lag ein hübsches junges Mädchen ausgestreckt, was zumindest für den Moment verhinderte, dass er eine weniger skandalöse, aufrechte Haltung einnehmen konnte. Sie roch stark nach Wein. Und dort schaute etwas aus ihrem Mieder heraus … war das etwa … eine Brustwarze? In der Tat. Und eine ansehnliche noch dazu.

Und das Geschrei – wer schrie hier denn so? War er das? Nein, natürlich nicht. Er überlegte kurz, ob er seine Augen einfach wieder schließen und warten sollte, bis alles vorbei war. Aber da war etwas in seinem Hinterkopf, das verzweifelt versuchte, sich zu einem kohärenten Gedanken zu formen. Etwas Wichtiges.

Daingead.“ Ach, verdammt. Er war beinahe draufgekommen, als … Lippen? Und Küssen? Oh, aber hallo, Kleines!

„Was soll das?“

Die Stimme kam ganz aus der Nähe und schnitt durch den Nebel in seinem Kopf wie ein Säbel. Ach du Scheiße.

„Was haben Sie mit meiner Tochter angestellt?“

Quin zwang sich, den lieblichsten Kuss, den er je bekommen hatte, zu unterbrechen. Im Türrahmen stand ein großer, vornehmer Herr, der mit großen Augen, tiefrotem Gesicht und voller Empörung zu ihm hinab starrte. Sie hatten sich früher an diesem Abend schon einmal getroffen und Quins benebeltes Hirn versuchte angestrengt, auf den Namen zu kommen, der zu dem vor Empörung verzerrten Gesicht gehörte. Wallingford. Anscheinend küsste er gerade die Tochter des Duke of Wallingford.

In Anbetracht der Umstände und, wichtiger noch, seiner momentanen Lage, tat Quin das einzig Intelligente, was ein vernünftiger Gentleman jetzt tun konnte.

„Euer Gnaden“, würgte er heraus. „Würden Sie mir die Ehre erweisen, meinem Gesuch um die Hand Ihrer Tochter stattzugeben?“

Seine Frage löste hektisches Treiben aus. Das Mädchen wurde aus dem Raum bugsiert, ohne auch nur ein Wort sagen zu dürfen, während ihr Vater Quin mit stählernem Blick am Boden festgenagelt hielt. Winchcombe, Eigentümer des Hauses und der Guillotine, wurde herbeigerufen. Erst dann wagte Quin zu hoffen, dass es an diesem Abend kein Blutvergießen geben würde.

Er suchte nach seinem Schuh, während Winchcombe seine anderen Gäste von der Tür wegscheuchte. Er schloss sie bestimmt, sodass sie vor neugierigen Blicken und plaudernden Zungen geschützt waren.

Wenn er wütend war, bot Winchcombe einen unvergesslichen Anblick. Eine Narbe, die von der rechten Augenbraue bis zur linken Seite seines Kiefers diagonal über sein Gesicht verlief, verlieh ihm eine wilde Ausstrahlung, die man kaum übersehen konnte. Quin hatte gehört, dass ihm die Verletzung von seinem eigenen Vater zugefügt worden war, aber das war kein Thema, das man während höflicher Konversation zur Sprache brachte, sodass sich jeder im Stillen fragen musste, was wirklich geschehen war.

„Was zum Teufel geht hier vor?“

„Nichts geht hier vor“, begann Quin.

„Hören Sie mal! Meine Jüngste zu kompromittieren, fällt wohl kaum in die Kategorie nichts“, platzte Wallingford heraus. „Oder spielen die Schotten gern mit jungen Mädchen?“

„Das tun wir nicht, Euer Gnaden. Wenn Sie mir erlauben würden, mich zu erklären -“

„Bluten Sie, Mann?“ Winchcombe schnitt ihm das Wort ab und zeigte auf Quins bestrumpften Fuß.

Der verschüttete Portwein hatte einen rötlichen Fleck auf Quins weißen Seidenstrümpfen hinterlassen. Es sah ganz so aus, als wäre er in einen Eimer voller Blut getreten. „Nein. Ich, ähm, sehen Sie, da war eine Karaffe mit Wein …“

„Wollen Sie etwa sagen, Sie haben meine Tochter mit Wein gefügig gemacht, bevor Sie sie belästigt haben?“

„Nein. Ganz sicher nicht.“ Dass noch vor dem Morgen Blut vergossen werden konnte, hatte er wohl etwas voreilig als unwahrscheinlich abgetan. Es lag auf der Hand, dass Wallingford nun auf jede erdenkliche Weise Streit suchte. Und nichts, was Quin sagen könnte, würde die Situation ausreichend erklären, um einen zornigen Vater zu besänftigen.

