Prolog: Die besten Ideen hat man im Wald
An diesem stinknormalen Samstag im Mai mutierte meine gesamte Einzimmerwohnung zu einer 30 Quadratmeter großen Zettelablage. Wann immer ich aufstand, flatterten von sämtlichen Oberflächen knisternde Notizen zu Boden. Zweimal wäre ich darauf fast ausgerutscht. Es herrschte quasi Lebensgefahr in meinen eigenen vier Wänden – Todesfalle Post-its. In den Ecken kullerten zerknüllte Entwürfe und mindestens einen Kugelschreiber hatte ich zwischen meinen nervösen Fingern ruiniert.
Seit dem verregneten Morgen saß ich an der Bewerbung für meinen Traumjob. Vermutlich wollte ihn kein anderer, aber bei mir kribbelte vor Aufregung der Bauch. Das war die Chance, auf die ich nach dem Studium gewartet hatte. Jetzt könnte ich beweisen, dass ich nicht nur Hirngespinsten hinterherjagte. Endlich war ich mit dem unbezahlten Praktikum und der Universität fertig und suchte nun verzweifelt nach einem Weg, um nicht unter einem Auto zu enden. Ich wollte mich nicht umbringen, sondern bloß vermeiden, in der Werkstatt meiner Familie zu arbeiten. Das war nicht meine Zukunft! Allerdings hatte man als Anfänger in der Eventbranche kaum Chancen. Alles hing von Kontakten und Berufserfahrung ab. Beides hatte ich nicht.
Doch dann kam mein Hoffnungsschimmer: die Newcomerband The Anew. Ihr erstes Studioalbum klang mit seinem Classic-Rock-Style fantastisch, und dass ein betrunkener finnischer Rockstar tatsächlich mein Sprungbrett sein könnte, machte die Sache noch attraktiver.
Als ich die Kaffeetasse auf dem Esstisch platzierte, hinterließ sie einen braunen Rand auf dem Lebenslauf. Seufzend blies ich mir den zu lang gewordenen blonden Pony aus dem Gesicht und tupfte die Flüssigkeit mit einem Taschentuch weg. Mein Name »Laura Elola« verschmierte gruselig.
Als ich aufsah und mein Blick über den Tisch und das Sofa schweifte, seufzte ich noch mal, nur frustrierter. Zu viele Absagen hatte ich bereits bekommen, weil kaum jemand einen Neuling einstellte. Als Assistentin in der Hochzeits- oder Geburtstagsplanung hätte ich etwas gefunden, doch das entsprach nicht ansatzweise meinen Vorstellungen. Genauso wenig wie langweilige Events mit Anzugträgern und Cocktailkleidern, für die mich die Ausbildung als Eventmanagerin qualifizierte. Ich brauchte Musik, Reisen und Abenteuer, ich sehnte mich nach dem wahren Backstageleben, und mit dieser Bewerbung könnte mein Traum wahr werden. Vorher musste ich allerdings die richtigen Leute von mir überzeugen. Finnland, besonders Helsinki, war ein Dorf und kannte niemand deinen Namen, wollte dich auch niemand buchen.
Nervös griff ich mir die Tasse und marschierte im Wohn-Essbereich im Kreis. Mittlerweile fühlte ich mich wie ein geisteskranker Stalker. Vor mir lagen Steckbriefe, Magazinausschnitte, Fotos und anderes Material über The Anew. Vier junge Kerle, die letztes Jahr einen nationalen Bandwettbewerb gewonnen hatten und mit ihrem ersten Album komplett durch die Decke gegangen waren. Klassischer Rock auf Finnisch mit ansehnlichen Gesichtern und Mädchen-Schwarm-Potenzial.
Nach einem Schluck Kaffee hob ich ein Poster auf, durch das sich ein tiefer Riss zog, weil ich vorhin draufgetreten und weggerutscht war. Die Band hatte einen Plattenvertrag gewonnen, war relativ erfolgreich durch Finnland getourt und in vielen Medien zu sehen gewesen. Niemals hätte ich eine Chance gehabt, an sie ranzukommen. Doch nun suchte das Label händeringend nach einer verzweifelten Seele, die sich ihrer annahm. Ich war sehr verzweifelt und motiviert. Die Tatsache, dass man sich dafür öffentlich bewerben konnte, verdeutlichte ihre missliche Lage. Die junge Band war katapultartig oben angekommen, um dann innerhalb weniger Augenblicke abzustürzen – und das im wörtlichen Sinne, denn es war ihr Sänger Yanis gewesen, der sturzbetrunken in seine eigenen hochgewürgten Hinterlassenschaften von der Bühne gefallen war. Nach einem Purzelbaum war er im Graben gelandet, womit die Misere begonnen hatte. Es folgten skandalträchtige Auftritte mit weiteren Alkoholeskapaden, mies gelaunte Interviews und vernichtende Presse. Dieser Mann wusste, wie man seine Karriere gegen die Wand fuhr.
Das alles war mir bewusst und dennoch kribbelte sogar mein kleiner Zeh in voller Ekstase, wenn ich an diese Chance dachte. Der Zeh irrte sich nie, daher wusste ich, dass das eine große Sache werden konnte. Allerdings schwirrte mir der Kopf vor lauter Informationen. Ich musste dringend runterkommen, um nicht als Nervenwrack dazustehen.
Also kippte ich den letzten Rest Kaffee weg und schlüpfte in Sportklamotten. Es war später Nachmittag geworden und der bisher anhaltende Regen schien zu pausieren. Ich steckte mir die EarPods in die Ohren, startete die Lauf-Playlist und verließ die Wohnung.
