Leseprobe Ein Earl für Lady Georgina

Ein Angebot mit Konsequenzen

Georgina

»Lady Livingstone, setzt Euch.«

Gehorsam und mit einem gezwungenen Lächeln folgte Georgina Ellis, Dowager Baroness Livingstone, der Anweisung. Sie gab sich Mühe, den beißenden Geruch von Alkohol und Ausschweifungen zu ignorieren, der seit der Ankunft des neuen Barons vor knapp einem Jahr das Haus mehr und mehr durchdrang. Die Dienerschaft tuschelte hinter vorgehaltener Hand über den neuen Titelträger, einen Cousin dritten Grades des alten Barons, und mehrere langjährige Dienstboten hatten Livingstone Hall bereits verlassen.

Bemüht, die Fassung zu wahren, ignorierte Georgina den desolaten Zustand des Arbeitszimmers. Ihr verstorbener Gatte würde sich im Grab herumdrehen. Die ägyptischen Kunstschätze, für die William eine Vorliebe gehabt hatte, waren vor Monaten entfernt worden. Georgina konnte nur vermuten, dass der neue Baron sie veräußert hatte. Es brach ihr das Herz. Die Vasen, Statuen, Siegel und Amulette hatten so viele Geheimnisse geborgen, die sie nun nie würde erkunden können. Auch die Bücher und Schriften, in jahrelanger, mühevoller Arbeit von William gesammelt, lagen überall verstreut, und wenn sie nicht alles täuschte, hing ein Damenstrumpf über der Chaiselongue, auf der sie selbst so oft gesessen und gelesen oder den Ausführungen ihres Gatten gelauscht hatte.

Georgina zwang sich, den Blick auf Livingstone zu richten. Sie hatte in diesem Haus nichts mehr zu sagen und war seiner Gnade voll und ganz ausgeliefert. Er hatte ihr und ihren Schwestern erlaubt, das Trauerjahr im Gästehaus von Livingstone Hall zu verbringen und sie nicht weiter behelligt.

Im Gegenzug hatten die drei Damen sein wildes Treiben galant ignoriert. Durch leicht gesenkte Wimpern betrachtete Georgina den Vormund ihrer Schwestern. Es war eine Weile her, dass sie ihm zuletzt begegnet war. Er hatte deutlich an Gewicht zugelegt, seine gerötete Nase und die kleinen, blauen Äderchen, welche seine Wangen zeichneten, boten keinen schönen Anblick. Die Ausschweifungen forderten ihren Tribut.

»Kommen wir gleich zum Punkt. Mein Kopf schmerzt, und ich verabscheue es, zu solch früher Stunde Konversation zu treiben, aber diese Angelegenheit duldet keinen weiteren Aufschub.«

Bangen Herzens nickte Georgina, ahnte sie doch, was folgen würde. Sie zwang sich, die Hände flach auf dem Kleid aus schwarzem Wolltuch liegen zu lassen und nicht zu verkrampfen. Nach außen hin ruhig erwartete sie die Ausführungen des Mannes, der das Schicksal ihrer Familie in seinen Händen hielt.

»Ein Jahr und ein Tag sind seit dem Tod Eures Gatten vergangen, was bedeutet, dass Euer Trauerjahr vorüber ist, Lady Livingstone.«

Sie nickte und strich jetzt doch fahrig über den Stoff ihres Kleides.

»Damit ist meiner Pflicht und dem Willen des alten Mannes Genüge getan. Es ist an der Zeit, Euch und Euren Schwestern akzeptable Ehemänner zu suchen.«

Gegen ihren festen Vorsatz, keinerlei Reaktion zu zeigen, zuckte Georgina zusammen. Einen Ehemann? Davon war nie die Rede gewesen. »Verzeiht, Eure Lordschaft, aber ich bin Witwe und gedenke nicht, mich erneut zu vermählen.«

»Das ist Eure Sache. Wenn Ihr glaubt, von den einhundert Pfund im Jahr leben zu können, die Euer Gatte Euch hinterlassen hat, soll es mir recht sein.« Er wedelte mit der Hand in ihre Richtung und schnaubte schwer. »Das hätte sich ohnehin schwierig gestaltet. Für siebenundzwanzig mögt ihr ganz passabel aussehen, aber dieser Rotstich in eurem Blond ist gewiss nicht jedermanns Sache. Dazu noch diese unsäglichen Sommersprossen, die Euer Gesicht verunzieren. Von der fehlenden Mitgift ganz zu schweigen.«

Georgina biss sich von innen auf die Wange und behielt ihren stoischen Gesichtsausdruck bei.

»Bei Euren Schwestern sieht das schon anders aus. Sie haben zwar ebenfalls keine nennenswerte Mitgift, aber sie sind immerhin jungfräulich und halbwegs ansehnlich. Ich habe gut betuchte Freunde, die solch blutjunge Mädchen recht reizvoll finden.«

Der Schreck fuhr eiskalt in Georginas Glieder. Der Baron wollte ihre Schwestern an seine Freunde verschachern? Die wenigen, die sie im letzten Jahr zu Gesicht bekommen hatte, waren ebensolche Trunkenbolde und Lustmolche wie er. Das galt es um jeden Preis zu verhindern.

»Eure Lordschaft, ich bin sicher, dass sich eine Lösung finden wird, die für uns …«

»Lasst mich ausreden!« Livingstones Stimme donnerte durch das Arbeitszimmer, und Georgina zuckte ein weiteres Mal zusammen.

Der Baron schnaubte erneut und griff nach einer Karaffe mit bernsteinfarbener Flüssigkeit, aus der er sich eine großzügige Portion einschenkte. Georgina kam nicht umhin, das Zittern seiner Hände zu bemerken und beschloss, besser den Mund zu halten, bis er sein Glas geleert hatte. Diese Symptome kannte sie nur zu gut von ihrem verstorbenen Vater. Livingstone würde sich nach ein oder zwei Gläsern beruhigen und verträglicher werden. Sie musste nur klären, was zu klären war, bevor er zu viel hatte und seine Stimmung wieder umschlug.