„Ich stehe zu meinem Angebot, Euer Gnaden.“ Quin streckte seine Hand aus, in der Hoffnung, der Adlige würde sein Einverständnis erteilen, indem er sie ergriff. „Obwohl ich mich keines Fehlverhaltens schuldig bekenne, stimme ich Ihnen darin zu, dass die Situation, so unschuldig sie auch gewesen sein mochte, nach Genugtuung verlangt. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich morgen Ihre Familie besuchen. Sagen wir um drei Uhr?“

„Ich sollte Sie zum Duell herausfordern.“ Wallingford presste die Worte durch zusammengebissene Zähne hervor und wandte sich von dem Friedensangebot ab.

„Mensch, warten Sie doch mal.“ Winchcombe schob sich zwischen die beiden. „Haben Sie mir nicht gerade heute Abend gesagt, dass Sie bereit wären, in dieser Saison Angebote um die Hand Ihrer Tochter zu erwägen?“

Wallingford brachte ein kurzes Nicken zustande.

„Ein illegales Duell würde denjenigen, die von einem Skandal ausgehen, nur neue Nahrung geben, nicht wahr?“

Noch ein widerwilliges Nicken von Wallingford.

„Ihre Tochter ist eine Freundin meiner Jüngsten, Euer Gnaden. Sie ist vielleicht etwas übermütig, aber sie hat es nicht verdient, die Bürde der Schande zu tragen, mit der ein Duell ihren Namen beflecken würde. Ich bitte Sie eindringlich, an die Zukunft Ihrer Jüngsten zu denken, Euer Gnaden.“

„Seit dem Tag ihrer Geburt habe ich nichts anderes getan.“ Wallingford begann, auf und ab zu schreiten, und hinterließ dabei eine Spur von verschmierten, portweinfarbenen Schuhabdrücken auf dem feinen Orientteppich.

Quin öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, wurde aber durch einen strengen Blick von Winchcombe zum Schweigen gebracht. Während Wallingford seine Möglichkeiten erwog, wuchs in Quin ein Gefühl des Unbehagens und er begann erneut, nach seinem fehlenden Schuh zu suchen, wobei er eine eigene Weinspur im Zimmer verteilte.

Um ihnen beiden Zeit zum Nachdenken zu geben und damit sich ihre erhitzten Gemüter beruhigen konnten, brachte Winchcombe seine Guillotine wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurück. So, als wollte sie den Überlegungen ein Ende setzen, sauste die Klinge der Guillotine, als sie den höchsten Punkt erreicht hatte, mit einem lauten Krach hinunter. Sie zuckten alle zusammen.

„Ich sollte das Ding wirklich reparieren lassen.“

Quin musste eine Welle der Angst und Übelkeit unterdrücken, die bei der Erinnerung daran, wie nahe das Mädchen einer blutigen Katastrophe gewesen war, in ihm aufstieg. Die Ablenkung schien jedoch Wallingford wachzurütteln und er näherte sich Quin mit entschlossenem, finsterem Blick.

„Morgen.“

Was morgen? Ein Duell oder ein Gespräch? Er wollte gerade nachfragen, als Wallingford hinzufügte: „In meinem Büro. Um drei Uhr. Wenn Sie auch nur eine Minute zu spät kommen, werde ich nach Ihnen suchen und Genugtuung verlangen.“

„Euer Gnaden.“ Quin brachte etwas zustande, was hoffentlich als ausreichend ehrerbietiges Kopfnicken aufgefasst werden würde. Aber er hätte sich darum nicht sorgen müssen, weil Wallingford sich bereits umgedreht hatte, um das Zimmer zu verlassen.

„Eine ehrliche Antwort bitte, wenn Sie so freundlich wären.“ Winchcombe schloss die Tür und wandte sich Quin zu.

