Kapitel eins
Westleham, Berkshire – Juli 1947
„Ich habe gehört, dass der neue Vikar recht schmuck sein soll“, erzählte ich Lizzie, meinem roten Setter, und überlegte dann kurz. „Aber wir wissen ja beide, dass in diesem Dorf jeder Mann als Fang gilt, dem keine Haare aus den Ohren oder der Nase wachsen.“
Natürlich hätte ich gar keinen Mann mit romantischen Augen betrachten sollen, immerhin war ich eine verheiratete Frau. Nicht, dass ich wüsste, wo mein Mann war. Eines Tages – vor ungefähr 364 Tagen, 10 Stunden und 3 Minuten – war Stan zu seiner Arbeit in der Stadt gefahren und nie zurückgekehrt. Nicht, dass ich jede einzelne Minute ohne ihn gezählt hätte, denn das hatte ich nicht.
Soweit man feststellen konnte, war er in seinen üblichen Zug von unserem kleinen Dorf nach London gestiegen. Andere Reisende hatten gesehen, wie er am Bahnsteig stand und auf den Zug wartete. Ab da verlor sich die Spur.
Stan kam nie bei der Arbeit an und seitdem hatte ihn keiner mehr gesehen. Ich wusste zwar genau, wie lange er schon verschwunden war, aber das lag nicht daran, dass es mir schwerfiel, ohne ihn zurechtzukommen. Das hatte ich gelernt, als er fort war, um für die Freiheit unseres Landes zu kämpfen. Nein, so leid es mir tat, das zu sagen, der Hauptgrund, aus dem ich genau wusste, seit wann Stan weg war, war untrennbar mit meiner Unfähigkeit, die Rechnungen zu bezahlen, verknüpft.
Die Bank, bei der mein Mann angestellt war, bezahlte seinen Lohn noch bis zum Ende der Woche, in der er verschwunden war. Danach war ich auf jede erdenkliche Art vollkommen auf mich allein gestellt.
Ich stützte meine Ellenbogen auf den Küchentisch und das Kinn auf die Handflächen und wandte mich wieder Lizzie zu. „Wenn ich doch nur etwas könnte, womit man echtes Geld verdienen kann.“
Im letzten Jahr hatte ich diese Worte Hunderte Male gesagt, oder zumindest gedacht. Leider war ich eins dieser Mädchen, bei denen ein Beruf außerhalb des Hauses nicht für nötig gehalten worden war. Nach meinem Schulabschluss half ich meiner Mutter mit meinen jüngeren Geschwistern, bis die alle in einer Ausbildung waren. Sobald ich für den Haushalt nicht mehr von großem Nutzen war, hatte ich den Eindruck, dass meine Eltern mich möglichst schnell unter die Haube bringen wollten.
Das war nicht so einfach. Ich war zwar keine hässliche junge Dame, aber es gab einige Mädchen, die deutlich hübscher waren als ich. Mein Haar war weder von einem schönen Rostrot noch einem Honigblond. Wenn ich müsste, würde ich es wahrscheinlich als erdbeerblond beschreiben. Meine Augen waren vermutlich meine beste Eigenschaft, denn sie waren von einem auffälligen Meerblau, mit blassen Wimpern und Augenbrauen. Meine Nase war klein, aber ein bisschen spitz.
Ich schätzte mich ganz schön glücklich, einen Mann gefunden zu haben, der einen Beruf mit einem guten Einkommen hatte. Er eroberte zwar mein Herz nicht im Sturm, aber er war ein ehrlicher, verlässlicher Mann, der uns gut versorgte.
Wir hatten gerade mal zwei Jahre gehabt, um uns an das Leben als Eheleute zu gewöhnen, bevor ein Krieg in Europa ausbrach. Damals war ich froh, dass ich keine Kinder hatte, um die ich mich kümmern musste, als Stan in die Armee einberufen wurde. Jetzt hätte ich mir gewünscht, dass ich wegen der Kinder zu Hause bleiben müsste, statt wegen mangelnder Berufserfahrung.
