Leseprobe Ein Earl zu Mitternacht

1. Kapitel

Sie hatte keinen Grund, den Constable zu fürchten.

An diesen Gedanken klammerte sich Laura, als sie dem stämmigen Beamten über den Friedhof folgte. Es war ein bewölkter Nachmittag, und ein düsterer Schatten hing über den Reihen der Grabsteine und Holzkreuze. Ein paar Gräber waren sorgfältig gepflegt, aber viele vernachlässigt. Raues Männerlachen hallte aus einer der Spelunken in diesem Elendsviertel. Sonst war nichts zu hören – nur das schmatzende Geräusch des matschigen Bodens unter ihren Schritten und denen des Constables.

Die meisten Frauen wären in dieser Situation etwas nervös gewesen, doch Laura hatte wirklich Grund, vorsichtig zu sein. Sie rief sich in Erinnerung, dass der Constable keine Ahnung von ihrer wahren Identität haben konnte. Ein Jahrzehnt war vergangen, seit sie und ihr Vater aus London geflohen waren. Damals war sie jemand anderes gewesen, hatte ein anderes Leben unter einem anderen Nachnamen geführt. Eine Dame in Samt und Seide, nicht die spießige Bürgerliche, die sie jetzt war.

Niemand in dieser riesigen Stadt kannte sie mehr. Miss Laura Falkner, der Schmetterling der Gesellschaft, war so tot wie die bedauernswerten Seelen auf diesem Armenfriedhof.

Der Constable warf einen Blick über die Schulter, seine dunklen Augen spießten sie förmlich auf. „Wir sind fast da, Miss Brown.“

Laura verzog keine Miene. Hatte sich eine verirrte Locke aus ihrer Haube gelöst? Sie hoffte es nicht, denn die Polizei hatte sicher eine Beschreibung von ihr, in der auch ihr charakteristisches goldbraunes Haar erwähnt wurde. „Sie haben mehr als Ihre Pflicht getan, Sir. Wenn Sie mir den richtigen Weg zeigen, können Sie wieder gehen.“

„Es macht mir keine Mühe, Sie dort hinzubringen. Überhaupt keine Mühe.“

Seine Hartnäckigkeit machte sie noch nervöser. Er ging weiter und ließ den Blick über die Grabsteine schweifen. Wie hieß er noch gleich? Officer Pangborn. Sie hatte keine Begleitung gewollt, aber er hatte darauf bestanden, dass sich eine anständige Frau nicht allein in diese von Verbrechen heimgesuchte Gegend wagte.

Laura hatte nur eingewilligt, weil eine Ablehnung verdächtig gewesen wäre. Sie war ohnehin schon ein Risiko eingegangen, als sie sich an die Polizei gewandt hatte. Aber sie musste mehr über den Tod ihres Vaters erfahren, der erst kurze Zeit zurücklag, und seine letzte Ruhestätte finden.

Papa!

Der Wind klatschte ihr ein paar eisige Regentropfen ins Gesicht. Fröstelnd zog sie ihren Mantel fester um sich. Nach vielen Jahren im sonnigen Portugal hatte sie die feuchte Kühle des englischen Frühlings vergessen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sie die Erinnerung an ihr altes Leben verdrängt hatte, als sie und Papa ins Exil geflohen waren.

Jetzt war er tot. Ermordet von einem unbekannten Täter in einer Gasse in der Nähe von Covent Garden. Der Schock betäubte sie noch immer. Die Nachricht hatte sie erreicht, als sie gerade vor ihrem kleinen Häuschen in den portugiesischen Bergen im Garten gearbeitet hatte. An diesem Tag war sie glücklich gewesen, sie hatte die Kamelien gestutzt und das Unkraut gejätet, das zwischen den Callas wucherte, und nicht geahnt, was für eine Tragödie sie gleich heimsuchen würde. Dann hatte ein Junge aus dem Dorf ein Telegramm von der Londoner Polizei gebracht, in dem stand, dass ein gewisser Martin Brown schwer verletzt worden war und dass man in seiner Tasche ihre Adresse gefunden hatte. Sie war Hals über Kopf aufgebrochen und war viele Tage zu Wasser und zu Land unterwegs gewesen, nur um zu erfahren, dass ihr Vater seinen Verletzungen erlegen war, kurz nachdem das Telegramm abgeschickt worden war.

