Leseprobe Ein Bed & Breakfast zum Verlieben - Seesternträume und Muschelglück

Prolog

Es ist komisch, dachte sie, während sie ihren Blick durch die kahle Wohnung schweifen ließ und sich umsah. Weiße Wände, hohle Räume, keinerlei Hinweis darauf, dass hier vor kurzem noch ein Zuhause gewesen war.

Joyce stand mitten im Wohnzimmer ihrer kleinen, nun ja, ehemaligen Wohnung, die sie vor sieben Jahren voller Liebe und Hingabe eingerichtet und ihr eigenes kleines Reich genannt hatte. Aber wie das Leben so spielte, so waren auch die anfänglich noch strahlenden Farben an den Wänden verblasst, einzelne Stellen inzwischen abgenutzt. Das Leben hatte seine Spuren hinterlassen. Genauso wie bei ihr selbst. Ihre anfängliche Liebe und Hingabe für ihren Job beim Onlinemagazin The best of Living, ihre Leidenschaft für Mode und alles, was funkelte und stylisch aussah, hatten mit den Jahren immer mehr an Glanz verloren, bis es schließlich nur noch ein Arbeitsplatz gewesen war, zu dem sie sich tagein tagaus hinschleppte. Es war zu etwas geworden, mit dem sie ihren Alltag bestritt, um am Ende des Monats Geld dafür zu bekommen. Von einem Gefühl der Erfüllung konnte schon seit Monaten keine Rede mehr sein. Erst recht nicht, als ihre beste Freundin Annie vor etwa eineinhalb Jahren ihren Job in derselben Redaktion verloren hatte und nach Shanty Coast gezogen war, ein niedliches Fischerdörfchen an der englischen Küste, gute vier Stunden von London entfernt. Joyce war zurückgeblieben und musste ihr Leben von ihrer besten Freundin getrennt weiterführen.

Doch jedes Mal, wenn sie bei ihr zu Besuch gewesen war, hatte sie gemerkt, dass sich etwas in ihr regte. Immer wenn sie sah, wie frei ihre Freundin inzwischen war und wie glücklich sie ihr Leben lebte, einen kleinen Blog über DIY-Möbel führte und in einem zauberhaften Café direkt an der Promenade arbeitete, begann sie, ihren Job zu hinterfragen.

Joyce zweifelte an ihrem Zuhause in London, wann immer sie die frische Seeluft in sich eingesogen, dem sanften Rauschen der Wellen und dem Gesang der Möwen gelauscht hatte. Und bei ihrem letzten Besuch war es dann um sie geschehen. Sie hatte Nägel mit Köpfen gemacht: ihre Arbeit und ihre Wohnung gekündigt, einen Umzugsdienst engagiert und sich eine neue Arbeitsstelle in Shanty Coast gesucht. Von nun an würde sie in einem kleinen B&B, dem Shanty Coast Inn, arbeiten. Weg von Jeffrey, ihrem ätzenden Chef. Weg von ihrem Bildschirm, weg von der Tastatur und von den Texten, bei denen es um Modetrends ging, die man auch auf sämtlichen anderen Onlineportalen verfolgen konnte. Die redaktionelle Welt brauchte sie nicht mehr und sie umgekehrt die Redaktion nicht.

Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, die sie schon seit langem nicht mehr geschminkt hatte. Eine Angewohnheit, die sie vor ein paar Monaten abgelegt hatte: stundenlang vor dem Spiegel zu stehen und sich zu frisieren, zu schminken und die Zeit damit zu verplempern, herauszufinden, welche Farben ihrer Bluse am besten zu ihren neuesten Schuhen passten. Immer wenn sie Annie besucht hatte, hatte sie auf aufwändiges Make-up und komplizierte Frisuren verzichtet, da übertriebenes Styling einfach nicht dorthin gepasst hätte. Dort trug man nur einen lockeren Haarknoten, Shirts, Jeans und Sneakers, die wesentlich bequemer für eine ausgiebige Wanderung an der Steilküste waren.

Joyce hatte das Gefühl, dass sie mit jedem Besuch eine Angewohnheit nach der anderen abgelegt hatte. Wie eine Schlange, die sich häutete, bis sie schließlich sie selbst wurde: eine dreißigjährige Frau, die endlich herausgefunden hatte, dass das Großstadtleben nichts mehr für sie war. Von jetzt an hieß es für sie, Küstenluft zu schnuppern, die Natur zu genießen, Zeit mit ihrer besten Freundin zu verbringen und den Quereinstieg ins Gastronomiegewerbe zu wagen.

Sie wollte gerade einen letzten prüfenden Rundgang durch die kleine Dreizimmerwohnung machen, als ihr Handy vibrierte. Ein schneller Blick aufs Display verriet ihr, dass es Annie war. Sie wischte sich ein paar ihrer blonden Haare aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten, und marschierte durch die hallenden Räume.

„Annie, hallo?“

„Hey, Joyce! Ich wollte nur mal wissen, ob alles klappt und ob deine Möbel schon auf dem Weg hierher sind.“

Joyce atmete einmal tief durch. „Ja, sie wurden vor etwa einer Viertelstunde abgeholt. Ich werde auch gleich losfahren und checke nur mal, ob ich an alles gedacht habe, bevor ich den Schlüssel übergebe.“

„Ist alles in Ordnung mit dir?“

Sie nickte unschlüssig. „Ja … nein … also ich meine ja. Ach Ann, ich bin einfach nur ein bisschen … nervös. Und dass ich in meiner leeren Wohnung stehe, macht es irgendwie so real.“

Sie hörte ein verständnisvolles Lächeln am anderen Ende der Leitung. „Das ist doch normal. Immerhin lässt du gerade dein gesamtes Leben hinter dir und ziehst in ein kleines Küstendorf irgendwo im Nirgendwo. Aber glaub mir, wenn du erst einmal hier angekommen bist, wirst du nicht mehr zurück wollen.“

Ihre liebevolle Stimme zu hören, gab Joyce den nötigen Zuspruch, den sie in diesem Moment brauchte.

„Ja, sicher hast du recht. Also ich mache mich bald auf den Weg. Und es ist auch wirklich okay, wenn ich dein Gästezimmer beziehe? Ich meine … noch könnte ich mich nach einer Alternative …“

„Stopp, stopp, stopp! Wie oft wollen wir das noch durchkauen?“ Annie lachte. „Du kannst so lange bei mir wohnen, wie du willst. Schon vergessen? Es ist dein Cottage, in dem ich lebe. Ich zahle Miete an dich. Natürlich kannst du hier wohnen, so lange du willst.“

Joyce lächelte. „Gut, ich werde bei dir wohnen, ich habe es verstanden.“

„Ohne dich hätte ich dieses wunderbare Cottage doch gar nicht“, rief Annie ihr in Erinnerung und brachte sie bei dem Gedanken daran zum Schmunzeln, wie sich damals alles gefügt hatte. Ihre Tante Rosemary war vor etwa zweieinhalb Jahren verstorben und hatte Joyce ihr altes Cottage vermacht. Als Annie damals ihren Job in der Redaktion verloren hatte, hatte Joyce die perfekt Idee gehabt, um ihr aus ihrem Tief zu helfen: Sie hatte sie nach Shanty Coast geschickt, damit sie das Cottage auf Vordermann bringen konnte. Dass sie sich dabei ausgerechnet in ihren Nachbarn Clay verlieben würde, hatte damals noch niemand geahnt. Daher war es die beste Lösung für das Haus gewesen, dass Annie es direkt nach der traumhaften Renovierung selbst bezogen hatte und das Gemäuer mit Liebe füllte. Dass sie jetzt selbst eine Weile darin wohnen würde, bis sie eine eigene Bleibe gefunden hatte, wäre ihr damals nie in den Sinn gekommen.

„Und ich bin auch immer noch froh, dass ich eine so wunderbare Mieterin habe, die mir nun ihr Gästezimmer untervermietet“, lachte Joyce nun und zog eine allerletzte Runde durch die leeren Räume. „Ich denke, ich habe alles und mache mich jetzt auf den Weg. Gegen Abend sollte ich dann da sein.“

„Ich koche uns was Schönes und stelle deinen Lieblingswein bereit.“

Joyce seufzte bei dem Gedanken an einen gemütlichen Abend mit ihrer Freundin erleichtert. Und ganz besonders freute sie sich auf das Sofa. Die letzten drei Abende hatte sie auf einer Isomatte in ihrem leeren Wohnzimmer verbracht. Ihr Rücken erinnerte sie fortwährend daran.

