Kapitel 1
„Glaubst du, er ist noch am Leben?“, fragte Charles und starrte dabei in die lodernden Flammen im Kamin.
Auf Charles’ Frage hin blickte sein Cousin Julian, Lord Wyndham, jäh von den bauchigen Gläsern auf, in die er gerade Brandy für sie beide eingeschenkt hatte. Er wusste sofort, wer mit diesem ,er‘ gemeint war: Raoul Weston, Charles’ jüngerer Halbbruder. Das Ungeheuer, das seit inzwischen beinahe zweieinhalb Jahren tot war.
Julian reichte Charles einen der Schwenker und erwiderte: „Wir haben beide auf ihn geschossen und ihn nicht verfehlt. Er ist von zwei Kugeln in die Brust getroffen worden, das haben wir beide gesehen, und das Blut auch, das aus den Wunden strömte. Ich glaube nicht, dass er so schwere Verletzungen überleben konnte.“
Charles bedachte ihn mit einem schiefen Lächeln. „Aber wir haben nie eine Leiche gefunden, nicht wahr?“
Julian verzog das Gesicht. „Stimmt, und ich will einräumen, dass er vielleicht eine Weile noch gelebt hat – lang genug, um davon zu kriechen und sich vor uns zu verstecken. Aber ich bin davon überzeugt, dass er tot ist.“ Er setzte sich auf einen mit feinem spanischem Leder bezogenen Stuhl, nicht weit vom Feuer im Kamin entfernt. Ruhig erklärte er: „Seit der Nacht hat Nell keine Albträume mehr von ihm gehabt, und das bestärkt mich mehr als alles andere in meiner Überzeugung, dass er nicht mehr am Leben ist.“
Charles nickte, mehr für sich als für Julian, war aber in Gedanken wieder in jener schrecklichen Frühlingsnacht vor mehr als zwei Jahren. Viel war seitdem geschehen, und wenig davon war angenehm gewesen. In der Nacht hatte er nicht nur herausgefunden, dass sein Bruder ihn abgrundtief hasste und vorgehabt hatte, ihn umzubringen, um Stonegate zu erben, sondern auch, dass Raoul ein hinterhältiger Mörder unschuldiger junger Frauen war. Mein eigener Bruder! Ein Ungeheuer! Er atmete tief ein. Halbbruder, rief er sich schmerzlich in Erinnerung, als er daran dachte, wie Raoul ihm dieses Wort entgegengeschleudert hatte. Aber es war in jener Nacht nicht nur Raouls Blut vergossen worden, erinnerte sich Charles müde. Nein. Raouls Mutter, meine Stiefmutter Sophie ist ebenfalls gestorben. Durch meine Hand, gestand er sich ein und nahm einen langen Schluck Brandy. Ich habe Sophie erschossen und, so wahr mir Gott helfe, unter den gleichen Umständen würde ich es wieder tun. Einen Augenblick lang drangen die hässlichen Erinnerungen auf ihn ein, sodass er trotz des wärmenden Feuers erschauerte.
In der dunklen Novembernacht pfiff und heulte der Wind laut um die massiven Mauern des Gebäudes. Der Wind draußen war brutal, fuhr schneidend durch alle, Mensch oder Tier, die das Pech hatten, zu dieser Stunde unterwegs zu sein. Doch in der eleganten Bibliothek von Wyndham Manor gab es nur behagliche Wärme, – worüber Charles froh war. Erinnerungen an diese Nacht ließen ihn nicht zur Ruhe kommen, und sie peinigten ihn – so wie der Wind draußen jedes Lebewesen, das ihm ausgeliefert war. Er versuchte, die Erinnerungen abzuschütteln, ihnen den Rücken zu kehren, blickte sich im Zimmer um und freute sich an dem warmen, gelblichen Licht Dutzender Kerzen, das den anheimelnden Raum erfüllte und für einen kurzen Moment die Dunkelheit aus seiner Seele vertrieb.
„Bezweifelst du, dass er tot ist?“, erkundigte sich Julian mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Mir wäre es lieber, wir hätten seinen Leichnam gefunden“, entgegnete Charles und gönnte sich einen weiteren Schluck Brandy.
„Ich wiederhole, wir haben beide seine Verwundungen gesehen. Die konnte er nicht überleben.“
„Warum haben wir dann nicht seine Leiche entdeckt, als wir in der Höhle unter dem Kerker nachgesehen haben?“
„Weil er verflixt gerissen war und eine Nische gefunden hat, in der er sich versteckt hat und dann gestorben ist“, versetzte Julian scharf, dem es nicht behagte, an diese entsetzliche Nacht erinnert zu werden – eine Nacht, in der er beinahe seine Frau Nell und ihr ungeborenes Kind verloren hätte. Müde fuhr sich Julian mit einer Hand durch sein dichtes schwarzes Haar. „Ich hätte auch lieber seine Leiche gesehen, das kann ich nicht leugnen, aber das haben wir trotz intensiver Suche mit sicherlich der Hälfte aller Männer der Gegend nicht getan. Es gab zahllose Ritzen und Spalten im Fels, in denen sich sein Körper befunden haben kann. Wir haben ihn nicht entdeckt, aber das heißt nicht, dass er noch lebt.“
Charles nickte. Die Logik sagte ihm, dass es sich so verhielt, aber wie eine Wunde, die nicht gänzlich heilen wollte, schmerzte ihn der nie ganz verstummende Zweifel. Mit Mühe schüttelte er seine düstere Stimmung ab. Mit seinem gewohnt charmanten Lächeln erklärte er: „Wir haben die Affäre im Großen und Ganzen gut hinter uns gebracht, nicht wahr?“
Julian nickte. „Himmel, ja. Nell und das Baby haben alles heil überstanden, beiden geht es gut, und die Geschichte, die du dir ausgedacht hast über einen Verrückten, der sie und Sophie entführt hat, war einfach brillant. Mir hat deine Idee, dass unser ersonnener Mörder Raoul und seine Mutter umgebracht hat, ehe er durch den Felsspalt im Boden entkommen ist, immer schon gefallen. Raoul ist einen Heldentod gestorben, als er uns angeblich bei Nells und Sophies Rettung geholfen hat, und es ist eine wahre Tragödie, dass er und seine Mutter bei dem anschließenden Kampf umgekommen sind. Die ganze Geschichte hat alle Fragen beantwortet und uns erlaubt, andere bei der Suche nach Raouls Leiche und der des … äh, Wahnsinnigen zu Hilfe zu holen.“
Charles nahm einen weiteren Schluck Brandy. „Und mir hat sie gestattet, sowohl Raouls als auch das Vermögen meiner Stiefmutter zu erben.“ Seine Stimme klang bitter und voller Selbstverachtung.
Julian schaute ihn an. „Stört dich das? Durch ihren Tod geerbt zu haben?“
Charles zuckte die Achseln. „Manchmal schon. Oft.“ Um seinen Mund arbeitete es, während er auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas starrte. „Ich habe sie verabscheut … und mehr als einmal von dem Tag geträumt, da ich sie endlich los wäre und Stonegate nicht nur dem Namen nach mir gehören würde, und doch …“
„Ein Fall von ‚Sei vorsichtig, was du dir wünschst‘?“, fragte Julian behutsam.
„Genau! Ich habe bekommen, was ich wollte und mehr, wenn man ihr Vermögen berücksichtigt, und doch stelle ich fest, dass das, wonach ich mich einst gesehnt habe, mir heute, wenn überhaupt, dann wenig Befriedigung verschafft.“
„Noch nicht einmal Stonegate? Es hat dir gehört, auch wenn sie darin geherrscht hat. Sophie hat viel Geld dafür ausgegeben, aber nach dem Tod deines älteren Bruders und dem seines Sohnes war Stonegate immer schon rechtmäßig dein.“
„Stimmt“, erklärte Charles. „Aber durch die Art und Weise ihres Todes ist es Sophie sogar noch aus ihrem Grab heraus gelungen, es mir zu verleiden. Ich kann niemals ganz vergessen, dass es meine Kugel war, die ihr Leben beendet hat.“
„Und dem Himmel sei Dank, dass du sie getötet hast – man kann sich gar nicht ausmalen, was sie getan hätte, wenn du nicht geschossen hättest. Vergiss nie, – sie wusste, was ihr verfluchter Sohn dort unten getrieben hat, und wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie uns drei umgebracht. Vergiss das niemals oder den Umstand, dass sie von den Unschuldigen wusste, die Raoul jahrelang dort gefoltert und ermordet hat. Und dennoch hat sie geschwiegen.“ Julians Stimme wurde härter. „Sie hat ihm geholfen, Nell zu entführen, und zweifle keinen Moment daran, dass sie ihm auch dabei geholfen hätte, sie zu töten … und mein ungeborenes Kind. Einzig deine Kugel hat uns alle gerettet.“
Charles ging zu dem Sideboard aus Mahagoni und schenkte sich Brandy nach. Über seine Schulter blickte er zu Julian und hob fragend eine Braue. Doch der schüttelte den Kopf.
Mit einem gefüllten Glas kehrte Charles zum Kamin zurück und stützte einen Arm achtlos auf das Marmorsims, während er wieder ins Feuer starrte.
Julian betrachtete ihn, diesen Cousin, dem er einmal so nahe gestanden hatte, ehe sich ein schier unüberwindbarer Spalt zwischen ihnen aufgetan hatte. Aber glücklicherweise, dachte Julian dankbar, ist der nun schließlich doch überwunden.
Wie Julian war Charles hochgewachsen und muskulös, besaß das gleiche widerspenstige schwarze Haar und die grünen Augen, die für die Männer der Westons so typisch waren. Beide Männer hatten die gleichen harten Züge, allerdings würde man Charles als den besser Aussehenden von ihnen bezeichnen. Die Ähnlichkeit zwischen den Cousins war noch verblüffender als eine reine Familienähnlichkeit – ihre Väter waren Zwillinge gewesen, und während Julian und Charles rein äußerlich mühelos auch als Zwillinge durchgehen konnten, unterschieden sie sich doch stark im Wesen. Charles war immer schon der Draufgängerischere von beiden gewesen, und in ihm war eine Kälte, eine Unnachgiebigkeit, die Julian fehlte.