Also wartete sie geduldig, bis er ausgetrunken und sich ein neues Glas eingeschenkt hatte. Wesentlich ruhiger sprach er weiter. »Mein Vetter hat genaue Anweisungen hinterlassen, wie zu verfahren ist. Helen und Phoebe bekommen eine Saison in London. Das Geld dafür liegt auf einem Treuhandkonto, ebenso wie die Mitgift. Nach Ablauf der Saison wird das Konto aufgelöst, und die verbleibende Summe fällt an meine Wenigkeit zurück. Oldfield, der Anwalt Eures Gatten, hat mich just darauf aufmerksam gemacht, dass diese Vorgehensweise zwingend erforderlich ist.« Offensichtliche Verachtung sprach aus jeder Silbe. »Da die Saison in einigen Wochen beginnt, lasse ich Vorkehrungen für Eure Abreise treffen und wünsche Euch und Euren Schwestern viel Vergnügen. Ich schlage vor, dass Ihr Euch umgehend um eine Unterkunft in London bemüht. Solltet Ihr bis zum Ende dieser Saison niemanden gefunden haben, der bereit ist, Eure Schwestern zu ehelichen …«, ein gieriges Glitzern trat in seine Augen, »könnt Ihr sicher sein, dass ich mich fürsorglich darum kümmern werde.«

Eher heirate ich noch einmal und sorge dafür, dass mein neuer Mann zum Vormund meiner Schwestern wird.

»Wie es Eurer Lordschaft beliebt.« Georgina zeigte die Andeutung eines Nickens und erhob sich. »Ich werde meine Schwestern umgehend in Kenntnis setzen. Guten Tag.« Die Regeln des Anstands hätten es geboten, dass sie knickste und Livingstone zumindest ein falsches Lächeln zukommen ließ, doch dazu sah sie sich außer Stande. Hoch erhobenen Hauptes verließ sie das Arbeitszimmer ihres verstorbenen Mannes, lief den Flur entlang und durch die große Halle zur Eingangspforte.

Hopkins, der Butler, reichte ihr ihren Umhang, den sie wortlos entgegennahm. Sie schaffte es nicht einmal, dem Mann in die Augen zu blicken, da sie ob seines offensichtlichen Mitleids in Zornestränen ausgebrochen wäre.

Also stapfte sie wortlos an ihm vorbei nach draußen. Es hatte zu schneien begonnen. Die weichen, weißen Flocken, die normalerweise bei Georgina für Entzücken sorgten, landeten auf ihrem Gesicht und mischten sich mit den Tränen, denen sie nach Verlassen des Hauses erlaubte, zu fließen.

Noch lieber hätte sie geschrien und die Fäuste gegen irgendetwas erhoben, doch damit würde sie warten, bis sie ihr Zimmer erreicht hatte. Sie betrat das Gästehaus, ignorierte die Rufe ihrer Schwestern aus dem Salon und ging schnurstracks nach oben. Zuerst musste sie sich abreagieren und einen Plan fassen. Danach würde sie die Zwillinge mit der gebotenen Ruhe über die nötigen Schritte in Kenntnis setzen.

Erst nachdem sie die Tür sorgfältig verschlossen hatte, ließ sie jede Vorsicht fahren und ihrer Wut und Verzweiflung freien Lauf. Mehrfach schlug sie die Faust so fest in die Kissen ihres Himmelbettes, dass eines riss. Federn stoben durch den Raum. Ähnlich dem Schnee draußen vor ihrem Fenster legten sie sich sanft auf den Fußboden, den Nachttisch und das Bett. Währenddessen liefen Zornestränen Georginas Wangen hinab, und sie verfluchte nicht zum ersten Mal ihr Schicksal.

Doch am Ende half alles nichts. Sie musste den unumstößlichen Tatsachen ins Auge blicken: Wenn ihr lieber William nicht vorgesorgt hätte, würde sich der neue Baron schon heute an der Mitgift ihrer Schwestern vergehen und, schlimmer, die beiden an seine Saufkumpane verschachern.

Dazu würde es nicht kommen. Eine Saison in London blieb ihnen, die Dinge zum Besseren zu wenden.

Georginas Blick ging zum Fenster, vor dem die Schneeflocken wirbelten. Es war Ende Januar. Soweit sie sich erinnerte, begann die Saison im März.

Helen und Phoebe brauchten ein Debüt, einschließlich Knicks vor der Königin. Da Georgina selbst nie debütiert hatte, war sie gezwungen, eine Dame zu finden, die die Vorstellung bei Hofe übernehmen konnte. Zum Glück kannte sie so jemanden. Ihre Tante mütterlicherseits war genau die Richtige. Die Viscountess Castleton hatte hervorragende Verbindungen und einen tadellosen Ruf. Mit ihrer Hilfe konnte das Unterfangen gelingen, für die Zwillinge eine gute Partie zu ergattern. Denn selbst wenn keines der Mädchen aus Liebe heiraten würde, war eine Ehe mit einem respektablen Gentleman dem Schicksal vorzuziehen, welches Livingstone für sie vorgesehen hatte.

Georgina war schließlich auch damit zurechtgekommen, und die Zwillinge würden das ebenso.

Die Tränen versiegten, und mit neuer Zuversicht machte sich Georgina daran, einen Brief an ihre Tante zu verfassen.

Auf Brautschau

Timothy

»Schön, dich wiederzusehen, Chadwick.« Jonathan Etherington, seines Zeichens Viscount Castleton, bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich zu setzen.