„Ich versichere Ihnen, ich habe das Mädchen nicht kompromittiert.“

„Das geht mich nichts an. Meine Frage betrifft Ihr anderes dringliches Problem.“ Winchcombe ging zu der Anrichte und inspizierte die verbleibenden Flüssigkeiten, die sich als Drink anboten. Er entschied sich für eine Karaffe mit dunklem, bernsteinfarbenem Brandy und goss etwas davon in zwei Gläser. „Sie haben meinen Mann angeheuert?“

„Jawohl. Er schien mir recht fähig zu sein.“ Obwohl sein Treffen mit dem Privatermittler, den Winchcombes Frau ihm vorgeschlagen hatte, kurz gewesen war, hatte ihre Empfehlung, zusammen mit der Zusicherung des Mannes, dass alles absoluter Verschwiegenheit unterliegen würde, zu einer schnellen Entscheidung geführt.

„Das ist er.“ Winchcombe reichte Quin eines der Gläser. „Und die Angelegenheit, in der dieser Mann Nachforschungen anstellen soll, wird Wallingfords Tochter nicht schaden?“

„Es ist etwas rein Geschäftliches“, log Quin und nahm das Glas, das er ihm bot. „Ein kleines Ärgernis, das sich schnell klären wird, sobald ich den Verursacher aufgespürt habe.“

„Am besten lässt man solche Dinge nicht vor sich hin gären. Ich spreche da aus Erfahrung.“

„Ich werde mich darum kümmern.“ Quin nahm einen Schluck von seinem Brandy, in der Hoffnung, damit auch sein schlechtes Gewissen wegen der Lüge herunterschlucken zu können. Winchcombe würde es nicht gut aufnehmen, wenn er herausfand, was sich wirklich hinter Quins kleinem Ärgernis verbarg. Einen Verbündeten in London zu haben, war viel wert, und er wog sorgfältig sein Verlangen, die Wahrheit zu sagen, gegen seinen Wunsch ab, sie zu verbergen.

Winchcombe nickte und kippte den restlichen Inhalt seines Glases hinunter, als ein zaghaftes Klopfen auf der anderen Seite der Tür ertönte. „Kommen Sie herein“, rief er.

„Ich bitte um Verzeihung, Mylord. Die Kutsche, um die Ihr batet, steht bereit.“ Der Diener hielt seinen Blick auf den Boden geheftet, wo er den blutroten Fußabdrücken, die durch das Zimmer führten, mit stummem Schrecken folgte.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Graham, lasse ich Sie von meinen Lakaien durch den Hintereingang hinausschmuggeln. Ich denke, je weniger die Londoner Gesellschaft von Ihnen sieht, desto besser.“

„Ich teile diese Ansicht durchaus.“ Quin humpelte aus dem Zimmer und hinaus zu seiner Kutsche, nachdem er jede Hoffnung aufgegeben hatte, jemals wieder mit seinem Schuh vereint zu werden. Er klopfte gegen das Dach und das Schnalzen der Lederriemen hallte schrill durch die ruhigen Straßen. Als die Räder vorwärts rollten und der Wagen sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, warf Quin einen letzten Blick auf Winchcombe Manor. Die Chancen, jemals wieder dorthin eingeladen zu werden, waren verschwindend gering.

Was zum Teufel war eben passiert? Das arme Mädchen. Oder besser gesagt, die arme Frau, denn trotz des gerüschten, schlecht sitzenden Schulmädchenkleides hatte der Körper darunter definitiv einer Frau gehört. Der Gedanke ließ ihn innehalten. Konnte es sein, dass sie gar nicht so unschuldig war, wie sie vorgegeben hatte? Vielleicht war das alles nur eine ausgeklügelte List gewesen, um einen adligen Ehemann in die Falle zu locken. Falls das so wäre, hatte sie Anerkennung dafür verdient, sogar eine Guillotine in die Scharade miteinzubinden, allerdings würde sie dann bald erkennen müssen, dass sie damit den größten Fehler ihres Lebens begangen hatte.

Quin rutschte auf seinem Sitz herum. Der Gedanke, dass er vielleicht von einer Frau manipuliert worden war, beunruhigte ihn. Er nahm an, dass er wohl verlangen könnte, dass die Hochzeit aufgeschoben werden müsste, da er noch in Trauer war. Aber natürlich wusste noch niemand in London von den Todesfällen. Was seine verstorbene Frau betraf – nun, je weniger man sich an sie erinnerte, desto besser. Und wenn er Wallingford mehr Zeit ließe, den Ruf der Familie Graham unter die Lupe zu nehmen, würde das nur zu unangenehmen Enthüllungen führen, sodass der Ruf seiner Tochter mit einem schändlichen Skandal befleckt würde.

