Kapitel eins
Evie rannte in ihr Zimmer, das Lady Lupton-Gage ihr während dieser Saison so großzügig zur Verfügung stellte. Ihr Dienstmädchen saß auf dem Sofa, zu dessen Füßen stand ein kleiner Handkoffer aus Leder, und die junge Frau hielt Evies Retikül in der Hand.
„Ist alles vorbereitet?“, fragte Evie und entledigte sich ihres Hochzeitskleides, noch bevor die Tür geschlossen war. Ihr Dienstmädchen erhob sich und half ihr aus der blauen Seide und dem Tüll, die Evie zur Feier ihrer Hochzeit mit Lord Bourbon getragen hatte. Bleiben konnte sie bei diesem Schurken jedoch nicht.
Nicht nach dem, was sie nur zwei Stunden nach ihrem Jawort beobachtet hatte. Evie kochte vor Wut und bemühte sich, über seine bemitleidenswerte Entschuldigung nicht zu fluchen, mit der er versucht hatte, seine Taten zu erklären. Keine Entschuldigung der Welt würde das, was sie gesehen hatte, entschuldbar machen.
Ihre Freunde und Familie wären enttäuscht, wenn sie die Ehe annullieren lassen würde, aber sie selbst wäre es nicht. Lord Bourbon sollte froh sein, dass sie seine beschämenden Taten nicht dem ton offenbart hatte. Ein Leben lang seine Untreue erdulden zu müssen, wäre für sie unerträglich.
„Hier, Miss Hall, lassen Sie mich Ihnen in Ihr Reisekleid helfen.“
Evie trat in ihr graues Reisekleid, schob es an ihrem Körper nach oben und drehte Faye den Rücken zu, damit sie ihr beim Zuknöpfen half.
„Die Kutsche sollte auf der Davies Street warten, wie Sie es gewünscht haben“, informierte Faye sie.
Evie schluckte ihre Nervosität darüber, was ihr Handeln zu bedeuten haben würde, herunter. Vom eigenen Hochzeitsfrühstück davonzulaufen, war wirklich skandalös – ganz zu schweigen davon, dass sie von diesem Tag an von der Gesellschaft gemieden werden würde, weil sie gehandelt hatte, ohne dabei an ihren Ruf zu denken.
Doch dann erinnerte sie sich an das Bild von Lord Bourbon, der sich in Lord Lupton-Gages Bibliothek mit Lady Compton, der Witwe des Earls of Compton, seinen Trieben hingegeben hatte, und das zeichnete eine Zukunft, die sie nicht würde ertragen können. Wie hatte er das nur tun können? Wie hatte er glauben können, sie würde ihre Zukunft mit einem Mann verbringen, der vorgab, sie zu lieben, es aber in Wahrheit gar nicht tat? Benutzte er sie lediglich, um sein ohnehin schon bedeutsames Vermögen aufzustocken?
Evie dankte Faye, als diese ihr einen cremefarbenen Spenzer reichte. „Lady Lupton-Gage und Arabella werden noch einige Zeit lang mit den Gästen beschäftigt sein, und falls wir aufbrechen wollen, sollten wir es jetzt tun.“
„Die Angestellten bedienen gerade die Gäste im Ballsaal, Miss Hall. Wenn wir also durch den Hinterausgang verschwinden und uns über den Weg durch den Garten über den seitlichen Hof und durch das im Efeu versteckte Tor davonschleichen, wird uns niemand bemerken. Die Kutsche, die Sie bestellt haben, wird nur wenige Schritte die Straße hinunter bereitstehen. Da bin ich mir sicher.“
Ein wenig von der Nervosität, die Evie umgab, legte sich bei der Beschwichtigung durch ihr Dienstmädchen. Es war unerlässlich, dass sie London noch an diesem Tag verließen. Sie war eine Erbin, ob verheiratet oder nicht. Lord Lupton-Gage hatte glücklicherweise sichergestellt, dass sie die Kontrolle über ihr Vermögen behielt – unabhängig davon, wen sie heiratete. Trotz eines Skandals und ihres möglichen Ruins würde sie zumindest finanzielle Sicherheit genießen. Aber sie konnte nicht bei einem untreuen Ehemann bleiben.