Nach wie vor war es ungewohnt für Timothy, mit seinem Titel angesprochen zu werden. Chadwick, das war immer sein Vater gewesen, auch wenn der seit inzwischen fast zwölf Jahren nicht mehr lebte. Er, Timothy Chambers, zuckte jedes Mal innerlich zusammen, sobald er registrierte, dass er damit gemeint war.

Auf seinen Reisen hatte er es stets so gehalten, dass Freunde und Gleichgestellte ihn mit seinem Vornamen ansprachen. Schon wollte er auch Castleton darum bitten, als ihm bewusst wurde, wie falsch das wäre. Stattdessen sollte er froh darüber sein, dass sein alter Freund ihn bei dem verhassten Namen nannte, so konnte er sich gleich daran gewöhnen. Es würde einen schlechten Eindruck in der Londoner Gesellschaft hinterlassen, wenn er nur zögerlich oder gar nicht auf seinen Namen reagierte.

»Ich freue mich, hier zu sein, und danke dir und deiner Gattin für die Aufnahme in Castleton House.« Er nahm in einem bequemen Ledersessel nahe am Kamin Platz. Die Wärme tat ihm gut. Auf einem kleinen Tisch standen zwei dampfende Tassen bereit. Es war Anfang März und damit beinahe noch Winter in England. Wie immer, wenn er in seine Heimat zurückkehrte, fragte sich Timothy, wie Menschen das Wetter hier ertrugen.

Schon in seiner Jugend hatte er fortwährend gefroren. Möglicherweise war das der Grund für seine häufigen Reisen? Sowohl in Spanien als auch in Griechenland oder Ägypten herrschten Temperaturen, bei denen er sich wohler fühlte. Und dennoch saß er jetzt im Londoner Stadthaus seines Partners, trank Tee mit Whisky und hoffte, dass ihm warm wurde.

»Das ist doch selbstverständlich, alter Freund. Victoria und ich freuen uns über deine Anwesenheit. Sie ist entzückt, dass du beschlossen hast, in den Hafen der Ehe einzulaufen und schon erpicht darauf, dich den besten Partien der Saison vorzustellen.«

Genau das hatte Timothy gehofft und gefürchtet gleichermaßen. »Ich werde um diverse Festivitäten nicht herumkommen?«

»Das kann dir keiner abnehmen. Du suchst eine Frau, und dafür wirst du dich in den Ballsälen und Salons sehen lassen müssen. Sobald der ton erfährt, dass du dich zu vermählen gedenkst, wirst du mit Einladungen überschwemmt werden.«

Im Gegensatz zu Timothy schien diese Vorstellung seinen Freund königlich zu amüsieren. Castleton hatte gut reden. Er war seit mehr als zwanzig Jahren glücklich verheiratet. Das allein grenzte schon an ein Wunder. Die meisten Ehen, die im ton geschlossen wurden, waren bestenfalls von den Ehepartnern wohlwollend geduldete Arrangements. Umso erstaunlicher, dass es Castleton gelungen war, aus Liebe zu heiraten. Nicht dass es das war, was Timothy für sich anstrebte. Es genügte ihm, als gute Partie gesehen zu werden. Trotz unschöner Vorfälle in der Vergangenheit war es ihm gelungen, dem Namen Chadwick zu alter Größe zu verhelfen. Das war nicht zuletzt seinem Verhandlungsgeschick und einem Geschäftssinn zu verdanken, von dem er nie vermutet hatte, ihn zu besitzen.

Zusammen mit Castleton hatte er vor einigen Jahren begonnen, ägyptische Baumwolle zu importieren und diese in eigenen Spinnereien und Webereien zu feinem Tuch verarbeiten zu lassen. Der Gewinn aus diesen Geschäften hatte die beiden Familien binnen weniger Jahre reich gemacht. Nicht zuletzt erlaubten sie Timothy, seiner Passion nachzugehen: der Erforschung der altägyptischen Kultur.

Doch wie jeder Mann seines Standes musste er sich mit der Frage der Erbfolge beschäftigen. Deshalb war er in der Stadt. Er brauchte eine Ehefrau.

»Kann man die Sache irgendwie beschleunigen?«, fragte er missmutig. »Wenn ich sofort heirate, kann ich bis zum Spätsommer wieder in Ägypten sein. Ich habe eine Entdeckung gemacht, die …«

»Alter Freund, ich fürchte, von diesem Gedanken solltest du dich schnell verabschieden.« Castleton nahm einen tiefen Schluck aus seiner Tasse. »Du musst die Frau erst kennenlernen«, er hielt einen Finger in die Luft, »umwerben«, ein zweiter Finger, »die Verlobungszeit einhalten«, ein dritter Finger, »und letztendlich dafür sorgen, dass sie guter Hoffnung ist, bevor du abreist.« Castleton hob den vierten Finger und ließ die Hand sinken. »Ende des Jahres wäre schon optimistisch.«

Timothy brummte. Er wusste, sein Freund hatte recht, und doch hatte er auf eine andere Antwort gehofft. Für ihn würde es also in diesem Jahr keine Grabung mehr geben, egal wie sehr er es sich wünschte.

»Doch ich habe Neuigkeiten für dich, die dir Zeit sparen könnten.«

Wenig überzeugt hob Timothy den Kopf und sah Castleton fragend an.

»Die Nichten meiner Frau kommen nach London, um ihre erste Saison zu erleben. Sie haben keine große Mitgift, aber ihre Situation macht es zwingend notwendig, dass wenigstens eine von ihnen einen gut betuchten Ehemann findet.«

»Inwiefern notwendig?« Nach wie vor zurückhaltend schlug Timothy die langen Beine übereinander.