Obwohl ich in einer gut besiedelten Wohngegend mit vielen Apartments und belebten Einkaufsstraßen wohnte, waren sie bei diesem Wetter leer. Tiefe Pfützen säumten den Weg, während ich schnell die asphaltierten Wege hinter mir ließ und in den weitläufigen Wald joggte. Ich lebte in Espoo, einem Vorort von Helsinki, und auf keiner Seite waren grüne Wälder oder das Meer weit entfernt.
Im Schatten der Bäume veränderten sich die Gerüche. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. Der nasse Erdboden duftete und von den frühlingsfrischen Blüten und Knospen fielen dicke Wassertropfen auf mich. Ich fand einen angenehmen Rhythmus und genoss, wie die Anspannung von mir abfiel. Ich beschleunigte, bis mein Herz in der Brust kräftig pumpte. Die frische Luft tat unheimlich gut, schaffte es aber nicht, das Gedankenkarussell zum Stehen zu bringen.
Selbst wenn das Label genauso verzweifelt war wie ich, gab es immer noch deutlich erfahrenere Menschen als mich. Ich brauchte ein Ass im Ärmel, um zu überzeugen.
Irgendwann machte ich keuchend bei einer morschen Holzbank Halt, die bereits in dunklen Schatten lag. Die Tage in Südfinnland wurden allmählich länger, waren aber immer noch kühl und rasch vorbei. Schnaufend dehnte ich die Muskeln und schüttelte den Kopf. Es half alles nichts. Von allein und ohne Kontakte würde ich eine in Verruf geratene Band kaum in angesagte Locations kriegen. Hatte man mehrmals das Mobiliar zerstört oder war anders negativ aufgefallen, war man unten durch in der Branche.
Nachdenklich zog ich mein Handy aus der Tasche und scrollte durch meine Kontakte, als der Gedankenblitz kam. Ein kleiner Vorteil aus meiner Vergangenheit, der mir nicht sofort bewusst gewesen war, weil es schon lange zurücklag. Mit etwas Glück und Überzeugungskraft würde mir das den Job zwar nicht garantieren, aber mit seiner Hilfe, vor allem mit der seines berühmten Bruders, könnte ich eine Chance haben, in der Szene zumindest angehört zu werden.
Noch immer leicht außer Atem tippte ich den Namen an, den ich schon lange nicht mehr gewählt hatte. Nicht, weil wir uns nicht mochten, sondern weil wir beide nach der Schule unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten. Es klingelte und bereits beim zweiten Mal hob er ab.
»Woher weißt du, dass ich gerade aus China zurück bin?«, begrüßte mich Pekka gut gelaunt, aber auch skeptisch. Irritiert runzelte ich die Stirn, gerade als er hinterherwarf: »Wieso keuchst du so? Ist das so ein perverser Anruf, vor denen mich meine Mutter immer gewarnt hat?«
Ich lachte auf. Das war mein Exfreund Pekka, komplett ungefiltert.
»Nein, du Idiot, ich war nur überrascht«, antwortete ich und setzte mich auf die Bank, woraufhin sich mein Hintern sofort kalt und nass anfühlte.
»Du hast mich aus heiterem Himmel angerufen. Ich bin überrascht«, konterte er zu Recht.
Kurz haderte ich mit mir, ob ich nach der langen Funkstille tatsächlich einfach mit der Tür ins Haus fallen sollte. Da die Zeit aber drängte und Pekka nie um den heißen Brei herumgeredet hatte, kam ich gleich zum Punkt. »Ich brauche deine Hilfe. Besser gesagt, die deines Nachnamens und deines VIP-Bruders! Du musst mir einen riesigen Gefallen tun.«
Kennenlernen mit rosa Fingernägeln
Wenn einem der Arsch auf Grundeis ging, sollte man wenigstens Kleidung wählen, die einen nicht wie einen Vollidioten aussehen ließ. Die elegante schwarze Jeans, die weiße Bluse und der passende Blazer erfüllten diesen Zweck hervorragend. Das Problem waren die hohen Schuhe, oder eher nicht die Pumps an sich, sondern meine Knie, die aus Gelee bestanden und darin schlackerten, als hätte ich eine ganze Flasche Rum intus. Nicht dass ich sonst etwas gegen Rum hatte, aber jetzt war es immerhin erst zehn Uhr vormittags. Das Business-Outfit hatte mir zu Hause vorm Spiegel starkes Selbstvertrauen verliehen, doch jetzt stakste ich wie ein betrunkener Storch hinter meinem neuen Boss her. Sein Name war Kalle Hasko und er war der Inhaber und Gründer des Plattenlabels Star Records, bei dem ich vor drei Wochen einen befristeten Vertrag unterschrieben hatte.
Das Büro befand sich in der belebten Innenstadt von Helsinki, im Dachgeschoss eines mehrstöckigen Einkaufszentrums. Gemeinsam gingen wir einen langen Flur entlang, dessen grauer Filzteppich das Hallen unserer Schritte verschluckte. An den weißen Wänden hingen unzählige eingerahmte Preise, goldene Platten und Fotos von in Finnland sehr bekannten Musikern. Das schüchterte einerseits enorm ein, ließ mich aber auch davon träumen, eines Tages selbst erfolgreich Künstler nach oben zu bringen.
Die wenigen Büros, an deren offenstehenden Türen wir vorbeigingen, waren mit Menschen besetzt, die lachten, tippten oder laut telefonierten. Ich mochte die Atmosphäre sofort und fantasierte augenblicklich von meinem eigenen kleinen Label. Irgendwann würde das vielleicht die Realität werden, doch heute musste ich mich erst einmal beweisen und fleißig Kontakte knüpfen. Vor allem durfte ich nicht hinfallen und mir etwas brechen. Dass mich die renommierte Agentur angenommen hatte, grenzte an ein Wunder und ich war mir sicher, dass Pekkas Hilfe dabei eine große Rolle gespielt hatte.