Wie glücklich sie sich doch schätzen konnte, einen wohlhabenden, lange verschollenen Verwandten gehabt zu haben, der ihr sein Vermögen hinterlassen hatte. Ein Vermögen, das durch die intelligenten Investitionen ihrer Londoner Verwandten zu einer Höhe angewachsen war, die ihr die Tränen in die Augen trieb.
Sie machten sich auf den Weg nach unten, und genau wie Faye es gesagt hatte, waren keine weiteren Angestellten in der Nähe. „Ich werde unterwegs einen Brief an meinen Verwalter, Lord und Lady Lupton-Gage und Arabella verfassen, in dem ich ihnen alles erkläre.“ Sie würde Lord Lupton-Gage um Hilfe bei der Annullierung der Heirat bitten. Sie hatte die Ehe nicht vollzogen. Das würde gewiss ausreichen, sich von Bourbon zu lösen.
„Was ist, wenn Lord Bourbon Ihnen folgt, Miss Hall? Wird er aufgrund Ihres Handelns nicht wütend auf Sie sein?“
Das Beben in der Stimme ihres Dienstmädchens machte Evie nachdenklich, und sie schenkte Faye ein beruhigendes Lächeln. „Alles wird gut werden“, sagte sie. „Sobald Lord Lupton-Gage von dem erfährt, was sich heute zugetragen hat und was ich gesehen habe, wird er sicherstellen, dass Lord Bourbon nicht mehr als eine böse Erinnerung ist. Meine Entscheidung mag viele Leute schockieren, doch so wird es wohl am besten sein.“ London hatte sich als Enttäuschung herausgestellt, und in Wahrheit war Evie froh, die Stadt hinter sich zu lassen. Die Politik, die falschen Freundschaften und die Männer, die sich weigerten, ihre Geliebten und Huren aufzugeben. Wie hatte sie diesem trügerischen Charme gegenüber nur so blind sein können?
Gelächter drang aus dem Ballsaal in das Foyer, als sie den letzten Treppenabsatz hinuntergingen. Evie beschleunigte ihre Schritte und rannte schon beinahe in Richtung des Hinterausgangs.
Sie hatten es fast aus dem Haus geschafft. Die Türen zum Garten waren verlockend nah, und nach einem letzten Blick auf das geräumige, prachtvolle Haus, das sie genauso lieben gelernt hatte wie Lord und Lady Lupton-Gage, verschwanden Evie und ihr Dienstmädchen unentdeckt in den Garten.
Wenige Minuten später überkam sie Erleichterung, als die georderte Kutsche, die auf der Davies Street auf sie wartete, in Sicht kam.
„Miss Hall“, sagte der Kutscher und tippte an seinen Hut.
Faye öffnete die Tür zur Kutsche, und Evie kletterte hinein. Faye stellte die Reisekoffer auf den Boden und stieg ebenfalls ein. Ohne auf ihre Zustimmung zu warten, preschte die Kutsche los, und sie waren auf dem Weg.
„Und der Kutscher weiß, dass wir in Richtung Norden fahren? Dass wir so weit reisen, wie die Pferde uns ziehen, bevor wir sie austauschen müssen?“
„Ja, Miss. Wir werden London schon bald verlassen haben und auf dem richtigen Weg sein.“ Ihr Dienstmädchen hielt inne, blickte aus dem Fenster, und Evie erkannte die Sorge, die dafür sorgte, dass sich Fayes Brauen zusammenzogen.
Evie streckte eine Hand aus und tätschelte die ihrer Begleiterin. „Alles wird gut werden. Ich habe genug Geld, um mehrere Wochen zu überstehen, und wir sind bloß auf dem Weg nach Schottland. Ich bin mir sicher, dass es mir gelingen wird, ein kleines Gutshaus zur Miete zu finden, in dem ich ziemlich bequem werde wohnen können. Sie sind frei in Ihrer Entscheidung, zu bleiben oder nach London zurückzukehren. Ich weiß, dass Schottland nicht jedermanns Sache ist, doch ich wünsche mir, von hier fortzukommen. Ich bin für diese Gesellschaft nicht gemacht. Ihre Mitglieder bilden sich zu viel auf ihren Stand ein, und ob ich nun eine Erbin sein mag oder nicht: Der Adel schaut aufgrund meiner Erziehung und meiner vergangenen Anstellung stets auf mich herab.“
„Ich verstehe, Miss. Doch ich denke, Schottland wird ein Abenteuer für Sie und mich werden. Ich bleibe gern und helfe Ihnen, wenn Sie mich lassen.“
Evie würde lügen, wenn sie die sie überkommende Erleichterung würde leugnen müssen, da sie nun wusste, dass sie nicht allein sein würde. Der Kutscher war bereits bezahlt worden und hatte zugestimmt, sie bis nach Aberdeen zu bringen. Bis dorthin waren sie sich seines Schutzes also sicher.
