Kapitel 1
London, April 1891
Ein Glas mit warmem Champagner in der Hand stand Sebastian, der Earl of Huntington – Hunt für seine Familie und Freunde –, im Billingsley Ballsaal und stöhnte innerlich. Denn soeben hatte er bemerkt, dass Lady Diana Pemberton, die Tochter des Marquess of Rockingham, zielstrebig quer durch den Saal auf ihn zusteuerte.
Wie immer war sie nach der neuesten Mode gekleidet und trug ein rosarotes, mit künstlichen Röschen in Dunkelrot und Grün besetztes Abendkleid, das zwar verführerisch tief ausgeschnitten, aber züchtig genug war, um nicht das Missfallen selbst ernannter Tugendwächterinnen zu erregen. Ihre blonden Locken waren aus dem herzförmigen Gesicht frisiert und fielen ihr in lockeren Kaskaden über den Rücken. Die braven Dutts und Chignons überließ Diana den anderen jungen Damen.
So anziehend ihr niedliches Gesicht und die üppige Haarpracht auch sein mochten, so lag ihr besonderer Reiz jedoch in den weit auseinanderstehenden himmelblauen Augen mit ihrem Saum von für eine Blondine ungewöhnlich dunklen Wimpern. Ein Blick in diese Augen genügte, um Dianas Gedanken zu lesen. An dieser Frau gab es keine Spur von Falschheit oder Koketterie.
Zwar war eine schlanke Figur modern, doch Lady Dianas voller Busen und ihr gebärfreudiges Becken ließen die anderen jungen Damen im Vergleich dazu spindeldürr erscheinen. Der sanfte Schwung ihrer Hüften, als sie durch den Saal ging, ließ nichts von der wahren Natur der Frau hinter der spröden äußeren Fassade ahnen.
Lady Diana war nämlich alles andere als spröde.
Hunt beobachtete sie verstohlen. Wie immer, wenn er sie sah, begann sein Herz stärker zu klopfen, und sein Glied regte sich. Ja, spröde war sie wirklich nicht, und ständig geriet sie in Schwierigkeiten, doch aus irgendeinem Grund waren sein Körper und sein Verstand nicht einer Meinung. Was ihn ebenso an ihr faszinierte, waren ihre gute Laune und ihr mutwilliger Sinn für Humor, der manchmal unpassend wirkte und sie von anderen jungen Damen unterschied.
Ohne auf die jungen Männer zu achten, die sich um ihre Aufmerksamkeit bemühten, bahnte sie sich unbeirrt ihren Weg durch die Menge. Ihre Zielstrebigkeit ließ nichts Gutes für Hunt ahnen. Er kannte Diana seit Jahren und hatte mehr als einmal die undankbare Aufgabe gehabt, ihr aus der Klemme zu helfen. Auf sie achtzugeben war schwerer, als einen Sack Flöhe zu hüten.
Vergeblich versuchte er sich einzureden, dass es nur die Erinnerung an knapp abgewendete Katastrophen war, die dafür sorgte, dass sich seine Muskeln anspannten und sein Herz schneller schlug. So war es immer, wenn er die Katastrophenlady erblickte. Einen anderen Grund ließ er trotz der Regungen in seinem Unterleib nicht gelten.
„Mir scheint, wir bekommen Gesellschaft.“ Lord Denning nippte an seinem Champagner und nickte Diana zu, die fast bei ihnen angekommen war.
Beide Männer strafften die Schultern, als sie schließlich vor ihnen stand.
„Lord Huntington, Lord Denning, ich wünsche Ihnen einen guten Abend“, sagte sie und neigte sich in einem leichten Knicks, worauf zwei männliche Augenpaare in ihren Ausschnitt starrten. Der Anblick der beiden voluminösen cremeweißen Halbkugeln, die sich über den Rand ihres Dekolletés wölbten, ließ bei Hunt noch mehr Blut vom Gehirn nach unten fließen.