„Ich werde es aber bei einem Glas heute Abend belassen. Immerhin habe ich morgen meinen ersten Arbeitstag.“

„Bist du schon aufgeregt?“

„Ein bisschen“, gab sie ehrlich zu und griff nach ihrer Reisetasche, ehe sie die Haustür ein letztes Mal öffnen und hinter sich schließen würde. „Aber ich freue mich auch. Ich denke, es wird genau das Richtige sein. Ein netter Kontrast zu meinem alten Leben.“

„Nicht nur ein Kontrast“, schmunzelte Annie, „es ist das absolute Gegenteil.“

„Ja, da hast du recht. Und das ist gut so“, antwortete sie schon wesentlich hoffnungsvoller, als sie ihren Blick ein allerletztes Mal in ihr Wohnzimmer schweifen ließ, bevor sie sich umwandte und die Haustür für immer hinter sich schloss.

Kapitel 1

„Es ist so schön, dich zu sehen!“ Annie schoss auf ihre Freundin zu, als diese gerade an der Tür zum Rosemary-Cottage stand und die Klingel betätigen wollte. Doch noch ehe Joyce überhaupt einen Finger auf den kleinen runden Metallknopf legen konnte, hatte ihre Freundin die Tür schon weit aufgerissen und war auf sie zugestürmt. Sofort entwand sich Joyce ihrer Umarmung und atmete erleichtert auf. „Es ist auch schön, dich zu sehen.“

Annie musterte sie von oben bis unten. „Du siehst großartig aus. Es ist zwar immer noch etwas ungewohnt, dich ohne deine hohen Schuhe zu sehen, aber so gefällst du mir viel besser. Vor allem, weil ich jetzt nicht ständig zu dir hochschauen muss, wo wir doch eigentlich gleich groß sind.“

Joyce folgte ihrem Blick und schaute an sich herab. Sie hatte eine bequeme Jeans und einen dicken braunen Wollpulli an, da der April bisher noch ziemlich kalt gewesen war. Ihre Füße steckten in warmen Boots, die sie sich vergangenen Winter gekauft und bisher kaum getragen hatte.

„Ich muss sagen, es ist um einiges bequemer, in Boots als in High Heels so lange Auto zu fahren.“

„Na also, dann komm schnell rein.“

„Aber was ist mit meinen Sachen? Meine Möbel müssen doch noch in der Lagerhalle verstaut werden und …“

Annie winkte ab, noch ehe sie ihren Satz beendet hatte. „Das ist längst erledigt. Ich war vorhin da und habe dem Umzugsservice erklärt, wo was hinkommen soll.“

Joyce atmete dankbar auf. „Du bist ein Engel, weißt du das?“

„Weiß ich, und nun komm rein, denn auch Engel können sich den Hintern abfrieren.“

Etwa zwei Stunden später war es draußen stockdunkel, und sie hatten es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem gemacht. Joyce seufzte genussvoll, als sie das weiche Polster unter sich spürte. Die Isomatte hatte sie ganz schön traumatisiert.

Sie tranken ein Glas Wein, während sie Lasagne aßen und die Gesellschaft der jeweils anderen genossen.

„Das Essen ist wirklich gut. Ich danke dir dafür“, schwärmte Joyce und sah sich nebenbei um. „Es ist auch jedes Mal wieder schön, hier zu sein. Was du aus diesem alten Kasten gemacht hast, ist einfach unglaublich. Tante Rosemary wäre sehr stolz auf dich.“

„Ich finde es unglaublich, dass wir beide wieder so nahe beieinander wohnen. Wenn du mich fragst, ich fand die Entfernung zwischen uns schrecklich.“

„Stimmt“, pflichtete Joyce ihr bei. „Ich werde aber zusehen, dass ich ganz schnell eine Wohnung finde. Immerhin können meine Sachen nicht ewig in deinem Lager stehen. Du brauchst es für deine Möbel, die du für deinen Instagram Account aufbereitest.“

„Ich kann das auch mit deinen tun, wenn du möchtest“, schlug Annie vor.

Joyce lachte ungläubig auf. „Ach was, das ist reinste Zeitverschwendung. Die Sachen sind uralt, und du hast sicher Besseres zu tun, als dich um meinen alten Kleiderschrank zu kümmern. Ein Wunder, dass er es noch hierher geschafft hat und nicht in sich zusammengebrochen ist.“

Annie stellte ihren Teller auf den Couchtisch und wandte sich ihrer Freundin zu. „Nein, das ist mein Ernst. Das ist Superstoff für meinen Kanal. Ich meine … nur wenn du möchtest.“

Schulterzuckend stellte Joyce ihr Geschirr ebenfalls auf dem Tisch vor sich ab. „Gut, wenn du gerne möchtest, dann bitte … ich habe nichts dagegen.“

Annie strahlte und schien offenbar schon einige Ideen im Kopf zu haben.

„Und? Wahnsinn, nun ist morgen doch schon tatsächlich dein erster Arbeitstag in deinem neuen Leben.“

Joyce lächelte nachdenklich. „Ich kann es selber kaum glauben, wie schnell die Zeit nun vergangen ist. Gestern noch besuche ich dich und denke darüber nach, dass ich eine Veränderung in meinem Leben brauche, und jetzt sitze ich hier. Und ich bin sehr gespannt, wie meine neuen Aufgaben aussehen werden, weil es ja nun doch das komplette Gegenteil von meinem alten Job ist. Das Einzige, was mir Bauchschmerzen bereitet, ist, dass Mrs McNeill so bissig ist.“ Sie schaute ein wenig ängstlich.

Annie lachte neben ihr auf. „Ach, da musst du keine Angst haben. Du hast sie doch schon beim Bewerbungsgespräch kennengelernt.“

„Ja eben.“ Sie rief sich das Gespräch in Erinnerung und schüttelte sich kurz. „Sie hat mir eindeutig zu verstehen gegeben, dass die Arbeit im B&B kein Zuckerschlecken ist und ich mich noch ganz schön umschauen werde, wo ich doch bisher meine Zeit vor dem Bildschirm verplempert habe. Ihre Worte. Ansonsten war sie ganz umgänglich, wenn sie mich nicht gerade auf eine forsche Art und Weise beleidigt hat.“

Annie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mach dir keine Sorgen. Mrs McNeill ist zwar ziemlich bärbeißig, aber eigentlich ist sie ganz okay. Man muss eben wissen, wie man sie zu nehmen hat. Das wirst bestimmt du ganz schnell lernen.“

Joyce seufzte und lehnte sich auf der Couch zurück. „Na, ich bin mal gespannt. Ich versuche jedenfalls, morgen ganz gelassen in den Tag zu starten und mir nicht allzu viele Gedanken zu machen. Sobald ich eingearbeitet bin, werden wir uns ohnehin nicht so viel über den Weg laufen, da die Herrin des Hauses nicht mehr so viel tun möchte oder eher gesagt kann.“

„Na ja, in letzter Zeit ist auch einiges los in Shanty Coast. Nachdem das Sternerestaurant in der alten Diskothek eröffnet hat, haben wir viel mehr Zulauf als sonst. Auch Laura hat in ihrer Bar einiges zu tun. Es ist, als ob dieses kleine Dorf unter den Touristen allmählich als Insidertipp gehandelt wird.“

Laura war in Shanty Coast zu einer engen Freundin von Annie geworden, und auch Joyce hatte sie mittlerweile in ihr Herz geschlossen. Vor ein paar Monaten hatte sie fast ihre Bar schließen müssen, da das Restaurant ursprünglich neben ihrem Pub, dem Shanty Cove eröffnen sollte. Und wie das Leben so spielte, hatte sich Laura ausgerechnet in den neuen Geschäftsführer des Restaurants verliebt, mit dem sie jetzt seit ein paar Monaten glücklich zusammen war.

Joyce freute sich schon auf ein Wiedersehen mit ihr. Überhaupt konnte sie kaum glauben, dass sie selbst nun in diesem niedlichen Dorf einen Neuanfang starten würde.

„Dann komme ich ja genau zur richtigen Zeit“, strahlte sie schließlich und wurde wieder von einer Motivationswelle erfasst. Sie war sich sicher, dass von jetzt an alles gut laufen würde.

Kapitel 2

Es war ein herrlicher Frühlingstag. Und noch schöner wäre er gewesen, wären da nicht diese fiesen Augenringe, die sich in Joyces Gesicht wie Untertassen abgezeichnet hatten.