Alles würde gut werden. Sie musste sich um nichts sorgen und würde sich schon bald in ihrem neuen Zuhause niederlassen – weit, weit weg von Lord Bourbon und seinem untreuen Herzen.
Nachdem sie in Hertford und Bedford die Pferde ausgetauscht hatten, kam die Kutsche schließlich vor einem Gasthaus in Huntingdon zu einem Halt. Evie rieb sich die müden Augen und blickte aus dem Fenster. Der Tag ging langsam zu Ende, und der Tau ließ sich auf dem Boden nieder. Sie waren den gesamten Tag lang gereist, waren gut vorangekommen, doch die Pferde würden sich während der Nacht ausruhen müssen.
Ihr Kutscher öffnete die Tür und tippte sich an den Hut. „Miss Hall, wir werden heute Nacht wohl hierbleiben müssen. Ich muss etwas essen und eine Zeit lang schlafen, bevor wir weiterfahren. Hier gibt es Zimmer zur Miete. Ich werde in den Stallungen bleiben. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Ihnen eine Nachricht zukommen lassen, wenn ich bereit bin, die Fahrt am Morgen fortzusetzen.“
Evie nickte. Sie wollte die Kutsche ohnehin verlassen. Wie viele Tage würden sie für die Reise nach Aberdeen benötigen? Eine bedeutend lange Zeit, wie sie annahm, und ihr Hintern fühlte sich bereits zu diesem Zeitpunkt so an, als wäre er nur wenig beschwingt über ihre Entscheidung.
„Vielen Dank, George. Ich denke, das wird genau das Richtige sein.“ Evie betrat den Hof des Gasthauses, streckte sich so gut wie möglich und ging dann hinein, um nach einem Zimmer zu fragen.
Ein Bad und ein gutes, herzhaftes Mahl waren genau das, was sie brauchte. Sobald sie ihre Bedürfnisse gestillt hatte, würde sie sich schlafen legen.
Sie betrat das Gasthaus und wurde vom Wirt und seiner Frau herzlich begrüßt. „Ein Zimmer, bitte, eine Mahlzeit und ein Bad, wenn das nicht zu viele Umstände macht.“
„Natürlich, Miss …“, sagte der Wirt. „Wünschen Sie ein separates Zimmer für Ihr Dienstmädchen?“
„Ja, vielen Dank. Und mein Kutscher wird in den Stallungen bleiben. Bitte stellen Sie sicher, dass auch er eine Mahlzeit erhält.“
„Selbstverständlich“, sagte die ältere Dame. „Es ist uns ein Vergnügen.“ Sie schenkte Evie ein Lächeln.
Nach kurzer Zeit wurden sie in ihre Zimmer geführt. Der Wirt tat alles dafür, um sicherzugehen, dass sie einen angenehmen Aufenthalt hatten.
Evie ging durch ihr Zimmer und betrachtete die abgenutzten Möbel, die allerdings sauber und gut aufgestellt waren. Sie warf einen Blick nach draußen auf den Hof des Gasthauses und schaute zu, wie die Pferde, die sie aus London hergebracht hatten, ausgespannt und in den Stall gebracht wurden.
Ein großer, verhüllter Gentleman trabte auf den Hof, und seine Ankunft zog die Aufmerksamkeit aller Personen in der Umgebung auf sich. Auch Evie war nicht in der Lage, den Blick von ihm abzuwenden. Mit anmutigen Bewegungen stieg er von seinem prächtigen Pferd und führte es zu einem wartenden Stallburschen, der beinahe vor Aufregung auf und ab hüpfte, als er für seine Mühen eine Münze erhielt.
„Oh, er ist ein gut aussehender Gentleman, Miss“, murmelte Faye neben ihr. Ihre Aufmerksamkeit war viel zu sehr auf den Mann konzentriert.