„Mach den Mund zu, Mann“, knurrte er Denning an.
Diana erhob sich grinsend, und Hunt errötete, weil sie ihn beim Gaffen erwischt hatte. Wieder einmal war es diesem kleinen Biest gelungen, ihn in die Defensive zu drängen, was zu ihren boshaften Talenten gehörte.
Er verbeugte sich. „Guten Abend, Lady Diana. Wie war der Aufenthalt bei Ihrer Familie in Italien?“
Nachdem sich Diana einen weiteren skandalträchtigen Fauxpas geleistet hatte, war sie von ihrem Vater schleunigst zu einer entfernten Cousine nach Italien verfrachtet worden, wo sie mehr als ein Jahr blieb.
„Es war eigentlich ganz schön, und es gefiel mir dort. Aber ich bin doch froh, wieder zu Hause zu sein.“
Da sie offensichtlich nicht näher auf ihre Erlebnisse eingehen wollte, wechselte er das Thema. Das war ihm sowieso lieber. Je weniger er über ihre Abenteuer erfuhr, desto besser. „Freuen Sie sich, dass Sie wieder an gesellschaftlichen Ereignissen teilnehmen können?“
Ihr strahlendes Lächeln raubte ihm förmlich den Atem. „Es ist wie immer. Anderer Ballsaal, neues Kleid, neue Gastgeberin. Warum sollte es mir nicht gefallen?“
Ihr Blick versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Immer wieder brachte ihn diese verflixte Frau aus der Fassung, und heute war es nicht anders. Was zum Teufel sollte man auf so eine rätselhaft Bemerkung erwidern? Statt einer schlagfertigen Entgegnung, die sein benebeltes Hirn – vermutlich wegen der Blutleere – nicht zustande brachte, murmelte er nur gequält: „Soso“, was mit hochgezogenen Brauen von ihrer und einem Hüsteln von Dennings Seite quittiert wurde.
„Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Lady Diana“, sagte Denning. „Ich fürchte, ich muss Sie jetzt Ihrer faszinierenden Konversation überlassen, denn gleich beginnt der nächste Tanz, und meine Tanzpartnerin erwartet mich.“ Er machte eine knappe Verbeugung, bevor er zu den ersten Klängen des Walzers davoneilte und Hunt seinem Schicksal überließ.
„Feigling“, rief Hunt ihm grollend nach.
Zahlreiche Paare drängten sich bereits auf der Tanzfläche, als Diana ihm die Hand auf den Arm legte. „Tanzt du mit mir, Hunt?“
Er blickte auf sie hinunter, verärgert darüber, welche Gefühle sie in ihm auslöste. Diese blauen Augen blickten so trügerisch unschuldig. Dabei war er überzeugt davon, dass sie im körperlichen Sinne so unschuldig war, wie es einer unverheirateten Dame geziemte. Doch abgesehen davon stellte sie ein Problem dar, das man so schnell nicht wieder loswurde.
Er wäre am liebsten so weit fortgerannt wie nur möglich, doch erst, nachdem er ihren verführerischen Körper dicht an sich gepresst hätte, um ihr zu zeigen, dass es hier nach seinem und nicht ihrem Kopf ging. Dabei hätte er sie nicht als einen Menschen bezeichnet, der andere zu beeinflussen versuchte; dazu war sie im Grunde zu nett. Dennoch brachte sie ihn immer wieder dazu, Dinge zu tun, die er eigentlich nicht tun wollte.
Er mochte noch so tüchtig in der Verwaltung seiner Güter und ein mitreißender Redner im Parlament sein; wenn es um das ewige Hin und Her zwischen ihm und Diana ging, behielt sie nicht selten die Oberhand. Und jetzt wollte sie etwas von ihm, da war er sich sicher. So nagte sie immer an ihrer Unterlippe, bevor sie ihm ein weiteres Problem aufhalste.
