Prolog
London, Februar 1793
„Du musst fester pressen, Trudy, das Kind liegt falsch herum. Wir müssen ihm helfen, damit es das Licht der Welt erblickt.“
Trudy Blackwell lag in den Wehen ihres ersten Kindes und das schon mehr als zwölf Stunden. Die junge Frau war eine Schönheit. Elegant, zierlich und voller Tatendrang, doch davon war jetzt nicht mehr viel zu sehen. Das Gesicht vor Schmerzen verzerrt, lag sie in ihrem Ehebett, mehr tot als lebendig, krümmte den Leib und schrie bei jeder Wehe laut auf. So war es zumindest noch vor wenigen Minuten gewesen, jetzt gab sie nur noch ein Wimmern von sich. Für mehr fehlte ihr die Kraft. Sie schnaufte, rollte mit den Augen. Jeder Atemzug erforderte eine Anstrengung, eine Kraft, die sie offensichtlich nicht mehr besaß. Die Zeit hatte sie aufgefressen, bis nichts mehr von ihrem Elan übrig war. Sie hatte sich sehr auf dieses erste Kind gefreut, das sich so schwertat, um auf die Welt zu kommen.
Hetty sah Trudy besorgt an, strich ihr eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht. Sie war einige Jahre jünger als die Gebärende und nicht sicher, ob sie der Aufgabe wirklich gewachsen war, die man ihr hier zugeteilt hatte. Ihre Mutter war Hebamme gewesen, Hetty hatte ihr oft geholfen, aber nun war sie auf sich gestellt und unsicher, ob sie alles richtig machte, ob ihr Wissen ausreichte für solch eine schwierige Entbindung.
Die Lage war ernst. Schon viel zu lange lag John Blackwells junge Frau in den Wehen und es war, als würde das Kind in ihrem Bauch nicht auf die Welt kommen wollen, weil es schon wusste, welches Leben es in einem Bordell zu erwarten hatte. Im Raum war es heiß wie in der Hölle und Hetty überlegte, ob sie ein Fenster öffnen sollte, doch mit Blick auf Trudy, die schwitzend dalag, unterließ sie es und verwarf den Gedanken. Sie selbst war mit den Kräften genauso am Ende wie die Gebärende und ließ sich auf einen gepolsterten Stuhl neben dem Bett nieder. Er war alt und knarrte laut, obwohl Hetty ein Leichtgewicht war. Sie streckte die Hand aus, um das zerknüllte Laken glatt zu ziehen, aber es war vom vielen Waschen so dünn, dass es vielleicht reißen würde. Ratlos sah sie sich um. Ob sie in der Kommode an der Wand ein frisches finden würde? Doch wie sollte sie das Bett allein beziehen, mit Trudy darin? Die Kommode war alt, aus dunklem Holz und die Scharniere schienen sie hämisch anzulächeln. Hetty schloss müde die Augen. Langsam verlor sie schon den Verstand in ihrer Hilflosigkeit. Was sollte sie tun? Wie konnte sie der Frau nur helfen?
„Ich kann nicht mehr“, stöhnte Trudy. Ihr Gesicht war leichenblass.
„Du musst, Trudy, du musst.“ Hetty drückte die Hand, die Trudy ihr hinstreckte. Was hätte ihre Mutter getan? Mut … du musst den Frauen Mut zusprechen, hörte sie die Stimme ihrer verstorbenen Mutter in ihrem Kopf. Die Karten! Sie würden ihr sagen, was zu tun war. Schnell holte sie die Karten aus der Schürze, die sie immer umgebunden trug, und mischte sie. „Hier, Trudy, tipp auf eine Karte“, forderte sie.
Mit großer Mühe hob Trudy die Hand, tippte auf eine Karte und Hetty drehte sie um.
Fünf Kelche!
O Gott. Diese Karte stand für Verlust und Trauer! Nein, das durfte nicht sein.
„Was sagen die Karten?“, flüsterte Trudy.
„Die Sonne. Glück, Zufriedenheit und Zuversicht. Es wird ein Mädchen, da bin ich mir sicher.“ Gott möge ihr diese Lüge verzeihen.
Trudy versuchte zu nicken, doch selbst dafür fehlte ihr die Kraft. Die nächste Wehe erschütterte ihren Körper.
Hetty sprang auf, stützte ihr den Rücken. „Ja, so ist es gut. Feste pressen. Nimm deine ganze Kraft zusammen. Wir schaffen das gemeinsam, Trudy. Ich lasse dich nicht im Stich …“ Und du mich bitte auch nicht.
Leise begann Hetty zu beten, aber kaum ein Ton kam über ihre Lippen. Es war eher ein Wispern, mit dem sie den Allmächtigen um Hilfe anflehte. Das Kind durfte auf keinen Fall sterben. Blackwell würde sie dafür verantwortlich machen und seinen Kummer an ihr auslassen. Ihr Leben hing davon ab, dass dieses Kind lebend auf die Welt kam.
Mit der nächsten Wehe krümmte sich Trudy und ihr schönes Gesicht war von der Anstrengung gezeichnet. Ihre dunkelroten Locken, die ihr fast bis zur Taille reichten, lagen um ihren Kopf wie ein flammender Heiligenschein.
Hetty schloss kurz die Augen, dann blickte sie Trudy aufmunternd an. „So ist es gut, du machst das vorbildlich. Es wird gleich vorbei sein und dann ist dein Schmerz auch vergessen, das kannst du mir glauben“, erklärte sie mit fester Stimme und betete weiter.
Mit einem Krachen flog die Tür gegen die Wand. „Hier ist es heiß, als wäre der Teufel persönlich anwesend!“, rief John Blackwell. Mit schweren Schritten betrat er den Raum, in der Hand schwang er einen Rumkrug. Sein weißes Hemd stand bis zum Bauch offen und offenbarte seinen breiten Oberkörper und krauses dunkles Haar. Seine Beine steckten in schwarzen Kniebundhosen und er trug hohe Stiefel wie ein Kapitän auf See, dabei konnte er nicht einmal schwimmen.
Das hatte Trudy ihr erzählt, als er letztens betrunken ins Hafenbecken gefallen war und die Arbeiter ihn schreiend wieder herausfischen mussten. Wie hatten sie über diese Anekdote gelacht. Das war gerade mal drei Wochen her. Nun lag diese Frau hier, mehr tot als lebendig.
„Frau, wie lange willst du mich noch auf meinen Sohn warten lassen?“ Er schwankte und musste sich an der Wand festhalten. Sein Atem verbreitete einen üblen Geruch von Knoblauch und abgestandenem Bier.
„Wir müssen einen Arzt rufen, Blackwell, Trudy schafft es nicht allein, das Kind hat sich nicht gedreht“, erklärte Hetty aufgeregt.