„Niemand will eine Frau einstellen, die sich mit nichts wirklich auskennt als mit Hausarbeit“, erklärte ich Lizzie traurig. „Wenn ich doch nur mehr wie Ruby wäre.“
„Du könntest meine Arbeit nicht ausstehen.“ Ruby kam in die Küche geeilt und schlüpfte in die Hausschuhe, die ich vor den Ofen gestellt hatte, um sie aufzuwärmen. „Sie ist zäh, wird furchtbar schlecht bezahlt, und den ganzen Tag auf den Beinen zu sein, ist nicht gut für meine Haltung.“
„Ich habe dich nicht reinkommen hören.“ Ich zog mir Ofenhandschuhe an, nahm die Quiche vom Herd, wo ich sie hatte abkühlen lassen, und stellte sie auf den Tisch zu einer Schüssel gemischten Salat.
„Vielleicht hättest du mich gehört, wenn du nicht mit dem Hund geredet hättest.“ Ruby deutete auf Lizzie und kraulte ihr den Kopf.
„Ich habe ja sonst niemanden, mit dem ich den ganzen Tag reden kann.“ Ich hob die Hände. „Und außerdem antwortet sie mir nie.“
„Du musst meine Hausschuhe wirklich nicht aufwärmen, Martha. Es ist Juli!“ Ruby grinste mich an und wusch sich die Hände.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß doch, dass deine Füße schmerzen, weil du den ganzen Tag stehen musst. Da tun warme Schuhe gut.“
Ruby trocknete sich die Hände ab und setzte sich mir gegenüber hin. Lizzy legte sich unter den Tisch zu unseren Füßen. „Danke. Sie werden meinen Füßen für die nächste halbe Stunde guttun, während ich esse. Dann werde ich ausgehen.“
Ich unterdrückte ein Seufzen. Es war nicht Rubys Schuld, dass sie das komplette Gegenteil von mir war – klug, lebensfroh und unglaublich schön. Sie ging jeden Freitag- und Samstagabend aus, erzählte mir aber nie Details von ihren Verabredungen. Das war nicht die Art schwesterlicher Beziehung, die wir miteinander hatten.
Ich war die älteste Schwester und schämte mich immer noch fürchterlich, dass ich meine jüngere Schwester hatte bitten müssen, zu mir zu ziehen, damit ich wenigstens eine Chance hatte, meine Zahlungen für das Haus aufrechtzuerhalten. Eine Untermieterin aufnehmen zu müssen, war nicht, was ich erwartet hatte, als ich einen sicheren, verantwortungsbewussten Mann wie Stan geheiratet hatte.
Ein paar Wochen nach dem Verschwinden meines Mannes rief mich der Direktor der örtlichen Bank an und bestellte mich in sein Büro. Er erklärte mir genüsslich, dass ich unter keinen Umständen auf Stans Konto zugreifen könne, auch nicht, um Geld davon abzuheben, weil es nur auf seinen Namen lief, aber dass ich Geld darauf einzahlen könne, um die Haushaltsrechnungen zu bezahlen.
Geld einzahlen?
Meine Wangen brannten, als ich mich an die Schande erinnerte, ihm erklären zu müssen, dass ich kein eigenes Geld und keinen Weg, welches zu verdienen, hatte. Während des Krieges hatte ich für die Women’s Land Army gearbeitet, aber als die Männer wieder nach Hause kamen, brauchte man natürlich keine Frauen mehr, um die Felder zu versorgen.
Nach Stans Verschwinden und einer fruchtlosen Suche nach einer Stelle war meine einzige Option, einen Untermieter aufzunehmen. Ich hatte das Glück, eine Schwester zu haben, die sofort die Gelegenheit ergriff, das Binnenland zu verlassen, um näher an den schillernden Lichtern Londons zu wohnen. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn Ruby nicht zu meiner Rettung geeilt wäre.
„Hast du eine Verabredung?“, fragte ich, als ich die Quiche aufschnitt und ein Stück auf Rubys Teller legte.
„Ja.“ Ruby nickte, während sie Salat, Spinat, Rote Bete, Radieschen und Tomate auf ihren Teller häufte. „Ich gehe ins Kino.“
„Mit einem Mann?“ Ich schenkte uns beiden Tee ein und schob Ruby ihre Tasse zu. Ich stellte selten Fragen, aber heute war ich mir des Mangels an Aufregung in meinem eigenen Leben wohl bewusster als sonst.