Es störte ihn, dass er sie so gut kannte, denn das bedeutete, sie kannte ihn ebenso gut.
Der Tanz würde ihr Gelegenheit geben, ihn in einen ihrer Umtriebe hineinzuziehen, darin bestand kein Zweifel. Warum er sich immer wieder bemüßigt fühlte, sie zu retten, war ihm selbst ein Rätsel. Schließlich waren sie keine Kinder mehr, doch noch immer kam sie zu ihm gelaufen, weil sie wusste, dass er sie niemals im Stich lassen würde.
Er hatte ein friedliches Jahr verbracht, während sich Diana bei ihren Verwandten in Italien aufhielt und ein wenig zur Ruhe kam. Ihre Verbannung aus den vornehmen Londoner Kreisen hatte ihm viele ungestörte Nächte und ein geregeltes Leben beschert. In den Wochen seit ihrer Rückkehr war es ihm gelungen, ihr aus dem Weg zu gehen. Das mochte unhöflich gewesen sein – er hätte wenigstens einmal bei ihr vorsprechen sollen –, aber sein Selbsterhaltungstrieb war nun einmal stark ausgeprägt.
Sei es nun, dass er nicht wieder in eine Katastrophe verwickelt werden oder einfach eine Zeitlang nicht über seine Gefühle für Diana hatte nachdenken wollen, letzten Endes musste er zugeben, dass er das Mädchen vermisst hatte.
Doch als er jetzt ihr verschmitztes Lächeln und ihr neckisches Gehabe bemerkte, wusste er, dass sie ihn wieder einmal um Hilfe bitten würde. Und das erinnerte ihn daran, warum er sich seit ihrer Rückkehr nicht bei Diana gemeldet hatte.
Außerdem war er mit sich selbst beschäftigt gewesen. In dieser Saison war Hunt zu dem Schluss gekommen, dass es an der Zeit wäre, sich eine Frau zu nehmen und eine Familie zu gründen. Also hatte er in den vergangenen Wochen jede Menge Bälle, Gartenpartys, Soireen und Einladungen zum Dinner über sich ergehen lassen.
Er hatte sich vorgenommen, die Schar der diesjährigen Debütantinnen ernsthaft in Augenschein zu nehmen und zu prüfen, ob eine davon ihm zusagte. Leider hatte er es nie weiter gebracht als zu einem Tanz, einem Tischgespräch oder einer Vorstellung durch eine ehrgeizige Mutter.
Von dem ganzen Wimperngeklimper war ihm fast schlecht geworden, und wenn er noch ein einziges Mal eine junge Dame damit prahlen hörte, wie hervorragend sie Klavier spielen, malen, sticken oder das farblich passende Haarband zu einem Kleid wählen konnte, würde er seine Heiratspläne aufgeben und seinen Bruder Driscoll als seinen Erben einsetzen.
Er riss sich aus den trüben Gedanken und antwortete Diana: „Aber sicher, Mylady. Ich würde gerne tanzen.“
Grinsend nahm sie seinen Arm und ließ sich von ihm auf die Tanzfläche führen. „Du bist kein guter Lügner, Hunt. Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, würdest du lieber auf den Nägeln kauen, als mit mir zu tanzen.“ Das nun gerade nicht, aber auf jeden Fall würde er lieber mit dem Kopf gegen die Wand rennen.
Als er sie in die Arme nahm, spürte er wieder diesen Schauder, wie so oft, wenn er Diana nahe war. Es war wie ein elektrischer Schlag. Ihr weicher Körper, der geheimnisvolle, moschusartige Duft, der ganz und gar zu ihr gehörte, und das fröhliche Funkeln in ihren blauen Augen, als wüsste sie genau, welche Wirkung sie auf ihn ausübte – all das trug zu seinem Unbehagen bei. Er wollte weder wissen, woran das lag, noch darüber nachdenken. Stattdessen schob er den Gedanken in den hintersten Winkel seines Gehirns. Das Letzte, was ihm im Leben noch gefehlt hatte, war es, sich zu Diana hingezogen zu fühlen. Oder, Gott bewahre, eine lebenslange Verbindung mit ihr einzugehen.