Es könnte den Anschein von Normalität erwecken, wenn er eine Ehefrau hatte. Und wenn es dazu noch eine schöne Frau mit Rehaugen war … Quin schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben. Wie tief war er bloß gesunken, dass es sein innigster Wunsch war, so normal und langweilig zu sein und zu erscheinen wie alle anderen? War er verrückt geworden? Zog er es tatsächlich in Betracht, ein törichtes Mädchen zu heiraten, das mit einer Guillotine gespielt hatte? Sie war nicht einmal besonders hübsch.

Nein, sie war nicht hübsch, sondern wunderschön. Alle Anzeichen deuteten auf ein liebenswertes Gemüt hin und auf einen Sinn für Humor. Beides würde sie auch brauchen.

Was ging ihm da gerade durch den Kopf? Quin presste seine Handflächen gegen die müden Augen. Warum hatte er ihr von den Frettchen erzählt? Das hatte er noch nie jemandem erzählt. Tatsächlich hatte er schon seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Diese Frau hatte Macht über ihn – die Macht, ihn sich selbst vergessen zu lassen.

Als er zu Hause angekommen war, schritt Quin im Salon seines gemieteten Stadthauses auf und ab wie ein eingesperrtes Tier. Er musste den Drang, auf irgendetwas einzuschlagen, unterdrücken – auf eine Wand, den Kamin … oder einen Herzog. Bei seiner nächsten Runde durch das Zimmer schnappte er sich eine offene Flasche Whisky vom Schreibtisch und nahm einen tiefen Schluck. Die Flüssigkeit brannte sich seine Kehle hinunter und sammelte sich in seinem Magen, bis sein Zorn schwoll.

Warum in aller Welt hatte das dämliche Mädchen ihn geküsst? Dieser viel zu kurze Kuss war voller Hoffnung gewesen, eine Verheißung, wie sie sonst nur in den ungesagten Worten im Blick von Verliebten lag. Zumindest hatte es sich für ihn so angefühlt. Wenn sie ihn bloß nicht mit diesen unschuldigen Augen angeschaut hätte, wenn sie ihn nicht so freundlich angelächelt und so ernst mit ihm gesprochen hätte. Quin seufzte. Er hätte weggehen und sie dort zurücklassen sollen – dann wäre sie jetzt nicht sein Problem.

Er nahm noch einen tiefen Schluck von dem Whisky, bis die Flasche leer war. An einem einzigen Abend waren seine Möglichkeiten drastisch beschränkt worden – entweder er heiratete oder er duellierte sich mit einem Herzog. Sich von einer Frau zur Heirat zwingen zu lassen, überstieg beinahe seine Schmerzgrenze. Seine letzte Begegnung mit einer hinterhältigen Frau hatte zu seinem gegenwärtigen … Dilemma geführt. Quin lächelte voller Reue – das war ein so harmlos klingendes Wort für das Durcheinander, das aus seinem Leben geworden war. Verrat, Mord, Kummer – all das hatte der Mann, den er für seine Nachforschungen angeheuert hatte, mit diesem einen harmlos klingenden Wort zusammengefasst. Aber das Wort konnte kaum vermitteln, dass er gerade durch die Hölle ging. Und doch durfte niemand davon erfahren.

Quin griff in seine Jacketttasche, zog ein kleines silbernes Porträtmedaillon heraus und klappte es auf. Eine Miniatur seines Sohnes war auf der einen Seite zu sehen, aber die andere war leer. Er hatte sich nie dazu bringen können, auch ihr Bild dort zu verwahren, selbst, bevor – nun, vor alledem.

Er hatte das Porträt seines Sohnes vor weniger als sechs Monaten mit Kohlestiften angefertigt. Es zeigte ein pummeliges, glückliches Kleinkind mit Korkenzieherlocken und einem breiten, sabbernden Grinsen. Als er ihn gezeichnet hatte, hatte er nicht geahnt, dass diese Skizze, abgesehen von einem Grabstein aus Granit, der einzige greifbare Beweis dafür sein würde, dass sein Sohn überhaupt jemals existiert hatte.