„Ja.“ Rubys Blick begegnete flüchtig meinem, dann sah sie auf ihren Teller. „Der neue Vikar soll wohl recht gut aussehend sein.“
„Woher weißt du das?“
Ruby machte eine vage Geste. „Alle reden darüber.“
Natürlich taten sie das. Die letzte aufregende Sache, die in Westleham passierte, war, als der alte Vikar zusammenbrach, bevor er seine Predigt beenden konnte. Doktor Briggs, unser Dorfarzt, versicherte der Gemeinschaft, dass der Vikar tot gewesen war, noch bevor er auf dem unversöhnlichen Steinboden der Kirche aufkam.
Bei näherer Betrachtung war „aufregend“ vermutlich nicht das richtige Wort. Ich biss mir auf die Lippe. Armer Reverend Gibbs. „Es wird seltsam werden, einen Vikar zu haben, der nicht alt ist. Der neue wird wohl weit weniger Lebenserfahrung haben, auf die er in seinen Predigten zurückgreifen kann.“
„Ich bin der Meinung, dass Reverend Gibbs zu viel von allem in seine Predigten eingebracht hat. Bevor mir klar wurde, wie ernst die Situation ist, dachte ich, er hätte sich selbst so gelangweilt, dass er davon eingeschlafen ist.“
„Ruby!“, tadelte ich, aber ich konnte nicht verhindern, dass sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln hoben. Sie zuckte mit den Schultern. „Was ist in dieser Quiche, Martha? Sie ist wunderbar.“
„Spinat, Frühlingszwiebeln und Möhren. Nichts Besonderes.“
Besonders konnten wir uns nicht leisten. Wenn ich etwas nicht im Garten anpflanzen oder aus dem Unterhalt, den Ruby mir zahlte, absparen konnte, dann hatten wir es nicht. Das immerhin war ein positiver Effekt, den der Krieg gehabt hatte. Ich hatte gelernt, eine ganze Reihe verschiedener Obst- und Gemüsesorten anzubauen. Wir hatten auch Hühner im Garten. Wenn Stan jemals wieder nach Hause käme, wäre er ganz schön entsetzt darüber, wie meine Bemühungen seinen einst so geschätzten englischen Rasen zerstört hatten.
„Ist in deinem Garten alles noch ganz?“
Es war eine beiläufige Frage, aber das hielt mich nicht davon ab, mich unglaublich schuldig zu fühlen.
Die Dorfschau sollte morgen stattfinden, und irgendjemand, der bisher noch unentdeckt geblieben war, schlich sich mitten in der Nacht in Gärten und zerstörte die Pflanzen dort. Ich war eine der wenigen Dorfbewohnerinnen, deren Garten bisher verschont geblieben war.
„Ja. Bestimmt werden die Leute mit dem Finger auf mich zeigen und sagen, dass ich den Wettbewerb sabotiert habe, um einen Preis zu gewinnen.“ Ich wünschte fast, der Täter würde in meinen Garten kommen und etwas Schaden verursachen, damit ich nicht so herausstach. Mein unangetasteter Garten, voll von sorgfältig angebauten Pflanzen, verkündete im ganzen Dorf, dass ich dem hinterhältigen Gemüsemörder bisher entwischt war, und ließ die Einwohner sich bestimmt fragen, ob nicht ich die Schuldige sein könnte.
„Dein Garten ist einfach der beste.“ Ruby lehnte sich über den Tisch und tätschelte meine Hand. „Niemand verbringt so viel Zeit damit, sich um sein Obst und Gemüse zu kümmern, wie du. Jeden Preis, den du dafür gewinnst, hast du dir wohlverdient.“
„Danke“, sagte ich und schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. Ich konzentrierte mich darauf, den Rest des Salats mit meiner Gabel aufzuspießen und die Nässe aus meinen Augen wegzublinzeln. Wenn Ruby wüsste, wie sehr mich der Vandalismus in den Gärten des Dorfes aufwühlte, dann würde sie nicht ausgehen und mich alleine zurücklassen.