„Ich habe gehofft, du würdest dich nach meiner Rückkehr aus Italien bei mir melden.“ Sie betrachtete ihn mit heiterem Blick, während sie eine komplizierte Drehung vollführten. Mürrisches Schmollen sah Lady Diana nicht ähnlich. Sie war immer geradeheraus. Anstatt die Stirn zu runzeln, lachte sie ihn an, höchstwahrscheinlich weil sie den Grund für seine Zurückhaltung kannte.
Trotz der lauten Musik und des Stimmengewirrs im Saal konnte er ihre wohltönende Stimme gut verstehen. Sie umgab ihn wie warmer Honig. Unwillkürlich musste er daran denken, ob ihr Mund wohl auch so schmeckte. Doch sofort schüttelte er den Gedanken ab. Wenn es um Diana ging, war es immer das Beste, auf der Hut zu sein und sich nicht von ihren Reizen ablenken zu lassen.
Bevor er sich eine Antwort zurechtlegen konnte, wechselte sie schon das Thema und fragte: „Besuchst du mich morgen Nachmittag in meinem Stadthaus? Sagen wir gegen zwei?“
Er wusste genau, was jetzt kam. „Was hast du jetzt wieder angestellt, mein liebes Mädchen?“
Sie war doch tatsächlich so dreist, entrüstet das Kinn zu recken und von oben herab zu antworten: „Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“
Wenn er nicht so besorgt darüber gewesen wäre, was ihre jüngste Eskapade für ihn bedeutete, hätte er über ihre rechtschaffene Empörung gelacht. So vergesslich konnte sie doch wohl nicht sein.
Er hob hochmütig eine Braue. „Angesichts Ihrer Geschichte, Mylady, ist meine Frage leider angemessen.“
Sie seufzte, während er sie an sich zog und mit ihr einen Schwenk vollführte, um einen Zusammenstoß mit Lord und Lady Hanson zu vermeiden. Danach fiel es ihm schwer, sie wieder ein wenig loszulassen. Sie schaute ihn nur an, doch ihre sanft geröteten Wangen verrieten ihm, dass auch sie ihre besondere Nähe gespürt hatte. „Kommst du nun oder nicht?“
Da half kein Zaudern mehr, denn wenn es um eine Bitte ging, war Diana wie ein Hund mit einem Knochen. Sie ließ nicht locker. „Selbstverständlich. Es wäre mir eine Ehre, dich zu besuchen und dir zu Diensten zu sein.“
Lügner, dachte er. Lieber würdest du dich mit einer rostigen Klinge rasieren.
Als sie grinste, läuteten bei ihm alle Alarmglocken. Vielleicht lag es an ihrer langen Abwesenheit, aber seit Diana wieder in der Stadt war, hatte sie mehr innere Konflikte in ihm ausgelöst als in all den Jahren, in denen sie sich schon kannten. Und das war ein beängstigender Gedanke.
„Danke“, sagte sie lächelnd und nickte mit dem Kopf.
Den Rest des Tanzes verbrachten sie mit dem üblichen banalen Geplauder. Danach verbeugte er sich. „Einen angenehmen Abend noch, Mylady.“
Sie tippte ihm leicht mit ihrem Fächer auf den Arm. „Dasselbe wünsche ich Ihnen, Mylord. Ich freue mich auf Ihren Besuch.“ Auf dem Weg zu ihrer Gesellschafterin schlängelte Diana sich durch die Menge, als wüsste sie, dass sein Blick jeder Bewegung ihrer entzückenden Hüften folgte.
Verdammt noch mal. Worauf hatte er sich jetzt schon wieder eingelassen?