Quin stellte den kleinen Doppelrahmen auf der Schreibtischplatte ab und ließ ihn offen, um das Bild seines Kindes noch für einige wenige kostbare Augenblicke bei sich zu behalten. Der kleine Jamie war so unschuldig und vertrauensselig gewesen, und er war dem niederträchtigen Verrat von Erwachsenen zum Opfer gefallen. Und du, Quin, rügte er sich selbst, du warst so sehr von dir selbst eingenommen. Du hast die Warnungen ignoriert und so getan, als könnte mit der Zeit alles wieder in Ordnung gebracht werden. So viel Zeit hatte Jamie aber nicht gehabt. Als er es nicht länger ertragen konnte, sich an den Klang des kindlichen Lachens seines Sohnes zu erinnern, oder daran, wie weich sich die blonden Locken unter seinen Fingerspitzen angefühlt hatten, griff Quin wieder nach der Flasche, nur um festzustellen, dass sie bereits leer war. Er hatte seinen Sohn im Stich gelassen; wie viele Leute würden noch leiden müssen, weil er es versäumen würde, das Übel rechtzeitig aufzuhalten?

Seine skandalöse Vergangenheit durfte nicht ans Licht kommen. Er war der letzte Graham des Familienzweigs. Durch die schnell aufeinanderfolgenden Todesfälle – erst seine Eltern und dann sein Sohn – war er als alleiniger Bewahrer des Familiennamens zurückgeblieben. Sollte er ohne direkte Nachkommen sterben, würde das Baronat erlöschen und der Titel an die Krone zurückgehen. Er konnte doch nicht seinen Vater, seinen Großvater und jeden anderen Graham, der je gelebt hatte, enttäuschen. Dann wäre es vergeblich gewesen, dass sie alle vorbildlich gelebt hatten und edelmütig gestorben waren: Der Familienname würde aussterben und ihre Ländereien und Anwesen wären nichts weiter als eine Münze mehr in der Schatzkammer der englischen Krone.

Im Augenblick war der Ehehafen das kleinere Übel. Eine schnelle, ordentliche Lösung, gefolgt von einem eiligen Rückzug nach Schottland wäre die einzig vernünftige Entscheidung. Mit etwas Glück könnte er die Angelegenheit dann endlich vergessen und zur Normalität zurückkehren. Was auch immer normal für einen Mann wie ihn heißen mochte. Ein Mann, der vielleicht schon zu viel gesehen und zu wenig getan hatte – oder war es doch andersherum?

Er fand noch eine weitere Flasche Spirituosen, riss das Wachssiegel ab und zog den Korken mit den Zähnen heraus, bevor er einen bitteren Schluck nahm. Er würde morgen Nachmittag das Anwesen des Duke of Wallingford besuchen und auf Knien das tun, was sich seiner unglückseligen Tochter gegenüber gehörte. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein.

***

„Du hast alles ruiniert!“, rief Elsinores Mutter zwischen lauten Schluchzern aus, bevor sie ihr Taschentuch schwenkte und im Familiensalon in einen Sessel aus Damast sank. Zu sehen, wie ihre Mutter Tränen vergoss, brachte Elsinore aus der Fassung. Obwohl die Herzogin einen Hang zur Theatralik hatte, hatte Elsinore sie noch nie so überaus verzweifelt erlebt.

Die blutroten Weinflecke auf ihrem Kleid legten ihren äußersten Ruin nahe, aber Elsinore umklammerte den einzelnen Schuh ihres Retters wie einen Talisman. Sie hatte ihn an sich genommen und hatte ihn ihm zurückgeben wollen; dabei hätte sie das, was passiert war, vielleicht noch ein wenig erklärt … oder sich zumindest mit ihm unterhalten. Aber ihr Vater hatte dafür gesorgt, dass sie aus dem Zimmer und in die Familienkutsche bugsiert worden war, bevor sie sich überhaupt bei dem Mann dafür bedanken konnte, dass er ihr geholfen hatte.

„Mama, ich habe dir doch schon gesagt, dass er mir nur zu Hilfe gekommen ist.“

Elsinore sah von ihrer Mutter zu ihrem Vater, in der Hoffnung in ihren Gesichtern auch nur die kleinste Andeutung von Vergebung zu lesen, aber sie fand dort nur Schmerz und Wut. Es war nicht leicht, vier perfekte Schwestern zu haben. Vier vorbildliche Ehen und dabei nicht mal den Hauch eines Skandals. Und alle vier hatten sie sie den ganzen Heimweg über in der Kutsche gescholten und dann ihrem Schicksal überlassen. Sie musste den Satz „Wie konntest du nur?“ bestimmt hundert Mal gehört haben.