»Ich habe dich ja bereits gewarnt, aber ich möchte noch einmal positiv hervorheben, dass du dich davon nicht hast abschrecken lassen. The Anew ist eine großartige Band mit mega Star-Potenzial, aber die letzten Wochen haben ihren bisherigen Erfolg beinahe komplett zunichtegemacht. Ich hoffe sehr, dass du weißt, worauf du dich einlässt, und dass du am Ende nicht uns als Management die Schuld an dem Desaster gibst«, sagte Kalle, ohne sich zu mir umzudrehen.
Ich starrte seinen breiten Rücken und das graumelierte kurze Haar blinzelnd an. Motivieren konnte er schon mal nicht. Seine harten Worte verhinderten trotzdem nicht, dass sich ein aufgeregtes Kribbeln in meinem Bauch breitmachte. Und im kleinen Zeh. Vielleicht sollte ich das doch einmal untersuchen lassen. Ich freute mich auf die Aufgaben, weil ich endlich in dem Bereich arbeiten konnte, den ich mir seit Jahren erträumt hatte. Deswegen antwortete ich nicht, sondern grinste in mich hinein.
Als wir das Ende des Ganges erreicht hatten, blieb Kalle stehen, warf mir einen letzten Blick über die Schulter zu und öffnete die Tür. Wir traten in einen Besprechungsraum, in dem es nur einen riesigen, ovalen, weißen Konferenztisch gab, einen Flachbildschirm an der Wand und jede Menge Fenster, durch die die Frühlingssonne hereinschien. Es roch nach neuen Möbeln und einem intensiven männlichen Parfum. Und nach Banane, obwohl ich keine sah. Das musste zu einem der vier jungen Musiker gehören, die bereits an dem Tisch saßen und uns stumm musterten. Die komplette Besetzung von The Anew starrte mich an.
»So, Leute. Wie versprochen darf ich euch eure neue Tourmanagerin vorstellen. Das ist Laura Elola und sie ist mutig oder dumm genug, für euch eine kleine Clubtour zu planen«, stellte mich Kalle seufzend vor.
Auch dieser Seitenhieb schüchterte mich immer noch nicht ein, weil mein Herz wild in der Brust hämmerte. Ich hob die Hand und winkte zaghaft. »Freut mich, Jungs.«
Die vier betrachteten mich sehr unterschiedlich. Ich erkannte sie nach der intensiven Recherche sofort, auch wenn sie in natura und zivil etwas anders aussahen als auf den Fotos in der Presse oder den Videos ihrer Auftritte.
Ganz rechts saß Flinn, ihr Drummer. Mit seinen marokkanischen Wurzeln und den schwarzen Locken, die er zu einem kleinen Dutt auf dem Scheitel zusammengebunden hatte, erfüllte er das Südländer-Klischee. Es sah aus, als wüchse ihm ein kleines Horn aus dem Kopf, doch ich war klug genug, diesen Kommentar zu unterdrücken. Flinn, das Einhorn speicherte sich trotzdem ab. Er grinste mich schief an, was mit dem dunklen Kinnbart ziemlich charmant wirkte. Auch er hob die Hand und winkte mir. Dadurch fiel mein Blick auf die vielen Ringe, die er an fast jedem Finger trug. Flinn mochte ich sofort.
Daneben nickte mir das Band-Küken Eddi zu. Der typische finnische Junge von nebenan, der gerade mal 21 und der Bassist war. Talentiert, doch seine hellblauen Augen und das aalglatte Gesicht erweckten sofort Muttergefühle in mir, obwohl er nur drei Jahre jünger war als ich.
Zu meiner Linken saßen die Brüder Yanis und Aki. Sie sahen überhaupt nicht zufrieden aus. Yanis blickte drein, als hätte er in eine vergammelte Zitrone gebissen, und der zwei Jahre jüngere Aki wirkte unbeteiligt.
»So sieht’s aus. Ihr steckt in der Scheiße und wir alle wissen, wer schuld ist«, begann Kalle bestimmt und fixierte Yanis, der den stechenden Blick des Agenturinhabers aus graugrünen Augen erwiderte. Grimmig hob er das unrasierte Kinn. Aber auch Kalle streckte die Brust in seinem weißen Hemd noch ein Stückchen weiter empor, bis die Knöpfe spannten, und fuhr fort. »Euer erstes Album hat alle Erwartungen übertroffen, doch nach Yanis’ kürzlichem Fehlverhalten«, diesmal verdrehte der angesprochene 26-jährige Sänger unübersehbar genervt die Augen, »ist euer Ruf geschädigt. Kein Produzent will freiwillig mit euch zusammenarbeiten. Die Clubs erteilen euch Absagen und kein Schwein interessiert sich für etwas anderes als eure Skandale. Sauftouren, Bettgeschichten, zwei versäumte Auftritte und ein paar beleidigte Redakteurinnen sind das Ergebnis. Wir können froh sein, noch keine Schadenersatzklage am Hals zu haben. Niemand in meiner Agentur hat sich bereiterklärt, für euch weiterzuarbeiten. Deswegen steht diese hübsche junge Dame neben mir, die euch eine weitere Chance geben will. Lasst mich noch mal hervorheben, es ist eure letzte! Schafft ihr es in den nächsten Wochen nicht, euren Mist auf die Reihe zu kriegen, fliegt ihr aus der Agentur. Das bedeutet keine Auftritte und kein Budget für ein zweites Album.«
Flinn und Eddi erblassten angemessen, doch Yanis fuhr sich seufzend mit der Hand über die raspelkurzen dunklen Haare und zuckte mit den Schultern. Er warf seinem Bruder einen für mich undeutbaren Blick zu, der daraufhin zaghaft mahnend den Kopf schüttelte.