„Du hast mehr Kinder auf die Welt gebracht, als ich zählen kann, du schaffst das schon.“ John Blackwell blickte Hetty erheitert an. Er schien den Ernst der Lage nicht zu begreifen und sie mit ihrer Mutter zu verwechseln. Hetty hatte ihrer Mutter oft genug geholfen, ein Kind auf die Welt zu bringen, aber diesmal war sie allein.
„Blackwell! Sie wird sterben, wenn wir keinen Arzt holen!“, rief sie aufgebracht und zeigte auf die Tür. Ihr stand der Schweiß auf der Stirn.
Blackwell winkte ab und blieb, wo er war. „Trudy ist jung und sie wird das schon schaffen und mir eine Menge weiterer Kinder gebären“, erklärte er, als hätte er eine Ahnung, wovon er sprach.
In diesem Moment bäumte sich seine junge Frau auf und begann erneut, fest zu pressen.
Niemals würde ein Mann diese Art von Schmerzen ertragen und der großspurige John Blackwell schon gar nicht, da war Hetty ganz sicher. Gott hatte sich dafür entschieden, dass Frauen die Kinder auf die Welt brachten, weil er das den Männern nicht zutraute. So sah Hetty das und deswegen wollte sie wie ihre Mutter Hebamme sein. Um den Frauen zu helfen.
Trudy schrie noch einmal auf, es klang erbärmlich.
„Das Kind kommt, Trudy! Mach weiter!“, rief Hetty und griff nach sauberen Tüchern. Sie sah kurz auf. „Blackwell, sofort raus hier! Und hol verdammt noch mal den Arzt. Jetzt sofort!“
Der Mann rührte sich nicht von der Stelle, sondern starrte stumm auf die Szene, die sich vor ihm abspielte. Trudy, die sich vor Schmerzen wand, die Beine weit gespreizt, und die mit letzter Kraftanstrengung versuchte, dem Kind auf die Welt zu helfen, auch wenn es ihr unsägliche Schmerzen verursachte. Ihr flehender Blick traf auf seinen.
Da endlich setzte er sich in Bewegung, verließ aber nicht den Raum, sondern trat an das Bett zu seiner Frau und nahm ihre Hand in seine. Er ließ sich auf dem Bettrand nieder und sah ihr ins Gesicht.
„Du bist eine starke Frau, Trudy. Du wirst es überleben, ich befehle es dir“, knurrte er, aber von seiner üblichen Härte war nichts zu spüren, sie wurde ersetzt durch sanfte Töne, die Hetty so von ihm nur selten hörte. Mit dem Handrücken strich er ihr über die Stirn. „Sie ist ganz heiß!“, rief er Hetty zu, die ihm einen kühlen Lappen reichte, aber im Augenblick ganz andere Probleme hatte.
„Du musst bei der nächsten Wehe noch einmal fest pressen, Trudy, die Beine des Babys kann ich schon sehen. Du hast es bald geschafft. Blackwell, tupf ihr die Stirn ab und hilf ihr auf, stütze ihren Rücken, so hat sie mehr Kraft.“
Trudy nahm noch einmal alle Stärke zusammen, presste die Lippen fest aufeinander.
Blackwell küsste ihre Schläfe, murmelte beruhigende Worte, die Hetty zwar nicht verstand, aber das war egal. Sie gaben Trudy Kraft und nur drauf kam es an.
Die nächste Wehe rollte heran und sie presste. Mit letzter Kraft zwang sie den kleinen Menschen aus ihrem Leib und schrie so entsetzlich, dass man ihre Laute selbst unten im Schankraum hören musste. Der Laut ging Hetty durch und durch, auch Blackwell schien das Leid seiner Frau durch Mark und Bein zu gehen, denn er wurde weiß wie die Wand, seine Augen weiteten sich vor Schreck. Als die Schreie des Babys zu hören waren, sackte Trudy in die Kissen des Bettes zurück und wimmerte leise vor Schmerzen. Das Laken tränkte sich mit Blut und Hetty fragte sich, ob alles in Ordnung war. Sie wischte Trudy schnell mit einem Handtuch sauber.
„Ein Arzt für Ihre Frau, Blackwell, schnell“, sagte sie leise und diesmal nickte er. Rannte zur Tür und beauftragte einen der Rausschmeißer, sofort einen Arzt heranzuschaffen.
Hetty spürte unendliche Erleichterung, als das kleine Wesen mit seinen Beinen strampelte und anfing zu schreien. Es war am Leben! Sie war so immens dankbar dafür, als wäre es ihr eigenes Kind, das hier gerade das Licht der Welt erblickte. Ihr Blick sah zu Blackwell, der Trudy über die feuchte Stirn wischte und leise zu summen begann, um sie zu beruhigen.
„Es ist ein Mädchen“, rief Hetty erleichtert. „Endlich! Du hast es überstanden, Trudy, und es ist ein Mädchen, so wie du es dir gewünscht hast.“ Schnell befreite sie den Hals des Säuglings von der Nabelschnur, die sich dort verfangen und der Mutter solche Probleme bereitet hatte. Sie durchschnitt die Nabelschnur, so wie sie es schon etliche Male bei ihrer Mutter gesehen hatte, wusch das Kind und wickelte es in saubere Tücher. Nun war es vollbracht und das Baby lebte, krähte kräftig und aus vollem Hals. „Schau nur, Trudy, du hast ein Kind mit starken Lungen auf die Welt gebracht. Es ist schon ganz rot vor Anstrengung. Wollen wir hoffen, dass es ihrem Vater die Hölle heißmacht!“
Trudy lächelte glücklich. „Ein Mädchen“, wisperte sie und brachte kaum noch die Lippen auseinander.
„Mir wäre ein Junge lieber gewesen“, murmelte John und strich ihr ganz sanft das feuchte Haar aus dem Gesicht. „Aber wie immer bekommst du deinen Willen, meine Liebe. Wie wollen wir sie nennen?“
„Ich möchte sie sehen“, flüsterte Trudy. Ihre Augen hatten einen ganz besonderen unnatürlichen Glanz.
„Mylady, darf ich vorstellen: Eure Tochter.“ Lächelnd präsentierte sie Trudy das krähende Bündel. An dem Ort, an dem sie sich befanden, würde sich keine echte Lady verirren, aber Hetty fand, dass der jungen Mutter nach dieser Kraftanstrengung dieser Titel zustand. Vorsichtig legte sie Trudy das Kind in den Arm, doch sie war kaum in der Lage, die kleine Last zu halten, also übernahm das John für sie. Hielt das Kind so, dass Trudy ein Blick auf das Gesichtchen werfen konnte. Das Baby hatte rosige Wangen, blickte sie überrascht an und war nun ganz still. Es hatte dunkel gelocktes Haar und fast schwarze Augen. Die Haut sah gesund aus. Es steckte eine kleine Faust in den Mund und nuckelte daran.