Natürlich, räumte Julian im Stillen ein, wenn ich von einer Hexe von Stiefmutter wie Sophie Weston großgezogen worden wäre, wer wüsste schon, wie ich am Ende geworden wäre. Und es war auch nicht hilfreich gewesen, dass Charles’ Vater die Familie durch seinen Hang zum Glücksspiel und Ausschweifungen an den Rand des finanziellen Ruins geführt hatte. Einzig seine Heirat mit Sophie und ihr schier unermesslicher Reichtum hatten Harlan Weston davor bewahrt, seine Familie völlig zu ruinieren. Nach Harlans Tod hatte Sophie Charles keine Minute lang vergessen lassen, dass es ihr Geld war, mit dem Stonegate unterhalten wurde. Es stand außer Zweifel, dass Charles’ Leben unter Sophies Fuchtel alles andere als angenehm gewesen war, überlegte Julian weiter, oder dass die letzten Jahre nicht einfach für ihn gewesen waren.
Selbst mit der sorgfältig geschönten Version der Ereignisse, die sie der Nachbarschaft und der guten Gesellschaft geliefert hatten, hatte es Gerüchte und hochgezogene Brauen gegeben. Charles’ Gefühle für seine Stiefmutter waren kein Geheimnis, obwohl er selten etwas darüber sagte, und ihr Tod war, wie die Gehässigen tuschelten, für ihn so überaus günstig.
Ehe die Stille zwischen den beiden Männern unbehaglich werden konnte, bemerkte Julian forsch: „Genug mit den Grübeleien über Vergangenes. Es ist vorbei und abgeschlossen, und wir beide müssen für vieles dankbar sein. Sag mir, hast du aufgehört, kreuz und quer durchs Land zu reisen? Verbringst du den Winter auf Stonegate?“
„Vielleicht. Nicht, um unangenehmen Erinnerungen nachzuhängen, aber Stonegate ist nun einmal für mich voller Gespenster; ich denke nicht, dass es mir gefallen würde, in diesen Mauern eingesperrt zu sein – mit den Geistern von Sophie und Raoul als Gesellschaft.“
„Was du brauchst“, erklärte Julian mit einem Lächeln, „ist eine Ehefrau. Und Kinder. Sie würden alle Gespenster vertreiben, die dumm genug sind, in Stonegates Hallen ihr Unwesen zu treiben. Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung.“
Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, öffnete sich die Tür zur Bibliothek und ein kleiner Junge mit einem dichten schwarzen Haarschopf und den Weston-Familienzügen schlüpfte ins Zimmer. Der Junge war vielleicht zwei Jahre alt und schon fürs Bett umgezogen, und sein heimlichtuerisches Gebaren verriet, dass er seinem Kindermädchen entwischt sein musste. Als er Julian erspähte, stieß er einen Freudenschrei aus und rannte mit wehendem Nachthemd quer durch den Raum zu ihm.
„Papa! Papa!“, rief er dabei. „Ich habe dich gesucht und gesucht.“
Julian blieb kaum genug Zeit, sein Glas auf einem nahen Tisch abzustellen, ehe schon ein zappelndes Kind seinen Schoß erklomm. „Und du, mein Sohn, hast völlig deine Manieren vergessen. Komm, Adam, willst du unseren Cousin nicht begrüßen?“
Aus Julians Ton war kein echter Tadel zu hören, sondern nur die offensichtliche Liebe für seinen Sohn und sein Stolz auf ihn. Es war auch unübersehbar, dass für jemanden seines Ranges und Standes in Julians Haushalt ein ungewöhnlich formloser Umgangston herrschte. Charles konnte sich kein anderes Mitglied der guten Gesellschaft vorstellen, das auch nur seinem Erben solche Freiheit gewähren würde. Er grinste erfreut bei dem Anblick des eleganten Earls of Wyndham als nachgiebigem Vater.
Bei den Worten seines Vaters lehnte Adam vertrauensvoll seinen Kopf an dessen Brust und blickte Charles an. „Hallo“, sagte er mit einem Lächeln.
„Hallo Lausejunge“, erwiderte Charles ebenso lächelnd. „Du bist gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.“
„Mama sagt, ich werde groß. Wie Papa“, erwiderte Adam mit schlichtem Stolz.
„Falls du lange genug lebst“, bemerkte eine lachende Frauenstimme von der Türschwelle aus. Groß und schlank, das braune Haar im Nacken zu einem Knoten aufgesteckt, mit einem dunkelgrünen Kleid aus Bombasin mit hoch angesetzter Taille angetan, dessen Röcke beim Gehen raschelten, betrat die Countess of Wyndham die Bibliothek. Sie lächelte Charles zu und ging zu ihm, küsste ihn auf die Wange. „Es tut gut, dich zu sehen“, erklärte sie, und in ihren meergrünen Augen stand Zuneigung. „Bleibst du zum Abendessen?“
Charles schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte nur rasch herkommen und euch wissen lassen, dass ich auf Stonegate bin … wenigstens für ein oder zwei Wochen.“
Nells Lächeln verblasste. Sie schaute ihm fragend ins Gesicht. „Stonegate ist dein Zuhause. Lass dich nicht von den Geistern vertreiben.“
„Geister!“, quietschte Adam mit großen Augen. „Kann ich sie sehen?“
„Und was weißt du von Geistern?“, erkundigte sich seine Mutter streng. „Wer hat dir Geschichten darüber erzählt?“
Adam warf Julian einen schuldbewussten Blick zu, dann senkte er den Kopf. „N-n-niemand.“
Julians Gesicht zeigte exakt die gleiche schuldbewusste Miene, und Nell brach in Gelächter aus. Kopfschüttelnd bedachte sie die beiden mit einem Blick, in dem sich Liebe und Hilflosigkeit mischten. „Ich sehe, dass ich jemanden daran erinnern muss, sich auf passende Geschichten für ein so zartes Alter zu beschränken.“
Julian räusperte sich und fragte rasch: „Die Zwillinge? Warten sie auf mich?“ Er schaute zu Charles. „Würdest du gerne meine reizenden Töchter sehen, ehe sie zu Bett gehen?“
Sich sechs Monate alte Zwillinge anzusehen war nichts, was Charles je als eine erstrebenswerte Beschäftigung erschienen wäre, aber die Bitte in Julians Blick war nicht zu übersehen. Also stellte er sein Glas ab und erklärte: „Ich wusste, es gab einen wichtigen Grund, weshalb ich gerade um diese Stunde hergekommen bin. Geh voran.“
Nicht im Geringsten getäuscht schüttelte Nell den Kopf und sagte: „Das wird nicht nötig sein, – sie schlafen bereits, und Nanny wird nur schimpfen, wenn ihr sie aufweckt.“ Sie hielt Adam auffordernd die Hand hin und fügte hinzu: „Komm, Bettzeit. Nanny wird gar nicht froh sein, dass du dich so davongeschlichen hast.“
Sie fasste ihren Sohn an der Hand und schenkte Charles ein Lächeln, sagte: „Du hast uns gefehlt. Kommst du nächsten Mittwoch zum Essen?“ Ihre Augen sprühten übermütige Funken. „Da es dein dringender Wunsch ist, kannst du dir dann auch die Zwillinge ansehen.“
Um Charles’ Lippen zuckte es, aber er verbeugte sich nur und bemerkte halblaut: „Es wird mir ein Vergnügen sein.“
Nachdem Nell und Adam gegangen waren, verkündete Charles in Anbetracht der Zeit, die vergangen war … und dem Heimritt durch die eisige Kälte, der ihm bevorstand: „Ich muss gehen; eigentlich wollte ich gar nicht so lange bleiben.“
„Bist du sicher, dass du nicht doch mit uns essen willst? Es würde Nell sehr freuen.“
Charles schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin für nächsten Mittwoch eingeladen, schon vergessen? Dann sehen wir uns wieder.“
Der Ritt nach Stonegate war genauso kalt und ungemütlich, wie Charles es sich vorgestellt hatte, und als der flackernde Lichtschein der Fackeln, die zu beiden Seiten der massigen Eingangstür des beeindruckenden Herrenhauses brannten, endlich in Sicht kamen, atmete er unwillkürlich erleichtert auf. Es mochte voller Geister sein, aber wenigstens bot es Schutz vor den Elementen.
Als er das Haus betrat, das Heim der ersten Earl of Wyndham, bevor Wyndham Manor ein paar Jahrzehnte später erbaut worden war, wurde er von seinem Butler Garthwaite erwartet. Er schlüpfte aus seinem tropfenden Reitmantel mit den vielen Schulterkragen und lehnte die angebotene Mahlzeit im Speisesalon ab – in eben dem Speisezimmer, in dem Julian Lord Tynedale im Verlauf eines Duells getötet hatte, das seinerzeit viel Aufsehen erregt hatte. Was für eine Nacht war das gewesen! Nachdem er lediglich darum gebeten hatte, dass ihm in seine Gemächer oben ein Tablett mit Käse und Brot gesandt werde, durchquerte er die Eingangshalle und stieg die Treppe hoch. Oben in den Zimmern angekommen, die einmal sein Vater und seine Stiefmutter bewohnt hatten, ließ sich Charles von seinem Kammerdiener Bledsoe aus seinem Rock und den Stiefeln helfen, ehe er ihn für die Nacht entließ.
Eine seiner ersten Taten nach Sophies Tod hatte darin bestanden, alle Spuren ihrer Anwesenheit aus diesen Räumen zu tilgen. Im Rest des Hauses hatte er ihre Einrichtung belassen … nun, außer bei dem albernen Tafelaufsatz aus Silber im Speisezimmer, aber er konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, in dem kalten Weiß und Silber zu schlafen, das sie für die Räume des Hausherrn und seiner Gattin gewählt hatte. Als Herr von Stonegate war es nur richtig gewesen, dass Charles die herrschaftlichen Gemächer bezog, aber er hatte sich geschworen, keine Nacht dort zu verbringen, ehe sie nicht völlig renoviert worden waren. Jetzt, mit der Wandbespannung aus bernsteinfarbener Seide, Vorhängen an Fenster und Bett aus bronze- und goldfarbenem Samt sowie einem in Rostrot, Dunkelgrün und Gold gemusterten Teppich waren die Räume anheimelnd und hatten einen eindeutig männlichen Anstrich.