Evie würde ihr nicht widersprechen, doch ebenso wenig würde sie vor ihrem Dienstmädchen zugeben, dass sie ihr insgeheim zustimmte. Sie mochte zwar einst zur selben Schicht gehört haben wie Faye, aber das war nicht länger der Fall. Als Erbin hatte sie sich aufgrund ihres Verhaltens in London bereits auf dünnes Eis begeben. Sie musste anständig bleiben und unangemessene Skandale oder Gerüchte über sie vermeiden.
„Ein weiterer Reisender, der entweder in den Norden oder in den Süden unterwegs ist, nehme ich an.“ In dem Moment erklang ein leises Klopfen an der Tür, und mehrere Zimmermädchen brachten Eimer voller kochend heißem Wasser in den Raum.
„Ich werde baden und mich dann zur Ruhe legen“, informierte Evie ihr Dienstmädchen. „Aufgrund der langen Dauer der Reise, die uns noch bevorsteht, dürfen Sie wirklich sehr gern dasselbe zu tun. Sie müssen nicht jederzeit für mich bereitstehen. Ich weiß, dass auch Sie erschöpft sein müssen.“
„Oh, vielen Dank, Miss Hall“, erwiderte Faye. „Wenn Sie sicher sind, würde ich gern schlafen gehen.“
Evie führte Faye aus dem Zimmer, bevor sie ihre Tür wieder schloss, damit sie sich endlich für die Nacht zur Ruhe legen konnten.
Kapitel zwei
Evie schreckte aus dem Schlaf hoch und starrte auf eine dunkle Gestalt, die vor dem Kamin in ihrem Zimmer kauerte, gegen die Holzscheite trat und dann nach hinten stolperte.
Angst sammelte sich in ihrer Magengegend, und sie griff nach dem Kerzenhalter neben ihrem Bett. Das kalte Metall schickte einen Schauer ihren Rücken hinunter.
„Raus hier“, rief sie und hielt sich die Decke vor die Brust. Ihr Atem ging schneller, und sie spürte, wie sich ihre Augen weiteten, als sich die Gestalt auf sie zu bewegte und sie dabei so anstarrte, als wäre sie selbst der ungebetene Eindringling.
„Raus hier?““, fragte der Mann undeutlich und mit starkem schottischem Akzent. „Wie wäre es damit, wenn Sie verschwinden? Das hier ist mein Zimmer, und ich habe für die Nacht bezahlt. Es wäre wohl am besten, Sie würden stattdessen Ihr hübsches Gesicht von hier entfernen.“
Ohne einen Gedanken an ihren Anstand zu verschwenden, und angestachelt von seiner Arroganz, kniete Evie sich auf ihr Bett und starrte den Mann mit finsterem Blick an. Als sie ihn genauer betrachtete, erkannte sie, wo sie ihn zuvor bereits gesehen hatte. Er war der verhüllte Gentleman vom Innenhof, dessen Ankunft sie am frühen Abend beobachtet hatte.
Er übernachtete also ebenfalls im Gasthaus? „Nun, es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, Sir, aber Sie sind in meinem Zimmer. Vielleicht sollten Sie also zurück auf den Flur gehen und Ihr richtiges Zimmer suchen, für das Sie bezahlt haben, denn dieses ist es nicht.“
Als er schmunzelte, verschränkte Evie die Arme und knirschte mit den Zähnen. Diese Unverschämtheit des Mannes.
„Ein feuriges Mädel also.“ Er stolperte herüber zum Bett, türmte sich vor ihr auf wie ein mythischer Gott, und sie war sich aufgrund des Feuers, das ihn von hinten anstrahlte, nicht sicher, ob er nicht wirklich ein solcher war. „Und noch dazu ein hübsches. Was tun Sie so ganz allein hier im Gasthaus? Wissen Sie denn nicht, dass es in diesen Regionen nicht sicher ist?“
„Ich bin nicht allein. Ich habe ein Dienstmädchen und einen Kutscher, die in der Nähe übernachten.“ Sie hob das Kinn. Es gefiel ihr nicht, dass sein kantiger Kiefer, der den Schatten eines Dreitagebartes aufwies, ihn so ungeheuerlich gut aussehen ließ. Ganz zu schweigen davon, dass seine Zähne beim Grinsen strahlend weiß waren und vollkommen gesund wirkten.