„Sie sieht so stark und selbstbewusst aus. Ich möchte, dass wir sie Sienna nennen. Nach meiner spanischen Urgroßmutter“, erklärte Trudy. Immer wieder fielen ihr die Augen zu.
„Gut, wenn das dein Wunsch ist, Darling, dann werden wir sie Sienna nennen. Sienna Blackwell, das hört sich nach einer wunderschönen Frau an, so wie du eine bist.“
Trudy lächelte. „Pass gut auf unsere Sienna auf“, wisperte sie und dann verzog sich ihr Mund, als hätte sie Schmerzen. Sie röchelte, bäumte sich auf.
„Hetty!“, rief John unsicher und reichte ihr das Baby. „Was ist mit Trudy? Da stimmt doch was nicht! Wo bleibt denn der verfluchte Arzt.“ Er sprang auf.
Hetty legte das Baby schnell in ein kleines Körbchen, das schon seit Wochen in Trudys Zimmer bereitgestanden hatte, und trat ans Bett. Sie griff nach ihrem Handgelenk und fühlte den Puls, der kaum noch spürbar war. Ihr setzte für eine Sekunde der eigene Herzschlag aus. Das hier hatte sie schon oft gesehen und man hatte niemals etwas tun können. Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Sie wollte es nicht glauben, dennoch hatte sie Gewissheit und ihr Herz wurde schwer wie Blei, sie schniefte auf. Vorsichtig strich sie Trudy über die Wange, dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein, Blackwell, schickt nach dem Priester. Schnell, wir haben nicht mehr viel Zeit.“
„Bist du verrückt, Weib? Sie wird nicht sterben.“ Mit drei großen Schritten war er an der Tür und riss sie auf. „August!“, rief er nach einem seiner Angestellten. „Wo bleibt der Arzt? Schnell, beeilt euch.“ Er warf einen Blick zurück in das Zimmer. „Und bring den verfluchten Pfaffen gleich mit.“
Hetty sah zu ihm auf. „Den Arzt brauchen wir nicht mehr, Blackwell. Trudy braucht nur noch einen Geistlichen. Lieber Gott, lass ihre gute Seele in Frieden ruhen.“ Sie schlug ein Kreuz und Tränen glänzten in ihren Augen.
„Nein, das kann nicht sein.“ Blackwells Stimme war nur noch ein Flüstern. „Trudy, was machst du nur?“ Der sonst so großmäulige John Blackwell ließ sich auf den Knien nieder, nahm die Hand seiner Frau und legte seine Lippen darauf. „Du kannst mich doch nicht allein lassen. Was soll ich denn machen ohne dich? Nicht mit einem kleinen Kind. So haben wir uns das nicht ausgedacht.“
Endlich betrat ein Mann mit einer Arzttasche den Raum, erfasste die Situation, legte schnell die Jacke ab und drängte Blackwell zur Seite. „Ich brauche Platz, Sir.“ Sofort verschaffte er sich eine Übersicht über die Lage.
Er tat alles, was er konnte, doch musste nach wenigen Minuten zugeben, dass hier nichts mehr zu machen war. Alle Versuche, von Trudy eine Reaktion zu erhalten, schlugen fehl. Nachdem er ihr die Augen geschlossen hatte, schüttelte er den Kopf. „Es tut mir leid. Es ist zu spät. Sie hätten mich früher rufen müssen, aber selbst dann bin ich nicht sicher, ob ich Ihre Frau hätte retten können. Wir haben alles getan. Die Natur ist manchmal grausam. Es gibt ein Leben und nimmt es zur gleichen Zeit.“
Die beiden Männer maßen sich mit Blicken und Hetty hatte Angst, dass Blackwell etwas Unüberlegtes tun würde. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, doch dann sackte er in sich zusammen. Sein Körper verlor alle Spannung.
Blackwell wollte etwas sagen, sein Gesicht war vor Wut verzerrt, doch dann gewann sein Verstand die Oberhand. Er schien in Sekunden nüchtern geworden zu sein, nickte nur und kniete sich zu seiner toten Frau an das Bett. „Ich verspreche dir, dass ich auf Sienna achten werde. Ich werde sie hüten wie meinen Augapfel. Ihr darf niemand ein Leid antun, sie wird immer meine Erinnerung an dich sein“, flüsterte er, doch es war so leise im Raum, dass sich seine Worte unnatürlich laut anhörten. Er schüttelte erneut den Kopf und Tränen rannen seine Wangen hinunter. Er begann hemmungslos zu weinen und schämte sich seiner Tränen nicht.
Hetty wandte sich diskret ab. Leise nahm sie das kleine Bündel mit dem Kind an sich und verließ zusammen mit dem Arzt den Raum. Sie ließ Blackwell den Raum und die Zeit, um seine Frau zu trauern, die er so sehr liebte. Er mochte ein rauer Kerl sein, doch Trudy hatte er auf Händen getragen, sie war diejenige, die ihn zu einem besseren Menschen gemacht hatte. Nun war Trudy tot. So ein unnötiger Verlust und viel zu früh. Hetty hoffte, dass Sienna das Gleiche bei ihrem Vater bewirken konnte wie ihre Mutter. Beruhigend auf ihren Vater einzuwirken. Auf diesem kleinen Mädchen lag eine große Bürde.
Kapitel 1
London, April 1816
23 Jahre später
Captain Oliver Harvard stand an der Balustrade und blickte auf die Menge hinunter, die sich in dem überfüllten Ballsaal unter ihm ausbreitete. Er wandte sich um und schritt langsam die Treppe hinab. Mit jedem Schritt fühlte er sich unwohler und, als er am untersten Absatz ankam, hätte er gern kehrtgemacht. Das hier war einfach nichts für ihn. Menschen drehten sich zur Musik im Kreis, lachten und riefen laut durcheinander. Wie konnte man sich nur dem Vergnügen hingeben, während an anderen Orten die Menschen ihr Leben verloren? Das war nicht gerecht. Die Welt drehte sich einfach weiter, während Männer auf dem Schlachtfeld gestorben waren. Gute Männer, seine Männer. Abrupt drehte er sich um und wäre fast gegen die breite Männerbrust seines guten Freundes Joseph Moore, Earl of Wiltshire, geprallt.
„Du willst doch wohl nicht schon wieder gehen, Harvard“, fragte Moore. „Oder soll ich dich lieber mit Captain ansprechen?“ Er drückte Oliver eines von zwei Gläsern Champagner in die Hand, die er von dem Tablett eines vorbeieilenden Lakaien gefischt hatte.