Charles saß jetzt in seinem Schlafzimmer vor dem Kamin und starrte einmal mehr an diesem Tage in die tanzenden Flammen, als könnte er darin seine Zukunft sehen. Selbst Garthwaites Klopfen an der Tür und sein vorsichtiges Eintreten, beladen mit einem Tablett mit den gewünschten Speisen sowie einiger Scheiben Roastbeef und etwas Obst, erregte kaum sein Interesse. Nachdem er das Tablett auf einem niedrigen Mahagonitischchen neben seinem Herrn abgestellt hatte, führte erst sein diskretes Hüsteln dazu, dass Charles den Kopf wandte und den Butler ansah.
„Benötigen Sie sonst noch etwas, Sir?“
Charles ignorierte das Essen und schaute quer durch den Raum zu einer bauchigen Kommode, auf der eine Bakkarat-Karaffe und Gläser standen. „Ist die Karaffe voll?“
Mit leicht schmerzverzerrter Miene antwortete Garthwaite: „Ja, Sir. Ich habe sie selbst erst vor einer Stunde aufgefüllt.“
„Dann wäre das alles. Gute Nacht.“
Garthwaite zögerte, und Charles blickte ihn leicht amüsiert an. „Sie kennen mich vielleicht, seit ich in Windeln lag, Garthwaite, aber ich schlage vor, dass Sie heute versuchen, mich nicht dazu zu drängen, dass ich wie ein kleiner Junge artig ins Bett gehe. Ich bin schon ewig nicht mehr artig gewesen – und ich werde jetzt nicht damit anfangen.“
„Es steht mir nicht an“, erwiderte Garthwaite ernst, „Ihren Wunsch zu hinterfragen, sich ins Grab zu trinken, aber ich möchte Sie doch daran erinnern, dass Sie damit genau das tun, was Madame von Ihnen erwarten würde.“
Charles entfuhr ein hässliches Lachen. „Verstanden. Gehen Sie ins Bett. Ich werde einiges von dem verdammten Essen zu mir nehmen, und ich verspreche weiterhin, mich nicht bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken – heute.“
Mit dem Erfolg seiner Bemühungen zufrieden, verneigte Garthwaite sich und ging.
Charles nahm sich ein Stück von dem würzig riechenden gelben Käse und eine Scheibe Brot, biss ab und zwang sich zu essen, ja, er ging sogar so weit, sich einen Apfel zu nehmen und zu verzehren, nachdem er mit Brot und Käse fertig war. Da sein eher spartanisches Mahl nunmehr beendet war, war er der Ansicht, den Erwartungen seines Butlers gerecht geworden zu sein. Er stand auf und trat zur Kommode, goss sich ein Glas Brandy ein. Dann setzte er sich wieder auf den Sessel vor dem Kamin und starrte in die Flammen, ließ seine Gedanken schweifen.
Das Haus war still bis auf das Heulen des Windes und das Peitschen des Regens, das Knistern der Flammen. Charles hätte sich entspannen können, die Gemütlichkeit seines Hauses genießen, aber das gelang ihm nicht. Er hatte nicht gelogen, als er Julian gesagt hatte, dass dieser Ort voller Geister für ihn war, und zwar nicht nur der Geister von Raoul und dessen Mutter, die auf den zahlreichen Fluren und Gängen spukten, sondern auch denen anderer.
Während er ins Feuer schaute, konnte Charles beinahe das Gesicht seines älteren Bruders John vor sich sehen, der nun schon seit über zehn Jahren tot war, erhaschte in den Flammen sein lässiges Lächeln, den steten Blick seiner grünen Augen, die seinen so geglichen hatten. John war ihrer aller Gewissen gewesen, die Stütze der Familie. Alle, sogar ihr Vater Harlan, hatten sich um Rat und Anleitung an John gewandt. Charles hob sein Glas zu einem stillen Toast auf seinen Bruder. Du warst der Beste von uns, dachte er traurig. Und Raoul hat dich getötet. Einen Augenblick lang spürte er grenzenlosen Zorn in sich aufsteigen, aber er unterdrückte ihn entschlossen. John war tot, und das war Raoul auch. Und dem Himmel sei Dank, dachte er, dass Vater nicht lang genug gelebt hat, um zu erfahren, dass sein jüngster Sohn seinen ältesten umgebracht hatte. Johns Tod war schwer genug für ihn gewesen, und der einzige Trost seines trauernden Vaters war das Wissen gewesen, dass eines Tages Daniel, Johns Sohn, Stonegate erben würde.
Charles schloss die Augen, als Schmerz und Erbitterung ihn erfassten. Daniels Herrschaft über Stonegate war schrecklich kurz gewesen. Wie lange? Ein Jahr? Zwei? Dann war er durch seine eigene Hand gestorben. Von Raoul mit Lord Tynedale bekannt gemacht, einem stadtbekannten Wüstling und Spieler, hatte sich Daniel als leichte Beute für diesen erwiesen. Innerhalb weniger Monate hatte Daniel das gesamte Vermögen verspielt, das er von seiner Mutter geerbt hatte, und sich dann selbst das Leben genommen. Hatte Raoul gewusst, wie es enden würde, als er Daniel mit Tynedale bekannt gemacht hatte? Oder ist es schlicht das Glück des Teufels gewesen?, überlegte Charles. Er nahm einen weiteren Schluck Brandy. Noch etwas, worauf sie keine Antwort erhalten würden, entschied er müde.
Sie waren alle gegangen, Harlan, John, Daniel, Raoul und Sophie, und er war der einzige Überlebende, der Letzte, um die Linie fortzuführen. Und er saß hier allein in einem Haus voller Gespenster aus der Vergangenheit, voller Fragen und Schuldgefühle, voller Reue. Wie hatte er so viele Jahre an Raouls Seite leben können, ohne jemals das Böse zu bemerken, das unter seinem Charme verdeckt gelauert hatte? Nie auch nur einen Moment hatte er angenommen, dass in dem Körper seines jüngeren Bruders ein hinterhältiger Mörder wohnte. Seines Halbbruders, verbesserte er sich erneut, legte den Kopf in den Nacken und leerte sein Glas. Gleichgültig, wie ihr Verwandtschaftsverhältnis genau war, Raoul war vor mehr als zwei Jahren gestorben. Oder etwa doch nicht?
Er stellte das leere Glas hin, stand auf und schlenderte in den Wohnraum, der sich an sein Schlafzimmer anschloss.
Er zündete eine der Kerzen in den Wandhaltern an, und der schwache Lichtschein durchbrach die Dunkelheit. Er durchquerte das Zimmer, trat an einen großen Schreibtisch und holte ein Blatt Papier hervor. Im blassen Licht der Kerze studierte er die Worte auf dem Blatt. Er seufzte; sie hatten sich nicht geändert. Er nahm den Brief mit ins Schlafzimmer und legte ihn neben sein Tablett, füllte sich sein Glas erneut und nahm wieder auf dem Sessel Platz. So saß er eine Weile, ehe er den Brief nahm und zu lesen begann.
Der Brief war von Viscount Trevillyan. Nicht wirklich einer meiner Freunde, dachte Charles, eher ein Bekannter, aber Trevillyan war Raouls engster Freund gewesen, und Raoul hatte ihn oft in Cornwall besucht, hatte manchmal Wochen dort verbracht. Nach Raouls Tod hatte Charles die Beziehung zu Trevillyan aufrechterhalten, so wie zu mehreren anderen von Raouls Gefährten, da er hoffte, durch die Bekanntschaft mit ihnen mehr über seinen Halbbruder zu erfahren, – zu erfahren, ob andere den Teufel erkannt hatten, der sich hinter Raouls lächelnder Maske verborgen hatte.
Trevillyans Brief war eine höfliche Antwort auf einen, den Charles ihm vor Monaten geschrieben hatte, ehe er zu einem seiner ziellosen Streifzüge durch Britannien aufgebrochen war. Wegen des Krieges gegen Napoleon war ihm der Kontinent verwehrt, sodass Charles sich darauf beschränkt hatte, Wales und Schottland zu bereisen, ja er hatte sogar die Irische See überquert, um Irland zu durchwandern. Es war ihm verhältnismäßig gleichgültig gewesen, wohin er ging, solange er nur unterwegs und nicht in Stonegate war.
Charles überflog die mehrere Wochen alten Nachrichten aus London und von Trevillyans Rückkehr zu seinem Landsitz Lanyon Hall in Cornwall in der Nähe von Penzance. Dort wollte dieser für die Wintermonate bleiben, bevor im Frühling wieder die Saison begann. Aus dem jammernden Ton des Briefes schloss Charles, dass Trevillyan die Ruhe des Winters in Cornwall nicht schätzte – oder die irgendeiner anderen Jahreszeit, wenn er richtig zwischen den Zeilen las. Aber es waren nicht Trevillyans Klagen über das Fehlen von Gesellschaft und Unterhaltung oder sein mangelndes Interesse für die Verwaltung seiner Ländereien, die seine Aufmerksamkeit erregt hatten, als er den Brief zum ersten Mal in den Händen hielt. Sein Blick glitt erneut über die Worte, die das bewirkt hatten, und eine ungute Vorahnung machte sich in ihm breit. Mit wachsendem Unbehagen las er erneut.
Wenigstens gab es dem Himmel sei Dank eine Unterbrechung des langweiligen Einerleis der letzten Wochen. Die ganze Nachbarschaft ist in Aufruhr. Die entsetzlich verstümmelte Leiche einer Frau wurde gefunden, und zwar von einem Bauern aus der Gegend. Niemand spricht über irgendetwas anderes. Gerüchte besagen, dass vor ein paar Monaten der Leichnam einer anderen ermordeten Frau ähnlich entstellt entdeckt wurde. Doch ich habe mit niemandem gesprochen, der das zu bestätigen vermochte, daher halte ich es für Unsinn. Man weiß weder, um wen es sich bei der jungen Toten handelt, noch hat die Obrigkeit vor Ort, eine Reihe selbstgefälliger alter Männer, die wenig mehr tun, als die Hände zu ringen und mit den Köpfen zu schütteln, zu dem Zeitpunkt, da ich diese Worte schreibe, herausgefunden, wer sie umgebracht hat. Und ich bezweifle, dass sie das je werden.