»Vielleicht darf ich mich hier einschalten und erläutern, was wir die nächsten Wochen so vorhaben?«, warf ich ein, da die Stimmung offensichtlich zu kippen drohte. »Ich bin davon überzeugt, dass eure grandiose Musik uns helfen wird, euch wieder an die Spitze zu bringen. Ich habe viel vor und gemeinsam können wir die Presse auf positivere Ereignisse lenken.«
Yanis verengte die Augen und beugte sich nach vorne, um sich mit den Ellenbogen auf dem blank polierten Tisch abzustützen. Er hatte ein markantes, attraktives Gesicht, doch die Kälte darin passte nicht dazu. Dass er Probleme hatte, war offensichtlich. Tiefe Schatten und eingefallene Wangen zeugten von Erschöpfung, deren Grund ich noch nicht kannte. Sein Bruder brummte, griff in seine Hosentasche und holte ein verpacktes Bonbon heraus. In aller Ruhe drehte er es knisternd auf und steckte es sich in den Mund.
»Wie willst du das schaffen?«, fragte Aki seelenruhig schmatzend. »Bist du überhaupt schon volljährig? Du siehst außerdem nicht so aus, als würdest du dich mit Rockmusik auskennen. Wir haben ernste Probleme und eine Amateurin wird uns nicht helfen können.«
Von den Vorurteilen abgesehen, hörte ich einfach nur Zweifel heraus und die konnte ich ihm kaum übelnehmen. Ich war jung, aber nicht ahnungslos. Ich war blond, aber nicht blöd. Sie würden schon merken, dass ich durchaus in der Lage war, ihrer Karriere einen Boost zu verschaffen. Vielleicht nicht mit langjähriger Erfahrung, aber mit Kreativität und Durchsetzungsvermögen.
»Ich bin allerdings alles, was ihr kriegt!«, erwiderte ich, ohne mich provozieren zu lassen. »Euer Problem ist das Image und das kann repariert werden. Wir fangen mit positivem Marketing an, um euch den Fans wieder näherzubringen. Ein Meet and Greet, vielleicht Verlosungen. Danach habe ich fünf Clubkonzerte in Südfinnland geplant, plus zwei Festivals. Die Zusagen dafür sind unterschrieben, der Rest wird selbst mit eurem mickrigen Budget zu arrangieren sein. Ihr dürft spontan im Juli auf einer Nebenbühne beim Ruisrock auftreten! Ich denke, diese Aussichten sollten euch optimistisch stimmen, bevor ihr mich als Tussi vom Dienst abstempelt.«
Erleichtert atmete ich aus. Ich war stolz, weil es absolut selbstbewusst geklungen hatte. Dass ich vergessen hatte, zwischen den Sätzen Luft zu holen, rächte sich aber, weil ich nun wie ein Fisch auf dem Trockenen aufächzte und zweimal hickste. Zum Glück kommentierte das keiner. Vor allem Yanis war damit beschäftigt, weiter grimmig dreinzusehen und mich von den Schuhspitzen bis zu meinem Pony zu mustern, während er die hellen Augenbrauen hob. Ich machte einen Schritt nach vorne, beugte mich ebenfalls über den Tisch und stützte die Hände auf, sodass wir auf Augenhöhe waren. Nun roch ich seine Alkoholfahne und verzog angewidert das Gesicht.
»Ja, ich trage hohe Schuhe und ja, meine Fingernägel sind pink lackiert. Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht fähig bin, meinen Job zu erledigen«, stellte ich klar.
Yanis starrte mich abschätzend an. Genaugenommen meine Brüste, doch er sagte weiterhin nichts.
Aki grinste hingegen breit und zerzauste seine brünetten, halblangen Haare, die ihm wild ins Gesicht hingen. »Ich mag sie!«, stellte er fest und streckte mir eine Hand entgegen. Auf den langen Fingern prangten etliche, winzige Tattoos und er roch nach Lakritz. Zusammen mit seinem Bruder war er das perfekte Rockstaraushängeschild. Im Gegensatz zu Yanis strahlte Aki allerdings nicht das klassische Badboy-Image aus, sondern wirkte sympathisch. Mit einem verschmitzten Grinsen, das mich auf seine Lippen starren ließ, und einem verträumten Blick aus braunen Augen, unter dem meine Wangen warm kribbelten.
»Ich bin Aki, der Gitarrist, und ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit.«
Überrumpelt nahm ich die Begrüßung entgegen. Sein Händedruck war fest, während er den Blickkontakt nicht unterbrach. Schließlich richtete ich mich auf und trat zurück. Kalle nickte mir zu und es war das erste Mal, dass ich kein Mitleid in seinen Zügen erkannte, sondern Anerkennung.
»Euer Team vom letzten Mal verweigert ebenfalls die Zusammenarbeit. Einzig und allein Jussi war bereit, mit euch auf Tour zu gehen. Ihr kriegt einen kleinen Bus mit Fahrer und ein Rahmenbudget für ein paar Übernachtungen. Übertreibt es nicht! Laura wird euch die nächsten Tage den Plan zukommen lassen«, erläuterte er. »Ihr könnt gehen.«
Als die Stühle quietschend zurückrückten und sich die Band erhob, blieb ich unsicher bei der Tür stehen. Mein Herz klopfte immer noch wild und meine Wangen glühten heiß. Jetzt stand mir der Sinn erst recht nach einem guten Rum.
Flinn schulterte einen riesigen Rucksack und marschierte fröhlich summend an mir vorbei. Dahinter schloss Eddi hektisch zu ihm auf und stolperte über seine eigenen Füße, nur um Haaresbreite verfehlte er mich und konnte sich an der Wand abfangen. Der Kleine lächelte peinlich berührt.