Kapitel 2
Diana stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie sich durch die Menge der Gäste in Richtung Ausgang schob. Hoffentlich dauerte es nicht so lange, bis die Kutsche da war und sie diesen blöden Ball verlassen konnte. Je länger die Saison andauerte, desto mehr gingen ihr diese gesellschaftlichen Ereignisse auf die Nerven. Ihr taten die Füße weh, im Saal war es viel zu warm, und bei ihr machten sich die ersten Anzeichen einer Migräne bemerkbar.
Daher hatte sie vor Erleichterung aufgeatmet, als sie Hunt auf der anderen Seite des Ballsaals erblickte. Für jemanden, der sich in dieser Saison angeblich auf Brautschau befand, war er nicht leicht aufzuspüren gewesen. Fast schien es ihr, als würde er jede Veranstaltung meiden, bei der sie anwesend war.
„Die Kutsche steht bereit.“ Ihre Gesellschafterin und Anstandsdame, Mrs. Rachel Strickland, winkte ihr von der Eingangstür aus zu. Sie musste sich wirklich einmal die Frau vornehmen und ihr erklären, dass es sich nicht gehörte, zu winken und durch die Eingangshalle zu brüllen wie ein Fischweib, das seine Waren anpreist. Dianas Großmutter, Lady Priscilla Abbott, die großen Wert auf Manieren legte, wäre entsetzt gewesen.
Jedes Mal, wenn sie an ihre Großmutter dachte, musste Diana lächeln. Großmama war zu ihrer Zeit berühmt-berüchtigt gewesen, daher glaubte Diana, sie habe einen gewissen Hang zum Leichtsinn von ihr geerbt. Die gesamte High Society hatte um die schockierende Tatsache gewusst, dass Lady Priscilla Abbott für die Gleichberechtigung der Frau eintrat. Sie hatte sogar regelmäßig Versammlungen abgehalten, auf denen sie ihre Überzeugungen vertrat, die auf den empörenden Schriften von Mary Wollstonecraft und der skandalösen Lady Caroline Lamb beruhten.
Lady Abbott hatte eine ganze Anzahl von Affären gehabt und im Laufe der Zeit etliche Herzen gebrochen. Ihr Tod wurde von den männlichen Mitgliedern der High Society mit großer Trauer zur Kenntnis genommen, von ihren Frauen dagegen mit einer gewissen Erleichterung.
Auf den Arm eines Dieners gestützt, ging Diana die schlüpfrigen Stufen vor dem Billingsley House hinunter und stieg in die Kutsche. Durch den feinen Nieselregen war das Pflaster gefährlich glatt, und in ihren Tanzschuhen hatte sie nicht mehr Halt als auf Strümpfen. Doch in der Kutsche war es warm und trocken, und sie machte es sich Mrs. Strickland gegenüber auf der Sitzbank bequem.
Jeden Tag dankte sie Gott für das beträchtliche Vermögen, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Es ermöglichte ihr, ihren auskömmlichen Lebensstil auch ohne Ehemann zu pflegen. Diana teilte die Ansichten ihrer Großmutter nicht, dass es besser war, sich Liebhaber zu nehmen, als zu heiraten. Sie selbst wollte eines Tages eine Familie haben. Doch bisher war ihr kein Mann verlockend genug erschienen, um ihr ungebundenes Dasein als reiche, ledige Frau aufzugeben.
Diana lehnte sich zurück und schloss die Augen. Zumindest der erste Teil ihres Plans hatte geklappt. Hunt hatte sich, wenn auch widerwillig, bereit erklärt, sie am folgenden Nachmittag zu besuchen. Nicht, dass sie mit einer Weigerung gerechnet hätte. Schließlich hatte er ihr in der Vergangenheit stets geholfen.
So hatte er sie vor einem Jahr, als sie nach Italien aufbrach, um einem weiteren Skandal zu entgehen, bei der Organisation ihres Aufenthalts unterstützt und ihr eine gute Reise gewünscht. Diana versuchte, sich nicht darüber zu ärgern, wie erleichtert er bei ihrer Abreise gewirkt hatte.