Charles las die letzten Sätze mehrmals durch, fragte sich, was sie bedeuten mochten. Konnte es bloßer Zufall sein? Oder war es möglich … Er hielt inne, erwog, in welche Richtung seine Gedanken sich bewegten. Glaubte er allen Ernstes, dass Raoul am Leben war und seine Gräueltaten in der Wildnis Cornwalls fortsetzte?
War es vorstellbar, dass sein Halbbruder wie durch ein Wunder seine schrecklichen Verletzungen überlebt hatte und irgendwie nach Cornwall gelangt war? Aber wovon sollte er leben? Und wo?
Charles runzelte die Stirn. Geld. Das war die Antwort. Mangels anderer Erben war der Großteil von Sophies Vermögen auf ihn übergegangen, doch er hatte die Ereignisse jener Nacht noch immer nicht wirklich verarbeitet und sich daher nicht dafür interessiert, wer in ihrem Testament sonst bedacht worden war. War es möglich, dass sie geahnt hatte, dass Raoul irgendwann entlarvt werden würde, und für den Fall vorgesorgt, dass er fliehen und sich verstecken müsste, ihm Mittel verschafft, auf die er dann zurückgreifen konnte? Sie war eine kühl berechnende, durchaus kluge Frau gewesen und hatte sicher vorhersehen können, dass nicht nur die Wahrheit über Raouls Treiben ans Licht kommen könnte, sondern auch, dass es eine Zeit geben könnte, da sie ihn nicht mehr zu beschützen vermochte. Sie hätte gewusst, dass, wenn Raoul als bösartiger Mörder entlarvt würde und fliehen musste, er nicht ihr Geld erben konnte und auch keinen Zugriff auf sein eigenes hätte. Daher erschien es sinnvoll, dass sie für diesen Fall Pläne gemacht hatte…
Charles legte den Brief zur Seite und nahm einen weiteren Schluck Brandy. Er konnte morgen schon seinem Anwalt schreiben und um eine vollständige Liste der Verfügungen aus Sophies Testament bitten. Sein Blick glitt wieder zu dem Brief.
Er nahm ihn, starrte ihn mehrere Minuten lang an. Ein kühles Lächeln umspielte seinen Mund. Ich frage mich, dachte er, ob Viscount Trevillyan wohl gerne Besuch bekäme, der ihm in der Eintönigkeit Cornwalls Gesellschaft leistet.
Er schaute sich im Zimmer um. Es gab hier nichts für ihn außer Gespenstern und Erinnerungen. Er könnte genauso gut in Cornwall weilen.
Einen Augenblick übermannten ihn Zweifel. Wollte er wirklich nach Cornwall reisen und sich einem Mann aufdrängen, den er kaum kannte? Und in weiß der Himmel welchen dunklen Nischen herumstöbern in der Hoffnung, einen Mörder aufzuspüren, der das Gesicht seines Halbbruders trug? Seines Halbbruders, der, wie ihm alle Welt beteuerte, schon lange tot war?
Er griff nach seinem Glas und schwenkte den Rest des Brandys darin. Nun, was zur Hölle sollte er sonst tun? Hierbleiben und ständig mit Fragen und Schuldgefühlen konfrontiert werden?
Nein. Er würde nach Cornwall fahren und sich bei dem ahnungslosen Lord Trevillyan einquartieren.
Charles leerte das Glas. Ich bin entschlossen, stellte er fest, mich auf den Holzweg zu begeben. Und sicher hält Julian mich für verrückt. Er grinste. Vielleicht hat er sogar recht – und ich bin wirklich irre.
Kapitel 2
Ich muss verrückt gewesen sein, dachte Daphne Beaumont, als sie in dem schwindenden Tageslicht auf die düstere Burg starrte, die vor ihnen aufragte. Nicht ganz eine Burg, verbesserte Daphne sich im Stillen, auch wenn sie keinerlei Ähnlichkeit mit dem reizenden Landhaus aufwies, das sie eigentlich zu sehen erwartet hatten. Fantasie ist etwas Wunderbares, musste Daphne zugeben. Das Gebäude verriet seine Wurzeln als alte normannische Festung, auch wenn offensichtlich Versuche unternommen worden waren, die nüchtern abweisende Anlage durch Anbauten und Umbaumaßnahmen zu verschönern. Vielleicht gefällt es uns bei Tag besser, versuchte Daphne sich hoffnungsvoll zu trösten.
Während die Minuten verstrichen und sie unsicher warteten, war von außen kein Anzeichen für Leben in dem Gebäude zu entdecken, kein Lichtschimmer hinter den hohen, schmalen Fenstern, keine Rauchsäule, die aus einem der zahllosen Kamine stieg, keine geöffnete Tür, um sie einzulassen, einfach nichts. Nur dieses riesige Gemäuer aus Stein und Holz vor ihnen, das mit jedem Moment grimmiger und weniger willkommen heißend wirkte. So grimmig und wenig einladend sah das Gebäude aus, dass Daphne, eine überaus vernünftige junge Dame, die gewiss nicht unter einer zu lebhaften Fantasie litt, beinahe damit rechnete, gleich eine Hexe oder einen Zauberer von einem der Türme zu ihnen fliegen zu sehen und sie mit einem Fluch zu belegen. Sie erschauerte unwillkürlich. Wohin hatte sie sie nur gebracht?
Flankiert von ihrer sechzehnjährigen Schwester April auf der einen Seite und ihrem siebzehnjährigen Bruder Adrian auf der anderen, konnte sie deren Enttäuschung und wachsendes Unbehagen beinahe spüren.
Und es ist an mir, gestand sie sich betrübt ein, diese Katastrophe in eine Art von … Sieg zu verkehren.
Mit achtundzwanzig war sie die Älteste der Geschwister, über zehn Jahre älter. Seit dem Tod ihrer Mutter vor eineinhalb Jahren und dem fünf Jahre davor erfolgten ihres Vaters, eines mittellosen Captains in einem Linienregiment, war sie das Familienoberhaupt und Vormund ihrer Geschwister. In dieser Rolle hatte sie die Entscheidung getroffen, die rußige Luft Londons zu verlassen und aufs Land zu ziehen. Es würde ein Abenteuer sein, hatte sie ihren Geschwistern gesagt. Sie waren zwar ihrem Vater in viele Länder der Erde gefolgt, aber es hatte sie nie nach Cornwall verschlagen; und es gab nichts, was sie in London hielt.
Die kärgliche Pension, die ihnen wenigstens ein paar Annehmlichkeiten des Lebens ermöglicht hatte, war mit dem Tod ihrer Mutter erloschen, sodass die letzten Monate schwierig gewesen waren. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sich Daphne gefragt hatte, wie sie nur die kleine bescheidene Wohnung halten sollten, die sie in einem weniger eleganten, aber respektablen Stadtteil Londons gemietet hatte. Sie hatten keine Familie, wenigstens keine, von der sie wussten, um sich an sie zu wenden. Sie standen kurz davor, völlig zu verarmen, und da sie die Erziehung für Mitglieder der guten Gesellschaft genossen hatten, besaßen sie auch wenig Kenntnisse und Fertigkeiten, um ihren Weg auf sich allein gestellt zu machen.
Daphne hatte gewusst, dass etwas geschehen musste, aber was? Die Frau, die zweimal pro Woche gekommen war, um zu putzen und zu kochen, mussten sie innerhalb weniger Tage nach dem Tod ihrer Mutter entlassen. Glücklicherweise hatte Adrian sein letztes Jahr in Eton abschließen können, aber seine Pferde mussten verkauft werden, und sein Fechtunterricht war ebenso wie Aprils Mal- und Tanzstunden gestrichen worden. Es gab keine Ausflüge mehr zu Hatchard’s Book Shop, um rasch den neuesten Roman von Minerva Press zu erstehen, und sogar Miss Kettle, die Adrians und Aprils Kindermädchen gewesen war und später Gouvernante-Gesellschafterin, hatte sich eine andere Anstellung suchen müssen. Ketty zu verabschieden war schrecklich gewesen, und an dem Tag, an dem sie gegangen war, waren viele Tränen geflossen. Nichts jedoch schien das Dahinschwinden ihres Geldes aufhalten zu können. Egal, wie günstig sie einkaufte, gleichgültig, wie viele Annehmlichkeiten sie aufgaben, es war jeden Monat weniger Geld als vorher von dem kleinen Treuhandvermögen übrig, das Daphne von ihrer Großmutter mütterlicherseits vermacht worden war. Sie hatte gerade beschlossen, als Näherin arbeiten zu gehen – ein Ansinnen, das ihre Mutter, wäre sie noch am Leben, mit einem hysterischen Anfall quittiert und ihre Geschwister empört hätte, – als der Brief des Notars Mr. Vinton eintraf.
Er war ihr wie ein Geschenk des Himmels erschienen, ein Wunder, als sie die Nachricht erhielten, dass ihr Bruder Erbe eines entfernten Cousins aus Cornwall war, den sie alle nicht kannten. Dieses Erbe bestand nicht nur aus dem Titel eines Baronets, sodass ihr Bruder nunmehr Sir Adrian war, sondern auch – und viel entscheidender – aus einem Landgut und damit einem regelmäßigen Einkommen. Ungläubig hatte Adrian seinen verblüfft lauschenden Schwestern den Brief laut vorgelesen. Auch wenn keine genaue Summe genannt wurde, schrieb Mr. Vinton, dass zusätzlich zu dem Pachtzins der Bauernhöfe, die zu dem Besitz gehörten, es einen fünfhundert Morgen großen Park und mehrere Obstgärten gab, die um das Gutshaus Beaumont Place lagen, sowie mehrere Nebengebäude.
Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie waren übermütig durch die trostlose Wohnung getanzt, hatten zugleich gelacht und geweint. Adrian würde wieder Pferde halten können und einen Kammerdiener bekommen, erklärte er hochnäsig, aber mit übermütig funkelnden blauen Augen. Und April konnte wieder Unterricht im Zeichnen und Tanzen nehmen, vielleicht konnten sie sich sogar eine echte Gouvernante leisten. Und Daphne? Was sollte sie haben? Nun, hatte sie gesagt, sie würde zur Ruhe kommen und sich nicht länger Sorgen machen müssen, wie sie die neuen Stiefel für Adrian bezahlen sollte, nachdem er aus seinen alten herausgewachsen war, und hatte über Adrians schuldbewusste Miene gelacht. Sie und April hatten Adrian gnadenlos mit seinem neuen Titel aufgezogen, ihn so oft Sir Adrian genannt und so übertrieben betont, dass er ihnen als Familienoberhaupt aufgetragen hatte, sofort damit aufzuhören, was sie in Gelächter hatte ausbrechen lassen.