Der Duke of Wallingford schüttelte den Kopf. „Alles, was wir von dir verlangt haben, meine Liebe, war, dass du auf dem Ball bei deiner Mutter bleibst. Aber du konntest nicht einmal dieses eine einfache Gebot befolgen.“

„Ich dachte doch nur …“ Elsinore ließ den Kopf hängen und behielt ihre Gedanken für sich. Sie konnte wohl kaum zugeben, dass sie Lord Byron durch die Flure gefolgt war, ohne noch mehr wie ein Wildfang dazustehen. Die Umstände, unter denen sie aufgewachsen war, ermöglichten es ihr, ein Leben voller Wohlstand und Privilegien zu führen – wie konnte sie da ihren Eltern erklären, dass sie sich auf unerträgliche Weise nach weit mehr sehnte? Nach einem Abenteuer, einer Berufung, einem Ziel … Sie wollte mehr sein als nur ihre jüngste Tochter.

„Nein“, sagte ihr Vater und unterbrach ihre Gedanken. „Offensichtlich hast du überhaupt nicht gedacht – schon gar nicht an deinen Ruf.“

Bevor Elsinore etwas erwidern und sich verteidigen konnte, mischte sich ihre Mutter wieder in das Gespräch ein. „Liebling, mir scheint, du begreifst die Konsequenzen dessen, was du getan hast, nicht.“ Wieder schnupfte sie in ihr Taschentuch.

„Papa“, flehte Elsinore. „Sicher bist du einflussreich genug, um das alles ungeschehen zu machen.“ Erst allmählich begann sie, die enorme Tragweite dessen, was an diesem Abend geschehen war, zu verstehen. Oh, warum musste ich ihn auch küssen? Es hatte irgendwas mit den Feen zu tun. Sie konnte das nicht einmal ansatzweise ihren Eltern erklären. Und Byron zu erwähnen, würde nur dafür sorgen, dass ihre Mutter erneut in Hysterie verfiel.

„Und wie soll ich das bitte anstellen, liebste Tochter? Ich bin nicht der Einzige, der dich und diesen Schotten dabei gesehen hat, wie ihr zusammen in Wein getränkt auf dem Boden lagt. Vom Flur aus sah es ganz danach aus, als ob du diesen Burschen geküsst hättest. Je mehr ich versuche, das als Missverständnis darzustellen, desto eher werden die Leute es für einen Skandal halten.“

„Ich habe dir doch schon gesagt, Papa, dass nichts passiert ist.“ Elsinore hob ihre Hand und strich mit den Fingerspitzen über ihre Unterlippe. Genau genommen war nicht nichts passiert – sie hatte den Mann geküsst. Zudem hatte er, wenn sie sich nicht irrte, ihren Kuss erwidert. „Es war nicht das, wonach es aussah“, erklärte sie.

„Und wie kommt es, dass ihr zusammen auf dem Boden gelegen habt?“, fragte er ungläubig.

„Ich glaube, der arme Mann ist auf dem Wein ausgerutscht und zu Boden gefallen.“ Sie blickte an sich hinunter und zupfte an ihrem ruinierten Kleid, um es so zurechtzurücken, dass es mehr Haut bedeckte als der Stoff hergab. „Ich bin leider mit ihm zu Boden gefallen.“

„Und warum war da Wein auf dem Boden?“

„Weil er ihn mir auf die Hand gegossen hat.“ Elsinore spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann, weil ihr selbst auffiel, dass sich ihre Erklärungen nicht nur ein bisschen danach anhörten, als wären sie an den Haaren herbeigezogen.

„Der Mann hat Wein in deine Hand gegossen?“ Die Miene ihres Vaters verhärtete sich und es gelang ihm kaum mehr, seinen Zorn zu verbergen.

„Nicht in meine Hand, sondern auf meine Hand. Genauer gesagt auf mein Handgelenk.“

„Wozu denn das?“, fragte ihre Mutter und klang dabei gleichzeitig schockiert und verwirrt.

„Weil ich damit feststeckte.“ Elsinore seufzte und senkte ihre Stimme, bis sie kaum mehr war als ein Flüstern. „In Lord Winchcombes Guillotine.“

Ihr Vater starrte sie an. Sein Mund öffnete und schloss sich lautlos wieder – und das Ganze zwei Mal -, bevor er die Sprache wiederfand. „Was ist mit den unzüchtigen Äußerungen, die belauscht wurden?“

Unzüchtig? Es war doch alles so unschuldig gewesen, dass sie nicht ein einziges Mal errötet war. „Wir haben nur über Möglichkeiten gesprochen, meine Hand ohne Blutvergießen herauszubekommen. Wir sprachen davon, das Ding herauszuziehen und wieder hineinzuschieben, es ein bisschen zu drehen, und natürlich davon, dass es plötzlich geschwollen ist und deshalb zu groß für das Loch war.“

„Ich brauche mein Riechsalz.“ Die Herzogin ließ ihr Taschentuch fallen und ihren Fächer aufschnappen. Sie wedelte damit wie ein verwundeter Vogel, der verzweifelt mit den Flügeln schlug. „Marie!“, krächzte ihre Mutter nach dem Dienstmädchen, das immer ein Riechfläschchen in der Tasche hatte, egal zu welcher Stunde.