Laura schluckte den schmerzhaften Kloß in ihrer Kehle hinunter. Bei ihrem letzten Abschied hatte Papa ihr gesagt, dass er für vierzehn Tage auf Geschäftsreise gehen würde. Sie hatte gedacht, dass er nach Lissabon fahren würde, um mit Antiquitäten zu handeln, denn das war ihre einzige Einnahmequelle. Stattdessen musste er mit einem Schiff nach England gefahren sein. Aber warum?

Warum sollte er in das Land zurückkehren, in dem man ihn, falls er festgenommen wurde, verurteilen und hängen würde?

„Hier ist es, Miss.“

Constable Pangborn blieb bei der niedrigen Steinmauer stehen, die den Friedhof umgab. Der Beamte mittleren Alters hatte einen Schnauzbart und die bullige Statur eines Preisboxers. Er war auf Patrouille gewesen, als er Papa schwer verletzt in der Gasse gefunden hatte. Er wies mit seinem hölzernen Schlagstock auf ein Grab, und sein Blick ruhte forschend auf Laura.

Ihre Haut kribbelte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er mehr über sie wusste, als er zugab. Hatte Papa auf dem Sterbebett seine wahre Identität preisgegeben? Glaubte dieser Beamte, sie sei die Komplizin ihres Vaters bei dem Juwelendiebstahl gewesen, der die Gesellschaft vor zehn Jahren erschüttert hatte?

Sie ermahnte sich, keine wilden Spekulationen anzustellen. Wahrscheinlich hatte sie Pangborns fleischliche Gelüste geweckt. Sie hatte im Laufe der Jahre gelernt, solchen Wüstlingen eine Abfuhr zu erteilen.

Laura warf ihm einen kühlen Blick zu. „Sie waren mir eine große Hilfe“, sagte sie höflich und wollte ihm damit zu verstehen geben, dass er gehen konnte. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Seine mächtigen Stiefel rührten sich nicht vom Fleck. „Ich habe meine Befehle, Miss. Ich soll Sie beschützen.“

„Der Sergeant hat Ihnen nur befohlen, mich zum Friedhof zu begleiten. Sie haben schon mehr als genug getan.“

„Hier treiben sich Trunkenbolde und Diebe herum, die keine Skrupel haben, ein zierliches Geschöpf wie Sie zu überfallen. Ich bringe Sie nach Hause und damit basta.“

Ihr vorläufiges Zuhause war eine billige Unterkunft in einer Gegend, die fast so heruntergekommen war wie diese. Doch Laura hätte lieber riskiert, allein zu gehen, als diesem Mann ihre gegenwärtige Adresse zu verraten. Falls der Constable einen Verdacht hegte, wer sie wirklich war, würde er vielleicht ihre Reisetasche untersuchen und den Artikel über den Raub vor zehn Jahren finden, den sie aus einer englischen Zeitung ausgeschnitten hatte. Dann hätte er den Beweis, dass sie die berüchtigte Miss Laura Falkner war.

Sie senkte scheinbar gefügig den Kopf. „Das ist sehr gütig von Ihnen, Sir. Wenn Sie gestatten, würde ich jetzt gerne ein paar Minuten allein sein. Warten Sie bitte am Eingangstor auf mich.“

Constable Pangborn warf ihr einen finsteren Blick zu, als wäge er ab, ob er ihr vertrauen konnte. Dann nickte er knapp und stiefelte davon, schaute sich aber noch mehrmals nach ihr um. Die Brise wehte fernes Gelächter und den Fischgeruch der nahen Themse herüber.

Sie blickte ihm nach, bis er das Tor erreicht hatte. Dann sah sie sich das Grab an. Auf dem frisch aufgeschütteten Hügel wucherte bereits Unkraut. Eine kleine quadratische Steinplatte lag darauf, und ein Name war in die Oberfläche gemeißelt:

MARTIN BROWN.