Keine verarmte Person also – nicht dass Evie in dem Moment, in dem sie ihn draußen auf dem Hof gesehen hatte, davon ausgegangen war. Kein Mensch mit nur begrenzten Geldmitteln ritt ein Pferd dieser Rasse und trug einen Mantel aus solch hochwertigem Stoff.
Er schmunzelte und schwankte, und sie befürchtete, dass er zu ihr aufs Bett klettern würde. „Nun kommen Sie schon, Mädchen. Ich kenne Ihre Art. Erzählen Sie mir, wie viel es mich kostet, mit Ihnen ins Bett zu steigen. Wenn Sie ein gutes Liebesspiel und ein paar Münzen nötig haben, bin ich mehr als bereit, dem nachzukommen, aber Sie hätten mich auch einfach im Schankraum fragen können. Es war nicht notwendig, sich in mein Zimmer zu schleichen, um das zu bekommen, was Sie möchten.“
Evie spürte, wie ihr Mund aufklappte, und sie griff nach den Decken und verhüllte sich, als er mit anstößigem Interesse seinen Blick wie eine Liebkosung über ihren Körper gleiten ließ. Würde er mit dieser Absurdität weitermachen? Warum wollte er nicht verstehen, was sie sagte?
Vermutlich, weil er für einen klaren Gedanken zu berauscht war …
„Hören Sie mir zu, Sir. Ich bin keine Hure, und das hier ist mein Zimmer. Wenn Sie also nicht möchten, dass ich mir die Lunge aus dem Leib schreie, bis Ihre Ohren klingeln, schlage ich vor, dass Sie dieses Zimmer verlassen und vergessen, dass Sie mich mitten in der Nacht so plötzlich bedrängt haben.“
Etwas an ihrer Wortwahl schien ihn nachdenklich zu machen, und er runzelte die Stirn und schaute sich noch einmal genauer als zuvor in dem Raum um. Sein Blick landete auf ihrem Koffer und dem Reisekleid, das bereits für die Reise am nächsten Tag über einem Stuhl hing.
Er trat einen Schritt vom Bett zurück und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Nun, da Sie es erwähnen, steht das Bett … steht das Bett an der falschen Wand. Wie seltsam. Ich hätte schwören können, dass es auf der anderen Seite gestanden hat, als ich den Raum heute Nachmittag bezogen habe.“
Evie schürzte die Lippen und schaute ihn verblüfft an. Der Mann war ein Dummkopf und ein Narr, und er machte sich in jedem Moment, in dem er sich weiter mit ihr stritt, nur noch mehr dazu.
„Sie sehen, dass dies hier nicht Ihr Zimmer ist, Sir, also gehen Sie, bitte“, forderte sie ihn auf und zeigte auf die Tür. „Und kommen Sie nicht zurück.“
Er machte auf dem Absatz kehrt, stolperte und stürzte mit dem Gesicht voran zu Boden. Ein schreckliches Geräusch ging mit seinem Sturz einher, und ohne darüber nachzudenken, eilte Evie zu ihm und half ihm, so gut es ihr möglich war, sich aufzusetzen.
Er hatte sich die Stirn aufgeschrammt, und es rann bereits ein Blutstropfen an seiner Braue herunter. Evie griff nach dem kleinen, sauberen Taschentuch neben ihrem Bett und drückte es auf die Wunde. „Es muss ein kleiner Nagel oder ein Steinchen auf dem Boden gelegen haben, als Sie gefallen sind. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Sie bluten.“
„Tue ich das?“, fragte er, hob die Hand und legte sie auf ihre.
Evie kämpfte gegen die Nervosität an, die sich bei seiner Berührung in ihrem Bauch sammelte. Er hatte große, schwielige Hände, die ihre umschlossen, so als wäre sie keine erwachsene Frau. Er strahlte eine gewisse Stärke aus, und wenn er es gewollt hätte, hätte sie keine Möglichkeit gehabt, seine Annäherungsversuche abzuwehren.
Doch er hatte nichts getan. Bevor er gestolpert war, hatte er den Raum verlassen wollen, und die Angst, die sie nur wenige Momente zuvor noch verspürt hatte, war verflogen.
„Es wird alles gut werden. Ich denke, es ist bloß eine Schramme.“ Sie kniete sich vor ihn und drückte weiterhin auf die Wunde. Sie legte die Hand an seine Wange, um ihn dazu zu bringen, stillzuhalten, und spürte seinen Blick auf sich.