Elsinore drehte sich wieder zu ihrem Vater um und sah, dass sein Mund wieder offenstand. In der folgenden Minute war es still – bis auf die Geräusche, die das hektische Wedeln ihrer Mutter mit dem Fächer aus Seide und Elfenbein verursachte, und die Schritte ihres Vaters, der im Zimmer auf und ab lief.

„Wenigstens hat er getan, was ehrenhaft ist, und um deine Hand angehalten“, sagte ihr Vater schließlich.

„Ich werde ihn abweisen“, sagte sie hoffnungsvoll. Elsinore war überzeugt, dass sie, wenn man ihr genügend Zeit gab, einen Weg finden würde, alles wieder in Ordnung zu bringen, was an diesem Abend schiefgelaufen war. Sie musste das einfach schaffen.

„Es ist die Pflicht deines Vaters, dafür zu sorgen, dass du eine angemessene Partie machst.“ Ihre Mutter hatte sich genügend beruhigt, um sie an diese Aufgabe des Familienoberhauptes zu erinnern. „Er hat das Recht, jeden Gentleman, der um deine Hand anhält, abzuweisen oder sein Angebot anzunehmen.“

„Papa?“ Elsinore drückte den Schuh an ihre Brust, aber ihr Vater wich ihrem Blick aus. Ein dumpfer Schmerz begann, hinter ihren Augen zu pochen. Sicherlich würde man sie nicht zwingen, sich auf eine schlechte Partie einzulassen. Nächste Woche würde sie ja erst zwanzig werden, da war sie wohl kaum eine alte Jungfer. Und ihr Vater war kein herzloser Mensch. Am Nachmittag war sein Lachen noch schallend durch das Anwesen gehallt, als sie sich alle für den Ball fertig gemacht hatten – sie hatte etwas Geistreiches gesagt und er hatte ihre Bemerkung so originell gefunden, dass er gesagt hatte, er wolle davon in seinem Club erzählen.

„Ich glaube nicht, dass du die restliche Saison hinter dich bringen könntest, ohne noch einen weiteren Skandal zu verursachen – nicht bei dem Ungehorsam, den du bisher an den Tag gelegt hast.“ Aus seinen Worten sprach kein Zorn, sondern nur Resignation.

„Welcher Ungehorsam?“, fragte sie zaghaft, weil sie fürchtete, die Antwort bereits zu kennen.

Ihr Vater schnaubte und schüttelte den Kopf. „Bist du nicht erst letzte Woche in der Bond Street ganz ohne Hilfe in den Phaeton eines völlig fremden Mannes geklettert – auf den Hochsitz?“

„Ich hatte noch nie in einem Hochsitz gesessen und er war so elegant. Mein Bruder hat versprochen, mir dieses Jahr das Fahren beizubringen, und da habe ich beschlossen, dass ich genauso eine Kutsche möchte.“ Diese Notlüge war ihr gerade eingefallen. In Wirklichkeit hatte sie Lady Throckmorton und ihren geckenhaften Sohn entdeckt und war vom Gehweg in die Kutsche gesprungen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Pendergast Throckmorton, der einmal ein Viscount sein würde, war nicht nur ein ungebildeter, egozentrischer Dandy, er hing auch ständig am Rockzipfel seiner Mutter, dem alten Drachen. Elsinore hätte sich vor eine fahrende Kutsche geworfen, um noch einer Einladung zum Tee mit Lady Throckmorton zu entgehen.

„Halb London hat zugesehen, als du wie ein Zirkusaffe in einen Phaeton gekraxelt bist“, fuhr ihr Vater fort.

„Ich versichere dir, dass ich mich so wenig affenartig wie möglich bewegt habe“, sagte sie kleinlaut.