Sie waren froh und glücklich gewesen. Trunken vor Freude. Und dieses Hochgefühl hatte sie begleitet, während sie die Wohnung räumten, in der sie die vergangenen vier Jahre gelebt hatten, den Großteil des Mobiliars verkauften und nur das behielten, von dem sie sich nicht zu trennen vermochten. Ein Brief war an Miss Kettle gesandt worden, in dem sie ihr von ihrem Glück schrieben und sie baten, zu ihnen nach Cornwall zu kommen.
Mr. Vinton hatte dafür gesorgt, dass eine gewisse Geldsumme bei einer Londoner Bank bereitlag, um die Kosten ihrer Umsiedlung nach Cornwall zu decken. Ihnen war es wie ein Vermögen vorgekommen.
Adrian bestand darauf, dass Daphne das Geld verwaltete. „Ich weiß, es ist meins, aber mir wäre es lieber, nicht dafür verantwortlich zu sein, Daff“, hatte er mit ernster Miene erklärt. „Hast du nicht oft genug gesagt, ich würde eines Tages sogar meinen Kopf verlieren, wenn er nicht angewachsen wäre? Du behältst es, du bist die Älteste und Klügste von uns.“ Er grinste. „Obwohl du eine Frau bist.“
Mit dem Geld von Mr. Vinton waren sie in der Lage gewesen, eine Privatkutsche zu ordern, um sich und ihre mageren Habseligkeiten nach Beaumont zu schaffen. Aufgeregt und erwartungsvoll waren sie in London aufgebrochen, voller Vorfreude auf das vor ihnen liegende Abenteuer. Während sie auf das düstere Gemäuer vor sich starrte, fragte Daphne sich insgeheim, ob ihnen nicht mehr Abenteuer bevorstand, als sie geahnt hatten.
Da es immer dunkler wurde, hatte der Kutscher unbedingt rasch wieder zurückfahren wollen und sie, nachdem er alle Koffer und Kisten abgeladen hatte, auf dem Hof stehen lassen, war auf seinen Kutschbock zurückgestiegen und mit der Kutsche in der Dämmerung verschwunden. Und hat uns unserem Schicksal überlassen, dachte Daphne.
„Hat Mr. Vinton nicht geschrieben, dass es Dienstboten gäbe, die dafür sorgen würden, dass das Haus auf unsere Ankunft vorbereitet wird und sie auf uns warten?“, erkundigte sich April zaghaft, während sie einen Schritt näher zu Daphne trat.
Daphne rief sich zur Ordnung. „Ja. Ja, das ist genau das, was er geschrieben hat. Das Haus stand über zwei Jahre leer, aber nach seinen Worten würden die Haushälterin unseres Cousins, eine Mrs. Hutton, und der Butler Mr. Goodson alles in Ordnung bringen und sich bereit erklären, zu bleiben, bis wir uns eingewöhnt haben. Er hat auch noch andere Diener erwähnt und angedeutet, dass sie alle gerne bleiben würden, wenn es uns recht wäre und man sich wegen des Lohns einig wird.“
Wie um ihr Elend noch zu steigern, begann ein feiner Nieselregen, woraufhin sie ihre Sachen zusammenrafften und die breiten Stufen zur Eingangstür unter das nachträglich angebrachte Vordach hinaufeilten.
„Wenn das hier ein Beispiel für den Diensteifer der Leute meines Cousins ist“, bemerkte Adrian unverblümt, „dann bezweifle ich, dass wir sie behalten wollen.“
„Vielleicht nicht“, stimmte ihm Daphne zu, „aber im Augenblick würde es mich freuen, wenigstens einen von ihnen zu Gesicht zu bekommen.“
Unter dem Vordach konnte Daphne kaum den Türklopfer sehen, aber sie machte einen Schritt nach hinten, ergriff das schwere Eisenteil und betätigte ihn heftig. Ein lautes Dröhnen erklang, sodass sie alle hastig einen Schritt zurückwichen.
„Das sollte jemanden herbringen“, bemerkte Daphne mit erzwungener Fröhlichkeit und hoffte, dass sie recht hatte.
Zu ihrer Überraschung hatte tatsächlich jemand den Türklopfer gehört, denn ein paar Momente später waren Schritte zu hören, dann öffnete sich einer der schweren Türflügel einen Spalt breit. Eine Kerze in der Hand einer rundlichen kleinen Frau in einem grauen Wollkleid spendete Licht.
„Ohje“, rief sie. „Sie sind ja wirklich hier. Ich habe Goodson gesagt, dass ich meinte, ein Gefährt gehört zu haben, aber er wollte davon nichts wissen.“ Ein freundliches Lächeln erschien auf ihren vollen Zügen. „Ach, wo bleiben meine Manieren! Und dabei wollten wir so gerne einen guten ersten Eindruck machen. Bitte, kommen Sie doch herein. Ich bin Mrs. Hutton, die Haushälterin.“
Daphne und ihre Geschwister traten ein. Sobald sie ihre Namen genannt hatten, griff Mrs. Hutton nach einer samtenen Klingelschnur neben einer der Türhälften und zog daran. Sie lächelte und sagte: „Goodson wird sofort hier sein und Ihr Gepäck in Ihre Räume bringen.“
Goodson benötigte tatsächlich nicht lange, um zu erscheinen, aber die Zeit reichte, dass Daphne sich in der eindrucksvollen Eingangshalle umsehen konnte, in der sie standen. Eine gewölbte Decke spannte sich über ihnen, der Bodenbelag war aus braungemasertem Marmor und am anderen Ende schwang sich eine elegante, breite Treppe mit Stufen aus demselben Material zum nächsten Stockwerk empor. Die Wände waren mit Eichenholz getäfelt, und darüber befand sich eine Wandbespannung aus rostrot- und goldgemusterter Seide.
Aus dem Dämmerlicht am Ende der Halle, nahe der Treppe, tauchte ein großer grauhaariger Mann in einer schwarzen Livree auf. Geschäftig kam er zu ihnen und stellte sich als Goodson vor, ihr Butler, und entschuldigte sich geraume Zeit wortreich dafür, dass er ihre Ankunft nicht bemerkt hatte.
Seine Entschuldigungen wurden angenommen, und sobald den Förmlichkeiten Genüge getan worden war, nahm er Adrian und den jungen Damen ihre Mäntel ab. „Die Köchin hat eine Mahlzeit für Sie zubereitet“, sagte er. „Wir wussten nicht genau, um wie viel Uhr wir Sie erwarten sollten, daher dachte Mrs. Hutton, für heute Nacht wäre es Ihnen angenehmer, im Frühstückssalon statt im Speisesaal zu essen. Wenn Sie möchten, können wir natürlich auch dort für Sie decken.“
„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Daphne, die mit jedem Moment zuversichtlicher in die Zukunft schaute. „Der Frühstückssalon wird völlig ausreichen.“
Als Goodson mit dem Gepäck nach oben verschwunden war, bat Mrs. Hutton sie, ihr zu folgen. „Die Köchin hat nur eine einfache Mahlzeit gekocht – gedämpfte Austern, etwas Kalbsrücken, ein wenig Fisch, Salzkartoffeln und gedünsteter Blumenkohl sowie Sahneerbsen. Oh, und etwas Süßes zur Abrundung, zudem Käse und Obst. Wenn Sie jedoch etwas anderes vorziehen, kann …“
Für die Beaumonts, die alle an ihre kärglichen Mahlzeiten in den letzten Monaten denken mussten, klang das wie ein wahres Festmahl, eines Königs würdig, und sie beruhigten die Haushälterin rasch, dass die Köchin alles richtig gemacht hatte.
Der Frühstückssalon wies dieselbe elegante Ausstattung auf wie die Halle; es gab luxuriöse Vorhänge und Teppiche in satten Edelsteinfarben. Doch das wohlige Wärme verbreitende Feuer, das im gemauerten Kamin flackerte, und die zugedeckten Speisen auf dem Sideboard aus Eichenholz waren für die Geschwister wesentlich interessanter.
Es war ein herrliches Mahl, und die Erleichterung machte sie fast trunken. Sie waren an ihrem Ziel angekommen, und nach dem holperigen Beginn schien nun alles in Ordnung. Sie waren sicher vor dem aufziehenden Unwetter, Mrs. Hutton und Mr. Goodson machten einen fähigen Eindruck und wirkten nett, und zudem waren sie nun satt – die Köchin beherrschte ihr Metier.
Nachdem sie gesehen hatte, dass Adrian ein Gähnen unterdrückte und sie Aprils leicht glasigen Blick bemerkt hatte, stand Daphne auf und verlangte, dass alle ihre Zimmer gezeigt bekamen.
Sie folgten Goodsons hochgewachsener Gestalt die Treppe empor und einen düsteren Flur entlang. Beaumont Place war, erkannte Daphne rasch, wesentlich größer als Mr. Vintons kurzer Brief sie hatte glauben lassen. Die hohen Decken, die langen dunklen Korridore, in denen nur die Kerzen Licht spendeten, die der Butler vor sich her trug, schienen kein Ende nehmen zu wollen. Obwohl er die Kerzen in den Wandhaltern neben jeder Schlafzimmertür anzündete, half das kaum, das bedrückende Dämmerlicht zu durchdringen. Alle Schlafzimmer, die ihnen gezeigt wurden, waren riesig, und auch wenn die Farben und Stoffe leicht variierten, waren alle Räume ähnlich eingerichtet. Das schwere altmodische Mobiliar erzeugte zusammen mit den dicken, dunklen Vorhängen an den Fenstern und den üppigen Bettvorhängen eine melancholische Stimmung, die noch nicht einmal die flackernden Feuer in den Kaminen oder die rasch angezündeten Kerzen vertreiben konnten. Daphne freute sich nicht auf den Moment, da sie allein in ihrem Schlafzimmer sein würde. Sie und April hatten sich immer schon einen Raum geteilt. Und so oft ich mir auch gewünscht habe, einmal ungestört allein sein zu können, gestand sie sich nicht ohne Selbstironie ein, so wäre ich wenigstens für heute Nacht nicht grundsätzlich abgeneigt, mit meiner Schwester im selben Zimmer zu schlafen. Und ein Blick in Aprils Gesicht zeigte ihr, dass sie ähnlich dachte und nicht darauf erpicht war, die Nacht allein zu verbringen. Und wenn man aus Adrians Miene schließen konnte, dann schien auch er nicht unbedingt von Freude überwältigt angesichts der Aussicht, in die Gemächer des Hausherrn am anderen Ende des langen dunklen Flures verbannt zu werden.