Sie durfte sich weiß Gott keinen weiteren Eklat erlauben. Ihr Vater hatte bereits jede Verantwortung für sie von sich geschoben, und falls noch einmal etwas vorfallen sollte, würde er sie wahrscheinlich auf eines seiner abgelegenen Güter an der schottischen Grenze verbannen. Es ging ihr unsäglich gegen den Strich, dass er, obwohl sie schon vierundzwanzig war, noch immer über sie bestimmen konnte. Über ihr Geld zum Glück nicht.
***
Am folgenden Nachmittag stippte Diana ihre Fingerspitzen in die blaue Puderdose mit Pear’s Almond Bloom, dem einzigen Schönheitsmittel, das sie sich gestattete. Sie benutzte den Puder nur selten, doch seit das Problem aufgetreten war, verbrachte sie schlaflose Nächte, was sich in dunklen Augenringen niederschlug. Um den Fragen neugieriger Matronen nach ihrer Gesundheit zuvorzukommen, half sie also ihrem Aussehen ein wenig nach.
Sie hatte nie zum engeren Kreis der jungen Damen gehört, die alles taten, um sich bei den Tugendwächterinnen, wie Diana sie bei sich nannte, lieb Kind zu machen. Es handelte sich dabei um ältere Damen, die den jungen Mädchen vorschrieben, nach welchen Regeln sie zu leben hatten. Auch wenn diese Ladys sie nie offen geschnitten hatten, so war Diana bei ihnen doch eher unbeliebt und wenig willkommen.
Sie warf einen Blick auf die kleine rosa-weiß geblümte Porzellanuhr auf ihrem Ankleidetisch. Es war schon fast zwei. Mit einem Kloß im Magen stieg sie die Treppe hinab, um nach ihrer Zofe Marguerite zu suchen, die bei Hunts Besuch als Anstandsdame fungieren sollte.
Obwohl er ein alter Jugendfreund war, wollte Diana jeden Anschein von Unschicklichkeit vermeiden. Sie hatte Mrs. Strickland den Nachmittag freigegeben, da sie ihr weniger vertraute als Marguerite, die seit Dianas Debüt vor vier Jahren in ihrem Dienst stand.
Außerdem wusste Marguerite über das Verhängnis Bescheid, das ihrer Herrin drohte. „Marguerite, Lord Huntington kann jeden Augenblick hier sein. Sag bitte der Köchin, sie soll dann gleich den Tee servieren. Und danach kommst du zu uns in den Salon, damit es kein Gerede gibt.“
Tee, du meine Güte. Was sie wirklich brauchte, war ein Glas Sherry oder noch besser Brandy. Aber sie musste ihre fünf Sinne beisammen haben, um sich nicht zum Narren zu machen.
„Jawohl, Mylady.“ Das Mädchen knickste und eilte in die Küche.
Diana wanderte durch den Salon, nahm einzelne Gegenstände zur Hand, ohne sie wirklich wahrzunehmen, und stellte sie wieder hin. Dabei versuchte sie, sich zur Ruhe zu zwingen. Wenn Hunt sich weigerte, ihr zu helfen, wusste sie nicht mehr, was sie tun sollte.
Plötzlich zuckte ihr Kopf hoch, ihr Puls begann zu rasen, und in ihrem Bauch flatterte auf einmal ein ganzer Schwarm Schmetterlinge. Hufgetrappel auf dem Weg zu den Stallungen hinter dem Haus kündigte die Ankunft ihres Gastes an.
Ganz ruhig bleiben. Erzähle ihm von deinem Problem und appelliere an sein Pflicht- und Ehrgefühl, das ihm ja immer so wichtig war.
Da klopfte es an die Haustür, und gleich darauf öffnete der Butler die Tür zum Salon und ließ ihren Gast eintreten. „Seine Lordschaft, der Earl of Huntington, Mylady“, verkündete er.