»Die älteste der drei Schwestern ist verwitwet, und die jüngeren sind noch ledig. Ihre Eltern haben ihnen nichts hinterlassen, und leider scheint der Erbe des verstorbenen Mannes ihnen nicht wohlgesonnen.«

Castleton zögerte, was Timothy dazu veranlasste, weiter nachzuhaken. »Dann droht ihnen die Armut?«

»Schlimmeres, fürchte ich. Er will sie an seine degenerierten Freunde verkaufen. Ich weiß nicht, ob du ihn kennst. Sein Name ist James Hamilton, ein Niemand, der den Titel des Baron Livingstone geerbt hat.«

»Livingstone? Etwa die Familie von William Ellis, der letztes Jahr verstorben ist?« Das erweckte Timothys Interesse.

»Kanntet ihr euch?«

»Ja, er war einer meiner Förderer bei der Royal Society. Sein Tod hat mich sehr betrübt.« Nachdenklich fuhr sich Timothy übers Kinn. »Ich wusste, dass er eine junge Frau hatte. Ihr Name ist Georgina. Doch von anderen Damen im Haushalt war mir nichts bekannt.« Die Erwähnung von Georgina ließ ein unangemessenes Kribbeln durch Timothys Adern strömen und eine Idee aufblitzen, die er sofort verwarf. Wenn er sich recht entsann, waren sie im gleichen Alter. Damit schied sie als Ehekandidatin aus. Noch dazu war sie eine Witwe, die nach elf Ehejahren kein Kind zur Welt gebracht hatte. Nicht das, was er suchte.

»Es handelt sich um Lady Georginas jüngere Schwestern. Zwillinge. Sie haben gerade erst das achtzehnte Lebensjahr vollendet. Kein Wunder, dass du nie von ihnen gehört hast.« Lächelnd deutete Castleton mit der Teetasse in Timothys Richtung.

»Und sie suchen einen Mann?«, hakte er an der Stelle nach, die für ihn relevant war.

»Ja. Laut Victoria wäre die ruhigere der beiden, Helen, genau die richtige Gattin für dich. Sie ist eine klassische Schönheit mit hohen Wangenknochen, honigblondem Haar und einwandfreiem Charakter.«

In Timothy regte sich Widerwille gegen die Art, in der sein Freund von Miss Helen sprach. Es klang, als würde er eine Stute zur Zucht anpreisen. Doch war der Heiratsmarkt am Ende nicht genau das? Es ging darum, sich fortzupflanzen und dabei einen möglichst edlen Stammbaum zu wahren. Seufzend nickte Timothy und nahm einen Schluck Tee. Er durfte sich nicht beschweren, schließlich war er genauso schlimm wie andere Männer, die sich aus dynastischen Gründen eine Frau suchten. »Klingt, als wäre sie eine geeignete Kandidatin.«

»Das ist sie. Aber eventuell findest du Georgina interessanter.« Castleton zeigte nach wie vor diesen leicht amüsierten Ton, von dem Timothy nicht wusste, ob er ihm gefiel. Normalerweise war sein Freund immer sehr ruhig und besonnen. Diese Belustigung irritierte Timothy zusehends.

»Die Witwe?« Äußerlich blieb er ruhig, doch in seinem Inneren breitete sich bei dem Gedanken an Georgina Ellis eine angenehme Wärme aus.

»Ja. Sie teilt dein Interesse an Altertümern und versteht sogar einige der ausgestorbenen Sprachen, in die du so vernarrt bist. Keine passende Beschäftigung für eine Lady, wenn du mich fragst, aber ihr Mann hielt es für angebracht, sie auszubilden.«

»Er hat hier und da erwähnt, dass seine Frau ein Talent für Sprachen und ein Auge für ägyptische Artefakte hat. Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.« Timothy versuchte, seine Aufregung zu verbergen. Seit Jahren schenkte er den kleinen Bemerkungen seines väterlichen Freundes über dessen junge Frau zu viel Aufmerksamkeit. Dabei fragte er sich immer wieder, wie es sein mochte, eine solche Partnerin an seiner Seite zu haben. Eine, die verstand, was er tat und seine Leidenschaft für Altertümer teilte. »Sie ist ein wenig zu alt für meine Bedürfnisse«, schob er deshalb hinterher, denn das war Fakt.

»Wie du meinst. Ich für meinen Teil schätze Frauen, die mit einem scharfen Intellekt gesegnet sind. Die Verbindung mit Victoria war das Beste, was mir je passiert ist.« Castleton lehnte sich in seinem Sessel zurück, und Timothy unterdrückte ein Schmunzeln.

Seiner Meinung nach war das Beste, was seinem Freund je passiert war, die Investition in Timothys Baumwollgeschäft. Diesem Umstand verdankten sie beide ihren Reichtum. »Danke für deinen Rat«, sagte er trotzdem, weil alles andere unhöflich gewesen wäre.

»Keine Ursache.« Ein weiterer Seufzer, und Jonathan setzte sich aufrecht hin. »Eine Ehefrau findest du leicht. Aber die Liebe …« Er schnalzte mit der Zunge. »Die Liebe, mein Freund, geht ihre eigenen verschlungenen Wege, und wer weiß, am Ende bist du vielleicht bereit, dich auf diese Pfade zu begeben.«

Timothy verkniff sich ein Lächeln. Liebe war ein Begriff, den Leute gern in den Mund nahmen, wenn sie in etwas vernarrt waren. Er selbst liebte die Ägyptologie, das Abenteuer, seine Reisen und warmes Wetter. Aber andere Menschen? Seine Familie bezeichnete ihn oft als kalt, doch so weit würde er nicht gehen. Es gab durchaus Menschen, denen er freundschaftlich zugetan war, so wie Castleton oder Livingstone. Nur bisher eben keiner Frau. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass es je dazu kommen würde. Wenn er eine fand, für die er den gleichen Respekt aufbrachte wie für seine Freunde, wäre er zufrieden. Doch er würde sich auch mit weniger begnügen, da er nicht vorhatte, viel Zeit bei seiner Ehefrau in England zu verbringen. Sobald ein Erbe unterwegs war, würde er zurück nach Ägypten reisen. Seine Angetraute könnte währenddessen auf Starfall Hall schalten und walten, wie es ihr beliebte. Sein Reichtum würde ihr ein Leben ermöglichen, nach dem sich so manche Frau sehnte, und bei seinen kurzen Besuchen in England konnte er für weitere Kinder sorgen. Die beste Lösung für beide. Jetzt musste er nur die passende Frau für dieses Arrangement finden.