Nachdem die Tour durch die Schlafzimmer zu Ende war, gab es nichts zu tun, als Goodson eine gute Nacht zu wünschen. Er ging, und die drei schauten einander an.
„Es ist ein ziemlich großes Haus, nicht wahr?“, bemerkte April, während sie sich umschaute.
„Viel größer, als ich gedacht hätte“, gestand Daphne. Sie lächelte Adrian an, und in ihren haselnussbraunen Augen tanzte der Schalk. „Ich bin höchst beeindruckt von Ihrem Erbe, Sir Adrian.“
Er verzog das Gesicht. „Es ist nicht das, was ich erwartet hatte“, gestand er. „Ich dachte, es sei ein netter kleiner Landsitz, der zu uns passt.“ Er blickte den Flur entlang. „Nie hätte ich mir träumen lassen, dass es eine verdammte Burg sein könnte.“ Er sah sehr jung aus, als er so vor ihr stand. „Daff, was soll ich nur tun?“, platzte es aus ihm heraus. „Ich meine, es ist wunderbar für uns, aber es ist auch ein wenig überwältigend, oder?“
Daphne holte tief Luft. „Stimmt, und alles erscheint uns im Augenblick recht seltsam. Ich bin aber sicher, dass wir uns nach einer Nacht Schlaf besser zurechtfinden, und innerhalb kürzester Zeit werden wir uns wundern, wie wir nur je in der engen Wohnung in London leben konnten.“
„Ich wünschte, wir wären da und nicht hier“, erklärte April und warf noch einen besorgten Blick über ihre Schulter.
„Nun, das sind wir aber nicht“, erwiderte Daphne knapp und setzte um ihrer Geschwister willen eine tapfere Miene auf. „Wir sind in unserem neuen Zuhause angekommen, wo wir sehr glücklich sein werden. Und ich wenigstens gehe jetzt zu Bett.“
Ohne ihrem Bruder und ihrer Schwester die Gelegenheit zu bieten, dagegen Einwände zu erheben, wünschte sie ihnen eine gute Nacht, betrat ihr Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich.
Erschöpfung erfasste sie. Es war eine lange, ermüdende Reise gewesen, – die Tage in der holpernden Kutsche, die Nächte in verschiedenen Gasthöfen entlang der Strecke waren alles andere als erholsam gewesen. Daphne war froh, endlich am Ziel angekommen zu sein. Beaumont Place war nicht das, womit sie gerechnet hatten. Es war viel größer und prächtiger als vermutet, aber das musste ja nicht schlecht sein, sagte sie sich, während sie ein Nachthemd aus ihrer Reisetasche holte, die jemand am Fußende neben das Bett gestellt hatte. Mrs. Hutton hatte vorgeschlagen, eine der Küchenmägde hochzuschicken und mit dem Auspacken beginnen zu lassen. Das Mädchen konnte ihr dann auch gleich beim Umkleiden und ins Bett gehen behilflich sein, aber Daphne hatte dankend abgelehnt. Sie hatte noch nie eine Zofe gehabt und verspürte auch nicht den Drang, sich nun eine zuzulegen.
Sie benötigte nicht lange, um sich fürs Bett fertigzumachen, und trotz des Feuers war es spürbar kalt im Zimmer. Nachdem sie die Kerze auf dem Nachttischchen ausgeblasen hatte, stieg sie in das breite Himmelbett. Als sie unter die Decken schlüpfte, seufzte sie wohlig. Mrs. Hutton hatte dafür gesorgt, dass das Bett vorgewärmt war. Daphne genoss das Gefühl, von der Wärme eingehüllt zu werden.
Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass sie in dem Augenblick einschlafen würde, da sie ihren Kopf auf das Daunenkissen bettete, aber dem war nicht so. Sie war seltsam rastlos, und nachdem sie sich eine Weile von der einen auf die andere Seite und wieder zurück gewälzt hatte, schüttelte sie die Kissen auf und legte sie hinter sich, setzte sich hin und zog sich die Decke bis ans Kinn hoch. Sie war, gestand sie sich ein, beunruhigt in dieser fremden Umgebung und ertappte sich bei dem Wunsch nach Aprils Gesellschaft.
Der feine Nieselregen hatte sich zu einem richtigen Unwetter ausgewachsen, der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben, der Wind pfiff heulend um das Haus, sodass es unheimlich knarrte und stöhnte. Da nur noch das erlöschende Feuer im Kamin Licht spendete, wirkte das große Zimmer wie eine Höhle und irgendwie furchteinflößend. Schatten lauerten in den Ecken, und die dunkelroten Damastvorhänge des Bettes schienen wie ein riesiges Tier über ihr zu kauern. Ja, sogar die schweren Möbel hatten auf einmal etwas Bedrohliches, etwas Gespenstiges. Daphne erschauerte, bildete sich ein, Dämonen in dem schwachen Licht tanzen zu sehen.
Sie schnitt eine Grimasse. Wie albern ich bin, dachte sie. Es gab nichts, wovor man sich fürchten musste; die Umgebung war ihr nicht vertraut, richtig, aber das war alles.
Trotz dieser tapferen Überlegungen zuckte sie bei dem Klopfen an der Tür doch zusammen, und sie keuchte erschreckt auf. Verlegen wegen dieser Reaktion rief sie mit nur ganz leicht bebender Stimme: „Ja, wer ist da?“
„April“, ertönte die gedämpfte Antwort von der anderen Seite der Tür. „Darf ich hereinkommen?“
„Natürlich“, sagte Daphne erleichtert und zündete die Kerze neben ihrem Bett an.
In einem blassrosa Nachthemd unter dem Morgenrock huschte April in Daphnes Schlafzimmer. Ihre blonden Locken fielen ihr lose über die Schultern, als sie an Daphnes Bett trat. „Oh Daffy, ich komme mir wie eine dumme Gans vor, aber bitte, darf ich heute Nacht bei dir schlafen?“ Sie schaute sich nervös um. „Alles ist so fremd, und dann der Wind …“ Sie richtete ihre großen flehenden Augen auf ihre ältere Schwester. „Ich weiß, es ist albern, aber ich habe Angst. Und es wäre ja nur für heute Nacht …“
Daphne lächelte und schlug die Bettdecke zurück. „Angesichts des Sturms und der Größe des Gebäudes mache ich dir keinen Vorwurf daraus, Angst zu verspüren. Komm, Kleines, schlüpf unter die Decken, ehe noch mehr von der Wärme entweicht.“
April streifte sich ihren Morgenrock ab und schmiegte sich an Daphne. „Oh Daffy“, seufzte sie, „so ist es viel, viel besser. Jetzt bin ich kein bisschen ängstlich.“ Sie drehte den Kopf, sah ihre Schwester an. „Hattest du gar keine Angst?“
Daphne verzog das Gesicht, fühlte sich aber verpflichtet, der Wahrheit die Ehre zu geben: „Vielleicht ein bisschen. Es ist ein wirklich riesiges Haus.“
„Oh, ich weiß. Wir hätten nie gedacht, jemals in einem so ehrfurchtgebietenden Gemäuer zu leben, was? Mit einem Butler, einer Haushälterin und wer weiß noch wie vielen Dienstboten. Ich bin sicher, ich werde eine Woche brauchen, um mich zurechtzufinden. Sir Huxley muss sehr reich gewesen sein.“
„Reicher, als wir dachten“, stimmte Daphne ihr zu.
„Nun, es tut mir leid, dass er gestorben ist, aber ist es nicht herrlich, dass Adrian geerbt hat?“ Sie machte eine ausholende Handbewegung. „Himmel, unsere komplette Wohnung würde hier in dieses Zimmer passen.“ Sie kicherte. „Und es würde zweifellos noch genug Platz für einen Ballsaal übrig bleiben.“
„Genau, es ist herrlich“, pflichtete Daphne ihr bei. Nachdenklich fügte sie hinzu: „Es erscheint uns groß, aber ich glaube, dass Sir Huxleys Vermögen eher ein sehr angenehmes Auskommen ist, nicht unendlicher Reichtum – wenigstens hat Mr. Vinton das in seinem Brief angedeutet.“
„Das ist mir egal – mir kommt es großartig vor.“
Ein Windstoß traf das Haus, ließ die Fenster so heftig klirren, dass Daphne schon fürchtete, das Glas könnte zerbrechen. Ein Klopfen an der Tür war sogleich darauf zu hören, worauf April zusammenfuhr und sich an Daphne klammerte.
„Wer kann das sein?“, rief sie mit schreckgeweiteten Augen.
„Vermutlich ist unser Besucher niemand anderer als unser lieber Bruder“, antwortete Daphne.