Als sie frühmorgens aus dem Haus trat, musste sie ihre Augen vor der wärmenden Sonne abschirmen. Trotz der schlaflosen Nacht spürte sie, dass es ein guter Tag werden würde. Auch wenn sie gestern Abend noch der Meinung gewesen war, dass sie vor ihrem ersten Arbeitstag nicht aufgeregt wäre, hatte sie die aufgestaute Nervosität in der Nacht in voller Gänze heimgesucht. Ja, sie hatte sich vorgenommen, nicht mehr so viel Wert auf ihr Aussehen zu legen und sich auf wichtigere Dinge zu fokussieren, aber Augenringe waren nun wirklich fürchterlich. Den halben Morgen hatte sie damit zugebracht, die dunklen Kerben mit Make-up zu verdecken. Mrs McNeill sollte nicht noch glauben, dass sie die Nacht vor ihrem ersten Arbeitstag durchgemacht hätte. Was ja auch nicht der Fall gewesen war, denn sie hatte sich brav an ihr eines Glas Wein geklammert und war um zehn Uhr müde und erschöpft in das nach Rosen duftende Gästebett gefallen. Dumm nur, dass sie fortan hellwach gewesen war. Nach stundenlangem Hin und her Wälzen war sie dann irgendwann in tiefen Schlaf gefallen, nur um nach etwa zwei Stunden vom unbarmherzigen Wecker aus allen Träumen geschreckt zu werden.

Doch die Vorfreude auf den Tag stellte die bleierne Müdigkeit schnell in den Schatten, und so machte sie sich nach ein paar tiefen Atemzügen an der frischen Küstenluft auf den Weg zu ihrer neuen Arbeitsstätte.

„Sie sind ja pünktlich.“ Mrs McNeill starrte auf ihre Armbanduhr, als wäre dies das Letzte gewesen, was sie ihrer neuen Arbeitskraft zugetraut hätte.

Joyce stand mitten im Eingangsbereich des Hauses und räusperte sich. „Ja, ich freue mich auch sehr auf meinen ersten Tag bei Ihnen.“

Die alte Frau hievte sich aus dem Stuhl hinter dem Empfangstresen und ächzte dabei laut. Als sie schließlich vor ihr stand, erschrak Joyce und schlug sich eine Hand auf den Mund. „Oh je, was ist denn mit Ihnen passiert?“

Sie musterte die ältere Frau, die sie vor ein paar Wochen noch fit und munter begrüßt hatte. Doch jetzt trug sie einen Verband um ihren rechten Arm, und rund um ihr Auge zeichnete sich ein bläuliches Veilchen ab.

Mrs McNeill winkte ab. „Ach, nur ein Sturz über eine dämliche Teppichkante gestern Abend.“

„Das ist ja furchtbar!“ Joyce machte einen Schritt auf sie zu.

Sie rieb sich stöhnend den Kopf.

Joyce hakte ihre neue Chefin an ihrem gesunden Arm unter und führte sie zu einem der beiden grauen Sessel, die rechts an der Wand des Eingangsbereiches standen.

Schnaubend ließ sich Mrs McNeill darauf nieder und streckte die Beine von sich. Dabei rutschte ihr fast bodenlanges gelbes Kleid ein Stück nach oben und gab ein Paar braune Stützstümpfe frei.

„Ich sag Ihnen etwas: Älterwerden ist nichts für schwache Nerven. Da reicht schon eine Teppichkante, um einen zu Fall zu bringen und völlig aus der Bahn zu werfen.“

„Dann ist es ja umso besser, dass ich jetzt da bin, um Ihnen zu helfen“, lächelte Joyce sanft und setzte sich neben sie auf den anderen Sessel. Unangenehme Federn drückten ihr dabei in den Hintern, sodass sie sich an die Kante des Möbelstücks schob. Außerdem wackelte es unangenehm. Dieses Ding musste definitiv ausgetauscht werden, dachte sie. Oder besser noch unter Annies Fittiche geraten.

„Ich fürchte, dass sich die Pläne nun ein wenig geändert haben“, atmete Mrs McNeill schwer aus und schüttelte träge den Kopf. Dabei lösten sich ein paar weiße Haarsträhnen aus ihrem lockeren Haarknoten, und die Brille rutschte ihr bis an die Nasenspitze.

Joyce horchte auf. „Wie meinen Sie das?“

Die alte Dame sammelte sich kurz und schaute sich mit leerem Blick im Eingangsbereich um. „Ich denke, ich kann das hier nicht mehr lange machen. Diese ganzen kleinen Baustellen … Teppichkanten hier, abgerissene Tapeten da, und überhaupt müsste der ganze alte Kasten hier mal auf Vordermann gebracht werden.“

„Aber dafür bin ich doch jetzt da“, rief Joyce ihr zuversichtlich in Erinnerung.

Mrs McNeill nickte ernst und musterte sie. „Genau deshalb muss ich auch mit Ihnen sprechen. Sie machen mir einen ganz passablen Eindruck und scheinen nicht auf den Kopf gefallen zu sein. Jedenfalls ist das mein Eindruck, den ich von unserem Bewerbungsgespräch hatte.“

„Ähm … danke.“ Joyce überlegte, worauf sie hinauswollte und schluckte nervös.

„Ich werde diesen Laden nicht länger führen können, so viel steht fest. Ich habe meine besten Jahre gehabt und weiß, dass es immer schwerer für mich wird, das Shanty Coast Inn weiterzuführen. Ich brauche jemanden, der mir die Arbeit abnimmt. Der mir alles abnimmt.“

Joyce befürchtete, dass das Gespräch kein gutes Ende für sie nehmen würde. „Und haben Sie schon jemanden in Aussicht, der das Shanty Coast Inn übernimmt?“

„Nun, ich habe einen Neffen. Eigentlich zwei, aber der eine davon ist ein Nichtsnutz. Nur mit seinen Hobbys beschäftigt. Der kümmert sich um rein gar nichts.“

„Das tut mir leid.“ Etwas anderes wusste Joyce nicht zu erwidern. Armer Kerl, dachte sie.

„Muss es nicht. Mag vielleicht am Alter liegen. Aber ich denke, mit siebzehn Jahren sollte man schon ein bisschen was vom Leben verstanden haben.“

Siebzehn, überlegte sie. Der Ärmste hatte vermutlich einfach Angst, hier zu arbeiten. Verstehen könnte sie das.

„Und Ihr anderer Neffe?“, hakte sie vorsichtig nach.

Die alte Frau verzog das Gesicht, als hätte sie einen Krampf im Bein. „Der ist auch nicht viel besser. Hat sich die letzten Jahre kaum blicken lassen. Hat aber in seinem Leben immerhin schon viel gearbeitet. Eine Zeit lang in einem Hotel in Wales, und phasenweise hat er auch gekellnert. Zwischendurch hat er ebenfalls in einem B&B gearbeitet und sogar … na ja, nicht so wichtig, ich will nicht ausschweifen.“ Sie hielt kurz inne und räusperte sich. „Nur in meinem hat er bisher nicht einen Finger krumm gemacht. Aber er lebt jedenfalls nicht ganz hinterm Mond.“

Joyce sagte nichts, denn sie selbst hatte noch weniger in den Bereichen zu tun gehabt und war näher am Mond, als Mrs McNeill vielleicht ahnte.

„Jedenfalls ist er nun mal der Sohn meiner Schwester, und Sie wissen ja: Familienzusammenhalt und sowas. Deshalb habe ich mir überlegt, dass er womöglich den Laden hier übernehmen könnte.“

„Aber dann ist es doch gut, und Sie haben Ihre Entscheidung getroffen.“ Doch sie verstummte jäh, als Mrs McNeill sie direkt ansah.

„Ich denke aber auch, dass Sie ebenfalls geeignet wären, das B&B zu führen.“

Sie riss die Augen auf, und ihr Sessel geriet gefährlich ins Wanken. „Ich?“

„Ja, immerhin machen Sie einen ganz vernünftigen Eindruck.“

„Das qualifiziert mich aber nicht gleich, ein B&B eigenständig zu führen“, hielt sie aufgeregt dagegen. „Es tut mir wirklich leid, aber ich glaube, dass ich diese Verantwortung nicht übernehmen kann.“

„Überlegen Sie es sich. Laut Ihres Lebenslaufes haben Sie immer gearbeitet – auch wenn es eher fragwürdige Arbeit war – und Sie haben keine Lücken darin. Soweit ich das gelesen habe, haben Sie sogar in einem Café gearbeitet.“

„Ich war ein Teenager und habe mein Taschengeld dort verdient. Nicht einmal ein halbes Jahr lang“, warf Joyce ein, doch die alte Frau ignorierte ihren Einwand.

„Ihr früherer Arbeitgeber spricht in höchsten Tönen von Ihnen. Sie sollen laut Aussage Ihres ehemaligen Chefs ein außerordentliches Händchen in Sachen Organisation bewiesen haben.“

Danke Jeffrey.

„Und doch habe ich noch nie in einem B&B gearbeitet. Und nebenbei bemerkt war meine Arbeit nicht fragwürdig.“ Joyce fühlte sich schon ein bisschen angegriffen.