„Ach, schön. Ich hatte schon Sorge, du hättest dich dabei wirklich zum Affen gemacht.“

Als Elsinore den Sarkasmus in der Stimme ihres Vaters bemerkte, zuckte sie zusammen. Als das jüngste Kind war sie seine Nachsicht gewöhnt, die ihren älteren Geschwistern nicht so großzügig zugekommen war, und seine Worte versetzten ihr einen Stich.

„Muss ich den Vorfall beim Musikabend der Trents erwähnen?“, fragte er.

Elsinore entschied, dass es in diesem Fall dienlicher wäre, die Wahrheit zu sagen. Sie straffte die Schultern, bevor sie erklärte: „Bei dem Versuch, der unerwünschten Aufmerksamkeit von Lord Butterworth zu entgehen, wählte ich den effizientesten Ausweg.“

„Du bist aus dem Fenster gesprungen!“, entgegnete ihr Vater donnernd. Weil er ein großer Mann mit langem, blütenweißem Haar war, wurde Elsinore bei diesem Tonfall wieder daran erinnert, warum er im Oberhaus als einflussreich und überzeugend galt.

„Es war eine Fenstertür“, murmelte Elsinore. „Und es war mehr ein Hüpfer als ein Sprung.“

Ihre Mutter unterbrach ihr Schluchzen lange genug, um zu fragen: „Und was ist falsch an Lord Butterworth? Er ist der Erbe eines Earls, um Himmels willen.“

„Er stinkt nach faulen Eiern.“ Elsinore rümpfte die Nase.

„Sie stinken alle ein wenig, Liebes“, sagte ihre Mutter. „Du musst lernen, durch den Mund zu atmen.“ Ihr Vater schnaubte bei diesen Worten.

„Ich lehne es ab, für den Rest meines Lebens durch den Mund zu atmen. Ich werde schwindsüchtig aussehen. Ein gewisses Maß an Reinlichkeit sollte man von seinem angehenden Ehemann doch erwarten können.“

„Hast du schon den Skandal im Landhaus der Dardens vergessen, weshalb wir deine Saison von letztem Jahr auf dieses Jahr verschieben mussten?“, warf ihr Vater ein. Er war offensichtlich nicht glücklich damit, welchen Verlauf ihr Gespräch genommen hatte.

„Zum hundertsten Mal: Ich wusste nicht, dass sie schwimmen gehen wollten. Ich dachte, die jungen Männer würden sich zu einem Abenteuer aufmachen, und das wollte ich nicht verpassen. Ich bin sofort gegangen, als ich ihre … ich meine, als ich merkte, dass sie unbekleidet waren. Das war nur ein kleines Missverständnis und bestimmt kein Skandal. Keine der beteiligten Parteien hat Schaden genommen und es gab auch keinen Grund für Darden, seinem Vater zu sagen, dass er mich entdeckt hatte.“

„Keinen Schaden genommen?“, rief ihr Vater aus. „Wenn ihr Cousin sich nicht genau dieses Wochenende ausgesucht hätte, um durchzubrennen und alle abzulenken, weiß ich nicht, wie wir deinen Ruf hätten retten können.“

„Ich musste in der letzten Saison allen erzählen, dass du eine Halsentzündung hättest und wir dich zur Erholung aufs Land geschickt hätten. Wir haben das unermessliche Glück, dass der Skandal der Dardens interessanter war als deiner, sonst würden die Leute immer noch darüber reden“, fügte ihre Mutter hinzu.

Elsinore blickte auf den herabhängenden Saum ihres zerrissenen Abendkleides hinab. An den ausgefransten Rändern war die einst weiße Seide jetzt grau, weil sie über den Boden geschleift worden war, und die verräterischen Rotweinflecke zeigten deutlich, dass sie eine unangemessene Wahl war. Sie griff nach dem Ärmel, der sich dank der aufgeplatzten Nähte weigerte, auf ihrer Schulter zu bleiben, und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Sie musste zugeben, dass sie wirklich entsetzlich aussah. Sie war es leid, sich zu erklären, und jedes Mal, wenn sie versuchte, über die möglichen Folgen nachzudenken, drehte sich ihr Magen und sie fühlte sich höchst beunruhigt.

Sie wollte schreien. Stattdessen flüsterte sie: „Ich wollte doch nur mein eigenes Abenteuer erleben.“

Ihr Vater faltete die Hände hinter seinem Rücken. „Und genau diese Einstellung ist auch der Grund, warum ich Lord Grahams Angebot annehmen werde. Möge Gott seiner Seele gnädig sein.“