„Adrian?“, quietschte April. „Was kann er um diese Stunde nur wollen?“
„Wahrscheinlich dasselbe wie du – in einer stürmischen Nacht in einem fremden Haus nicht allein sein.“
Das war genau das, was Adrian wollte, als er auf Daphnes Aufforderung hin eintrat. Er trug einen dunkelblauen Morgenrock und hatte die Arme voller Kissen und Decken. Mit verlegener Miene ging er zum Bett, entdeckte April neben Daphne, grinste und sagte: „Oho! Ich sehe, dass ich nicht der Einzige bin, den das Haus einschüchtert.“
„Ich denke, wir sind alle ein wenig überwältigt von der Größe“, erklärte Daphne. Sie nickte zu den Decken und Kissen in seinen Armen und fügte augenzwinkernd hinzu: „Soll ich etwa annehmen, dass du vorhast, heute Nacht in meinem Schlafzimmer zu kampieren?“
Das war ihm sichtlich peinlich. „Ich dachte, ich könnte mir ein Lager auf dem Boden machen und vor dem Feuer schlafen … wenn du nichts dagegen hast.“
Sobald Adrian es sich auf dem Fußboden einigermaßen bequem gemacht hatte, wickelte er sich in eine Decke und legte sich ein paar Fuß von der glimmenden Glut entfernt hin. Er stützte sich auf einen Ellbogen und schaute von Daphne zu April. „Das hier“, erklärte er, „ist schon viel besser. Das riesige Zimmer des Hausherrn ist zugig, der Kamin raucht und mit dem schrecklichen Sturm, der um das Haus heult, will ich es nicht leugnen – es war ehrlich nicht angenehm. Ich schwöre, Daffy, ich habe jeden Augenblick damit gerechnet, Sir Huxleys Gespenst in einer Zimmerecke zu entdecken, wie es sich auf mich stürzen will.“
April setzte sich auf und schaute über Daphne hinweg zu ihrem Bruder auf dem Boden. „Denkst du“, fragte sie mit makabrem Interesse, „dass Sir Huxleys Gespenst hier spukt?“
„So etwas wie Gespenster gibt es nicht“, erklärte Daphne fest.
„Oh“, entgegnete April unverhohlen enttäuscht. „Nun, wenn es Gespenster gäbe, dann denke ich, wäre es nett, eines zu haben – und dieses Haus ist dafür wie geschaffen.“
„Wenn du so empfindest“, zog ihr Bruder sie auf, „was tust du dann hier? Wenn du ein Gespenst sehen willst, hättest du in deinem Zimmer bleiben sollen. Alle Welt weiß schließlich, dass Gespenster es besonders lieben, unschuldige Jungfrauen heimzusuchen … besonders in so stürmischen Nächten wie heute.“
April betrachtete ihn argwöhnisch, dann sah sie zu Daphne. „Stimmt das?“
Daphne schüttelte den Kopf. „Nein. Und ich wiederhole – es gibt keine Gespenster.“
Adrian öffnete den Mund, aber Daphne ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. „Und damit jetzt genug von Geistern und Gespenstern.“ Sie drohte Adrian mit dem Finger. „Wenn du so weitermachst, verbanne ich dich in dein eigenes Schlafzimmer.“
Er grinste nur und legte sich hin. Gähnend sagte er: „Gute Nacht. Ich werde bei Tagesanbruch zurück in mein Zimmer gehen und verschwunden sein, wenn ihr aufwacht.“
Wie versprochen war Adrian, als Daphne aufwachte, nicht mehr da. Als sie und ihre Schwester den Frühstückssalon betraten, fanden sie ihn dort bereits vor. Das Eichenholzsideboard war wieder beladen mit Tabletts, Tellern und Schüsseln voller Essen – Nierchen, gebratener Schinkenspeck, dicke Scheiben Landschinken, warme knusperige Brötchen, Eier und Obst. Adrian machte sich mit einem Appetit wie ein Wolf über die angebotenen Speisen her.
Was nur gut ist, dachte Daphne, die beobachtete, wie er ein drittes Mal zum Sideboard ging, um sich nachzunehmen. Mit siebzehn war er immer noch gertenschlank, aber seine Schultern waren im letzten Jahr breiter geworden, und auch ohne Stiefel maß er mehr als sechs Fuß. Sie vermutete, dass er noch weiter wachsen würde. Ihr Vater war sehr groß gewesen, und es sah so aus, als ob Adrian die Größe seines Vaters geerbt hatte, zusammen mit dem dichten schwarzen Haar des Captains und seinen strahlend blauen Augen. Daphne hielt sich nicht für voreingenommen, aber sie fand, dass ihr Bruder einmal zu einem gut aussehenden Mann heranwachsen würde. Da er nun über ein ansehnliches Vermögen verfügte, konnte er gewiss unter einer großen Auswahl passender junger Frauen nach einer Braut Ausschau halten.
Ihr liebevoller Blick glitt weiter zu April, die gerade von einem Brötchen mit Erdbeermarmelade abbiss. Wenn man sagen konnte, dass Adrian seinem Vater nachschlug, dann war April das Ebenbild ihrer Mutter, hatte dasselbe herrliche weizenblonde Haar, klare blaue Augen und besaß auch ihre zierliche Gestalt. Daphne hatte immer gehofft, dass Aprils sanftes Wesen und ihr hübsches Äußeres es ihr ermöglichen würden, eine gute Eheverbindung einzugehen, aber nun, da Adrian unerwartet geerbt und versprochen hatte, seiner Schwester eine Mitgift auszusetzen, hatten sich ihre Aussichten dramatisch verbessert. In angemessener Zeit konnte April sogar eine Saison in London haben … Daphnes Wangen verfärbten sich, wenn sie sich ihre kleine Schwester vorstellte, wie sie einen wohlhabenden Verehrer an Land zog, vielleicht sogar einen mit Titel.
Dass ihre Überlegungen mehr der einer Mutter mit Sohn und Tochter glichen als denen einer älteren Schwester, die durchaus eine eigene Zukunft für sich zu planen hätte, kam Daphne gar nicht in den Sinn. Da ihr Vater oft genug fort gewesen war und ihre Mutter mit dem Leben von Militärangehörigen nicht zurechtkam, war Daphne schon lange die Stütze der Familie gewesen, hatte von früh an die Verantwortung für den kleinen Haushalt übernommen. Ihre Mutter war immer schon kränklich gewesen, und als ihre Geschwister kamen, war Daphne ohne viel Federlesens in die Bresche gesprungen und hatte die Sorge für die beiden Kinder übernommen. Eine Saison für sie hatte von vornherein außer Frage gestanden, und sogar der Gedanke an eine Heirat war ihr nur einmal gekommen. Als sie achtzehn war, hatte es einen jungen Leutnant gegeben, dessen Aufmerksamkeiten unmissverständlich gewesen waren, und eine kleine Weile hatte sie von Ehe, einem Mann und ihrem eigenen Heim geträumt. Unseligerweise war der Leutnant in einem der namenlosen und unbedeutenderen Scharmützel in Indien gefallen, und damit hatten Daphnes Träume ein jähes Ende gefunden.
Es war ihr nie eingefallen, sich dagegen aufzulehnen oder dem Schicksal zu zürnen, dass sie sich für ihre Familie aufopfern musste, – ja, die Verwendung des Wortes ,aufopfern‘ hätte sie empört. Sie war glücklich mit ihrer Rolle, die ihr übertragen worden war, und zufrieden, ihre Tage als geliebte altjüngferliche Schwester und später als liebevolle Tante für die vielen Neffen und Nichten zu verbringen, die sie gewiss haben würde. Schließlich, so erinnerte sie sich von Zeit zu Zeit, besaß sie kein eigenes Vermögen, obwohl, wenn Sir Huxleys Ländereien sich als groß genug herausstellen sollten, Adrian entschlossen war, auch sie mit einer Mitgift zu versehen. Aprils Sanftmut und Schönheit allein reichten aus, dass sie eine anständige Ehe einging, wenigstens hatte Daphne das immer gehofft, und sie hatte sich längst mit der Tatsache abgefunden, dass sie keinesfalls mit Aprils Schönheit konkurrieren konnte. Nein, sie hatte kein wunderschönes blondes Haar oder verträumte blaue Augen, keine zierliche Gestalt. Nein, ausgerechnet sie musste das Glück haben, ihrem Vater nachzuschlagen, und auch wenn es eine Zeit gegeben hatte, da sie an ihrer Körpergröße und ihrer knabenhaften Figur schier verzweifelt war, hatte sie sich nun damit ausgesöhnt, dass sie nie eine Schönheit sein würde. Sie war eine Bohnenstange, gekrönt von einem Schopf ungebärdigen schwarzen Haares, und das war es. Manchmal jedoch, wenn sie in den Spiegel blickte und in ihre haselnussbraunen Augen und auf die fast olivfarbene Haut, die sie, wie man ihr versichert hatte, von ihrem Großvater väterlicherseits geerbt hatte, dann wünschte sie sich nur für eine kurze Weile Aprils rosa und goldene Farbtöne. Dann aber kam es sicher bald zu einer Krise, die sie ablenkte, und sie schob diese albernen Wünsche beiseite.
Alle ihre Träume und ihre ganze Tatkraft galten dieser Tage ihren Geschwistern. Der unverhoffte Geldsegen für Adrian hatte jede Menge Türen für sie aufgestoßen, und Daphne war immer noch verwirrt angesichts der vielen neuen Möglichkeiten, die sich ihnen nun eröffneten.
Sich dem angenehmen Tagtraum hingebend, wie April in einer Vision aus Musselin und Spitze bei Almack’s ihr Debüt gab, erschrak Daphne, als Adrian sie fragte: „Wie bald werden wir Vinton sehen? Hattest du nicht gesagt, er wollte herkommen?“
„Oh, das habe ich völlig vergessen“, sagte Daphne und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein. „Goodson hat mir eine Nachricht übergeben, als ich die Treppe hinabkam – wenn es uns recht ist, würde Mr. Vinton heute Nachmittag von Penzance zu uns herausfahren und sich mit uns hier treffen.“
Nachdem Daphne einen Dienstboten mit einer Zusage losgeschickt hatte, verbrachten die drei Geschwister den Morgen unter Führung von Goodson mit einem Rundgang durchs Haus. Es kam Daphne vor, als stiegen sie immer wieder Treppen hinauf und dann wieder hinab, folgten endlosen Korridoren und bewunderten zahllose elegante Zimmer. Sie musste April beipflichten. Es würde eine ganze Weile dauern, bis sie mit dem Haus vertraut sein würden. Außer der Köchin, Goodson und Mrs. Hutton gab es eine verblüffende Anzahl Dienstboten – Spülmägde, Lakaien, Zimmermädchen, Gärtner und Stallburschen.
Als es Zeit wurde für das Treffen mit Mr. Vinton, drehte sich Daphne der Kopf. Aufgeregt und nervös wartete sie mit Adrian in der Bibliothek, als um ein Uhr Goodson den Notar hereinführte.