»Entschuldigung. Aber ich habe keinen Führerschein und Flinn wollte mich nach Hause bringen«, murmelte er, ehe er dem südländischen Bassisten wieder nachlief.
Aki klopfte Kalle zweimal kurz auf die Schulter, sah dabei aber mich an. »Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt, aber ich freue mich, dabei zu sein, wenn du es herausfindest.«
Schon wieder empfand ich das Gesagte als wenig freundlich, aber sein Gesichtsausdruck blieb offen. Ich konnte ihn extrem schlecht einschätzen.
Anders als beim missgelaunten Yanis, der sich ausgiebig gähnend streckte. Sein schwarzes Shirt, das auf der Brust einen riesigen Fettfleck aufwies, rutschte nach oben und entblößte seinen flachen Bauch inklusive des Bunds seiner Boxershorts. Die Jeans saß so tief, dass ich Angst hatte, er würde sie gleich verlieren. Als er an mir vorbeiging, schob er die Hände in die Hosentaschen, was die Entblößungsgefahr steigerte. »Dir ist klar, dass du den Job nur hast, weil ihn sonst keiner machen wollte?«, fragte er mich im Vorbeigehen.
Ich schluckte jede Antwort hinunter. Yanis war eine harte Nuss, aber ich würde mich von einem griesgrämigen Sänger nicht abhalten lassen, eine fantastische Tour zu planen. Immerhin war es seine Band und ich war mir sicher, dass ihm viel am Erfolg lag.
Aki folgte seinem Bruder, drehte sich aber noch einmal zu mir um. »Übrigens: Das Ruisrock? Wie zum Teufel hast du das hinbekommen?«, fragte er mich sichtlich interessiert. »Wir sind nicht mal mehr auf den lokalen Stadtfesten erwünscht!«
Das Grinsen stand ihm gut. Ich erwiderte es und verschränkte die Arme. »Das bleibt vorerst mein Geheimnis, aber ich verspreche, davon gibt’s noch mehr.«
Nach einem frechen Zwinkern hob er die Mundwinkel noch ein bisschen mehr. »Ich bin gespannt darauf, all deine Geheimnisse zu ergründen!« Er lachte und folgte Yanis, der mit hängenden Schultern voranschlurfte. Konzentriert unterdrückte ich den Drang, zu ihm zu laufen, um ihm diese verdammte Jeans hochzuziehen.
Erst als alle Bandmitglieder das Stockwerk verlassen hatten, atmete ich erleichtert aus. Kalle schmunzelte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
»Das lief besser als gedacht. Ich hoffe, du hast Durchhaltevermögen! Große Hilfe oder mehr Geld kannst du von mir nicht erwarten. Ich bin so gut wie fertig mit diesem Trinker! Er ruiniert die Karriere seiner Freunde und niemand hält ihn auf.«
Er sprach erneut von Yanis, der offensichtlich der Ursprung allen Übels war.
»Aber eines muss ich korrigieren: Du warst nicht die Einzige, die sich beworben hat. Wie du das Ruisrock klargemacht hast, würde ich auch gerne erfahren. Das ist ein großer Deal«, fügte er interessiert hinzu.
Ich schwieg. Es musste keiner wissen, dass ich das Pekka, beziehungsweise seinem Bruder Jari Mäkinen zu verdanken hatte. Seine Band The wicked elephant spielte auf der Hauptbühne und hatte ein gutes Wort für mich eingelegt. Ein Gefallen, den ich eines Tages hoffentlich erwidern konnte. Ab jetzt kamen ein paar harte Wochen auf mich zu, doch es fühlte sich an wie der beste Rausch meines Lebens. Ich war voller Tatendrang und bereit, alles zu geben, um diese Tour ganz nach vorne zu bringen.
Ein Moomin, Schulkinder und sechs Pizzen
Die nächsten zwei Wochen war ich für andere lebende Menschen nicht ansprechbar und in einer Planungs-Blase versunken. Das Telefon nahm ich nur für geschäftliche Anrufe zur Hand und meine Körperhygiene ließ ebenso deutlich zu wünschen übrig. Ich erstellte Tabellen für die Finanzen, teilte das Budget für die Bereiche auf und holte mir viele Absagen ein. Es war eiskalt gelogen gewesen, dass ich bereits alle Gigs gebucht hatte. Zwar war das Ruisrock dank Pekka in der Tasche, aber alle anderen musste ich überreden und garantieren, dass es zu keinen Zwischenfällen kommen würde. Zumindest bezeichneten sie so Yanis’ Aussetzer, die die Runde in der Branche gemacht hatten.
Am Ende schaffte ich es trotzdem, fünf coole Locations zu fixieren und einen Zeitplan zu erstellen. Ich stellte die Tourdaten sofort online, aktualisierte die Homepage der Band und beauftragte Druckereien damit, Werbematerial für uns zu produzieren. Das Label gönnte uns immerhin ein bisschen Radiowerbung und die Vorankündigungen bei den Ticketverkäufern liefen ebenfalls nach Plan.
Es kostete mich schlaflose Nächte, dennoch meisterte ich einen Schritt nach dem anderen. Das überraschte mich mehr, als es hätte dürfen. Jetzt, da es ernst wurde, erhöhte sich auch mein Druck. Abgesehen davon, dass der Tourbus, den uns die Agentur zur Verfügung stellte, eine kleine Katastrophe war. Es gab nur zwei Schlafkojen, also mussten wir für fast jede Nacht und Fahrt eine Unterkunft einkalkulieren. Dazwischen gab es zwei Tage Pause zu Hause in Helsinki, weil Benzin billiger war als ein Schlafplatz. In Sachen Interviews und Interesse der Medien hielten sich die Erfolge jedoch in Grenzen. Das lag vermutlich daran, dass Yanis bereits mehrmals Reporter, Blogger und Moderatoren auf kreativste und obszönste Art und Weise beleidigt hatte, wenn sie ihm Fragen gestellt hatten, die er für dämlich hielt.