Ankunft in London

Georgina

»Georgi, sieh doch! Wir sind in London. Wie aufregend.«

Georgina schlug die Augen auf und sah zu ihren Schwestern, die gegenüber in der leidlich bequemen Reisekutsche saßen, links und rechts aus den kleinen Fenstern spähend. Phoebe, der temperamentvollere Zwilling, hatte die Gardinen zur Seite geschoben und drückte sich förmlich die Nase platt. Neben ihr saß Helen, die Hände im Schoß gefaltet. Sie wandte sich Georgina zu und lächelte entschuldigend. Ihr Blick sagte deutlich, dass sie erfolglos versucht hatte, Phoebe davon abzuhalten, die ältere Schwester zu wecken. Seufzend erwiderte Georgina das Lächeln. Die kommenden Wochen würden ihre Geduld und ihr Nervenkostüm auf eine harte Probe stellen.

Obwohl die Mädchen ihren achtzehnten Geburtstag hinter sich hatten, benahmen sie sich leider zu oft wie Kinder. Sowohl ihre Mutter als auch Georgina selbst hatten es versäumt, die nötige Strenge walten zu lassen. Natürlich hatten sie eine erstklassige Ausbildung genossen, doch Phoebe war von klein auf ein Wildfang gewesen. Hochintelligent, wie sie war, hatte sie es sich zur Regel gemacht, nichts zu lernen, was ihr langweilig oder unnütz erschien. Leider stimmte ihre Vorstellung davon, was eine junge Dame zu können und zu wissen hatte, nur selten mit der ihrer Gouvernanten, Hauslehrer und Familie überein. Dazu kam ihr kaum zu zügelnder Freiheits- und Bewegungsdrang.

Helen war von ruhigerem Gemüt, aber sie liebte es, in ihrem Sulky Wettrennen zu fahren, die sie auch meist gewann.

Rein optisch hatte Helen mit ihrem engelsgleichen Aussehen sicher die besseren Chancen auf dem Heiratsmarkt. Ihre strahlend blauen Augen und die makellose, alabasterfarbene Haut sowie die goldene Lockenpracht, welche ihr symmetrisches Gesicht umrahmte, sicherten ihr die Aufmerksamkeit des männlichen Geschlechts. Auch Phoebe brauchte sich nicht zu verstecken. Ihre Züge waren weniger ebenmäßig, aber die eisblauen Augen bildeten einen durchaus reizvollen Kontrast zu ihrem dunklen Haar.

Nach dem fatalen Unfall ihrer Eltern vor neun Jahren waren die Zwillinge als Waisen in Georginas und Williams Obhut übergegangen. Doch weder sie noch ihr verstorbener Gatte hatten es übers Herz gebracht, die Mädchen allzu energisch zur Ordnung zu rufen.

Georgina konnte nur hoffen, dass es ihr trotzdem gelungen war, ihren Schwestern den Ernst der Lage zu vermitteln und sie sich anständig benehmen würden.

»Hattest du nicht gesagt, London sei stickig und dreckig?« Phoebe klang enttäuscht. »Es ist so grün.«

»Das liegt daran, dass wir den Hyde Park passieren.« Georgina hatte nur einen müden Blick für den Park übrig. »Warte ab, bis wir Mayfair erreichen. Dort ist es wesentlich weniger grün.« So war es zumindest vor fünf Jahren gewesen. So lange lag Georginas letzter und einziger Besuch in der Hauptstadt zurück. »Und außerhalb von Mayfair ist es noch schlimmer. Glaub mir, du wirst das Landleben vermissen.«

»Das wage ich zu bezweifeln. Denk nur an die Möglichkeiten, die sich hier bieten! Abende voll kultivierter Konversation mit Gelehrten und Abenteurern. Besuche in Konzerten, dem British Museum und der Austausch über Kunst. Es wird fast so sein, als sei William noch da.«

Georgina wollte erwidern, dass von einer jungen Debütantin andere Dinge erwartet wurden, als der laute Ruf des Kutschers erschallte.

»Upper Grosvenor Street Nummer drei, Myladys!«

Sie hatten ihr Ziel erreicht. Die Kutsche hielt an, und bei Georgina stellte sich zu ihrer eigenen Überraschung Vorfreude ein. Drei Tage in dem engen Gefährt hatten ihre Geduld arg strapaziert. Zwar hatten sie gelesen und sich unterhalten, doch die mangelnde Bewegung hatte Phoebe schier unausstehlich gemacht. Auch Georgina und Helen freuten sich darauf, sich wieder frei bewegen zu können. Die Kutsche ruckelte, was anzeigte, dass der Kutscher von seinem Bock stieg, um ihnen gleich die Tür zu öffnen.

»Danke, Parker.«

Der Mann lächelte Georgina an und verbeugte sich tief. »Mylady.« Sie wusste, dass Mr. Parker keine besonders hohe Meinung vom neuen Lord Livingstone hatte. Zudem stammte er aus London und war froh, die kommende Zeit in der Nähe seiner Familie verbringen zu können.