„Du sollst mich doch nicht mehr so nennen, der Krieg ist vorbei.“
Joseph nickte. „Ja, natürlich. Alte Gewohnheiten legt man aber nicht so schnell wieder ab. Komm, ich stelle dich meiner Mutter vor, der wir das Spektakel hier zu verdanken haben.“ Er führte Oliver weiter in den großen Raum hinein, an Gästen vorbei, die ihn neugierig musterten, besonders die weiblichen schienen sehr interessiert an ihm zu sein. Einige warfen ihm verführerische Blicke zu oder schürzten die Lippen, andere klimperten aufgeregt mit den Wimpern. Keine von ihnen zog sein Interesse auf sich. Eine ähnelte der anderen, sie alle verschwammen zu seiner Masse gut behüteter junger, hübscher Frauen, die nur ein Ziel hatten: reich zu heiraten.
„Mutter, darf ich Ihnen meinen guten Freund, Baron Oliver Harvard vorstellen? Oliver, das ist die Dowager of Wiltshire, Lady Eliza Moore, meine Mutter und die Gastgeberin dieser überfüllten Veranstaltung.“ Joseph verzog das Gesicht zu einem nicht ganz ernst gemeinten Lächeln.
Lady Moore blickte ihren Sohn strafend an, dann glitt ihr Lächeln zu Oliver herüber. Sie trug ein elegantes dunkelblaues Ballkleid, war hochgewachsen und musterte Oliver mit wachen blauen Augen, die gut zu ihrem Kleid passten. Das weiße Haar war kunstvoll hochgesteckt und ein Diadem zierte ihren Kopf. Die Ähnlichkeit mit Joseph war unverkennbar. Sie war von einigen prächtig gekleideten Damen umgeben, die Oliver so freundlich musterten, als hätten sie ein appetitliches Kanapee vor sich.
„Captain Harvard? Oh, was für eine Freude, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind, mein Lieber. Mein Sohn hat so viel von Ihnen erzählt, dass ich meine, Sie bereits zu kennen! Oder soll ich lieber Baron sagen?“ Sie hielt ihm ihre schmale Hand entgegen.
Mit einer galanten Verbeugung ergriff er sie und deutete einen Handkuss an. „Vielen Dank für die Einladung, Lady Moore. Oliver reicht vollkommen.“
„Wie freundlich von Ihnen. Bitte nennen Sie mich doch Lady Eliza, so wie alle anderen auch.“
„Mit Vergnügen, Mylady.“
„Oliver, darf ich Ihnen meine beste Freundin, Lady Joyce Norton, Countess of Leeds, mit ihren reizenden Töchtern vorstellen?“
„Meine Damen. Wie bezaubernd, Sie kennenzulernen.“ Oliver nickte den Damen der Reihe nach zu, aber Lady Eliza ließ ihm keine Zeit, sie genauer anzusehen.
„Kommen Sie, Oliver, wir wollen uns ein wenig die Beine vertreten. Joyce, du entschuldigst uns.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, hakte sie sich bei Oliver unter und führte ihn davon. „Die arme Frau hat vier Töchter, die sie unter die Haube bringen muss, und keine von ihnen ist hübsch oder hat auch nur einen Fünkchen Verstand. Halten Sie sich bloß von ihnen fern, mein lieber Harvard. Sonst sind Sie schneller verheiratet, als Sie Nein sagen können.“ Sie lachte auf, als hätte sie einen Witz gemacht.
Langsam wanderten sie an der Tanzfläche entlang. Joseph folgte ihnen mit Abstand und trank von seinem Champagner, wie Oliver mit einem Blick über die Schulter feststellte, und schien äußerst zufrieden, dass sich seine Mutter ihm angenommen hatte.
Alles, was Rang und Namen hatte, nahm am Frühlingsball der Dowager of Wiltshire teil, den sie jedes Jahr im April gab. Ihr Stadthaus verfügte über einen großen Ballsaal, dessen Flügeltüren in den Garten hinausführten. Zwar war es zu dieser Jahreszeit am Abend schon empfindlich kühl, doch die Gäste nutzten die frische Luft, um sich vom Tanz und der verrußten Luft, verursacht von einer Vielzahl Kerzen in den Räumen, zu erholen. Von den Türen aus konnte er erkennen, dass der Garten mit Fackeln bestückt war, die die Wege erleuchteten und sich wunderschön vor dem Abendhimmel abhoben. Ein apartes Bild, das einen zweiten Blick wert war.
Oliver blieb stehen und zeigte auf den kleinen Irrgarten, der von hier oben dank der Fackeln gut zu erkennen war und sich zu ihren Füßen ausbreitete. Ein Quadrat von Buxbäumen war so angelegt worden, dass es immer wieder verschlossene Gänge gab. Die Hecken war dicht gewachsen und höher, als ein Mann groß war. „Sie haben wirklich ein bildschönes Anwesen, Lady Eliza. Ein Irrgarten mitten in der Stadt. Das habe ich bisher nur auf dem Land gesehen.“
„Es gehört alles Joseph, er ist der Erbe. Dank seiner Gunst darf ich hier leben. Ich rechne es ihm hoch an, dass er seine Mutter nicht einfach so aufs Land abschiebt wie so manche seiner Artgenossen.“ Sie lachte vergnügt.
Joseph schüttelte den Kopf. „Sie wissen genau, dass ich das niemals tun würde, liebe Mama“, sagte er liebevoll.
„Ja natürlich, im Augenblick nicht, aber wenn du erst einmal der richtigen Frau begegnest …“
Im Saal ging ein Raunen durch die Menge und sie blickte irritiert zum Eingang. „Was ist denn da los?“, fragte sie und reckte den Hals, um besser sehen zu können.
„Liebe Mama, Sie haben doch nicht etwa den Earl of Brentwood eingeladen?“, murmelte Joseph und sah seine Mutter ungläubig an.
„Was ist denn mit Brentwood?“, fragte Oliver und sah ebenfalls zum Eingang, konnte aber kein bekanntes Gesicht entdecken.
„Nichts, der arme Kerl hat mittlerweile das Zeitliche gesegnet“, antwortete Joseph und sah Oliver vielsagend an. „Aber nicht, ohne vorher seinen Titel in einem Spielsalon an John Blackwell zu verlieren. Er ist der neue Earl. Wenn du mich fragst, ist das nicht mit rechten Dingen zugegangen.“ Sein Ton ließ Düsteres ahnen.
„Und wer ist John Blackwell?“ Oliver ließ seine Blicke schweifen. Das Getuschel hinter geöffneten Fächern war weder zu überhören noch zu übersehen.
„Nun, auf jeden Fall kein Ehrenmann“, sagte Joseph.
„Er ist der Besitzer des Black Swan, des stadtbekannten Bordells. Du kannst es ruhig aussprechen, mein Sohn, ohne dass deine Mutter gleich in Ohnmacht fällt.“
„Mir ist unbegreiflich, woher Sie immer Ihre Informationen beziehen, liebe Mutter.“ Joseph machte eine strenge Miene.
„Aus erster Quelle“, erklärte die Countess und lächelte vielsagend.