„Ach, nun legen Sie doch nicht gleich alles auf die Goldwaage. Und die Arbeit hier? Das kann man lernen. Immerhin habe ich das auch alles aus dem Nichts gelernt, oder glauben Sie etwa, ich bin als Inhaberhin eines Übernachtungsbetriebes auf die Welt gekommen?“

Joyce hatte das fast vermutet.

„Schlafen Sie einmal eine Nacht drüber, und dann unterhalten wir uns morgen noch mal, ja?“

Sie wusste, dass das Gespräch hiermit beendet war, denn Mrs McNeill hievte sich ächzend aus dem Sessel. „Ich werde mich jetzt ein wenig zurückziehen. Die Zimmer müssen einmal gesäubert werden. Hinter dem Tresen liegt eine Mappe mit dem Belegungsplan. Außerdem müssen Sie darauf achten, dass das Frühstück um zehn abgeräumt wird. Das Essen soll da schließlich nicht den ganzen Tag herumstehen und Fliegen anlocken. Wenn Sie fertig sind, können Sie für heute Feierabend machen und sich bis morgen überlegen, wie Ihre Entscheidung aussehen soll.“

Wie vor den Kopf gestoßen schaute Joyce ihrer Chefin nach, als die sich den Rücken hielt und durch die Tür neben dem Empfang verschwand.

Hilfesuchend schaute sie sich um und ließ sich ermattet in den Sessel sinken, der erneut zu wackeln begann. Das war ja ein aufregender erster und gleichzeitig letzter Tag in ihrem neuen Leben!

Etwas unbeholfen und mit wackeligen Beinen schlich Joyce hinter den Empfangstresen und suchte nach dem Belegungsplan. Als hätte sie bereits eine Acht-Stunden-Schicht hinter sich, ließ sie sich in den gepolsterten Bürostuhl fallen und atmete ein paarmal tief ein und aus. Was war hier gerade passiert?

Wollte sie nicht eigentlich heute ihren ersten Arbeitstag antreten und am Abend ganz entspannt ins Bett fallen und ihr neues Leben in Shanty Coast auf die Beine stellen? Stattdessen wurde ihr noch in der ersten Arbeitsstunde das Angebot gemacht, das gesamte Bed & Breakfast zu übernehmen, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung davon hatte. Wie verrückt konnte ihr Neustart denn bitte beginnen? Und wenn sie ablehnte? Dann würde der Neffe der alten Frau die Leitung übernehmen, was ja an und für sich keinen Unterschied gemacht hätte, vorausgesetzt der besagte junge Mann würde ihr nicht sofort wieder kündigen, aus welchen Gründen auch immer. Dann würde sie eben unter seiner Leitung arbeiten … So schlimm würde das wohl auch nicht sein. Aber vielleicht war er ja auch noch schlimmer als seine Tante. War das ein Chaos!

Am besten, sie machte sich gleich auf die Suche nach einem neuen Job. Aber darüber konnte sie sich noch am Abend den Kopf zerbrechen. Jetzt war es erst einmal wichtig, den ersten Tag – und vermutlich auch letzten – irgendwie zu überstehen und der kranken Mrs McNeill unter die Arme zu greifen. Die arme Frau würde selbst nicht einen Finger rühren können.

Nachdem Joyce sich kurz gesammelt und einen tiefen Atemzug genommen hatte, erhob sie sich und marschierte in den Speiseraum. Lediglich zwei von etwa zehn Tischen waren besetzt. Ein älteres Ehepaar und eine Frau, vielleicht in den Vierzigern, waren mit ihrem Frühstück beschäftigt und hatten von der Unterhaltung zwischen der Inhaberin und ihr offenbar nichts mitbekommen. Alle aßen still und entspannt ihr englisches Frühstück.

Sie schaute sich um, grüßte die Gäste mit einem freundlichen Nicken und begutachtete dann die Speisen auf dem Buffettisch. Bei dem Anblick bekam sie direkt Appetit. Ihre Chefin schien etwas von einem ordentlichen Frühstück zu verstehen. Liebevoll hatte sie Würstchen, Eier, Speck, Bohnen, überbackene Tomaten und Toast auf einzelnen Tellern drapiert und bot zudem noch einen Korb mit herrlich duftenden Croissants und einer kleinen Auswahl an Marmeladen an. Dazu gab es Kaffee, Tee, Wasser und Säfte. Joyce versuchte sich die Aneinanderreihung genau zu merken, für den Fall, dass sie womöglich doch ihren Job behalten würde. Sie eilte hinter den Empfangstresen, suchte sich Block und Stift und machte sich ein paar Notizen. Anschließend ging sie in die Küche gegenüber des Speiseraums.

Bei ihrem Bewerbungsgespräch vor ein paar Wochen hatte ihr Mrs McNeill die Räume gezeigt, daher wusste sie noch, dass sich hinter der Tür auf der linken Seite des Eingangsbereiches die Küche befand. Sie verschaffte sich eilig einen Überblick, schaute in die Schränke und in den Kühlschrank. Anschließend ging sie durch eine Tür, die aus der Küche führte, und stand inmitten einer Wäschekammer.

Ihre Augen erfassten die Regale und Schränke. Alles war ordentlich sortiert. Auf der einen Seite des Zimmers befand sich ein Regal mit sauber gestapelten weißen und grünen Handtüchern. Daneben akkurat drapierte weiße Bettwäsche. Gegenüber lagerten Putzutensilien, Tücher und Schürzen. Nach Letzteren griff sie und band sich eine um die Hüften. Sie verdeckte ihre locker sitzende Jeanshose, passte aber gut zu ihrer weißen Bluse. Kurz darauf angelte sie nach einem Haargummi in ihrer Hosentasche und band sich ihre blonden langen Haare zu einem Knoten. Jetzt fühlte sie sich etwas passender gekleidet.

Nur wenige Sekunden später marschierte sie hinter den Tresen und warf einen Blick auf den Belegungsplan. Es gab nur zwei besetzte Zimmer, was ihr im ersten Moment sehr wenig vorkam und sie doch gleichzeitig etwas erleichterte. So hatte sie an ihrem ersten Tag nicht ganz so viel zu tun und konnte sich in Ruhe selbst einarbeiten. Von ihrer Chefin würde sie wohl kaum Hilfe erwarten können.

Bevor sie sich an die Reinigung der Zimmer machte, stellte sie sich im Speiseraum persönlich bei den drei Gästen vor und wünschte ihnen einen schönen Tag. Als sowohl das Pärchen als auch die Frau ihr versicherten, dass sie versorgt seien und nichts weiter brauchten, machte sie sich daran, die Zimmer zu reinigen.

Ausgestattet mit Wischeimer, Staubsauger und Putzutensilien, die sie mithilfe eines kleinen Wagens durch die untere Etage schob, überkam sie plötzlich Unsicherheit. Worauf musste man eigentlich beim Reinigen der Zimmer achten? Durfte sie die persönlichen Kleidungsstücke und Sachen der Gäste anfassen und zusammenlegen? Wollten diese überhaupt, dass sie das Zimmer reinigte? Hätte sie erst fragen müssen? Ihr schwirrte der Kopf. Sie versuchte dennoch ihre Arbeit in Angriff zu nehmen, frei nach dem Motto: Augen zu und durch!

Es war irgendwann am frühen Nachmittag, als Joyce laut ausatmete und sich einen kleinen Moment auf dem Stuhl hinter dem Empfangstresen niederließ. Sie hatte die beiden Zimmer gereinigt, in der Hoffnung, dass es auch richtig war, die Kleidung sauber über einen Stuhl zu hängen. Anschließend hatte sie die Räume gesaugt, alte gegen frische Handtücher ausgetauscht und kurz darauf im Speiseraum das Buffet abgeräumt. Die Essensreste hatte sie sauber verpackt im Kühlschrank verstaut. Auch das schmutzige Geschirr hatte sie in die Spülmaschine geräumt und nur wenige Sekunden später gemerkt, dass diese kaputt war. Also hatte sie wieder alles herausholen und von Hand spülen müssen.

Nun saß sie da, mit zerzausten Haaren und rotem Gesicht, während sie trotz der Erschöpfung stolz auf sich und ihre Arbeit war. Und zudem musste sie zugeben, dass es ihr ziemlich viel Spaß gemacht hatte, die Arbeit so selbstbestimmt zu erledigen und nebenbei freundliche Kontakte gepflegt zu haben. Bis auf den zu ihrer Chefin.