Ich war noch nie besonders gesellig gewesen, selbst dann nicht, als Stan und ich frisch in das Dorf gezogen waren. Die ersten Monate unserer Ehe verbrachte ich damit, ein Heim zu schaffen, von dem ich hoffte, dass es meinen Ehemann zufrieden machen würde. Während des Krieges war ich zu beschäftigt, um Freunde zu finden. Und danach war es mir unangenehm, dass das ganze Dorf über mich tratschte, als Stan verschwand. Nachdem ich den Rasen ausgehoben hatte, um meinen kleinen Gemüsegarten zu erweitern, erfuhr ich zu meiner Bestürzung, dass eine besonders boshafte alte Dame namens Ada Garrett angedeutet hatte, ich hätte bestimmt meinen Ehemann unter meinen Kartoffeln vergraben.
Jetzt war ich mir sicher, dass viele Einwohner glaubten, ich wäre diejenige, die im Schutz der Nacht herumschlich und die Pflanzen der anderen zerstörte. Aber zum einen war ich immer so erschöpft, nachdem ich den ganzen Tag im Garten gearbeitet und dann nach dem Abendessen die Küche geputzt und Lizzie ausgeführt hatte, dass ich gar nicht daran denken konnte, mich mitten in der Nacht noch aus meinem Cottage zu schleichen. Und zum anderen, was noch viel wichtiger war, war es mir wirklich vollkommen egal, ob ich eine Rosette gewann oder nicht.
Wenn es aber einen Geldpreis gegeben hätte, dann hätte ich nicht schwören können, dass ich nicht mit größter Freude Mrs Hendersons saftige Tomaten oder Mr Peters’ preisgekrönte Kürbisse in Stücke gehackt hätte.
***
Ich räumte die Reste unserer Mahlzeit weg und erledigte den Abwasch, während Ruby sich für ihre Verabredung fertig machte. Der Radioapparat quäkte laut, die Töne irgendeines modernen Liedes, das ich nicht kannte, schwebten die Treppe herunter.
Nicht zum ersten Mal, seit Ruby meine Untermieterin geworden war, fühlte ich mich alt und von der Welt außerhalb von Westleham abgeschnitten. Die letzte Gelegenheit, bei der ich das Dorf verlassen hatte, war, um Lizzie zum Tierarzt zu bringen. Was mich natürlich zum nächsten Problem führte. Meine beste Freundin war ein Hund.
Auch wenn ich so immer jemanden zum Reden hatte, wäre es ab und zu nett gewesen, eine andere Antwort als nur eine nasse Nase oder ein tröstendes Schlecken an meiner Hand zu erhalten. Ich war noch nie eine sehr gefühlsduselige Person gewesen, aber in letzter Zeit sehnte ich mich mehr und mehr nach dem Kontakt mit anderen Menschen. Vielleicht wäre ich jetzt, da ich mich mit den finanziellen Folgen von Stans Verschwinden auseinandergesetzt hatte, dafür bereit, mich mit meinen Gefühlen bezüglich dieses Ereignisses, das mein Leben prägte, zu befassen.
Ich schüttelte den Kopf über meine Melancholie, legte Lizzie die Leine an und schlüpfte in die Schuhe, die ganz verloren neben der Fußmatte warteten. Eine Umarmung von einem Menschen war vielleicht ein angenehmer Gedanke, aber Ruby und ich kamen aus keiner herzlichen Familie. Meine hündische Begleiterin war meine einzige Option für Trost und damit hatte ich es noch besser als die meisten nach der Zerstörung, die der Krieg gebracht hatte.
Ich zog die Haustür hinter mir zu. Auch wenn Ruby schon weg gewesen wäre, hätte ich es so gemacht. In der Gemeinde, in der wir lebten, war es nicht nötig, seine Haustür abzuschließen. Stan hatte allerdings immer darauf bestanden, unser Zuhause abzusichern. Ich nahm an, das lag daran, dass er in London arbeitete, wo, wie er mir versicherte, alle sehr misstrauisch ihren Mitmenschen gegenüber waren.
Normalerweise wandte ich mich nach links, nachdem ich das Gartentor hinter mir geschlossen hatte. Ich ging am liebsten an Bauer Benningtons Feldern entlang, wo die Wahrscheinlichkeit, anderen Menschen zu begegnen, gegen null ging.