Nichtsdestotrotz begannen die Proben für die Tour pünktlich. Zur Verfügung stand uns dafür der Drinks and Music Club, der dem Label selbst gehörte und fast täglich ausgebucht war. Eine sehr angesagte Location mitten in der Stadt, deren Bühne sich im Keller befand. Tagsüber durften wir hier alles aufbauen und die letzten Züge für die Tour besprechen.
Wirklich Kontakt zur Band hatte ich kaum gehabt. Ich bombardierte sie mit Infos, doch meistens wurden diese kommentarlos hingenommen. Umso mehr freute ich mich auf die Zeit bei den Proben, weil ich endlich Einblicke in die Band bekommen und mich mit den Jungs anfreunden konnte. Vertrauen war wichtig und musste erarbeitet werden.
Ich war die Erste, die um elf Uhr vormittags das leere Lokal betrat. Oben gab es eine stylische Bar, die mit dunklen Holzmöbeln Gemütlichkeit ausstrahlte. Ich ging am schwarzen Tresen vorbei und steuerte die Treppe nach unten an. Normalerweise stand hier ein breiter Kerl, der dafür sorgte, dass nur Gäste mit gültigen Tickets runter kamen. Es war unheimlich, den sonst so belebten Ort menschenleer vorzufinden.
Als ich unten ankam, hörte ich ein Poltern. Neugierig blickte ich mich auf der freien Fläche um, wo abends das Publikum die Musiker ankreischte, hinten gab es Stehtische und eine zweite, kleinere Bar. Es rumpelte noch mal, gefolgt von einem Fluch, und ich entdeckte jemanden im abgehangenen Bereich hinter der Bühne. Einen wahrhaftigen Moomin, der fleißig Transportboxen umherräumte. Der Kerl war zwei Meter groß und fast so breit. Er wandte mir den Rücken zu und hievte gerade eine riesige schwarze Kiste hoch.
»Moi!«, sagte ich und schrie sogleich schrill auf. Der Moomin-Mann hatte die Kiste genauso überrascht fallen gelassen und griff sich nun empört ans Herz.
»Zum Teufel, willst du mich umbringen? So jung bin ich auch nicht mehr«, rief er mit schreckgeweiteten Augen. Seine Glatze schimmerte feucht vor Schweiß, als er sich zu mir drehte und mich musterte. Seine Nase war deutlich kleiner als die der Zeichentricknilpferd-Trolle aus der Kinderserie. Trotzdem passte der Vergleich, vor allem da er ein schneeweißes Shirt trug.
»Entschuldigung, ich hatte nicht damit gerechnet, dass jemand vor mir hier ist. Ich bin Laura, die Managerin.« Dieser Satz schmolz wie Honig auf meiner Zunge, weshalb ich direkt dümmlich grinste. So hatte ich mich immer vorstellen wollen. Beim Gynäkologen würde das vielleicht seltsam ankommen, doch das war mir egal. Ich liebte es.
»Ach, das naive Vögelchen, das sich für ein lächerliches Gehalt in die Scheiße hat mit reinziehen lassen«, antwortete der Riese und stemmte die Hände in die Hüfte. Sein Shirt spannte sich gefährlich um seinen breiten Oberkörper.
Ich seufzte, grinste aber immer noch. »Ganz genau, die bin ich!«
»Klasse. Ich bin Jussi und für all das technische Zeug hier verantwortlich. Bin wohl der einzige Trottel, der sich hat überreden lassen. Das haben wir schon mal gemeinsam. Ich sag’s gleich, ich habe nichts gegen Anpacken, aber wenn die Faulpelze ihren Kram nicht selbst wegräumen, bin ich auch weg.«
Ich nickte erleichtert. Jemanden wie Jussi konnten wir mehr als gut gebrauchen und er schien die Band ja bereits zu kennen. Allerdings überlegte ich fieberhaft, ob dieser Hüne überhaupt in den Tourbus passte. Wenn man ein Loch ins Dach sägte, vielleicht… oder ich müsste ihn bitten, den Kopf aus dem Fenster zu halten. »Schön, dass du dennoch dabei bist. Ich kann jede Hilfe gebrauchen.«
Jussi nickte und widmete sich wieder seiner Arbeit. Er erklärte mir, dass er auch das Mischpult bedienen konnte, aber keineswegs professionell darin geschult war. Es musste reichen.
Während er die Kabel auf der Bühne für den Soundcheck verteilte, gönnte ich mir einen Kaffee aus der großen Maschine bei der Bar. Er ließ sich von mir nicht beirren und schien genau zu wissen, wo was hingehörte. Als Flinn sich wenig später zu uns gesellte, trank auch Jussi bereits eine Tasse mit mir. Er war ein wirklich sympathischer Mensch, der mir sofort das Gefühl von Sicherheit und Schutz vermittelte.
»Guten Morgen«, begrüßte uns der südländische Drummer gut gelaunt und stellte seinen riesigen Rucksack vor uns ab. Seine schwarzen Locken waren erneut zu dem kleinen Dutt auf dem Scheitel gebunden, diesmal standen einzelne Büschel davon ab. Das Einhorn war heute struppig.
»Morgen? Junge, es ist fast zwölf Uhr mittags und ihr seid wie immer zu spät. Man lässt eine so hübsche Frau nicht warten, und mich schon gar nicht«, fuhr Jussi ihn an. Dass er dabei versuchte, seine Espresso-Tasse mit den dicken Fingern filigran zu halten und der kleine Finger elegant wegstand, nahm ihm den Ernst. Auch Flinn schien wenig eingeschüchtert zu sein, denn er zuckte mit den Schultern.