„Ich scheine wirklich betrunken zu sein, und wenn das hier tatsächlich Ihr Zimmer ist, entschuldige ich mich. Ich bereue es jedoch nicht, mich an Ihrer Schönheit erfreut zu haben. Sie sind ein wirklicher Augenschmaus für meinen müden Verstand.“
Evie schluckte und bemühte sich, bei seinen Worten nicht zu erröten. Nicht dass er ihre rosigen Wangen sehen würde – nicht in diesem dämmrigen Zimmer, das hauptsächlich vom Feuer des Kamins beleuchtet wurde.
„Nun, für einen Trunkenbold sind Sie gar nicht so schrecklich. Ich bin mir sicher, dass es schlimmere Kerle auf der Welt gibt, die in mein Zimmer hätten stolpern können.“
Er schmunzelte. „Es wäre wohl klug, Sie würden nach meinem Verschwinden Ihre Tür verschließen. Unten halten sich einige Männer mit fragwürdigen Manieren auf, und ich würde nur ungern einen von ihnen erschießen müssen, sollte er irgendetwas mit Ihnen versuchen. Ich habe viel zu tun und noch einen weiten Weg vor mir, und mich mit solch unrechtmäßigen Aktionen abzugeben, würde meine Reise um bestimmt einen Tag verzögern.“
Evie grinste und schaute ihm direkt in die Augen. Selbst im Schatten erkannte sie, dass darin eine Emotion brannte, die sie nicht zuordnen konnte. Oder zumindest eine, die sie nicht zuordnen wollte. Es war schon skandalös genug, dass er sich noch immer in ihrem Zimmer aufhielt. Sollte irgendjemand hereinkommen und sehen, wie sie vor ihm kniete und seine Wange so hielt, als wollte sie seine verführerischen Lippen küssen, würde sie ruiniert sein.
Bei dem Gedanken ließ sie den Blick auf seine Lippen sinken, und zwischen ihren Oberschenkeln sammelte sich eine Wärme. Sie war ein skandalöses Luder. Wie konnte sie ihn nur so verlockend, so unwiderstehlich finden?
„Sie sollten aufhören, mich anzusehen, als würden Sie mich bei lebendigem Leib verspeisen wollen, Miss. Das hilft meiner schurkischen Seite, die sich gern unanständig benimmt, ganz und gar nicht.“
Evie biss sich auf die Lippe. Sie sollte seine Warnung beherzigen. Er war ein Fremder, ein Mann, den sie – leider – nie wiedersehen würde, und dennoch forderte sie das Schicksal heraus, triezte den Löwen, der sie ohne irgendwelche Barrieren zwischen ihnen anknurrte.
„Ich schaue Sie nicht anders an, als irgendjemand sonst auf der Welt es tun würde. Vielleicht haben Sie sich Ihren Kopf doch heftiger angestoßen, als Sie glauben.“
„Wirklich?“, erwiderte er mit tiefer und verführerischer Stimme. Er legte die Hand auf ihr Knie, und sie überkam eine Gänsehaut. „Sie fühlen also absolut nichts für mich? Ich reize Sie überhaupt nicht?“
„Natürlich nicht“, entgegnete sie, doch selbst sie hörte das Zittern in ihrer Stimme, die Sehnsucht und das Verlangen, die ihrem Verstand keine Ruhe ließen.
„Nun gut, dann …“, sagte er und erhob sich. Das Taschentuch blieb an seinem Kopf hängen, und Evie bemühte sich, nicht zu lachen. „… wünsche ich Ihnen eine gute Nacht“, beendete er seinen Satz, verbeugte sich und ließ sie so auf dem Boden zurück, als hätten sie sich nicht beinahe geküsst.
Nun, sie glaubte, dass sie sich beinahe geküsst hätten. Auf der anderen Seite war sie auch noch nie zuvor geküsst worden. Sie konnte mit ihrer Annahme also ebenso gut falschliegen.
Wie er vorgeschlagen hatte, stand sie auf und ging zur Tür, schob den Riegel vor und platzierte noch dazu einen kleinen Nachttisch für zusätzliche Sicherheit vor der Tür.
Sie würde es hassen, das Schicksal ein zweites Mal herauszufordern, nicht vollkommen sicher, ob sie, wenn dieser bestimmte Gentleman noch einmal in ihr Zimmer platzen würde, so erpicht darauf wäre, ihn wieder loszuwerden.