Heute spazierte ich aber in Richtung des Dorfes. Mein Haus lag am Rand von Westleham, etwas abseits der ruhigen Landstraße, die durch das Dorf verlief. Zu beiden Seiten des Tores wuchsen hohe Hecken, die uns eine Privatsphäre schenkten, die wir eigentlich nicht brauchten. Unsere Lage im Dorf bedeutete, dass man hier nur entlang kam, wenn man uns besuchen wollte – was wohl zu meiner melancholischen Stimmung beitrug. Es kam selten vor, dass jemand an der Tür des Tulpencottage klopfte.
Der Anflug eines Lächelns umspielte meine Lippen, als ich über den Namen meines Zuhauses nachdachte. Tulpen waren meine Lieblingsblumen, nur fand Stan den Gedanken an ein Schild, das den Namen unseres Häuschens verkündete, ganz fürchterlich. Aber ein paar Wochen nach dem Verschwinden meines Mannes machte ich einen Handel mit John Bennington, dem Nachbarn, der mir östlich gelegen am nächsten war, und er zimmerte mir ein Schild, auf dem der Name unseres Hauses stand. Ich bezahlte ihn mit Apfelkuchen.
Seitdem erinnerte mein Haus mich stets an den einen rebellischen Akt, den ich in meiner Ehe unternommen hatte. Wie traurig, dass ich mich erst getraut hatte, etwas zu tun, das meinem Mann nicht gefallen hätte, als er mich schon verlassen hatte.
Meine Nachbarin zur anderen Seite war Maud Burnett. Sie war eine alte Dame, die gerne dem Dorfklatsch lauschte. Ihr größtes Vergnügen bestand allerdings darin, ihn weiterzuerzählen. Maud war es, die mir mitteilte, dass Ada Garrett den Dorfbewohnern erzählte, sie sei überzeugt, die Polizei würde Stan nicht in London finden, sondern unter meinen Kartoffeln.
Wäre ich dazu geneigt gewesen, meinen Mann zu ermorden, was ich nicht war, dann wäre ich sicher nicht dumm genug, ihn auf meinem eigenen Grundstück zu vergraben. Zwischen John Benningtons Feldern und der Straße gab es tiefe Gräben – würde man dort eine Leiche hineinwerfen und sie mit Blättern bedecken, dann würde sie vermutlich niemand je finden.
Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht erzählte Ada ja deshalb solch fürchterliche Geschichten über mich, weil ich schuldig aussah. Ich war sicher, dass gewöhnliche Hausfrauen nicht darüber nachdachten, wie sie sich am besten ihrer Männer entledigen könnten. Aber, zu meiner Verteidigung, ich hatte nie den Gedanken daran gehabt, Stan loszuwerden, bis er eines Tages vor fast einem Jahr nicht mehr nach Hause gekommen war. Da wünschte ich mir dann, dass ich mutig genug gewesen wäre, sein Verschwinden selbst herbeigeführt zu haben.
„Guten Abend“, rief eine tiefe männliche Stimme.
Ich verbannte alle Gedanken an Stan und an Mord und blickte über die schmale Straße. Ein dunkelhaariger Mann, dem ich noch nie begegnet war, hob die Hand zum Gruß. In der anderen Hand hielt er einen smarten schwarzen Homburg Hut. Ich fuhr mit der Zunge über meine plötzlich trocken gewordenen Lippen und hoffte, dass meine beige Hose nicht allzu dreckig war. Wenigstens hatte ich daran gedacht, meine Schürze abzubinden.
Ich hob die Hand, um den Gruß zu erwidern, konnte aber dem Drang nicht widerstehen, mein Haar zu berühren. Ich wünschte, ich hätte mich getraut, es zu einem hellen und auffälligen Blond zu färben, so wie Rubys Haare. Auch wenn das breite rote Kopftuch, das ich aus dem Ärmel eines alten Pullovers gemacht hatte, meine langweiligen Locken größtenteils verdeckte.
Lizzies Schwanz schlug gegen mein Bein, als der Fremde die Straße mit großen Schritten überquerte. Das musste der neue Vikar sein, und meine Bemerkung vorhin zu Lizzie, dass er angeblich „recht schmuck“ sei, war leicht untertrieben.
Er hatte blaue Augen, die von dunklen, nach oben gebogenen Wimpern umrahmt waren. Warum schienen Männer nur immer schönere Wimpern zu haben als Frauen? Er war sehr groß und auf seiner Nase und seinen Wangen zeichneten sich leichte Sommersprossen ab. Ich erinnerte mich, dass meine Großmutter sie immer „Feenküsse“ genannt hatte. Ich unterdrückte das unangemessene Bedürfnis, ihm diese Information mitzuteilen, und streckte die Hand aus.