„Danke, Briggs.“
Unwillkürlich schnappte sie nach Luft, als sie den Mann erblickte, der sie vor dem Ruin retten sollte. Er war groß – größer noch, als er am Vorabend im Ballsaal gewirkt hatte – und schien ihren Salon mit seiner Gegenwart auszufüllen. Sein wie immer unbezähmbarer Schopf von dichtem hellbraunem Haar fiel ihm in die Stirn und reichte im Nacken bis auf den Rand seines Kragens. Das kastanienbraune gerade geschnittene Jackett benötigte keine Schulterpolster, denn Hunts breite Schultern füllten es mühelos aus. Die dunkelbraune Hose, die er zu der braun und schwarz karierten Weste trug, betonte seine muskulösen Beine, und das blendend weiße gestärkte Hemd hob sich vorteilhaft von seiner leicht gebräunten Haut ab.
Aus dem schlaksigen Jungen, der sie einst aus Baumkronen gerettet und ihre Schrammen verarztet hatte, war ein Mann geworden, der seinen Platz in der Welt kannte und ihn souverän und mit einem Hauch von Arroganz behauptete.
Er machte eine leichte Verbeugung. „Mylady.“
Sie deutete auf einen Sessel vor dem Kamin. „Möchtest du dich nicht setzen? Der Tee kann jeden Moment kommen.“
Sie ärgerte sich darüber, dass ihre Stimme so atemlos klang, redete sich jedoch ein, das läge nicht an seiner überwältigenden Präsenz, sondern an dem, was sie ihm gleich mitteilen würde. Hatte er vor ihrer Reise nach Italien auch schon eine so männliche Ausstrahlung gehabt? Sie musste sich selbst daran erinnern, dass er immer noch Hunt, ihr Jugendfreund, war.
Und ihr Retter.
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Michael, einer der Diener, kam herein. Er trug ein Tablett mit Dianas Lieblings-Teeservice, das ihre Großmutter und sie jahrelang benutzt hatten. Neben der hübschen blauweißen Teekanne stand ein Teller mit kleinen Sandwiches und ein weiterer mit Törtchen. Auf einen Wink Dianas stellte der Diener das Tablett auf das Tischchen zwischen den beiden Sesseln. Im gleichen Augenblick schlüpfte Marguerite, die Zofe, ins Zimmer und setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür.
Mit zitternden Händen goss Diana den Tee ein und fügte Sahne und Zucker hinzu, wie Hunt ihn üblicherweise trank. Nachdem sie beide saßen und einige Höflichkeiten ausgetauscht hatten, stellte sie ihre Tasse mit Nachdruck ab und straffte die Schultern. „Du hast dich bestimmt gefragt, warum ich dich gebeten habe zu kommen.“
Mit einem ironischen Grinsen auf den Lippen nickte er. „In was für Schwierigkeiten steckst du jetzt wieder, Diana?“
Sie sprang auf, worauf er rasch seine Tasse abstellte und sich ebenfalls erhob. Dabei fiel seine Serviette zu Boden.
„Nein, nein, bleib ruhig sitzen.“
„Du weißt doch, dass ich es einfach nicht fertigbringe zu sitzen, wenn eine Dame steht“, erwiderte er mit belustigtem Lächeln.
„Ach, du lieber Himmel. Gut, dann setze ich mich eben wieder hin.“ Sie nahm erneut auf ihrem Sessel Platz, rutschte aber so nervös hin und her, dass es ihr selbst auf die Nerven ging. Endlich holte sie tief Luft und sagte lächelnd: „Wie ich gehört habe, hast du letzten Monat Miss Manchester gerettet.“
„Miss Manchester? Gerettet? Ich fürchte, ich weiß nicht, was du meinst.“ Er nahm seine Teetasse zur Hand und runzelte in gespielter Unwissenheit die Stirn.