Laura sank in ihrem grauen Rock auf die Knie, ohne auf die feuchte Erde zu achten. Tränen trübten ihren Blick, als sie mit einer behandschuhten Fingerspitze über die groben Buchstaben strich. „Papa“, flüsterte sie mit brüchiger Stimme. „Papa.“

Wieder wurde ihr schmerzlich bewusst, dass er wirklich tot war. Sie kauerte am Grab und weinte wie ein Wolkenbruch. Er war der beste Vater der Welt gewesen, immer guter Laune und nie um einen Rat verlegen. Ihr Glück war ihm wichtiger gewesen als sein eigenes. Er hatte sie als seinesgleichen behandelt und sie großgezogen, als wäre sie der Sohn, den er sich immer gewünscht hatte. Er hatte es nicht verdient, so zu enden – und in einem Armengrab verscharrt zu werden. Er hätte ein prächtiges Grabmal aus Marmor mit Engeln und einer liebevollen Inschrift haben sollen. Und es hätte seinen wahren Namen tragen sollen: MARTIN FALKNER.

Mit zitternden Fingern riss sie das Unkraut heraus und warf es beiseite. Jemand hier in London hatte seinen Ruf ruiniert. Jemand hatte falsche Fährten gelegt, um ihm den Diebstahl des Blue-Moon-Diamanten in die Schuhe zu schieben. War ihr Vater nach England zurückgekehrt, um den Schurken aufzuspüren? Und wenn ja, warum hatte er das getan, ohne es ihr zu sagen?

Es musste an dem Streit gelegen haben, den sie wegen des Zeitungsartikels gehabt hatten.

Papa hatte die Zeitung mit nach Hause gebracht, und sie hatte den kleinen Artikel gesehen. Der Ärger über die Flucht vor zehn Jahren, den sie begraben hatte, war wieder wach geworden. Sie hatte sich in bitteren Worten Luft gemacht, weil sie zu Unrecht im Exil waren. Sie wollte ihre gesellschaftliche Position zurückerobern. Es waren scharfe Worte gefallen. Doch dann hatte er ein melancholisches Gesicht gemacht, und sie hatte ihren Fehler sofort bereut und ihm versichert, dass alles gut sei. Nur einen Tag später war er zu seiner verhängnisvollen Reise aufgebrochen …

Eine stämmige Gestalt kam mit energischen Schritten auf sie zu. Constable Pangborn!

Der Gedanke, das Grab zu verlassen, brach Laura das Herz. Doch sie wagte nicht, länger zu bleiben. Sie beugte sich vor und flüsterte: „Mein liebster Papa … auf Wiedersehen.“

Sie sprang auf und eilte zu der Steinmauer. Die reichte ihr kaum bis zur Brust und sollte leicht zu überwinden sein. Laura hob ihren Rock an, fand einen Vorsprung in der Mauer und machte Anstalten, sie zu erklimmen. Schwere Arbeit und Bergtouren hatten sie gestählt – noch ein Grund, dankbar zu sein, dass sie nicht mehr die zerbrechliche Debütantin war.

„Sie da!“, brüllte Pangborn. „Stehen bleiben!“

Himmel, es war richtig gewesen, dem Officer zu misstrauen.

Ihr Saum blieb an einer Hecke hängen und hielt sie kurz auf. Laura riss sich los und kletterte über die Mauer. Sie landete auf einem Haufen feuchten Laubs und kam ins Rutschen. Sie griff wild um sich und fand das Gleichgewicht wieder.

Sie riskierte einen Blick zurück. Der Constable hatte den Pfad verlassen und lief schnurstracks über die Gräber. Der grimmige Ausdruck auf seinem bärtigen Gesicht ließ Laura erschauern. Kein Zweifel, er wollte sie festnehmen.

Er näherte sich der Mauer, und Laura stürzte sich in das Labyrinth aus engen Gassen.

2. Kapitel

Sie rannte, bis ihr die Lunge wehtat. Die Gassen verliefen kreuz und quer zwischen baufälligen, rußgeschwärzten Backsteinhäusern. Die Leute beobachteten sie mit dumpfer Neugier: ein Gemüsehändler, der seinen Karren schob, eine alte Frau, die auf einer Holzkiste saß, zerlumpte Kinder, die zwischen den Müllhaufen Fangen spielten. Hier und da lagen Betrunkene in den Hauseingängen, einige schliefen, andere starrten mit wässrigen Augen auf die vorbeieilende Frau.