„Martha Miller. Mrs. Freut mich, Sie kennenzulernen.“
Ich wünschte, ich hätte nicht so deutlich gemacht, dass ich verheiratet war. Aber realistisch gesehen, war es zwecklos, in diesem Dorf zu versuchen, meinen Familienstand zu verbergen. Er wusste vermutlich schon ganz genau, wer ich war. Vielleicht hatte er sogar vorgehabt, mir einen Besuch abzustatten, um sich nach meinem Mann zu erkundigen und um zu sehen, ob er für meine Vergebung beten musste. Wenn Ada seit der Ankunft des Vikars schon Zeit mit ihm verbracht hatte, hatte sie ihm bestimmt sofort die neuesten Theorien erzählt.
Er lächelte und offenbarte eine Reihe ordentlicher weißer Zähne. Der Mann war einfach zu gut, um wahr zu sein. „Mrs Martha Miller“, wiederholte er. „Es ist sehr schön, Sie kennenzulernen.“
„Ich wohne dort.“ Ich zeigte auf mein Cottage.
Aber er wusste ja sicherlich schon, wo ich wohnte, weil ich erst vor wenigen Augenblicken mein Gartentor hinter mir geschlossen hatte und auf die Straße getreten war. Ich war eine solche Närrin. Ich schob meine lächerliche Aussage auf meine Müdigkeit und bemühte mich, ein vernünftiges und interessantes Gesprächsthema zu finden.
Lizzies Schwanz wischte von einer Seite zur anderen und zeigte damit, dass sie sich ebenso freute, diesen stattlichen Neuankömmling kennenzulernen, wie ich. Sie hatte nur das Glück, ein Hund zu sein, der sich nicht dadurch blamieren konnte, dass er etwas Lächerliches sagte, nur um ein Gespräch anzufangen. Der Vikar ging in die Hocke und streichelte enthusiastisch mit seinen großen, fähig aussehenden Händen über Lizzies Kopf. „Sie ist eine echte Schönheit.“
„Ja.“ Ich fuhr wieder mit der Zunge über die Lippen und wünschte, ich hätte etwas anderes an als eine blassgelbe Bluse und eine Hose, die einst Stan gehört hatte. Ich hatte zwar die Beine gekürzt und neu gesäumt, aber am Bund konnte ich nicht viel ausrichten. Ein Stück Schnur um meine Taille hielt die Hose im Moment oben. Ich war überzeugt, würde ich mein bestes Kleid und vielleicht etwas von Rubys Lippenstift tragen, dann würde ich mich viel selbstsicherer fühlen und das Gespräch könnte sich freier zwischen uns entwickeln. Leider war nur ich hier. „Sie sind also der neue Vikar?“
Als würde der weiße Kragen um seinen Hals das nicht offensichtlich machen. Ich war noch schlimmer als eine Närrin. Ich war eine Vollidiotin. Kein Wunder, dass Stan mich verlassen hatte.
„Luke Walker.“ Er lächelte noch einmal und ich wusste nicht, ob er nur nett war, oder ob er über meine Unbeholfenheit lachte. „Und ja, ich bin der neue Vikar.“
„Gibt es auch eine Mrs Walker?“, fragte ich und blickte über seine Schulter, als würde seine Frau sich hinter Arthur Peters‘ Hecke verstecken und nur darauf warten, aufzuspringen und sich vorzustellen, kaum dass ich nach ihr fragte.
„Leider habe ich bisher noch niemanden gefunden, der es mit mir aushält“, erwiderte er geschickt.
Es fiel mir schwer, das zu glauben, aber ich widerstand dem Bedürfnis, ihm das mitzuteilen. Ich betrachtete meine Schuhspitzen und bereitete mich auf die unvermeidliche Frage vor. Jetzt, wo ich mich nach seiner möglichen Frau erkundigt hatte, würde er sicher gleich nach meinem Mann fragen. Wenn Ada ihn da nicht wie befürchtet schon ins Bild gesetzt hatte.
„Lizzie“, platzte ich heraus.