»Mach mich nicht blöd an. Ich bin der Erste, nicht wahr? Warten wir ab, ob Yanis überhaupt auftaucht, und dann reden wir weiter.«
Alarmiert blickte ich ihn an, sagte aber nichts. Ich ging fest davon aus, dass der Sänger erschien. Allerdings wusste ich zu wenig über ihn, um nicht doch ein kleines bisschen besorgt zu sein.
Flinn bediente sich an der Kaffeemaschine und sah sich dann auf der Bühne um. Jussi hatte ihm die Drums bereits aufgebaut, doch er setzte sich dahinter und justierte konzentriert eine nach der anderen.
Kurz nach ihm hüpfte Eddi wie ein Flummi von den Stufen und fast wäre ihm dabei sein Bass vom Rücken gerutscht. Mit angestrengter Miene versuchte er das Gleichgewicht zu halten und den Instrumentenkoffer, der drohte, über seinen Kopf zu fallen, wieder zurückzuschieben. Jussi fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und seufzte. Er beugte sich zu mir und verengte warnend die hellgrünen Augen.
»Eddi ist ein feiner Junge, aber du solltest einen extra Verbandskasten mitnehmen. Er hat ein bisschen zu viel Energie, ständig muss man ihn vom Boden aufkratzen.«
Ich konnte nicht anders, als laut zu lachen, weil er den jungen Mann danach mit einem sehr väterlichen Blick bedachte. Statt zu trödeln, machte sich aber auch Eddi sofort daran, sein Instrument auszupacken und sich vorzubereiten.
Eine Viertelstunde später tauchten die Letzten in der Band auf. Aki kam mit den Händen in den Hosentaschen und sorgenvoller Miene die Treppe herunter. Sein Blick galt erst mir und ging dann die Stufen hoch. Skeptisch lehnte ich mich vor – und schlug die Hand vor den Mund, als Yanis folgte. Er angelte sich an der Wand entlang und taumelte herab.
»Na großartig. Die Schnapsdrossel ist eingetroffen«, murrte Jussi.
Ich stand sofort auf und visierte den schwankenden Sänger an. »Bist du geisteskrank? Wie kann man zu Mittag bereits betrunken sein?«, fuhr ich ihn direkt an.
Aki blieb stumm stehen, wobei ich ihm das schlechte Gewissen ansah. Sein Bruder seufzte, nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die blutunterlaufenen Augen. Natürlich stank er nach Alkohol, sein Gesicht sah aschfahl aus und er kratzte sich verschlafen am unrasierten Kinn. »Ich bin nicht schon betrunken, sondern nur noch nicht nüchtern genug. In ein paar Minuten und nach einem Kaffee bin ich startklar.«
Fassungslos sah ich zu, wie er zur Bühne schlurfte und sich schwerfällig auf die Kante setzte.
»Was stimmt denn nicht mit ihm?«, fragte ich Aki, der immer noch die Hände in den Hosentaschen vergraben hatte. Seine Haare hingen ihm über die Augen, weshalb er mich nur zaghaft anblinzelte.
»Er wird wirklich schnell fit. Gib ihm ein paar Minuten und wir können loslegen.«
Das beantwortete meine Frage keineswegs. Ich starrte Aki so lange an, bis er seufzte. Lässig strich er sich die Haare nach hinten und zog einen Mundwinkel hoch.
»Ich weiß es nicht genau. Seit ein paar Wochen ist er total neben der Spur, aber das kommt wieder in Ordnung. Gib ihm Zeit.«
Zumindest schien es, als stünde die gesamte Band weiter hinter ihrem fragwürdigen Sänger. Sie zogen ihn gemeinsam auf die Bühne und klopften ihn lachend ab. Dass er verantwortlich für ihre Misere war, schien ihm noch keiner übel zu nehmen.
Optimistisch betrachtete ich die Szene. Ein guter Zusammenhalt war ein Anfang. Ich war fest entschlossen, herauszufinden, was hier schieflief.
Wenigstens hielt Yanis sein Wort und nachdem Aki gemeinsam mit Jussi zwei Gitarren und ein Keyboard aus ihrem Auto geholt hatte, schienen sie alle in ihrem Element. Ich ließ sie erst mal machen, weil ich sie in ihrer natürlichen Umgebung beobachten wollte. Was mich positiv stimmte, war ihr Umgang miteinander. Jeder kümmerte sich um seinen Bereich, doch sie warfen sich immer wieder freundliche Blicke zu und gingen sich gegenseitig zur Hand. Flinn saß bereit hinter seinen Drums, Aki hatte sowohl das Keyboard aufgebaut als auch die Gitarre um den Hals gehängt und Yanis half Eddi, die Kabel um ihn herum so zu platzieren, dass er nicht drüber fiel. Nach wenigen Minuten standen sie aufgereiht vor mir auf der Bühne und starrten mich erwartungsvoll an.