Schnelle Schritte hallten hinter ihr wider.

Mehrmals ertönte der Ruf: „Haltet sie!“

Keiner der Leute kam der Aufforderung nach. Entweder waren sie zu müde, oder ihnen war nicht danach, der Polizei zu helfen.

Laura dankte Gott für die kleine Gnade. Sie umklammerte ihren Rock, um nicht zu stolpern. Ihr Hut baumelte an seinen Bändern auf ihrem Rücken. Sie hatte keine Zeit, ihn wieder aufzusetzen, nicht jetzt, da Constable Pangborn ihr auf den Fersen war.

Er galoppierte wie ein Stier, der einen Matador angreift. Doch Laura war gewandt, und die Entschlossenheit gab ihr Kraft. Sie wollte nicht als Komplizin bei einem Verbrechen angeklagt werden, das ihr Vater nicht begangen hatte. Selbst wenn man sie letztlich freisprechen würde, würde sie monatelang im Gefängnis schmachten und auf den Prozess warten. Sie hatte kein Geld für einen Anwalt, keine Freunde oder Verwandte, an die sie sich wenden könnte.

Sie musste einfach entkommen!

Laura sauste um eine Ecke und sah sich nach einem Versteck um. Sie hechtete in eine dunkle Gasse. Hier türmte sich der Müll, und es stank erbärmlich. Sie kauerte sich hinter ein altes Fass, und der Polizist lief daran vorbei. Ihr Herz schlug wie wild.

Sie zwang sich, einen Moment abzuwarten, dann blickte sie vorsichtig auf den schmutzigen Weg hinaus. Über ihr flatterte Wäsche an der Leine. Niemand schaute in dieser ruhigen Seitenstraße aus einem Fenster.

Pangborn war verschwunden – aber er würde nicht lange wegbleiben.

Sie trat aus der Gasse und sah aus dem Augenwinkel, wie sich etwas bewegte. Sie wirbelte herum und ballte die Fäuste. Aber es war nur eine Katze, die durch die Schatten schlich. Das Tier sprang auf ein Fensterbrett und verschwand durch eine zerbrochene Scheibe. Mit schnellen Schritten kehrte Laura um und nahm einen anderen Weg durch das Labyrinth der Straßen. Die ganze Zeit über hielt sie Ausschau nach dem Constable. Pangborn kannte dieses Elendsviertel wahrscheinlich wie seine Westentasche. Umso dringender war es, ihn abzuhängen.

Eine schlampig aussehende Frau rief aus einem Dachfenster: „Brauchst du ein Bett, Goldlöckchen? So ein hübsches Ding wie du kann sich die Kunden aussuchen.“

Laura ignorierte die dreiste Aufforderung der Frau, aber sie setzte ihren Hut wieder auf, schob jede blonde Strähne außer Sichtweite und schnürte die Bänder fest zusammen. Zur Sicherheit zog sie sich die weite Kapuze ihres Umhangs über den Kopf. Es war keine gute Verkleidung, aber es musste reichen.

An einer Kreuzung hielt sie inne, um sich zu orientieren. Sie konnte mehrere Richtungen einschlagen, aber alle führten in düstere Seitenstraßen, die gleich aussahen. Himmel, auf welchem Weg sollte sie sich in Sicherheit bringen? Sie hatte sich hoffnungslos in diesem Labyrinth verirrt. Nein, nicht verirrt … Es war später Nachmittag, und das matte Licht in den Wolken zeigte an, wo Westen war.

Sie lief in die Richtung und hoffte, in eine bessere Gegend zu gelangen. Hätte Pangborn die Verfolgung aufgenommen, wenn es ihm nur um Verführung gegangen wäre? Sie bezweifelte es – und konnte nur zu einem Schluss kommen. Irgendwie ahnte er, wer sie wirklich war. Er glaubte, sie wüsste, was aus dem gestohlenen Diamanten geworden war. In den Augen der Polizei war sie ebenso schuldig wie ihr Vater.