Meine Wangen brannten, als er mich verwirrt ansah. „Ich dachte, Sie hätten gesagt, Ihr Name sei Martha?“
„Ja.“ Ich nickte und schluckte, während Scham mich durchflutete. „Das ist … ich heiße in der Tat Martha. Mein Hund, den Sie gerade bewundert haben, heißt Lizzie.“
Mein Gartentor schlug zu und Absatzschuhe klackerten auf dem Asphalt, als Ruby schnell auf uns zukam. Ihr Kleid hatte genau dieselbe gelbe Farbe wie die Rüben, die ich am Morgen geerntet hatte. Ihre Lippen waren leuchtend rot angemalt, ihre Beine steckten in einer durchsichtigen Strumpfhose und an den Füßen trug sie schwarze Schuhe, in denen ich keine zwei Schritte geschafft hätte, ohne auf die Nase zu fallen.
„Abend“, grüßte sie Luke lässig. „Ich bin Ruby Andrews, Marthas jüngere Schwester.“
Kurz durchzuckte mich Ärger. Ruby hatte ordentlich frisierte Haare, ein schönes Kleid und damenhafte Schuhe. Ich hatte nichts davon. Und außerdem hatte sie verkündet, dass ich die ältere Schwester war. Ich unterdrückte ein Seufzen. Es war sinnlos, deswegen verstimmt zu sein, wo diese Sache doch klar ersichtlich war.
„Ich werde Sie dann mal in Ruhe reden lassen“, sagte ich eilig. „Ich sollte wirklich meinen Spaziergang mit Lizzie fortsetzen. Es war nett, Sie kennenzulernen, Herr Vikar. Hab einen schönen Abend, Ruby.“
Ich eilte davon, bevor einer der beiden dazu kam, zu antworten.
Warum um alles in der Welt hatte ich mir nur gewünscht, mehr Kontakt mit Menschen zu haben? Kaum hatte ich, was ich angeblich wollte, machte ich mich vollkommen lächerlich, indem ich es nicht einmal schaffte, einen einfachen Satz zustande zu bringen.
***
„Natürlich ist er sehr attraktiv“, sagte ich zu Lizzie, als wir von unserem Spaziergang zurück nach Hause kamen. „Aber das war nicht alles.“
Ich goss Wasser in den Teekessel und stellte ihn auf den Herd. Dann öffnete ich meinen Teeball und gab vier Teelöffel Lavendel hinein. Ich hing ihn in die Kanne und wandte mich dann wieder Lizzie zu. Ich glaubte zwar nicht, dass es sie wirklich kümmerte, aber es kam mir doch recht unhöflich vor, ihr den Rücken zuzukehren, wenn ich mit ihr sprach.
„Es schien mir einfach nicht möglich, etwas auch nur halbwegs Intelligentes zu sagen“, beschwerte ich mich. „Er hat mich all meines Witzes beraubt.“
Lizzie legte den Kopf schief und sah mich mit einer täuschend echten Imitation von Mitleid an.
„Ich gehe davon aus, dass die Kirche am Sonntag voll sein wird. Dieser neue Kerl schafft es bestimmt, auch noch die verbittertste alte Schachtel zu verzaubern.“ Ich biss mir auf die Lippe. „Ich weiß, dass das furchtbar selbstsüchtig von mir ist und mich auch nichts angeht, aber ich hoffe doch sehr, dass er sich nicht in Ruby verlieben wird.“
Lizzie schien es nicht zu kümmern, dass ich mich meiner Schwester gegenüber nicht sehr loyal verhielt. Eigentlich hätte ich mir wünschen sollen, dass ein so netter und guter Mann wie der Vikar sich für Ruby interessierte.
Der Teekessel pfiff und ich goss das Wasser in die Kanne. Während der Tee zog, ging ich in den Flur und musterte mich kritisch in dem ovalen Spiegel. Ich drehte meinen Kopf auf die eine und dann auf die andere Seite. Es veränderte mein Spiegelbild nicht und es zeigte mir auch nichts Neues.