Ich verschränkte die Arme und nickte zufrieden. Schließlich holte ich vier dünne Schnellhefter aus der Tasche und hielt sie gefächert hoch. »Okay, also die Tourdaten habt ihr bereits erhalten. Wir starten am 20. Juni hier im Drinks and Music in Helsinki. Zwei Tage später steigen wir in den Bus und fahren nach Lahti rauf. Danach geht es nach Kuopio und weiter nach Oulu. Dazwischen gibt es ab und zu einen Tag off, an dem ihr euch erholen könnt! Soundchecks sind immer vormittags in den Clubs, An- und Abbau obliegen unserer Verantwortung. Wir werden eine umfangreiche Plakataktion in den Städten haben und euer offizieller Social Media-Account wird ebenfalls reaktiviert! Wir sollten aktiv auf die Fans zugehen, damit ihr mehr positive Präsenz bekommt. Nach einer zweitägigen Pause zurück in Helsinki geht es wieder hoch nach Seinäjoki, wo ihr auf einem kleinen lokalen Sommerfestival spielen dürft. Danach folgt Tampere und das Finale werden wir auf dem Ruisrock in Turku feiern! Ich denke, das ist eine tolle Rundreise durch Südfinnland und wir können euren Bekanntheitsgrad erweitern. Woran ich noch arbeite, sind kleine Interviews. Ich habe da den einen oder anderen Radiosender und lokale Aktionen auf den Festivals im Auge, aber noch keine erfolgreichen Rückmeldungen. Für große Werbeschaltungen fehlt uns das Geld. Habt ihr Fragen dazu?«
Stolz schaute ich in die Runde. Das, was ich die letzten Tage auf die Beine gestellt hatte, war kein Kinderspiel gewesen. Die Musiker auf der Bühne sahen mich jedoch an, als hätte ich ihnen die Relativitätstheorie auf Chinesisch erklärt. Schließlich hob Yanis die Hand und wartete.
Ich stutzte, bis ich begriff und seufzte. »Ihr müsst euch nicht wie in der Schule melden. Gebt einfach euren Senf dazu!«
»Darf ich auf die Toilette gehen?«
Wow.
Ohne das einer Antwort zu würdigen, drehte ich mich um, ging zu Jussi und ließ mich auf den Stuhl neben ihn fallen.
»Du behandelst sie genau richtig«, sagte er und klopfte mir auf die Schulter. »Lass dich nicht provozieren. Ich weiß, Yanis kann ein Arschloch sein, aber die Band ist sein Leben. Auf der letzten Tour habe ich erlebt, dass sie einen wirklich guten Zusammenhalt haben, deswegen bin ich auch noch hier. Ich glaube an sie.«
Seine Worte bauten mich auf, auch wenn ich mich über Yanis’ kindisches Verhalten ärgerte.
Immerhin schaffte er es, die nächsten zwei Stunden auf der Bühne aufrecht zu bleiben. Der Kater verlieh seiner sowieso schon tiefen Stimme einen kratzigen Unterton, der perfekt zu ihren Songs passte. Sie lieferten großartigen finnischen Rock ab und es machte Spaß, ihnen dabei zuzusehen. Vor allem war ich überrascht, dass sie sich tatsächlich ein Konzept überlegt hatten. Sie präsentierten uns neue Akustik-Versionen ihrer Lieder und ganz besonders berührte mich die melancholische Variante ihrer ersten Single, die eigentlich eine Hard Rock-Nummer war.
Yanis war ein begnadeter Sänger und er sah verdammt sexy dabei aus. Selbst unrasiert und mit dunklen Ringen unter den Augen lieferte er eine gute Show. Besonders das Zusammenspiel mit seinem Bruder faszinierte mich. Aki war ein musikalisches Allroundtalent. Er spielte die Gitarre mit einer Leidenschaft, die mir eine Gänsehaut bescherte, und konnte fließend zum Keyboard wechseln. Sie warfen sich vielsagende Blicke zu und Yanis bezog alle Bandmitglieder mit ein. Einmal trommelte Flinn ein ohrenbetäubendes Solo, das bis in den Magen wanderte, während Yanis sich zurückzog und begeistert mitwippte. Eddi hüpfte beim Bassspielen auf und ab und lieferte sich mit Aki mitreißende Momente.
Ich liebte ihren Sound und das gab mir Hoffnung. Gemeinsam feilten wir an den Details der Setlist und einigten uns auf potenzielle Zugaben. Sie mussten mindestens neunzig Minuten Bühnenzeit füllen und das möglichst kreativ und neu, da die letzte Tour noch nicht so lange her war. Ob sie neue Lieder miteinbauen konnten, ließen wir offen, doch ich befürwortete es. Man musste dem Publikum Lust auf mehr machen.
Am späten Nachmittag bestellten wir uns Pizza, die ich bezahlte, um die Band zu belohnen. Ich holte die sechs Kartons oben beim Eingang ab und konzentrierte mich auf die Stufen nach unten, als ich gegen ein Hindernis stieß. Warme Finger schlossen sich um meine und ich sah verdutzt auf. Es war Aki, der mir im Weg stand und nach den Kartons griff. Dank der Treppe waren wir auf Augenhöhe und ich blinzelte ihn überrascht an.
»Darf ich dir helfen?«, fragte er höflich und nahm mir die Pizzen schon ab.
Überrumpelt blieb ich mit leeren Händen stehen und sah zu, wie er sich umdrehte und nach unten ging.
»Ich mag den roten Nagellack heute. Bin gespannt, wie viele Farben du besitzt«, rief er mir zu.
Wenn die Herren jetzt auch noch witzig und charmant wurden, würde die Tour eventuell doch kein Horrortrip werden.
Ich folgte Aki, doch bevor ich zur Bühne gehen konnte, stellte sich mir erneut jemand in den Weg. Erschrocken wich ich zurück, woraufhin mich Yanis am Unterarm packte, damit ich nicht stolperte. Die Sonnenbrille hatte er auf dem Kopf und ich kam nicht umhin, seine dichten Wimpern zu bewundern. Nüchtern wirkte er weit weniger asozial.
Er drehte den Kopf und sah zu seinem Bruder, der gerade die Pizzen verteilte. Als er sich wieder mir zuwandte, hob er das Kinn und verengte die Augen. »Aki mag dich tatsächlich. Ich hingegen überlege noch«, ließ er mich wissen, ehe er sich dicht an mir vorbei nach oben drängte.
Es war jener Moment, in dem ich begriff, dass diese beiden Brüder Probleme bedeuteten. Welche genau, sollte sich noch herausstellen.