Lächelnd stieg sie aus der Kutsche und bestaunte das Stadthaus ihrer Verwandten. Schon bei ihrem letzten Besuch hatte sie es ins Herz geschlossen. Es schmiegte sich eng an die anderen Prunkbauten dieser Straße und stach dennoch hervor. Die Fensterreihe des vierten Stocks wies nicht die übliche rechteckige Form auf, sondern glich Bullaugen und machte dieses Haus besonders. Vor fünf Jahren hatte sie genau das Zimmer mit diesen pittoresken Fenstern ihr Eigen nennen dürfen.

»Georgina, meine Liebe, was für eine Freude, dich zu sehen.« Nur widerstrebend löste Georgina ihre Aufmerksamkeit von der Architektur und wandte sich der Sprecherin zu: Ihrer Tante, Lady Victoria, Viscountess Castleton.

Sie war die jüngere Schwester von Georginas Mutter und hatte weit über ihrem Stand geheiratet. In der feinen Gesellschaft war man sich einig, dass dies ihrer herausragenden Schönheit und Eleganz geschuldet war. Ihre rotblonden Locken trug sie kurz, solange Georgina sich erinnern konnte, was ihren hellen Teint und ihre edel geschwungenen Wangenknochen hervorragend zur Geltung brachte. Obwohl sie nicht mehr die Jüngste war und vier Kindern das Leben geschenkt hatte, wurde sie von vielen um ihre Figur beneidet. Doch Georgina wusste, dass Jonathan Etherington, der fünfte Viscount Castleton, sie vor allem deshalb zur Frau gewählt hatte, weil sie nicht nur über ein warmes Herz, sondern auch einen äußerst scharfen Intellekt verfügte.

Victoria umfasste Georginas Handgelenke und musterte sie missbilligend von oben bis unten. »Kind, dieses unsägliche Schwarz steht dir überhaupt nicht. Du solltest ein gedecktes Lila in Erwägung ziehen.«

»Liebste Tante, ich …« Weiter kam sie nicht, da Victoria bereits zu ihren Schwestern sprach.

»Und da sind ja auch Helen und Phoebe!« Sie schlug entzückt die Hände vor dem Mund zusammen. »Das Ebenbild deiner Mutter, Gott hab sie selig«, sagte sie zu Helen, und weit weniger enthusiastisch an Phoebe gewandt: »Du hingegen trägst deutlich die Züge eures Vaters.«

Phoebe öffnete den Mund, unzweifelhaft für eine ihrer berühmt-berüchtigten schnippischen Antworten, doch Georgina ging dazwischen. »Sie mag das Aussehen unseres Vaters geerbt haben, aber es sei dir versichert, liebe Tante, dass sie das große Herz unserer Mutter besitzt.«

»Das bleibt zu hoffen, nicht wahr?« Mit einem übertrieben lauten Seufzer hakte sich Victoria bei Georgina ein und geleitete sie zum Eingang.

Georgina erhaschte gerade noch einen Blick auf Phoebe, die ihre Tante lautlos nachäffte, was Helen dazu veranlasste, die Hand vor den Mund zu heben, um ein Kichern zu unterdrücken.

Die nächsten Wochen versprachen in der Tat, anstrengend zu werden.

»Ihr kommt genau recht.« Victoria tätschelte Georginas Hand. »Es bleibt genug Zeit, den Staub der Reise abzuwaschen und sich umzukleiden, bevor der Tee serviert wird.«

»Eine Tasse Tee und eine kleine Stärkung könnten wir wahrlich gut brauchen, liebste Tante«, sagte Georgina dankbar.

»Noch dazu ist es eine wunderbare Gelegenheit, unseren anderen Gast kennenzulernen. Wie es der Zufall will, hat mein lieber Jonathan dem Sohn eines alten Freundes Unterschlupf gewährt, der in den letzten Jahren auf Reisen war und sein Stadthaus anderweitig vermietet hat. Aber seid unbesorgt, Lord Chadwick ist ein angenehmer Gast, der …«

»Sagtest du Chadwick?« Trotz des Schreckens, der ihr durch die Glieder fuhr, schaffte es Georgina, ihre Stimme ruhig zu halten und sich nicht zu versteifen.

»Ja, die Chadwicks sind alte Freunde der Familie. Der Earl ist ein Liebhaber alter Kulturen, genau wie dein William, Gott hab ihn selig. Die letzten Jahre hat Lord Chadwick in Griechenland und Ägypten verbracht. Er ist erst jüngst von einer Expedition zurückgekehrt.« Ein Lächeln zeichnete sich auf Victorias Zügen ab. »Aber wem erzähle ich das, du bist Lord Chadwick gewiss schon begegnet. Schließlich hegte er eine rege Korrespondenz mit deinem verstorbenen Gatten.«

»Mit William?«

Victoria lachte laut auf. »Hast du andere ehemalige Gatten, von denen ich nichts weiß? So kenne ich dich, meine Liebe, immer zu einem Scherz aufgelegt. Sei versichert, dass er die Forschungen von Lord Chadwick ebenso großzügig unterstützt hat wie Jonathan.«

Geistesabwesend nickte Georgina. Diese Information musste sie erst einmal verdauen. Sie hatte gewusst, dass William große Summen für Ausgrabungen ausgegeben und im Gegenzug dafür Kunstgegenstände erhalten hatte. Chadwicks Name war dabei nie gefallen.

»Lord Chadwick spricht stets in den höchsten Tönen von William, Gott hab ihn selig. Wie dem auch sei, der gute Chadwick ist nach London gekommen, um sich eine Ehefrau zu suchen.« Verschwörerisch senkte sie die Stimme und beugte sich ein wenig näher zu Georgina. »Er ist eine großartige Partie und wäre der perfekte Ehemann für die schöne Helen.«

Nicht, wenn ich es verhindern kann, fuhr es Georgina durch den Kopf. Ihre Tante konnte nichts von dem unseligen Zwischenfall wissen, der vor gut elf Jahren dazu geführt hatte, dass Georgina im zarten Alter von sechszehn den um vierzig Jahre älteren William Ellis geheiratet hatte. Augenscheinlich war es gelungen, die Ereignisse dieses verhängnisvollen Sommers vor dem ton geheim zu halten. Unter anderen Umständen wäre sie glücklich darüber gewesen, dass nicht einmal Victoria ahnte, wie knapp Georgina damals einem Skandal entkommen war. Mit Chadwick unter einem Dach sah sie sich allerdings genötigt, ihrer Tante reinen Wein einzuschenken. Und das so schnell wie möglich.