Mr. Vinton war ein Mann mittleren Alters mit schütter werdendem braunem Haar, roten Wangen und klugen braunen Augen. Daphne mochte ihn auf den ersten Blick. Sobald die Förmlichkeiten erledigt waren, sie vor dem Kamin saßen und neben ihm eine Tasse Tee stand, begann er ihnen das Ausmaß von Adrians Erbe zu erläutern.
Das Haus und die Bediensteten hatten ihnen schon einen ersten Hinweis darauf gegeben, dass Adrians Erbe größer war, als zunächst von ihnen angenommen, und als Mr. Vinton damit fertig war, alles darzulegen, blickten Adrian und Daphne einander verblüfft an. Adrians ererbtes Vermögen war sehr, sehr ansehnlich, mehr als nur ein angenehmes Auskommen, auch noch nach Abzug der Mitgift für seine Schwestern.
Nachdem das Geschäftliche erledigt war, wandte sich die Unterhaltung allgemeineren Themen zu. Daphne und Adrian waren besonders daran interessiert, mehr über ihren Wohltäter Sir Huxley zu erfahren.
„Wir hatten nie zuvor von ihm gehört, bis mein Bruder Ihren Brief erhalten hat, – eigentlich dachten wir, wir hätten sonst keine Familie. Die Verwandtschaft muss sehr entfernt gewesen sein“, bemerkte Daphne, während sie Mr. Vinton eine weitere Tasse Tee aus einer eleganten silbernen Kanne einschenkte.
Mr. Vinton nickte. „Ich glaube, Sie und Sir Huxley haben denselben Ururgroßvater.“ Er zögerte einen Moment, ehe er hinzufügte: „Sir Huxley ist vor mehr als zwei Jahren gestorben, und ich muss Ihnen sagen, dass der Besitz beinahe jemand anderem zugesprochen worden wäre, einem anderen entfernten Verwandten von Ihnen, der zudem Ihr Nachbar ist. Wenn ich nicht zufällig auf einen Verweis in Sir Huxleys Papieren auf Ihren Zweig der Familie gestoßen wäre …“ Er räusperte sich und wirkte unangenehm berührt. „Viscount Trevillyan war, nachdem er sich jahrelang für den Erben gehalten hatte, nicht begeistert, das kann ich Ihnen sagen, und als er herausfand, dass er nicht erben würde … Äußerst unangenehm, lassen Sie sich das sagen.“
Adrian runzelte die Stirn. „Ein Viscount? Warum sollte dem etwas an einer bloßen Baronetswürde liegen?“
„Es stimmt allerdings, der Titel ist für ihn uninteressant – sein Zweig der Familie bekam schon vor Jahrzehnten die Viscountwürde für herausragende Dienste für den König verliehen und hat den Namen Trevillyan angenommen“, räumte Mr. Vinton ein, „aber der Verlust der Ländereien, Pachthöfe und der damit verbundenen Einnahmen … nun, das steht auf einem anderen Blatt.“
„Lord Trevillyan ist unser Nachbar?“, fragte Daphne.
„Ja – im Grunde genommen teilt dieser Besitz sein Land in zwei Teile.“ Mr. Vinton zupfte sich an seinem Ohr. „Der Großteil des Trevillyan-Landes liegt im Osten, aber es gibt mehrere Hundert Morgen Land, die sein Großvater erworben hat, die entlang der Westgrenze Ihres Besitzes verlaufen. Lord Trevillyan hatte fest darauf gebaut, sein Land zu vervollständigen – es ist ihm schon lange ein Ärgernis, dass er keine Möglichkeit hat, zum westlichen Teil seiner Besitzungen zu gelangen, ohne einen langen Umweg um Beaumont Place machen zu müssen. In der Vergangenheit hat es einige … äh, scharfe Worte gegeben, die zwischen Sir Huxley und Lord Trevillyan gefallen sind, besonders nachdem Trevillyans Vieh mitten über Sir Huxleys Land getrieben worden war. Natürlich war Trevillyan entzückt darüber, dass das Problem gelöst sein würde, wenn er erbt. Und dann ist da natürlich noch das Vermögen …“
„Aber ich bin der rechtmäßige Erbe, richtig?“, erkundigte sich ein besorgter Adrian, der seine strahlende Zukunft schon wieder vor seinen Augen entschwinden sah.
„Oh, ja, das steht außer Frage. Lord Trevillyans Anspruch bestand durch den jüngeren Bruder Ihres Ururgroßvaters. Der Legende nach hat es einen Zwist in der Familie gegeben, und Ihr Ururgroßvater hat Beaumont Place verlassen und geschworen, nie zurückzukehren. Erst als ich einen Brief eines gemeinsamen Bekannten Sir Huxleys und Ihres Vaters gefunden habe, in dem Sir Huxley von dem Tod Captain Beaumonts unterrichtet wurde, habe ich erfahren, dass es Familienmitglieder mit einem gewichtigeren Anspruch auf den Besitz gab. Ich habe mehrere Monate benötigt, herauszufinden, dass Captain Beaumont eine Familie hinterlassen hat und dass Sie in London lebten.“
„Ich nehme an, dieser Viscount Trevillyan hegt nicht gerade freundliche Gefühle für meinen Bruder“, sagte Daphne.
Mr. Vinton sah noch unbehaglicher aus. „Ich hatte gehofft, dass seine Enttäuschung und Erbitterung mit der Zeit schwinden oder sich wenigstens abschwächen würde, aber ich fürchte, Sie haben recht. Er wird nicht Ihr Freund sein.“ Er drehte seine Tasse hin und her. „Es hat Zwischenfälle gegeben … kleinere Übergriffe … und ich bin gezwungen gewesen, mit ihm deswegen zu sprechen.“
Adrian und Daphne wirkten beunruhigt. Mr. Vinton lächelte Adrian zu. „Lassen Sie sich von Lord Trevillyans Missmut nicht die Freude an Ihrem Erbe verderben. Sie sind ein glücklicher junger Mann. Sie haben einen feinen Besitz und ein Vermögen dazu – genießen Sie es.“
Daphne schüttelte ihr Unbehagen ab und beugte sich vor, als sie fragte: „Könnten Sie uns bitte etwas über das Haus erzählen? Es scheint sehr alt zu sein.“
„Ja, das stimmt. Ursprünglich war es eine normannische Festung. Natürlich hat es im Verlauf der Jahre zahllose An- und Umbauten gegeben, aber an bestimmten Stellen kann man noch die alten Steinmauern des ursprünglichen Gebäudes sehen.“ Seine Augen funkelten. „Wie bei vielen alten Gemäuern gibt es auch hier Gerüchte über Gespenster und Spuk.“
Adrians blaue Augen leuchteten auf. „Gespenster!“ Er warf Daphne einen triumphierenden Blick zu. „Bei Zeus, gestern hatte ich gar nicht so unrecht.“
Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten länger, dann verabschiedete Mr. Vinton sich. Nachdem er gegangen war, verdunkelte Lord Trevillyan ihnen wie ein drohender Schatten die Freude über die Nachricht, dass Adrian nun der stolze Besitzer eines Vermögens war, das ihre kühnsten Träume übertraf. Noch nicht einmal ein zweiter Besuch in den Ställen, um sich erneut die dort untergestellten Vollblüter anzusehen, die verschiedenen Gefährte, Karren, zweirädrigen Kutschen und Equipagen, die nun Adrian gehörten, konnten ihn ganz vertreiben.
Im zunehmenden Zwielicht und fest in ihre Umhänge gehüllt, gingen sie langsam zum Haus zurück.
„Viscount Trevillyan wird uns nichts antun, oder?“, erkundigte sich April, die von Adrian über die durchkreuzten Pläne des Viscounts informiert worden war.
„Ich bin sicher, dass er mich am liebsten umbringen würde“, bemerkte Adrian.
Daphne warf ihm einen scharfen Blick zu. „Lord Trevillyan mag enttäuscht sein, dass er nicht geerbt hat, aber er ist, ohne Zweifel, ein Gentleman – und neigt gewiss nicht zu so blutrünstigen Anwandlungen. Du übertreibst.“
Adrian zog seine Schultern hoch. „Nun, wenn du meinen blutigen Leichnam in einem Graben liegen siehst, dann sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
Als sie das Dinner in dem hübschen Speisesaal zu sich genommen und sich in den Salon zurückgezogen hatten, war ihre alte gute Stimmung wiederhergestellt – schließlich stand ihnen ein Vermögen zur Verfügung. Sie verbrachten einen angenehmen Abend und sprachen über verschiedene Anschaffungen – für Adrian Röcke von Stultz und einen Hut mit gerollter Krempe, Kleider aus indischem Musselin sowie einen zobelgefütterten Umhang mit Muff für April und für Daphne ein paar neue Kleider und auch einen Mohairschal sowie einen Seidenturban mit Fransen.
Es war daher ein fröhliches Trio, das in dieser Nacht die Treppe zu den Schlafzimmern hinaufging. Ohne Sturm, der um das Haus heulte, und da sie sich nun schon viel wohler hier fühlten, zog sich jeder zuversichtlich in sein Zimmer zurück.
Wie am Vortag auch schon war Daphne für die vorgewärmten Decken dankbar, als sie sich in ihr Bett kuschelte. Sich weniger fremd vorkommend, schlief sie sogleich ein.
Stunden später erwachte sie zitternd vor Kälte – trotz der dicken weichen Decken. Das Feuer im Kamin war bis auf ein Häufchen rote Glut heruntergebrannt, und die Dunkelheit schien sich wie ein lebendiges Wesen auf sie nieder zu senken. Sie zog die Decken fester um sich, aber das half nichts; die Kälte war so durchdringend, dass sie am ganzen Körper heftig zitterte. Mit klappernden Zähnen setzte sie sich auf, wollte Holz nachlegen, als sie bemerkte, dass sie nicht länger allein im Zimmer war. Im selben Moment wusste sie unwillkürlich, dass es weder April noch Adrian war, der leise in der Dunkelheit jenseits des Bettes vor sich hin summte. Entsetzen übermannte sie, als sie erkannte, dass die Laute, halb Seufzen, halb Stöhnen von keinem lebenden Wesen stammten.
Irgendjemand, irgendetwas war mit ihr hier in ihrem Zimmer …