„Nanu? Sind Sie etwa schon fertig?“, hörte sie plötzlich eine schrille Stimme neben sich und schreckte auf. Dabei kippte sie fast mit dem Sessel nach hinten, konnte sich jedoch noch knapp abfangen. Räuspernd erhob sie sich und glättete sich ihre fleckige Bluse.

Mrs McNeill stand vor ihr, die Hände in die breiten Hüften gestemmt und musterte sie argwöhnisch.

„Ja, ich bin gerade fertig geworden. Die beiden Zimmer der Gäste sind gereinigt und das Frühstück ordentlich verstaut. Das Geschirr ist gewaschen und in die Schränke geräumt und den Speiseraum habe ich gesaugt und die Tische gesäubert“, zählte sie auf, voller Hoffnung, dass sie nicht irgendetwas Wesentliches vergessen hatte.

Der finstere Gesichtsausdruck ihrer Chefin wurde etwas sanfter, und Joyce entspannte sich augenblicklich.

„Gut, schön. Nicht schlecht, nicht schlecht. Ich schätze, dann können Sie für heute Schluss machen. Ich sehe Sie dann morgen früh wieder. Hoffentlich mit einer Entscheidung.“

„Ja, also wegen der Sache …“, setzte sie an und wollte gerade erklären, dass das Angebot für sie nicht infrage käme, doch die alte Frau wollte davon offensichtlich nichts hören. „Morgen erwarte ich Sie um sechs Uhr.“

Joyce schloss ihren Mund wieder und nickte stattdessen nur knapp. Dann würde sie ihr eben morgen mitteilen, dass sie sich gegen das Angebot entschieden hatte.

Kapitel 3

Die Sonne schien Joyce mitten ins Gesicht, als sie in ihrem Auto die ruhige Landstraße entlangfuhr. Bisher war sie es gewohnt gewesen, sich durch den dichten Londoner Verkehr kämpfen zu müssen und empfand die Ruhe auf den Straßen von Shanty Coast richtig wohltuend. Das eine Auto, das direkt hinter ihr fuhr, auch wenn es ihr fast in den Kofferraum kroch, hatte sie im Strudel ihrer Gedanken kaum wahrgenommen.

Ihr Navi sagte ihr, dass sie rechts abbiegen müsste, sie überlegte aber, ob sie noch einen kleinen Abstecher zum Supermarkt machen sollte, um für Annie als Dankeschön für ihre Hilfe am Abend etwas Nettes zu kochen. Gedanklich ging sie gerade ihr Repertoire an Rezepten durch, da entdeckte sie das Schild, das nach rechts in Richtung Supermarkt zeigte. Etwas zu spät riss sie das Lenkrad herum und bog um die Ecke, als sie hinter sich quietschende Reifen und ein lautes Hupen hörte.

Erschrocken bremste sie ab und sah im Rückspiegel, dass sie beinahe einen Unfall verursacht hätte. Der Wagen hinter ihr hatte ganz schön in die Eisen gehen müssen. Geschockt über ihr waghalsiges Manöver schlug sie sich die Hand auf den Mund und hörte kurz darauf das Zuschlagen einer Autotür. Auch sie schnallte sich mit zitternden Fingern ab und stieg aus dem Auto. Da sah sie auch schon einen Mann, etwa in ihrem Alter, auf sie zukommen und wild mit den Armen gestikulieren.

„Sagen Sie, sind Sie noch ganz dicht?“
„Es tut mir so leid“, beeilte sie sich zu sagen. Ihr Herz schlug ihr vor Aufregung bis zum Hals. „Ich habe Sie nicht gesehen und beinahe die Ausfahrt verpasst. Ich bin neu hier und … wirklich es tut mir aufrichtig leid.“

„Fast wäre ich Ihnen hinten reingefahren!“, fuhr der Mann jedoch unwirsch dazwischen, und sie verstummte. Er kam vor ihr zum Stehen und verschränkte gereizt die Arme vor der Brust. Sie musste zugeben, dass er ziemlich gut aussah mit seinem hellbraunen Haar, das ihm teilweise in die Stirn fiel und seiner schwarzen Lederjacke, die seinen breiten Oberkörper gut betonte. Fast so wie eines der Models, mit denen sie ab und an für die Redaktion gearbeitet hatte.

„Wie ich schon sagte, ich wollte wirklich nicht, dass …“

„Wo haben Sie überhaupt Ihren Führerschein gemacht?“, motzte der Typ weiter.

Sie schnaubte kopfschüttelnd. „Könnten Sie mich bitte mal ausreden lassen? Ich sagte doch, dass es mir leidtut. Sie hätten ja auch nicht so dicht auffahren müssen! Und außerdem habe ich meinen Führerschein in London gemacht und bin schwierige Straßen- und Verkehrsverhältnisse gewohnt.“ Nur nicht so schrecklich unhöfliche Autofahrer wie Sie, wollte sie am liebsten noch hinzufügen.

Der Typ zog argwöhnisch eine Braue in die Höhe. „Dann sollte man meinen, dass Sie eigentlich einen besseren Fahrstil an den Tag legen sollten. Schleichen auf der Landstraße wie eine Schnecke und biegen dann einfach ab, ohne zu blinken.“

„Gut …“, schnaubte Joyce und verschränkte die Arme vor der Brust, „… ich habe es ja nun verstanden. Hätten Sie dann vielleicht die Güte, meine Entschuldigung anzunehmen?“

Verständnislos musterte er sie. Seine Augen blieben einen Moment auf ihrer fleckigen Bluse haften. Erst da kam ihr in den Sinn, was für einen Anblick sie bot. Ihre Haare standen zu Berge, ihre Kleidung war schmutzig, und sicherlich hatten die Augenringe sich schon durch das Make-up gekämpft.

Wenigstens besaß er den Anstand, ihr Aussehen nicht zu kommentieren und schaute dann auf ihren Wagen.

„Außerdem ist Ihr MOT abgelaufen, wussten Sie das überhaupt? Als Sie da so langgeschlichen sind, hatte ich genügend Zeit, um das Ablaufdatum zu lesen.“

Sie folgte kurz seinem Blick und schluckte, als ihr wieder einfiel, dass sie schon vor Wochen zur Hauptuntersuchung hätte fahren müssen.

„Ja, das ist mir bekannt, und ich wollte mich auch noch darum kümmern. Was Sie eigentlich gar nicht erst interessieren sollte, es sei denn, Sie sind Officer“, setzte sie wütend hinzu und funkelte den Mann vor sich an. Was dachte er sich eigentlich, sich ihr gegenüber so aufzuspielen? Immerhin hatte sie sich inzwischen mehrmals entschuldigt.

„Sind Sie einer?“, hakte sie dennoch misstrauisch nach.

„Nein, bin ich nicht“, entgegnete er forsch und schob seine Hände in die Hosentaschen.

„Sind Sie dann jetzt fertig mit Dampf ablassen, oder kann ich Ihnen noch irgendwie weiterhelfen? Möchten Sie vielleicht noch meine Papiere kontrollieren oder meine Zulassung? Vielleicht meinen Kofferrauminhalt inspizieren?“

Der Typ stockte kurz und fuhr sich schließlich irritiert durchs Haar. „Sehen Sie einfach zu, dass Sie beim nächsten Mal besser aufpassen“, murrte er.

Ehe er sich abwandte, schaute er sie noch einmal an, als wollte er sich ihr Gesicht genauestens einprägen, verschwand aber kurz darauf mit einem lauten Türenknallen in seinem Auto. Ohne sich noch einmal umzuschauen, fuhr er davon und ließ sie mit offenem Mund mitten auf der Straße zurück.

„Also da lasse ich dich an deinem ersten Arbeitstag allein in Shanty Coast, und du kommst mir mit so einer Geschichte nach Hause?“ Annie hatte die Augen weit aufgerissen, als sie den entschuldigenden Gesichtsausdruck ihrer Freundin sah. Diese zuckte lediglich mit den Schultern. „Ich schätze, ich sollte mir einfach jetzt schon einen neuen Job suchen.“ Sie warf Laura, die neben Annie saß, einen fragenden Blick zu. „Suchst du nicht noch zufällig jemanden für deine Bar?“

Die Barbesitzerin schüttelte entschuldigend mit dem Kopf, während sie ihren Tee trank und dem Gespräch interessiert lauschte.

Die drei Frauen hatten sich an Annies Küchentresen gesetzt, gespannt darauf, wie Joyces erster Tag war und doppelt geschockt, als sie ihnen erzählt hatte, dass Mrs McNeill sie gefragt hatte, ob sie das B&B übernehmen wollen würde.

„Leider brauche ich derzeit niemanden. Dadurch, dass Annie mir einmal die Woche aushilft, damit ich einen zusätzlichen Tag frei habe, bin ich ganz gut besetzt. Und Bryce hilft mir ebenfalls, wenn er im Restaurant frei hat“, erklärte Laura.