»Tante, auf ein Wort?« Georginas Lächeln zitterte, doch ihrer Stimme hörte man den inneren Aufruhr nicht an.

»Selbstverständlich, meine Liebe.« Victoria wandte sich an eine Frau im dunkelblauen Kleid, die im Hintergrund wartete. »Mrs Thornton, bitte begleiten Sie die jungen Damen auf ihr Zimmer. Da sie scheinbar keine Zofe mitgebracht haben, schicken Sie Betsy zur Unterstützung. Lady Livingstone wird in Bälde folgen.«

Die Frau nickte und bat Helen und Phoebe die Treppe hinauf. Victoria indes ging den Flur entlang, und gemeinsam betraten sie ein Zimmer zur Linken. »Im blauen Salon haben wir unsere Ruhe, liebste Nichte. Dort kannst du mir erzählen, was du auf dem Herzen hast.«

Georgina atmete mehrmals tief durch. In ihrem Kopf wirbelten Erinnerungen und längst vergessen geglaubte Gefühle von Wut und Hilflosigkeit wild durcheinander. Sie musste sich beruhigen, um eine möglichst kurze, aber präzise Zusammenfassung der Ereignisse jener verhängnisvollen Tage auf Livingstone Hall vor elf Jahren zu geben.

»Bitte, meine Liebe, nimm Platz.« Victoria deutete auf zwei breite, gut gepolsterte Stühle am prasselnden Kaminfeuer. Ein kleiner Korb mit Stickutensilien stand daneben, genau wie ein zierlicher Tisch, auf dem mehrere gebundene Bücher lagen. »Wie du dich erinnerst, ist dieses Zimmer mein privater Rückzugsort. Es ist nicht zu groß, dadurch sehr gemütlich und leicht warmzuhalten, und das Licht ist vorzüglich für Handarbeiten geeignet.«

Georgina nickte pflichtschuldig und schenkte der Ausstattung keine weitere Beachtung. Ihr fiel lediglich auf, dass man ordentlich eingeheizt hatte und ihr augenblicklich viel zu heiß wurde. Also legte sie ihren Reiseumhang ab. »Besten Dank, Tante.« Wie geheißen setzte sie sich und wartete, bis die Tante ebenfalls saß.

»Gewiss würdest du dich gern frisch machen, kommen wir also gleich zur Sache: Was ist so dringend, dass es keinen Aufschub duldet? Geht es um Chadwick?«

»Ja.« Georgina atmete ein letztes Mal tief durch. »Ich muss etwas ausholen: Bist du mit den genauen Umständen meiner Vermählung vertraut?«

»Um ehrlich zu sein: Nein. Ich war höchst erstaunt, als deine Mutter mich über die Eheschließung in Kenntnis setzte, hatten wir uns doch eine glänzendere Zukunft für dich vorgestellt.« Tadel und Unverständnis angesichts der zurückliegenden Ereignisse waren der Tante ins Gesicht geschrieben. »Was ist damals passiert?«

»Chadwick«, antwortete Georgina mit so viel Ruhe, wie sie aufbringen konnte. »Er befand sich mit seiner Mutter für den Sommer zu Besuch auf Livingstone Hall, genau wie meine Familie. Er war … ich stand kurz vor meinem sechszehnten Geburtstag und war überwältigt, dass er mich wie eine Erwachsene behandelte und mir seine Aufmerksamkeit schenkte.« Hitze schlich sich Georginas Wangen empor, doch sie sprach tapfer weiter. »Er machte mir Avancen, und ich war zu unerfahren, um zu erkennen, dass es für ihn nur ein sommerlicher Zeitvertreib war. Es kam, wie es kommen musste. Unsere Mütter, William und mein Vater erwischten uns bei einem Kuss im Wintergarten.« Die Hitze erfüllte nun Georginas gesamtes Gesicht, und die Nähe zum Kamin linderte diesen Zustand in keiner Weise. Deshalb erhob sie sich und wanderte im Raum auf und ab, während sie weiter ausführte: »Du kannst dir ausmalen, was danach geschah. Alle waren außer sich, es hagelte Vorwürfe und Schuldzuweisungen. Die Dowager Countess verstieg sich zu der Behauptung, ich hätte ihren Sohn verführt, obwohl es andersherum war. Doch man schenkte mir keinen Glauben. Lady Chadwick beharrte darauf, dass eine Verbindung zwischen mir, der mittellosen Tochter eines Baronets, und ihrem Sohn eine Mesalliance sei und die Sache anders gelöst werden müsse. Meine Eltern hingegen bestanden auf einer Entschädigung. Besonders Vater pochte darauf.« Sie schloss die Augen und sprach leise weiter. »Zu diesem Zeitpunkt war seine Trunksucht bereits fortgeschritten und er war daher oft indisponiert. Er tobte wie von Sinnen, und letztendlich machte William einen Vorschlag zur Güte. Er bot an, mich zu heiraten, um damit einem Skandal vorzubeugen. Du kannst dir vorstellen, wie hart dies meine Mutter traf, war es doch, dank deiner großzügigen Unterstützung, angedacht gewesen, mich bei Hofe einzuführen. Sie gab klein bei, da es sich bei William um einen Baron handelte. Ein gesellschaftlicher Aufstieg, der meinen Eltern trotz allem zugutekam.« Seufzend schlug Georgina die Augen wieder auf. »Du verstehst jetzt sicher meine Reaktion auf Lord Chadwicks Anwesenheit. Meine Erfahrungen mit ihm sind nicht die besten. Ich kann nichts daran ändern, dass wir unter einem Dach leben werden, doch sei gewiss, ich werde verhindern, dass er meinen Schwestern Ähnliches antut.«