„Wie bitte? Ich denke nicht, dass Sie in solch einem Etablissement verkehren.“ Joseph wurde blass.
„Wen hat der Earl da bei sich?“, wollte Oliver wissen, der den Blick nicht von den fünf Personen am Eingang abwenden konnte.
„Das sind seine vier Töchter. Bildschöne Mädchen, aber leider nicht von adliger Herkunft, sodass sich wohl kaum jemand finden wird, der sie vor den Traualtar führen wird. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, haben sie alle verschiedene Mütter“, erklärte Lady Eliza. „Ihr entschuldigt mich bitte, ich werde meine Gäste begrüßen müssen, nachdem sie tatsächlich den Mut aufbringen, hier zu erscheinen.“
„Soll ich Sie begleiten?“, fragte Joseph unsicher.
Seine Mutter winkte ab. „Das erledige ich besser allein.“ Schwungvoll drehte sie sich um und schenkte den Männern ein Lächeln, das sehr jugendlich wirkte. Sie bahnte sich den Weg quer über die Tanzfläche und die Paare wichen ihr geschickt aus, bis sie am anderen Ende des Raums die neuangekommenen Gäste mit einer ausladenden Geste willkommen hieß.
Der Earl of Bentwood beugte sich über ihre Hand. Er war elegant gekleidet und auf den ersten Blick hätte Oliver ihn nicht für einen Bordellbesitzer gehalten. Wie konnte man sich doch täuschen.
Neugierig trat er einen Schritt vorwärts, um die neuen Gäste besser in Augenschein zu nehmen. Bei genauer Betrachtung sah der Earl so aus, wie man es bei einer Gelegenheit wie dem Frühlingsball im Hause Wiltshire erwarten konnte. Er war mit einem feinen Zwirn bekleidet, der der Mode entsprach; ein schwarzer Frack, mit dunklen Hosen, dazu ein weißes Hemd mit Stehkragen. Dazu trug er allerdings Stiefel, die zwar blank poliert waren, aber so gar nicht zu dem festlichen Outfit passen wollten. Die Kette der goldenen Taschenuhr war der einzige Farbtupfer, machte das Gesamtbild aber nicht besser. Es war ihm anzusehen, dass er sich in diesem Aufzug nicht wohlfühlte. Als er den Kopf wandte, entdeckte Oliver eine Narbe auf seiner Wange, die von der Schläfe bis zum Wangenknochen verlief. Die eng stehenden Augen gaben ihm einen harten Ausdruck. Bei genauem Hinsehen konnte Oliver in ihm eher den Bordellbesitzer sehen als den vornehmen Earl – sicher kein Mann, mit dem man in Streit geraten sollte.
Gerade als Oliver sich abwenden wollte, entdeckte er ein Augenpaar, das ihn ebenso ungeniert musterte wie er den Earl. Die junge Frau, die neben Blackwell stand, war sicher eine seiner Töchter. Es waren nicht nur ihre großen grünen Augen, die ihn faszinierten, und ihr für einen Ball des ton viel zu selbstbewusste Erscheinung, sondern das flammend rote Haar, das kunstvoll hochgesteckt war. Ein wahrer Farbrausch. „Wer ist sie?“, wollte Oliver wissen, schaute seinen Freund fragend an.
„Wen meinst du?“
„Die Frau mit dem roten Haar, direkt neben Blackwell, in diesem umwerfenden grünen Kleid.“
Joseph folgte seiner Blickrichtung und nickte. „Das ist Lady Sienna Blackwell, seine älteste Tochter. Wie es heißt, ist sie bereits vergeben. Du solltest die Finger von den Damen lassen, Blackwell versteht keinen Spaß, wenn es um seine Töchter geht. Er lässt sie nicht in seinem Etablissement arbeiten, verteidigt ihre Unschuld mit allen Mitteln. Es heißt, er will sie als Jungfrauen an den Meistbietenden verschachern.“
Oliver nahm all diese Informationen auf, ohne Lady Sienna Blackwell aus den Augen zu lassen, die gerade von Lady Eliza begrüßt wurde. Sie schenkte der Gastgeberin ein reizendes Lächeln. So hatte er schon lange nicht mehr auf eine Frau reagiert. Allein schon ihr Name – Sienna. Es klang wie die Sonne, die an einem warmen Sommertag im Meer versank. Sienna …
„Hörst du mir zu, Harvard?“ Joseph stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen.
„Natürlich“, sagte er, ohne zu wissen, wovon sein Freund überhaupt sprach.
Dieser lachte. „Ich glaube, du hast kein Wort von dem mitbekommen, was ich gerade gesagt habe. Sie soll verlobt sein.“
„Aha! Und wer ist der Glückliche?“, fragte Oliver interessiert nach. Er hatte nichts von einer bevorstehenden Hochzeit gehört und auch keine Einladung erhalten.
Joseph hob die Schultern. „Keine Ahnung, aber wenn ich Blackwell richtig einschätze, ist es ein Herzog oder zumindest ein Markgraf. Darunter wird er seine Töchter nicht verheiraten. Doch es ist geheim, niemand weiß etwas.“
***
Wie sehr Sienna diese Zurschaustellung hasste. Sie weigerte sich, diesen Ball zu besuchen, doch ihr Vater hatte darauf bestanden und sie war nur mit Mühe und Not einer Ohrfeige entkommen. Am Ende hatte August, rechte Hand ihres Vaters und Rausschmeißer im Black Swan, sie einfach gepackt und in die Kutsche verfrachtet, als wäre sie eine Holzpuppe. Dieser Mann verfügte über enorme Kräfte, da er früher Preisboxer gewesen war. Ihre Schwestern hatten weitaus weniger Widerstand geleistet, weil es darum ging, sie in die Gesellschaft einzuführen, damit sie so schnell wie möglich reiche Verehrer fanden, um den Geldsack ihres Vaters zu füllen. Er dachte gar nicht daran, seine Töchter mit einer Mitgift auszustatten. Sie waren mit solcher Schönheit gesegnet, dass ihr Vater damit rechnete, sie würden den Männern so sehr den Kopf verdrehen, dass sie sie unter allen Umständen heiraten wollten. Er hatte vor, sie an den Meistbietenden zu verkaufen, und sie, Sienna, war die Älteste und machte den Anfang. Sie hatte bereits einen Verlobten, nun sollten ihre Schwestern folgen. Sie war von der Gastgeberin freundlich begrüßt worden. Lady Eliza hatte auch ihren Vater empfangen, als wäre er ein rechtmäßiges Mitglied der adligen Gesellschaft, obwohl sie sicherlich wusste, dass es nicht so war.
Sienna begab sich ans Buffet und ließ ihren Blick über die Köstlichkeiten wandern. Rasch schob sie sich eine der Pralinen in den Mund und kaute genüsslich und mit geschlossenen Augen.