Bryce war Lauras Freund und Restaurantinhaber des Coastal Flair.

Joyce nickte entkräftet. „Hm … verstehe. Na ja, vielleicht brauchen sie noch jemanden im Supermarkt oder so.“

„Nun warte doch“, grätschte Annie dazwischen. „Hast du vielleicht mal darüber nachgedacht, dass die Idee von Mrs McNeill gar nicht so schlecht ist?“

Joyce schaute ihre Freundin an, als hätte sie den Verstand verloren. „Ähm … ja. Das habe ich. Ich habe den ganzen Tag über nichts anderes nachgedacht und bin immer wieder zu dem Entschluss gekommen, dass die Idee irrsinnig ist. Ich meine, ich kann doch nicht einfach ein B&B führen! Ich weiß doch gar nicht, wie das geht. Ich bin nur froh, dass ich es heute geschafft habe, die Zimmer der Gäste in einen halbwegs ordentlichen Zustand zu versetzen und das Essen vom Frühstück im Kühlschrank zu verstauen. Der Weg bis zur Führung des B&Bs kommt mir trotzdem noch unendlich weit entfernt vor.“

Laura spielte nachdenklich an ihrem Teebeutel und schob sich ihre braunen langen Haare hinter die Schultern. „Aber was ist, wenn wir dir dabei helfen?“, fragte sie.

„Hallo, hört ihr beiden mir überhaupt zu? Wir brauchen darüber gar nicht nachzudenken. Das ist utopisch! Niemals im Leben könnte ich das wuppen. Außerdem geht es ja nicht nur um die Führung allgemein, sondern auch ums Geld. Da steckt eine Existenz hinter. Meine Existenz.“

„Soweit ich weiß, hast du noch einen gewissen Anteil übrig, den dir deine Tante vererbt hat“, rief Annie ihr in Erinnerung und grinste gewinnend.

Joyce ärgerte sich, dass ihre Freundin bestens über ihren Kontostand Bescheid wusste und daher auch dieses Argument hervorbrachte.

„Außerdem hast du noch meine Mieteinnahmen. An Geld mangelt es dir also wirklich nicht“, fügte Annie noch hinzu.

„Danke, Mrs Finanzberaterin. Und das Geld stecke ich bestimmt nicht in ein Projekt, das zum Scheitern verurteilt ist.“

„Aber Joyce, denk doch einfach mal darüber nach. Nur einen kleinen Moment“, bat Laura, beugte sich leicht über die Theke und tippte nachdrücklich mit dem Zeigefinger auf die hölzerne Platte. „Erst einmal sollte man niemals nie sagen. Und zweitens sollst du doch heute Abend keine Entscheidung fällen, aber dich wenigstens gedanklich für diese Option erwärmen. Stell dir doch mal vor: Du könntest ein traumhaftes Häuschen aus dem Laden machen. Natürlich helfen dir Annie und ich dabei, denn wie es der Zufall so will, habe ich sehr viel Ahnung von B&Bs. Schließlich habe ich in einem Hotel gelernt und bin mit den Vorgängen bestens vertraut. Und nun denk mal darüber nach, wie schön du alles gestalten könntest. Du würdest den Gästen ein wundervolles Frühstück zaubern, die Zimmer neu herrichten und das Shanty Coast Inn zu neuem Leben erwecken. Enjoyce the B&B. Verstehst du? EnJOYCE wegen deines Namens … also“, erklärte Laura aufgeregt, geriet aber bei Joyces skeptischen Gesichtsausdruck ins Stocken, während Annie im Hintergrund leise kicherte.

„Jedenfalls … hattest du nicht bei unserem letzten tieferen Gespräch vor ein paar Wochen gesagt, dass du etwas erschaffen möchtest? Den Menschen etwas Gutes tun und kreativ sein willst? Dann bitte sehr: Du kannst dafür sorgen, dass die Gäste einen unvergesslichen Aufenthalt erleben, den Garten hinter dem Haus so schön gestalten, dass du eine malerische Kulisse erschaffst. Du könntest dort Yogastunden anbieten oder Grillabende veranstalten. Ach, ich sehe es genau vor mir.“ Laura kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus.

Joyce musste schmunzeln. „Ich glaube, dass du hier eher deinen Traum beschreibst und nicht meinen.“

Die Barbesitzerin räusperte sich kurz, als sie aus ihren Gedanken wieder zurück ins Hier und Jetzt katapultiert wurde und wurde rot. „Entschuldigt, aber da ging wohl meine Fantasie mit mir durch.“

„Also ich finde deine Ideen gar nicht so schlecht“, warf Annie ein und fixierte Joyce mit ihren blauen Augen. „Erinnerst du dich, als wir vor einiger Zeit dasselbe Gespräch über dieses Cottage hier geführt haben? Damals wollte ich im ersten Moment nichts davon wissen, und dann? Schau, was aus diesem Haus geworden ist. Ich habe mich auch nicht von etwaigen Hindernissen abhalten lassen. Und dabei war das Cottage echt baufällig.“

„Und du hattest einen freundlichen Nachbarn, der dir dabei geholfen hat“, fügte Joyce hinzu.

„Das hat aber eine Weile gedauert, bis ich ihn als freundlich erachtet habe“, lachte ihre Freundin. „Was ich damit sagen will, ist …“

„Ich weiß, ich weiß, was du mir sagen willst“, stöhnte sie resigniert. „Aber dennoch ist das eine ganz andere Hausnummer. Immerhin musst du keine Gäste bewirten.“

„Ach, wirklich nicht?“ Annie zog feixend eine Braue in die Höhe.

Joyce stöhnte erneut. „Gut, vielleicht mal einen Gast, aber ich bin pflegeleicht und stubenrein. Wer weiß, was ich alles für Formalitäten klären müsste. Allein schon der Gedanke daran ist mir irgendwie zu viel. Ich wollte doch nur morgens zur Arbeit gehen und abends Feierabend machen, Zeit mit euch verbringen und mein neues Leben hier genießen. Und nicht irgendein B&B leiten, wo ich nicht mal weiß, ob man täglich die Handtücher in den Zimmern tauschen muss und ob ich die Kleidung der Gäste berühren darf.“

„Schlaf einfach eine Nacht drüber“, riet ihr Laura und lächelte verträumt, als hätte sie das B&B im Geiste schon längst übernommen.

„Selbst wenn ich das Angebot ablehne, kann es ja sein, dass Mrs McNeills Neffe den Laden übernimmt.“

„Also ich kenne ihren Neffen von früher und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der das B&B auch nur ansatzweise führen könnte. Jedenfalls nicht, wenn er immer noch so drauf ist wie damals. Er war auf dem Schulhof immer extrem frech zu den Lehrern.“

„Na ja, zwischen Schulhof und Erwachsenenalter liegen in der Regel ein paar Jahre. Vielleicht hat er sich ja geändert. Ich bin jedenfalls gespannt. Immerhin lerne ich ihn bestimmt bald kennen, und wenn ich mit ihm spreche, dann könnte ich ihn womöglich bitten, dass ich meinen Job dort behalte. Eventuell sieht er mich aber als weitaus unqualifizierter an, als Mrs McNeill das tut. Denn schließlich muss er nur einen Blick in meinen Lebenslauf werfen, um zu sehen, dass ich eine Quereinsteigerin bin. Wer weiß, ob er mich dann weiter beschäftigen möchte.“

„Für den Fall, dass er das nicht tut, finden wir dann auch eine Lösung“, sprach Annie ihr gut zu und nahm einen Schluck aus ihrem Teebecher.

„Apropos Lösung, könnt ihr mir sagen, wo ich mein Auto zur Hauptuntersuchung anmelden kann? Die steht schon länger auf meiner Agenda, aber ich habe es bisher noch nicht geschafft. Außerdem werde ich schon von Fremden darauf angesprochen“, setzte sie genervt hinzu, als sie sich an den miesgelaunten Typen von vorhin erinnerte.

„Wer hat dich darauf angesprochen?“, wollte Laura wissen, und Joyce erzählte den beiden Frauen von der Begegnung auf der Landstraße. Die zwei schüttelten einvernehmlich mit den Köpfen.

„Der kommt ganz sicher nicht von hier. So unfreundliche Personen trifft man hier in der Regel nicht. Na gut, bis auf ein paar wenige Ausnahmen wie Mrs McNeill.“

„Oder Clay“, ergänzte Annie grinsend, und die beiden anderen stimmten mit ein.

„Clay ist eine Ausnahme, denn eigentlich ist er ja gar nicht so unhöflich“, sagte Joyce und schob ihren mittlerweile leeren Teebecher von sich.