„Vielleicht hast du es ja nicht als Rettung betrachtet, aber ich bin sicher, Miss Manchester hat es so gesehen.“
Er blickte sie so verblüfft an, dass Diana überlegte, ob Marguerite die Geschichte, die ihr Miss Manchesters Zofe erzählt hatte, vielleicht falsch verstanden hatte. Oh Gott, hoffentlich nicht, dachte Diana. Sie brauchte unbedingt Hunts Hilfe. „Vielleicht sollte ich deiner Erinnerung ein wenig auf die Sprünge helfen.“
Er nickte. „Ich bitte darum.“
„Wie ich gehört habe, waren du und Miss Manchester beide als Gäste auf einer Hausparty.“ Als er sie noch immer verständnislos anstarrte, sagte sie seufzend: „Meine Güte, Hunt, du bist doch noch nicht altersschwach. Warst du nun letzten Monat auf der Hausparty bei den Bedfords oder nicht?“
„Ja, schon“, antwortete er zögernd und kniff argwöhnisch die Augen zusammen.
„War Miss Manchester auch da?“ Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben, doch die ganze Sache lag ihr schon seit einer Woche auf der Seele, und je eher er ihr seine Hilfe zusagte, desto größer wäre ihre Erleichterung.
„Ich glaube, sie war auch dort, zusammen mit ihrem Bruder, Mr. David Manchester.“ Sein vorsichtiger Ton sprach Bände. Ein Mann, der Rücksicht auf den Ruf einer Dame nahm. Perfekt. Genau das erwartete sie von ihm.
„Es ehrt dich, dass du den guten Namen einer Dame schützen willst, aber ich kann dir versichern, dass ich die Geschichte schon kenne. Sie vergaß ihren Schal im Schlafzimmer eines jungen Mannes, und auf ihre Bitte hin hast du ihn ihr geholt, bevor ihr Bruder die Peinlichkeit bemerkte.“
Falls Hunt überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken, sondern blickte sie nur erwartungsvoll an. „Von mir kannst du diese Geschichte nicht haben. Darf ich fragen, warum du mich deswegen gerade heute hierher gebeten hast, obwohl ich viel lieber in meinen Club gehen würde? Vermisst du auch einen Schal?“
Erneut sprang sie auf, und Hunt tat es ihr nach. Dabei vergoss er ein wenig Tee auf seine glänzend polierten Schuhe.
Diana seufzte. „So kommen wir nicht weiter. Würdest du mit mir in den Garten gehen? Ich glaube, das, was ich dir zu sagen habe, erklärt sich leichter im Gehen.“ Dann würden sie beide wenigstens nicht mehr auf und ab hüpfen wie zwei Hampelmänner.
Er zögerte kurz und blickte zur Tür, als würde er am liebsten fliehen. Doch dann sagte er resigniert: „Wie du wünschst.“
Er reichte ihr seinen Arm, und gemeinsam traten sie durch die Terrassentür in den Garten hinaus, in gebührendem Abstand gefolgt von Marguerite. Der Duft seines Haarwassers stieg Diana in die Nase und lenkte sie für einen Augenblick ab. Meine Güte, strahlte dieser Mann eine Wärme aus, dachte sie, als sie Arm in Arm die Blumenbeete umrundeten.
Du willst dich nur drücken, Diana. Jetzt komm schon zur Sache, ermahnte sie sich selbst.
Es war so weit. Kein Aufschieben mehr. Es musste sein. Sie blieb stehen, wandte sich ihm zu und reckte das Kinn. „Ich muss dich um einen Gefallen bitten.“
Sein leichtes Lächeln gab ihr Mut. „Aha, jetzt kommen wir also zur Sache. So nervös, wie du bist, nehme ich an, dass du mal wieder in Schwierigkeiten steckst. Was verlangst du jetzt von mir, Diana?“
Sie holte tief Luft und sagte: „Du sollst ein Portrait aus dem Künstleratelier von Mr. J. D. Mallory für mich stehlen.“