Laura erreichte eine Hauptstraße, auf der es von Droschken und Kutschen nur so wimmelte. Endlich konnte sie sich unter den vielen Fußgängern, die sich auf dem Bürgersteig drängten, sicher fühlen. Sie passte gut zu den einfachen Leuten, die ihr eigenes Ziel verfolgten, zu den Frauen mit ihren Marktkörben, zu den Mägden, die Pakete transportierten, zu den Arbeitern, die sich bei einem Straßenverkäufer mit Fleischpasteten versammelten.

Bei dem köstlichen Geruch fing ihr Magen an zu knurren. Sie hatte seit dem Frühstück heute Morgen, das aus einem Käsebrot bestanden hatte, nichts mehr gegessen und stundenlang auf der Polizeiwache ausgeharrt.

Unter dem Umhang klirrten ihre wenigen kostbaren Münzen in einer verborgenen Tasche ihres Kleides. Nach der teuren Reise musste sie ihre Ersparnisse hüten. Der Himmel wusste, wie lange das Geld reichen würde.

Aber alles der Reihe nach. Nach dem wilden Galopp durch die verwinkelten Straßen wusste sie überhaupt nicht mehr, wo sie war. Die Gegend kam ihr jedoch bekannt vor.

In ihrer Jugend hatte sie jedes Jahr ein paar Monate in London verbracht. Ihr Leben bestand damals aus Einkaufstouren in der Regent Street, Kutschfahrten durch den Hyde Park und gesellschaftlichen Anlässen in den besten Häusern von Mayfair. Gelegentlich gab es auch Ausflüge, die über diese gediegenen Grenzen hinausführten: Sie war im Astley’s Circus gewesen, in der St. Paul’s Cathedral und im Tower. Eine Szene war ihr so lebhaft in Erinnerung geblieben, dass sie die Gegenwart ausblendete.

Sie saß in einem offenen Phaeton, ihre behandschuhten Finger griffen nach den Zügeln eines Gespanns zweier brauner Pferde … Alex hatte den Arm um sie gelegt, als er ihr beibrachte, wie man mit den verspielten Pferden umging … Sie fand es herrlich, seinen kräftigen Körper neben sich zu spüren … und noch schöner war es, wenn er sich hinunterbeugte und seine Lippen die ihren streiften …

Jemand in der Menge rempelte Laura an. Sie wurde unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt und fuhr keuchend herum. Beinahe erwartete sie, den Constable vor sich zu sehen.

Es war aber nur eine Fischfrau. „Gehen Sie weiter, Miss – hier ist kein Platz zum Trödeln.“

Laura merkte, dass sie stehen geblieben war. Als sie ihren Weg fortsetzte, dachte sie an die lange zurückliegende Kutschfahrt. Der Duft des männlichen Parfums war ihr im Gedächtnis geblieben, ebenso wie sein Kuss. Sie wunderte sich, weil sie sich so genau erinnern konnte. Vor zehn Jahren hatte sie diese unschuldige Romanze einfach als schlechte Erfahrung abgehakt.

Alexander Ross, der Earl of Copley, hatte sie auf die denkbar schlimmste Art und Weise verraten. Er hatte versucht, ihren Vater verhaften zu lassen – ohne die Unschuldsvermutung gelten zu lassen. Er hatte nicht einmal erwogen, dass vielleicht jemand anders den Schmuck in Papas Schreibtisch versteckt hatte. Lauras verzweifelte Bitten für ihren Vater hatten nichts bewirkt.

Bitterkeit stieg in ihr auf. Sie wollte nicht an Alex denken. Er bedeutete ihr nichts mehr. Überhaupt nichts.

Laura marschierte zügig an den heruntergekommenen Läden vorbei, in denen alles Mögliche verkauft wurde, von Tabak bis zu Medikamenten, von Lebensmitteln bis zu alter Kleidung. Wenigstens wusste sie jetzt, wo sie war: Sie ging auf The Strand, einer breiten Straße, die durch das Herz von London führte, nach Westen.

Nicht weit von hier, in Covent Garden, war Papa überfallen worden. War er ein Zufallsopfer gewesen? Oder hatte er den Räuber gekannt?

Die Frage quälte Laura wie ein schmerzender Zahn. War er nach England gereist, um den Schurken zu finden, der ihm unrecht getan hatte – und hatte die Konfrontation mit dem Leben bezahlt?