„Vielleicht hast du diesen Mann auch nur auf dem falschen Fuß erwischt“, überlegte Annie, doch ihre Freundin schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, ihr hättet ihn sehen müssen. Es war, als hätte er einfach nur einen Grund gesucht, mich anzumeckern.“

Laura gluckste. „Erinnert mich wirklich ein bisschen an Clay. Aber ich drücke dir die Daumen, dass du diesen Menschen nicht mehr wiedersiehst.“

Der Abend zog sich in die Länge, doch Joyce war dankbar dafür, denn so hatte sie weniger Zeit, sich Gedanken über den morgigen Tag zu machen, an dem Mrs McNeill eine Antwort von ihr erwartete. Und obwohl sie sich sicher war, dass sie ablehnen würde, erwischte sie sich dabei, wie sie immer wieder in Lauras Träumerei abschweifte und sich ebenfalls ausmalte, wie schön das Shanty Coast Inn werden könnte. Während sie gerade dabei war, gedanklich den Garten zu gestalten, fiel sie wenig später endlich in den wohlverdienten Schlaf.

Kapitel 4

Mit gemischten Gefühlen und einem Grummeln im Bauch betrat Joyce am nächsten Morgen das B&B. Im Eingangsbereich war es noch recht dunkel, auch durch die beiden Fensterscheiben neben der Eingangstür drang kaum Tageslicht. Hinter dem Empfang saß dieses Mal keine schimpfende Mrs McNeill. Gerade dachte Joyce, dass sie die Einzige war, die sich noch vor den Gästen hier herumtrieb, da hörte sie leises Stimmengemurmel aus dem Speiseraum. Eine dieser Stimmen war unverkennbar die ihrer Chefin, die andere, eine männliche, kannte sie nicht. Auf leisen Sohlen trat sie in den Raum und klopfte vorsichtig an den Türrahmen, um sich anzukündigen. Nicht dass sie bei einem wichtigen Gespräch störte.

Sie erblickte vor dem Fenster, das auf den Vorgarten des Grundstückes zeigte, an einem kleinen Tisch Mrs McNeill, die bereits aufblickte. Mit dem Rücken zu Joyce saß ein Mann.

„Ah, da ist sie ja endlich. Kommen Sie her, wir warten schon.“

Joyce warf einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr und erkannte, dass sie zehn Minuten vor ihrer Zeit da war – es war quasi noch nachts. Sie sagte aber nichts. Mit einem freundlichen Lächeln trat sie näher.

„Guten Morgen, ich dachte ich störe womöglich.“

„Im Gegenteil“, erwiderte ihre Chefin, und ihr Gesichtsausdruck war ungewohnt freundlich.

Als Joyce auf den freien Stuhl ihr gegenüber zusteuerte, wandte sich auch der Mann zu ihr um. Als sie in diese dunklen Augen und das schöne Gesicht dazu blickte, blieb ihr beinahe das Herz stehen. Das konnte ja wohl nicht wahr sein!

„Darf ich vorstellen?“ Mrs McNeill deutete auf den jungen Mann neben sich. „Mein Neffe Nathan.“

Joyce schwieg einen Moment und sagte nichts, während sie sich wie in Zeitlupe auf den freien Stuhl setzte.

Der Mann, der sie gestern noch auf offener Straße heruntergemacht hatte, war ausgerechnet der Neffe der alten Mrs McNeill? Der Mann, der womöglich das B&B übernehmen sollte?

Nathan lächelte künstlich und doch erkannte sie darin eine gewisse Abneigung. Er reichte ihr die Hand, die sie nur halbherzig ergriff.

„Guten Morgen.“

„Joyce, freut mich.“ Nicht, setzte sie im Stillen hinzu.

Als sie von ihm abließ, zog sie eilig ihre Hand zurück und steckte sich diese unter ihren Oberschenkel.

Mrs McNeill räusperte sich. „Gut, dann sind wir ja nun endlich vollzählig. Kaffee? Tee?“

Joyce schüttelte den Kopf und versuchte die Situation zu verarbeiten. Wenn dieser Nathan ihr Neffe war und das B&B übernehmen würde, dann wusste sie, würde er sie unverzüglich entlassen, noch ehe sie sich ihre Schürze umbinden konnte.

„Also, haben Sie sich mein Angebot durch den Kopf gehen lassen? Ich habe bereits mit Nathan gesprochen. Er hat großes Interesse daran, den alten Kasten hier zu übernehmen. Ich habe ihm aber erzählt, dass ich noch jemanden hätte, der infrage käme. Nämlich Sie.“

Nathan bedachte Joyce mit einem derart ablehnenden Blick, als könnte er die Entscheidung seiner Tante beim besten Willen nicht nachvollziehen.

Unruhig rutschte Joyce auf ihrem Stuhl hin und her und schob sich nervös ein paar lose Haarsträhnen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten, hinter die Ohren.

„Ja also, ich … ähm …“, stammelte sie und versuchte den Kerl neben sich zu ignorieren. Oder ihm eine imaginäre Clownsnase aufzusetzen, um ihn weniger ernst nehmen zu müssen.

„Nun, ich will Ihnen ja nicht zu nahetreten …“, schaltete er sich schließlich ein und machte eine kunstvolle Pause. „Aber haben Sie irgendwelche gastronomischen Kenntnisse? Meine Tante hat mir erzählt, dass Sie vorher in einer Redaktion gearbeitet haben und … na ja … ich kann mir daher nicht vorstellen, dass Sie besonders geeignet wären, das B&B zu führen.“

Joyce fiel beinahe die Kinnlade herunter. „Und nur weil ich in einer Redaktion gearbeitet habe, soll das heißen, dass ich als Quereinsteigerin ungeeignet bin? Sie kennen mich doch gar nicht!“

Nathan behielt sein charmantes Lächeln bei, vermutlich um weiterhin freundlich zu wirken.

Seine Tante verfolgte das Gespräch mit interessiertem Blick.

„Es ist doch offensichtlich, dass ich nun mal derjenige bin, der Anspruch auf die Übernahme des B&Bs hat. Schließlich bin ich der Neffe und … seien wir mal ehrlich …“, er wandte sich mit einem Lächeln an seine Tante, die jedoch keinerlei Regung zeigte, „… Familie geht immer vor. Und außerdem habe ich meiner Meinung nach genug Erfahrung vorzuweisen, um das B&B zu führen.“

„Vielleicht habe ich ja ebenfalls eine Tante, die ein B&B besitzt und in früheren Jahren regelmäßig dort gejobbt“, warf Joyce trotzig ein.

„Haben Sie?“

„Nein“, antwortete sie leise. „Ich meine ja nur, Sie können das unmöglich wissen und sollten daher nicht vorschnell über mich urteilen. Außerdem habe ich schon Erfahrungen in der Gastronomie sammeln können. Nämlich in einem Café.“ Vor etwa vierzehn Jahren, für keine drei Monate, lediglich acht Stunden in der Woche …

Ein kurzes Schweigen legte sich über die drei.

Joyce nestelte verärgert an ihren Nägeln. So ein aufgeblasener Pinsel, dachte sie bei sich. Wenn er nur nicht auch noch so unverschämt gut aussehen würde … Außerdem sollte er aufhören, sie so anzusehen. So überheblich und doch auf eine merkwürdige Art und Weise fasziniert.

Sie nahm sich einen Moment, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Sein hellbraunes Haar trug er etwas länger, sodass ihm sein Pony immer wieder ins Gesicht fiel und er diesen bei der kleinsten Bewegung aus der Stirn wischen musste. Er war rasiert und doch erkannte sie einen minimalen Bartschatten an seinem markanten Kinn. Eigentlich hatte er ein sehr freundliches und hübsches Gesicht, leuchtend blaue Augen und volle Lippen. Doch seine unverfrorene Art ließ ihn unsympathisch wirken, und sie fragte sich augenblicklich, ob er jemals in seinem Leben herzhaft gelacht hatte.

Mrs McNeill räusperte sich, als wollte sie auf sich aufmerksam machen und rührte mit einem Löffel in der Teetasse vor ihr. Ein klimperndes Geräusch erfüllte so den Raum, und Joyce riss ihren Blick von Nathan los.

„Ich gebe dir recht, Nathan. Familie geht immer vor, und deshalb habe ich dir auch das Angebot gemacht.“

Er setzte sich aufrechter hin, und ein siegessicheres Schmunzeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab.