Victoria fächelte sich mit der Hand Luft zu und ließ sie dann auf ihre Brust sinken. »Was für eine höchst unerfreuliche Wendung. Warum hat deine Mutter mich nie darüber in Kenntnis gesetzt? Und auch du hast kein Wort darüber verloren.«

»Was hätte es geändert, Tante? Was geschehen ist, ist geschehen. Ich habe dir lediglich davon berichtet, damit du meine ablehnende Haltung dem Earl gegenüber nachvollziehen kannst.«

»Aber natürlich. Ich fürchte nur …« Kopfschüttelnd brach Victoria ab und seufzte übertrieben. »Ich fürchte, Jonathan hat dem Earl bereits mitgeteilt, dass wir einer Verbindung zwischen ihm und Helen oder Phoebe positiv gegenüberstünden. Immerhin ist er ein Earl und die Mädchen lediglich Töchter eines Baronets, wie ich leider betonen muss. Eine solche Verbindung würde auch dir und der verbleibenden Schwester glänzende Chancen eröffnen.«

So etwas hatte Georgina befürchtet. Mit gestrafften Schultern blieb sie stehen. »Das ist mir durchaus bewusst. Dennoch werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um eine solche Liaison zu verhindern. Ich hoffe, du verstehst das.«

Tadelnd schüttelte Victoria den Kopf. »Chadwick ist ein Gentleman und wird sich angemessen verhalten. In seinem Leben gibt es keinen Skandal. Er war bei der Armee, hat sowohl in Ägypten als auch in Spanien gekämpft und sich vor Jahren der Wissenschaft verschrieben. Sollte er sich entschließen, um eine deiner Schwestern zu werben, werde ich ihm keine Steine in den Weg legen. Was nützt es, ihm seine Jugendsünden vorzuwerfen? Wir waren alle einmal jung.«

Georgina versteifte sich. »Entschuldige, wenn ich diese Einstellung nicht teile, verehrte Tante.«

»Seit eurem … tête-à-tête sind elf Jahre vergangen. Zweifellos ist er gereift und sieht dieses unselige Ereignis heute mit anderen Augen.« Auch Victoria erhob sich. »Du bist nicht mehr das unschuldige Mädchen von damals, Georgina. Ich bitte dich darum, dem Earl den nötigen Respekt zu erweisen, höflich zu bleiben und diese unsägliche Episode zu vergessen. Ich möchte nicht, dass er Grund hat, über seinen Aufenthalt bei uns zu klagen, und mit einem verspäteten Skandal ist gewiss keinem geholfen.« Ihr Tonfall machte deutlich, dass es viel mehr ein Befehl als eine Bitte war.

»Selbstverständlich, Tante.« Georgina deutete einen Knicks an und griff nach ihrem Umhang. »Erlaubst du, dass ich mich zurückziehe und für den Tee umkleide?«

»Ich bitte darum. Und verzichte, wenn möglich, auf die Witwenkleidung.«

»Ich bin in Trauer, Tante.« Georgina reckte das Kinn nach vorne. »Das Schwarz werde ich frühestens im Sommer ablegen, wie es von mir erwartet wird.«

»Papperlapapp. Dein lieber William, Gott hab ihn selig, liegt seit vierzehn Monaten unter der Erde. Es wird Zeit, zu Lila, Grau und Weiß überzugehen. Morgen haben wir einen Termin bei meiner Schneiderin, um Hofroben sowie eine städtische Garderobe für deine Schwestern anfertigen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit werden wir auch für dich ein paar angemessene Kleider in Auftrag geben.« Ihr Blick glitt an Georginas einfacher Reisekleidung auf und ab und blieb an dem gewöhnlichen, aber robusten Umhang hängen, den sie über dem Arm trug. »Das ist bitter nötig.« Zur Untermauerung ihrer Worte nickte Victoria entschieden.

Für Georgina war das ein untrügliches Zeichen, dass sie in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht haben würde. Sie mochte ihre Tante und wusste, dass diese sich ihren Platz im ton hart erarbeitet hatte, nicht zuletzt durch ihren treffsicheren Geschmack in Sachen Mode und Stil. Diesen Sieg wollte sie ihrer Tante gönnen, weshalb sie ein Lächeln andeutete. Beim Thema Chadwick würde sie jedoch hartnäckig bleiben.

»Du hast dasselbe Zimmer wie damals. Ich erinnere mich, wie sehr dich die runden Fenster begeistert haben. Deine Schwestern wohnen direkt nebenan. Ihr werdet euch eine Zofe teilen müssen. Betsy steht zu eurer Verfügung.«

»Ich bin dir zu Dank verpflichtet, Tante.«

»Sei unbesorgt, alles wird sich fügen. Helen ist eine Schönheit, sie wird sich vor Verehrern kaum retten können. Und selbst Phoebe wird das Interesse einiger junger Gentlemen wecken.« Mit diesen Worten tätschelte Victoria Georginas Arm, setzte sich wieder und ergriff ihren Stickrahmen. Georgina war entlassen.

Gemäßigten Schrittes machte sie sich auf den Weg nach oben in ihr Zimmer. Das Herz klopfte ein wenig zu heftig in ihrer Brust, was dem unerwarteten Umstand geschuldet war, das Haus mit dem Earl of Chadwick teilen zu müssen. Zumindest wusste Georgina, was auf sie zukam. In den siebenundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie so viele Klippen umschifft, was waren da schon ein paar Wochen mit diesem Mann unter einem Dach?