„Hat Ihnen Ihr Vater Süßigkeiten verboten, dass Sie sie heimlich naschen?“, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihr. Erschrocken riss Sienna die Augen auf, ihre Wangen wurden heiß, aber sie nahm sich zusammen, anstatt eine ungebührliche Antwort zu geben. Haltung war alles, das hatte sie früh gelernt.
„Wie kommen Sie denn darauf?“ Sie wandte sich um und sah sich dem großgewachsenen Mann gegenüber, der sie über den Raum hinweg angestarrt hatte. Sie hatte seine Blicke bemerkt, direkt als sie den Ballsaal betreten hatten. Der Mann war älter als sie, vielleicht Anfang dreißig. Ihr gefielen die kleinen Fältchen an seinen Augen, die davon zeugten, dass er bereits eine Menge erlebt hatte. Sein Blick war nicht frei und ungezwungen, sondern aufmerksam und distanziert. Er war nicht darauf aus, mit ihr zu tändeln, ihr kam es eher so vor, als hätte er erkannt, was sie war, und würde darauf achten, dass sie nicht mit dem Silber durchbrannte. Seine braunen Augen musterten sie von Kopf bis Fuß.
„Gefällt Ihnen, was Sie sehen?“, fragte sie und hob die Augenbrauen.
„Sie wissen, dass Sie schön sind. Ich hätte nicht von Ihnen gedacht, dass Sie nach Komplimenten fischen. Das haben Sie doch gar nicht nötig. Was steckt also dahinter? Sie sind eine rätselhafte junge Frau.“ Er hielt ihrem Blick stand.
Ihr gefiel seine tiefe Stimme. Sie glitt wie ein Kribbeln über ihre Haut. „Wir sollten uns nicht unterhalten, denn wir wurden einander nicht vorgestellt. Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen.“ Sienna raffte ihre Röcke und wollte an ihm vorbei gehen. Dieser Mann hatte etwas an sich, das sie flüchten ließ, denn Sienna war sich sicher, dass er ihr gefährlich werden konnte, und Komplikationen konnte sie im Augenblick nicht gebrauchen.
„Sie laufen vor mir davon? Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht.“
„Irrtum“, zischte sie ihm zu. „Wenn mein Vater mitbekäme, wie Sie sich mir nähern, würde er Ihnen die Gurgel aufschneiden. Ich rette also gerade Ihr Leben, Mylord, Sie sollten mir dankbar sein.“ Mit einem kleinen Nicken ließ sie ihn stehen.
„Wer war denn das?“, fragte Poppy, ihre Schwester, als sich Sienna zu ihren Schwestern gesellte. Aufmerksam sah sie Oliver hinterher. „Er sieht gut aus.“
„Ich habe keine Ahnung, wer er ist, er gefällt mir nicht. Halte dich bloß von ihm fern.“ Sienna beobachtete, wie er sich mit dem Earl of Wiltshire, dem Sohn der Countess, unterhielt. Als die beiden Männer zu ihr herübersahen, wandte sie sich ab und traf auf den harten Blick ihres Vaters, der ihr andeutete, dass sie sich unter die Leute mischen sollten. Sie atmete schwer aus. Ihr Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, dass seine Töchter in die höheren Kreise einheiraten sollten. Sie selbst hatte er an einen verschachert, der nicht nur alt und vermögend war, sondern vermutlich auch abartige Neigungen hatte. Der Duke of Rockingham war bereits Anfang siebzig. Ein Wunder, dass er überhaupt so ein hohes Alter erreicht hatte. Seine Frau hatte er vor mehr als zehn Jahren verloren. Da er keinen leiblichen Erben besaß, wollte er unbedingt eine junge Frau, damit sie ihm diesen schenkte. Die Verlobung hatte ohne Feier stattgefunden. Es war nur eine schriftliche Vereinbarung zwischen Rockingham und ihrem Vater unterzeichnet worden. Mehr nicht. Sie selbst hatte nichts dazu beitragen dürfen, denn ihrem Vater war klar gewesen, dass sie dieser Vereinigung auf keinen Fall zustimmte. Dem Duke war wichtig, dass seine Braut Jungfrau war, welche Summe dafür den Besitzer gewechselt hatte, war ihr nicht bekannt. Sienna hatte ihre Unschuld zwar noch nicht verloren, aber sie war in einem Bordell aufgewachsen und hatte recht genaue Vorstellungen davon, wozu Männer im Schlafzimmer fähig waren. Es schauderte sie bei dem Gedanken, was ihr bevorstand. Sie musste dringend eine Lösung finden, damit Poppy, Grace und Evie verschont blieben von Männern wie dem Duke. Mochten sie auch noch so reich sein. Die Mädchen träumten davon, aus Liebe zu heiraten, so wie sie auch, und Sienna wollte ihren Schwestern diesen Traum ermöglichen.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich ihr Vater in Bewegung setzte. „Los, mischt euch unter die Leute und versucht, die Aufmerksamkeit der Männer auf euch zu ziehen“, zischte sie ihren Schwestern zu, die sofort mit einem Lächeln auf den Lippen durch den Ballsaal wanderten und nicht nur bei den Herren der Gesellschaft für Aufmerksamkeit sorgten.
Die weiblichen Gäste verfolgten sie mit neidischen Blicken. Sie trugen nicht nur teure Gewänder, auch sahen die Blackwell–Schwestern reizend aus. Eine wunderschöner als die andere.
„Warum stehst du noch hier herum?“, brummte John Blackwell und sah Sienna wütend an.
„Ich sehe niemanden, der herumsteht“, entgegnete sie und sah sich suchend um. „Grace tanzt bereits.“ Sie nickte mit dem Kinn zur Tanzfläche, wo die Zweitälteste mit dem Earl of Wiltshire an einer Quadrille teilnahm. Die dunkelroten Haare ihrer Schwester wirbelten um ihren Kopf. Ihre Augen leuchteten und sie lächelte ihren Tanzpartner glücklich an. Grace war eine gute Tänzerin und zog eine Menge eifersüchtige Blicke von anderen Frauen auf sich. Nicht nur, weil sie mit dem Sohn der Gastgeberin tanzte. Der Earl schien nicht den Blick von ihr nehmen zu können.
„Gut“, brummte ihr Vater. „Du hältst dich von den Männern fern. Ich will nicht, dass über dich getratscht wird. Du musst auf deinen guten Ruf achten, schließlich bist du bereits vergeben.“
„Sehr wohl, Vater.“ Sie lächelte gequält, blickte auf den Verlobungsring an ihrem Finger, der alt und hässlich war wie ihr Verlobter. Ihr Ruf war seit ihrer Geburt ruiniert, nur wollte ihr Vater das nicht wahrhaben. Er war ein Bordellbesitzer, der seinen Titel bei einer Partie Hazard gewonnen hatte. Der arme Gegner hatte nicht geahnt, dass die Würfel gezinkt gewesen waren und er keine Chance hatte. Da er kurze Zeit später bei einem Überfall in der Hafengegend ermordet wurde, spielte das nun keine Rolle mehr. Er hatte so oder so verloren, auf ganzer Linie. Nicht nur den Titel des Earl of Bentwood und sein ganzes Vermögen, auch sein Leben.