Ziellos lief sie weiter. Wenn sie nicht einmal der Polizei vertrauen konnte, wem dann? Ihre früheren Freunde und Bekannten wollten nichts mehr von ihr wissen. Sie hatte auch keine Verwandten mehr – für sie hatte es nur Papa gegeben. Jetzt war sie auf sich gestellt, ein Schiff im Nebel und ohne Kompass.

Sie war mit der Absicht nach London gekommen, ihren Vater wieder gesund zu pflegen. Die Nachricht von seinem Tod hatte sie aus der Bahn geworfen. Am klügsten wäre es gewesen, in ihr kleines Häuschen in den Bergen Portugals zurückzukehren. Dort konnte sie sich mit dem Verkauf ihrer Aquarelle über Wasser halten. Doch etwas in ihr sträubte sich gegen den Gedanken, mit dem nächsten Schiff abzureisen.

Wenn Papa tatsächlich ermordet worden war, durfte sie nicht zulassen, dass sein Tod ungesühnt blieb.

Schon lange hatte sie den Wunsch, seinen Namen reinzuwaschen, indem sie den Schurken aufspürte, der ihn als Juwelendieb angeschwärzt hatte. Sie hätte es bereits getan, wenn ihr Vater sie nicht angefleht hätte, sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, weil es zu gefährlich war. Das Thema war im Laufe der Jahre mehrmals zur Sprache gekommen, zuletzt, als sie den kleinen Artikel in der London Gazette zum zehnten Jahrestag des spektakulären Verbrechens entdeckt hatte.

Jetzt, da er nicht mehr lebte, konnte er sie nicht mehr aufhalten.

Ein Gefühl der Entschlossenheit stieg in Laura auf. Sie fasste wieder Mut.

Es gab mehrere Leute in der Gesellschaft, die Grund gehabt haben konnten, ihren Vater – und auch sie – zu ruinieren. Das Problem war nur, wie konnte sie sie befragen? Sie konnte nicht einfach in einem vornehmen Haus in Mayfair vorbeischauen. Bei den oberen Zehntausend war sie eine Persona non grata.

Plötzlich bemerkte Laura, dass die Geschäfte eleganter aussahen. Die Schilder waren vergoldet, in den Schaufenstern wurden erstklassige Waren angeboten. Hohe Gebäude mit Säulenfassaden säumten die breite, kurvenreiche Straße mit ihren prächtigen Kutschen und Wagen. Lakaien, die Pakete trugen, folgten Damen in vornehmen Kleidern und mit Federhüten.

Sie blieb unter einer Marmorsäule stehen und begriff, dass sie in der Regent Street gelandet war. Vielleicht war es gar kein Zufall gewesen. Vielleicht hatte der Reiz des Verbotenen sie hierhergelockt.

Die Vorsicht sagte ihr, dass sie umkehren sollte. Es war dumm, zu riskieren, dass ein alter Bekannter sie erkannte. Es durfte sich nicht herumsprechen, dass sie in London war – nicht, bevor sie sich eine Strategie überlegt hatte, wie sie das Rätsel um den Tod ihres Vaters lösen konnte.

Aber sie hätte sich gern die Schaufenster angesehen. Dieser Zeitvertreib war früher ein Teil ihres Lebens gewesen. Sie wollte die glücklichen Zeiten noch einmal durchleben, in denen sie mit Alex hier entlanggeschlendert waren. Und war es nicht auch klug, die neueste Mode zu studieren? Sie musste sich schließlich unter die feine Gesellschaft mischen.

Die Versuchung war zu groß, um ihr zu widerstehen.

Sie zog sich die Kapuze weiter ins Gesicht und senkte den Kopf, wie es sich für eine arme Frau gehörte. In ihrem schlichten dunklen Umhang würde man sie für eine Dienerin halten, die im Auftrag ihrer Herrin unterwegs war. Laura ging den Bürgersteig hinunter und vermied sorgfältig, den Damen und Herren, die hier flanierten, ins Gesicht zu sehen.

Aber sie musterte verstohlen die Kleidung der Leute. Ihre eigenen Sachen, die auch noch oft geflickt waren, wirkten dagegen hoffnungslos altmodisch. Die Röcke und Ärmel waren jetzt viel weiter als bei ihrem Debüt vor zehn Jahren. Sie hatte in den Bergen gelebt und keinen Grund gehabt, sich über die Veränderungen der Mode auf dem Laufenden zu halten, geschweige denn, jede Saison neue Kleider zu kaufen.