„Aber …“, fuhr die Inhaberin fort, „… ich suche jemanden, der zuverlässig ist, der einen Blick für meinen Laden und die Gäste hat. Jemanden, der gewillt ist, hier das Beste herauszuholen. Natürlich ist Vorerfahrung nützlich und wichtig, aber nicht zwingend erforderlich. Ein gutes Herz, eine ruhige Ausstrahlung und Eifer sind der Schlüssel. Ich habe damals das Shanty Coast Inn übernommen, ohne auch nur ansatzweise eine Ahnung davon gehabt zu haben. Mein Vater hat es mir vermacht, obwohl ich in meinem Leben ganz andere Ziele gehabt habe. Und nun seht, wie lange es das B&B nun schon gibt. Ich spreche aus Erfahrung.“

„Aber Tante Maggie“, schaltete sich Nathan ungeduldig ein, doch diese hob nur die Hand, und er verstummte sofort.

„Hinzu kommt, dass du dich in den vergangenen Jahren nicht einmal hast blicken lassen und dich in keiner Weise für das Shanty Coast Inn interessiert hast. Deine vielen Reisen empfinde ich als fragwürdig, denn seien wir mal ehrlich: Richtig gearbeitet hast du in den letzten Jahren nicht.“

Ihr Neffe versteifte sich und senkte den Blick auf seine Hände. Es schien, als hätte die alte Frau einen wunden Punkt getroffen. Das erste Mal erkannte Joyce eine gewisse Zerbrechlichkeit hinter seinem harten Auftreten.

„Daher …“, fuhr sie fort und holte einmal tief Luft, „… möchte ich euch einen Vorschlag machen.“

Joyce horchte auf und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie wusste nicht, wohin dieses Gespräch führen würde. Immerhin hatte Nathan in einem Punkt recht gehabt: Sie hatte einfach keine Ahnung vom Hotelgewerbe – überhaupt von der Arbeit in der Gastronomie.

„Damit ich mich entscheiden kann, wer von euch das Shanty Coast Inn übernehmen soll, veranstalte ich einen kleinen Wettbewerb zwischen euch.“

Joyce lachte ungläubig auf. „Einen Wettbewerb? Ich meine … ich denke nicht, dass das nötig ist, denn …“

„Da stimme ich ihr ausnahmsweise zu“, unterbrach Nathan sie. Sie stockte und warf ihm einen finsteren Blick zu. Wie kam er eigentlich dazu, sie ständig zu unterbrechen? Eigentlich hatte sie noch sagen wollen, dass die Übernahme für sie ohnehin nicht infrage käme und wollte gerade wieder ansetzen, da wurde sie erneut unterbrochen. Diesmal von ihrer Chefin.

„Oh, ich sehe da eine große Notwendigkeit. Schließlich habe ich hier zwei Menschen vor mir, die infrage kommen, und ich möchte nicht, dass irgendwer mein Lebenswerk übernimmt. Daher habe ich mir überlegt, dass ihr drei Monate Zeit habt, mich von euch zu überzeugen. Nate, du mit deinem Sinn fürs Geschäft und Joyce, Sie mit Ihrer Fürsorge, Ihrer Kreativität und Ihrem Ordnungssinn.“

Nathan gab ein abfälliges Schnaufen von sich, als wären diese Eigenschaften allesamt nichts wert.

Wut stieg in Joyce auf, doch sie schwieg und nickte nur.

„Ihr werdet dieses B&B drei Monate lang führen und mir zeigen, wer besser für die Führung geeignet ist. Dann entscheide ich, wem ich das Inn überlasse und ziehe mich zurück.“

Eine Weile lang sagte niemand etwas. Mrs McNeill schaute abwartend in die Runde.

Nathan schüttelte bloß den Kopf. „Ich weiß dein Vertrauen wirklich zu schätzen, aber ich denke nicht, dass diese Frau eine gute Kandidatin ist. Und außerdem …“

„Ich mach‘s.“ Noch ehe sie begriff, was sie da gerade gesagt hatte, hatten die Worte ihren Mund verlassen.

Mrs McNeill schaute überrascht auf, und auch Nathan warf ihr einen ungläubigen Blick zu. „Wie bitte?“

Sie schluckte kurz und wusste, sie konnte jetzt nicht mehr zurückrudern. Plötzlich war da ein Antrieb in ihr, den sie seit langem schon nicht mehr gespürt hatte. Eine Motivation. Einen Druck, sich selbst, aber auch vor allem diesem überheblichen Typen zu beweisen, dass sie sehr wohl geeignet war. Dass sie über sich hinauswachsen konnte. Sie war kein kleines Licht, das nicht fähig war, sich in etwas Neues zu denken. Außerdem hatte sie Annie und Laura hinter sich, die ihr sicherlich zur Hand gehen würden – immerhin hatten sie ihr das noch am Abend zuvor angeboten. Blieb zu hoffen, dass das auch jetzt noch galt.

„Ich sagte, ich mache es. Gerne nehme ich an diesem Wettbewerb teil. In den drei Monaten kann ich immerhin eine Menge lernen, nicht wahr?“

Nathan schüttelte erneut den Kopf, als könnte er nicht fassen, dass sie so naiv sein konnte. Vielleicht, dachte sie, hatte er in gewisser Weise recht. Womöglich war es naiv, zu glauben, dass sie auch nur den Hauch einer Chance haben könnte. Aber zur Hölle mit ihren Zweifeln! Warum denn nicht?

Mrs McNeill lächelte wissend, als hätte sie niemals daran gezweifelt, dass Joyce diesem Wettbewerb zustimmen würde. Es war zudem das erste Mal, dass sie die alte Frau lächeln sah.

„Gut.“ Sie klopfte knapp auf den Tisch und erhob sich ächzend. Die Schmerzen in ihrem Arm mussten schlimmer sein, als sie zugab, denn sie verzog das Gesicht, als sie sich aufraffte. „Also packen Sie Ihre sieben Sachen, und kommen Sie später wieder. Sie können Zimmer Neun beziehen.“

Joyce schüttelte kurz verwirrt den Kopf. „Wie bitte … was? Ich soll hier einziehen?“

Ihre Chefin schaute sie an, als wäre sie beschränkt. „Ja, natürlich. Wie wollen Sie sonst ein B&B leiten, wenn Sie nicht vor Ort sind? Schließlich haben die Gäste auch nachts hin und wieder Bedürfnisse.“

„Was Sie ja eigentlich wissen sollten“, ergänzte Nathan mit herausforderndem Blick und erhob sich ebenfalls. Er überragte sie um einen halben Kopf, und seine männliche Ausstrahlung hatte bestimmt viel Wirkung auf so manch andere Person. Wäre er nicht so von sich überzeugt gewesen, hätte sie sicher auch Gefallen an ihm gefunden. Hätte …

Also funkelte sie ihn an. „Natürlich bin ich mir der Bedürfnisse der Gäste bewusst.“

Doch Nathan ignorierte sie und wandte sich an seine Tante. „Ich beziehe eben mein Zimmer, und dann kümmere ich mich um das Frühstück.“

Mrs McNeill machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mach dir keine Mühe, die Gäste reisen heute Morgen ab und haben kein zusätzliches Frühstück gebucht. Reservierungen für heute gibt es keine. Morgen Vormittag hat sich eine junge Frau angemeldet. Nutzt die Zeit lieber, um euch vorzubereiten. Ab morgen geht es offiziell los.“ Mit diesen Worten zog sie sich in ihr Zimmer zurück.

Somit waren die beiden Konkurrenten allein im Speiseraum. Spannung machte sich zwischen ihnen breit.

Joyce stand auf und griff nach ihrer Tasche. Sie wollte so schnell wie möglich eine Distanz zu diesem Kerl bekommen, bevor er wieder irgendeinen dummen Spruch zum Besten gab. Doch noch ehe sie an ihm vorbeieilen konnte, um ins Cottage zu fahren und ihre Sachen zu packen, hustete er leise.

„Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie das tun wollen? Immerhin ist es verschenkte Zeit, sind wir doch mal ehrlich. Am Ende werde ich gewinnen, denn ich bin nicht nur der Neffe, ich bin auch derjenige, der Ahnung hat.“

Joyce spürte, wie es in ihr zu brodeln begann und verschränkte schnaubend die Arme vor der Brust.

„Wissen Sie was? Ich glaube, Sie haben einfach nur Angst. Angst, dass ich am Ende doch gewinnen könnte, denn seien wir mal ehrlich …“, benutzte sie seine Worte, „… wenn Sie sich so sicher wären, dass Sie am Ende das B&B bekommen, dann würden Sie es gar nicht nötig haben, meine Entscheidung immer wieder anzuzweifeln. Schließlich bin ich ja so inkompetent, richtig?“ Sie zog eine Braue in die Höhe und lief an ihm vorbei.

Nathan sagte nichts, und doch konnte sie seinen Blick in ihrem Rücken spüren, während sie den Speiseraum verließ.