Sienna trat durch die weit geöffneten Flügeltüren hinaus auf die Terrasse und weiter in den Garten. Das flackernde Licht zog sie magisch an und sie wollte sich der Obhut ihres Vaters entziehen. Hier im Dunkel der Nacht fühlte sie sich sicher. Zumindest sicherer als im hell erleuchteten Ballsaal mit seinen unzähligen Kandelabern und Kerzen. Die Abendluft roch verführerisch nach Frühsommer. Etwas Süßes lag in ihr. War das der Duft von Jasmin? Langsam ging sie einen der abzweigenden Wege hinunter und entdeckte einen Apfelbaum voller Blüten. Die Äste waren prall gefüllt. Im Herbst würde Ernestine, die neue Frau an der Seite ihres Vaters, einen leckeren Apfelkuchen backen, denn in dem Stadthaus ihrer Familie standen ebenfalls solche Bäume, doch diese hier trugen viel mehr Blüten. Oder vielleicht ein Kompott. Ernestine war eine wunderbare Köchin und versorgte die Mädchen, als wären sie ihre eigenen Kinder. Man konnte sich keine bessere Stiefmutter wünschen. Sienna würde sie sehr vermissen, wenn sie erst verheiratet war und das Haus für immer verlassen musste.
Sie streckte eine Hand aus und zog einen kleinen tiefhängenden Ast mit Blüten zu sich heran, roch daran und schloss die Augen. Die Blüten dufteten so gut, wie die Äpfel später schmecken würden. Süß, fleischig und nach einem Hauch von Spätsommer. Sie pflückte eine Blüte und steckte sie sich ins Haar.
„Jetzt habe ich Sie sogar bei einem Diebstahl erwischt. Wusste ich es doch, dass man Ihnen nicht trauen kann.“
Sienna schloss die Augen und lächelte, dann drehte sie sich zu der dunklen Stimme um, die ihr wieder ein Kribbeln auf der Haut bescherte.
Kapitel 2
Oliver sah Sienna Blackwell nach, wie sie durch die Flügeltüren in den Garten entschwand, und folgte ihr unauffällig. Wie die Motte zum Licht, dachte er und lächelte. Er behielt John Blackwell im Auge, denn mit ihm wollte er auf keinen Fall aneinandergeraten. Daher nahm Oliver eine andere Tür in den Garten, das war weniger auffällig.
Es war nicht schwer, ihrer Spur zu folgen, als er sich sicher fühlte. Das rote Haar leuchtete in der dunklen Nacht und wies ihm den Weg. Als sie unter einem Baum stehenblieb und die Hand ausstreckte, schimmerten ihre silbernen Handschuhe, die sie bis zu den Ellenbogen trug. Das flaschengrüne Abendkleid schien im Dunkeln mit dem Baumstamm zu verschmelzen. Wie lange war es her, dass er das Kleid oder die Haarfarbe einer schönen Frau bemerkt hatte … Oliver wusste es nicht. Bevor er in den Krieg gezogen war, soviel war ihm klar.
Im Krieg war alles anders geworden. Sein leichtes, belangloses Vorkriegsleben gab es nicht mehr, es hatte sich in Luft aufgelöst. An dessen Stelle waren Wunden, Schmerz und Tod getreten. Aber der Krieg war vorbei und er war mit heiler Haut davongekommen. So wie seine Freunde. Sie konnten von Glück sagen, dass sie überlebt hatten. Alle. Obwohl so viele ihr Leben gelassen hatten. Jedoch fiel es ihm nicht so leicht, in sein altes Leben zurückzukehren. Vielleicht war dieser Abend ein erster unbeholfener Anfang.
Atemlos beobachtete er, wie Sienna an einer Blüte schnupperte. Diese Geste hatte etwas sehr Sinnliches an sich und ihm stockte für einen kurzen Moment der Atem. Dann räusperte er sich. „Jetzt habe ich Sie sogar bei einem Diebstahl erwischt. Wusste ich es doch, dass man Ihnen nicht trauen kann“, sagte er und war selbst überrascht, wie sanft seine Stimme klang.
„Verfolgen Sie mich etwa?“ Sienna drehte sich um, trat einen Schritt zurück und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, um sie zu benetzen und Oliver konnte den Blick davon nicht abwenden. Zu gern hätte er ihr die Feuchtigkeit von den Lippen geküsst. Er lachte verlegen über sich selbst. Was für eine Vorstellung. Sie gehörte ganz sicher nicht zu den Frauen, die sich willenlos in den Armen eines Verehrers fallenließ, dafür war sie zu widersprüchlich.
„Sie verfolgen?“, fragte er daher schnell. „Ja und nein. Ich möchte gerne Versäumtes nachholen und mich Ihnen vorstellen. Baron Oliver Harvard, zu Ihren Diensten, Mylady.“ Er verbeugte sich.
„Sienna Blackwell“, entgegnete sie und knickste leicht.
„Sie meinen, Lady Sienna Blackwell?“ Oliver tat ahnungslos.
Sienna lächelte und schüttelte den Kopf. „Mein Vater ist zwar ein Earl. Wie er seinen Titel erlangt hat, ist Ihnen sicherlich zu Ohren gekommen, Mylord. Ich habe damit nichts zu tun. Ich bin keine Lady. Vermutlich hat man uns nur eingeladen, um sich an dem Pöbel zu freuen. Möchten Sie mal riechen?“ Sie hielt ihm die kleine Blüte entgegen.
Er zögerte nicht, griff danach und berührte für einen kurzen Moment ihre Handfläche. Obwohl diese mit Stoff bedeckt war, fühlte er deutlich die Wärme ihrer Haut.
„Sie machen mich also zu Ihrem Komplizen“, sagte er, und roch an der Blüte.
Sie beobachtete ihn genau, sah immer wieder auf seinen Mund, während sich die Süße in seiner Nase ausbreitete. Er bemerkte, wie sie die Narbe an seiner Schläfe betrachtete. Sie sah nicht weg, sondern sah ihn eher interessiert als abgestoßen an. Um den Blickkontakt zu unterbrechen, wandte sich Oliver schließlich ab und zupfte eine der Blüten ab. Plötzlich musste er niesen.
„Ich hoffe, Sie reagieren nicht allergisch auf Düfte. Nicht, dass ich Sie noch retten muss“, sagte sie und trat zurück auf den Weg.
Oliver folgte ihr. Er wollte sie nicht einfach so gehen lassen. „Warum sind Sie so ungnädig?“, fragte er und schloss zu ihr auf.