Aber oh, wie gern wäre sie einfach in diese Läden gegangen und hätte eine komplette neue Garderobe in Auftrag gegeben, ohne einen Gedanken an die Kosten! Einmal wieder kühle Seide auf der Haut spüren, die Haare hochstecken und einen Hut mit Bändern in einem kecken Winkel aufsetzen. Sie blieb vor einem Schaufenster mit Fächern stehen und bewunderte die geschnitzten Elfenbeingriffe und die Muster. Wie schön wäre es, einen solchen Fächer aufzuspannen und einem bewundernden Herrn kokett zuzublinzeln …

Die Klingel über der Ladentür läutete, als drei Damen mit einem Schwall teuren Parfüms herauskamen. Sie waren zu jung, um sie zu erkennen, also suchte Laura nicht eiligst das Weite. Die drei fingen an zu schnattern wie eine Schar Gänse.

„Habt ihr die schreckliche Farbe ihrer Spitzen gesehen?“, sagte die Rundliche mit braunen Korkenzieherlocken und rosigen Wangen.

„Ja“, erwiderte ein Mädchen mit Hasenzähnen, das ein rosa Musselinkleid trug. „Ich wette, ihre Wäscherin hat die Spitzen in Galle getränkt, sonst wären sie nicht so gelb geworden.“

Das dritte Mädchen verzog sein Pferdegesicht unter dem Hut mit zu vielen Federn. „Ihr Vater hat sein Vermögen mit Kohle verdient. Da kann man ja nur einen schrecklichen Geschmack erwarten.“

Laura hatte Mitleid mit dem Mädchen, über das sie herzogen. Sie erinnerte sich nur zu gut an die Boshaftigkeit von Debütantinnen, die um die besten Ehen konkurrierten. Diesen Teil des gesellschaftlichen Lebens vermisste sie nicht!

Die drei fingen an zu kichern, als die mit den Korkenzieherlocken ein Quieken von sich gab. „Oh, Himmel! Ihr erratet nie, wer gerade vom Schuhmacher gekommen ist!“

Die Blonde mit den großen Zähnen seufzte schmachtend. „Lord Copley! Ich falle gleich in Ohnmacht! Er geht ja nur selten zu Feiern – Mama sagt, es liege an dieser hässlichen Narbe auf seiner Wange.“

„Nun, ich finde, dass gerade die ihm das gewisse Etwas gibt – er sieht doch umwerfend aus“, sagte die Pferdegesichtige. Dann zischte sie: „Er kommt hier entlang! Stellt euch nebeneinander auf, Mädels! So ein begehrter Junggeselle darf nicht einfach an uns vorbeigehen!“

Laura stand wie gelähmt da. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Lord Copley … Alex.

Nein. Nein, nein, nein!

Sie wagte nicht, den Rückzug anzutreten. Doch vorwärts ging es auch nicht. Die weiten Röcke der drei Mädchen nahmen den ganzen Gehweg ein und versperrten sogar den Eingang zum Fächerladen.

Laura tat das einzig Mögliche – sie kauerte sich in ihrem Umhang zusammen. Wie nah war er schon gekommen? Schaffte sie es, über die Straße zu hechten?

Sie schaute in die Richtung, aus der Lord Copley kam, und erkannte, dass es aussichtslos war. Eine große Kutsche hielt am Bordstein. Wieso war ihr die nicht früher aufgefallen?

Der cremefarbene Wagen sah aus, als stamme er aus einem Märchen. Er hatte vergoldete Räder, und zwei gleich aussehende Pferde waren davor gespannt. Auf dem Bock saß kein Kutscher – das bedeutete, dass der Besitzer in einem der Läden sein musste. Ein Knecht hielt die Pferde am Zügel. Er wandte Laura den Rücken zu und sprach mit einer hübschen Dienerin.

Laura brauchte ein Versteck, und zwar sofort. In einer Kurzschlusshandlung eilte sie auf die Kutsche zu, riss die Tür auf und sprang hinein.