„Warum sind Sie so beharrlich?“, entgegnete sie statt einer Antwort.
„Beantworten Sie immer eine Frage mit einer Gegenfrage? Das ist nicht sehr höflich.“
Sie lachte leise. „Mylord, ich bin nicht hier, um höflich zu sein.“
Oliver verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. „Nicht? Und warum sind Sie dann hier? Wenn ich fragen darf?“
„Das sind aber viele Fragen, die Sie stellen. Nun gut, ich bin hier, weil mein Vater es von mir verlangt. Ich soll dafür sorgen, dass meine Schwestern schnell einen Verehrer finden, möglichst von hohem Rang und mit einem großen Vermögen.“
„Und was ist mit Ihnen? Suchen Sie keinen Mann?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin bereits vergeben.“ Ihr Ring blitzte im Mondschein auf.
Oliver blieb stehen. „Ist das so? Aber wo ist dann der Mann, der das Glück hat, den Rest seines Lebens an Ihrer Seite zu verbringen.“
Sie hob die Schultern. „Unpässlich.“
Er lachte. „Was ist er? Ein Junge, der an einer Kinderkrankheit erkrankt ist? Oder ein Greis?“
„Vermutlich von beidem etwas.“ Ihr Ton war ernst und Oliver spürte die Wahrheit in ihren Worten.
Er sah sie von der Seite an und passte seinen Schritt ihrem an, um auf gleicher Höhe zu bleiben. „Ich habe bisher nichts von einer Verlobung gehört.“
„Das werden Sie auch nicht, denn sie fand nur im familiären Kreis statt. Aber ich werde in der nächsten Woche heiraten.“
„Wollen Sie mir verraten, wer der Glückliche ist?“
Sie blieben stehen, dicht standen sie nebeneinander. Zu dicht. Wieder zogen ihre schönen grünen Augen ihn in ihren Bann und er war kaum in der Lage, sich diesem intensiven Blick zu entziehen. Es kam Oliver so vor, als würde sie seine Seele berühren.
„Es tut mir leid, ich muss zurück. Mein Vater wird mich bereits suchen.“ Sie wandte sich ab.
„Sienna! Lady Blackwell! Bitte warten Sie.“ Oliver trat näher. Noch einen Schritt und sie würden sich berühren. Wenn sie jemand beobachtete, wäre ihr Ruf für immer ruiniert.
Dennoch rührte sie sich nicht, verharrte auf der Stelle.
Sie blickte zu ihm auf, atmete schwer. „Lassen Sie mich gehen, Oliver“, flüsterte sie.
„Ich halte Sie nicht fest, Sie können gehen“, sagte er ebenso leise.
Dennoch blieb sie. In diesem Moment waren plötzlich Schritte auf dem Kiesweg zu hören. Noch war niemand zu sehen, aber wenn sie jemand hier allein im dunklen Garten fand, würde das unweigerlich für Gerüchte sorgen. Rasch griff Oliver nach ihrem Arm und zog sie hinter den Stamm des Apfelbaums. Die mit den üppigen Blüten beladenen Äste hingen tief, gewährten zusätzlichen Schutz, aber er gab sie nicht frei, spürte ihren Körper an seinem, fühlte, wie ihre Brust sich hob und senkte. „Sie sollten niemanden heiraten, den Sie nicht wirklich lieben“, flüsterte er ihr zu.
„Glauben Sie, darauf käme es an? Als ob jemand darauf Rücksicht nehmen würde, wen ich liebe! Sie haben eine zu romantische Ader für diese Zeit, Mylord.“
„Ich bin alles andere als romantisch. Aber werfen Sie Ihr Leben nicht weg.“ Er schaute sie eindringlich an, als könnte er Kraft seines Blicks ihre Meinung ändern.
Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, doch instinktiv verstärkte Oliver den Griff, zog sie an seine Brust. „Seien Sie vernünftig, Sienna“, raunte er ihr zu. Sie duftete süß und fruchtig. Erinnerte ihn an den Sommer, der langsam begann. Er wollte sie ebenso wenig loslassen wie den Frühling, doch die nahenden Schritte holten ihn zurück in die Wirklichkeit. Er beugte sich schnell hinunter und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Lippen, dann ließ er von ihr ab.
Sienna holte tief Luft, strich mit der Hand über seinen Arm und drückte seine Hand. Sie trat auf den Weg und ließ ihn hinter dem Baum zurück, wo er still stehenblieb, bis er ihren Duft nicht mehr wahrnahm.
***
„Verdammt, Sienna! Wo bist du denn? Ich suche dich im Ballsaal. Was treibst du hier draußen?“ Ihr Vater kam hinter der Biegung zum Vorschein. Mit großen Schritten eilte er auf sie zu. „Ich habe dir gesagt, dass du auf deine Schwestern achten sollst. Was machst du hier im Dunkeln?“ John Blackwell war unberechenbar, besonders, wenn es um seine Töchter ging.
Baron Harvard war in großer Gefahr. Vorsichtig blickte Sienna über ihre Schulter, doch der Weg hinter ihr war leer, es war nichts zu hören. Oliver war verschwunden, lautlos. Sie konnte seine Silhouette nirgends ausmachen. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Aber sie spürte noch immer seine Berührung …
„Was geht hier vor?“, brummte Blackwell.
„Nichts, Vater. Wie du siehst, bin ich allein. Ich brauchte ein wenig frische Luft, der Ballsaal ist stickig und überfüllt. Schließlich brauche ich keinen Verehrer mehr. Und wenn ich nicht im Raum bin, haben meine Schwester eine Konkurrentin weniger.“
Misstrauisch beäugte Blackwell sie. „Wage es nicht, deinen Ruf in Gefahr zu bringen“, zischte er ihr zu und packte sie am Arm. „Wenn das dein Plan ist, so sage ich dir, er wird nicht aufgehen.“
„Nein, natürlich nicht. Wie kommst du nur auf solche Ideen?“, murmelte Sienna, aber sie konnte ihm nicht in die Augen sehen.
„Euch Weibsbildern ist alles zuzutrauen. Ich will nur euer Bestes, doch ihr habt nichts anderes zu tun, als meine Bemühungen zu boykottieren.“ Er schob sie in Richtung Haus, ließ sie jedoch los.
Mit festem Schritt ging sie voraus. Wollte ihr Vater wirklich das Beste für seine Töchter? Das sah Sienna anders. Wie konnte er nur glauben, dass sie ihre Hochzeit mit dem Duke of Rockingham gefährden würde? Welche junge Frau würde der Hochzeit mit einem fast Siebzigjährigen, der den Ruf besaß, geizig und ein Trinker zu sein, nicht mit Freude entgegensehen? Sie verzog angewidert das Gesicht und wollte etwas erwidern, besann sich jedoch anders. Es hatte ja doch keinen Zweck. Ihr Schicksal war besiegelt.