„Meine Nase ist zu spitz“, sagte ich zu Lizzie, als ich in die Küche zurückkam. „Meine Haare sind stumpf und meine Kleidung ist alt und schäbig. Um Himmels willen, ich trage ja sogar Stans alte Hose.“
Ich schüttelte voller Selbstverachtung den Kopf. Es war vollkommen egal, was für einen Eindruck ich beim Vikar hinterlassen hatte, denn, ob mir diese Tatsache nun gefiel oder nicht, ich war verheiratet. Und bis zu dem Zeitpunkt, an dem Stan nach Hause kam oder die Polizei seine Leiche fand, gab es nicht viel, was ich tun konnte, um das zu ändern.
Und es hatte auch keinen Sinn, meine Zeit damit zu verschwenden, mich selbst zu bemitleiden. Ich hatte meine Rolle in dieser Welt schon vor langer Zeit akzeptiert. Meine Ehe war größtenteils unerfüllt, um nicht zu sagen langweilig gewesen. Ich beneidete Ruby, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatte, und der Möglichkeiten offen standen, die ich im Krieg nicht gehabt hatte. Für Frauen wandelten sich die Dinge. Die Welt da draußen veränderte sich – na ja, für Ruby vielleicht.
„Aber für uns verändert sich nichts, nicht wahr, Lizzie?“ Ich kniete mich vor meine treue Begleiterin und legte eine Wange an ihren Kopf. „In Westleham verändert sich nie irgendetwas.“ Aber das stimmte nicht ganz. Im Dorf stattete gerade jemand nachts Gärten Besuche ab und zerstörte Pflanzen. Der Gedanke daran, dass jemand das meinen geliebten Pflanzen antun könnte, ließ mich erschaudern. Ich war nicht wie die anderen Dorfbewohner, die zum Zeitvertreib gärtnerten, oder weil sie etwas haben wollten, mit dem sie an der Dorfschau teilnehmen konnten. Ruby und ich brauchten das Essen, das ich anbaute, zum Überleben.
„Also gut!“ Ich richtete mich auf und schenkte mir eine Tasse Lavendeltee ein. „Ich habe mich jetzt lange genug selbst bemitleidet. Wie Mutter sagen würde: Was geschehen ist, ist geschehen. Setzen wir uns ins Wohnzimmer.“
Ich stellte den Radioapparat an und setzte mich in meinen üblichen Sessel. Freitagabends kam oft ein Theaterstück, gefolgt von einem Konzert. Manchmal las oder strickte ich nebenher, aber an diesem Abend fühlte ich mich zu durcheinander, um etwas anderes zu tun, als dazusitzen und meinen Tee zu trinken.
Ich hoffte, dass ich mich am nächsten Tag wieder mehr wie ich selbst fühlen würde. Die Dorfschau war die größte Veranstaltung des Jahres in unserem Dorf, und da ich nun die stellvertretende Vorsitzende des Komitees war, würden viele Aufgaben auf mich zukommen.
Der Gedanke, dass Ruby mir ja versprochen hatte, mir für den Anlass ein Kleid zu leihen, munterte mich auf und ich beschloss, weniger an schöne Vikare außerhalb meiner Reichweite zu denken und mehr an die positiven Dinge in meinem Leben.
Kapitel zwei
„Ich fühle mich äußerst seltsam“, sagte ich zu Ruby. „Gar nicht wie ich selbst.“
„War das nicht das Ziel?“ Sie sah mich mit schiefgelegtem Kopf an. „Findest du nicht, dass du es verdienst, wenigstens einen Tag lang so sehr wie ein Filmstar auszusehen, wie ich es bewerkstelligen kann?“
Ich runzelte die Stirn und blickte wieder in den Flurspiegel. „Dieser pinke Lippenstift ist wirklich sehr auffällig.“
Ruby zuckte mit den Schultern. „Die Farbe ist total modisch. Alle Mädchen tragen das so.“
Ich wies sie nicht darauf hin, dass ich schon lange kein Mädchen mehr war. Ich wandte den Kopf hin und her und betrachtete mein Spiegelbild ein weiteres Mal. Die Magenta-Farbe auf meinen Lippen war viel auffälliger als alles, was ich mir jemals ausgesucht hätte, und die Frisur, die Ruby mir gemacht hatte, war ausgefallener, als ich es hinbekommen hätte. Zusammen mit dem schicken Kleid und den hochhackigen Schuhen, bei denen Ruby darauf bestanden hatte, dass ich sie auslieh, war mein Aussehen vollkommen verwandelt. Nun ja, abgesehen von … „Meine Nase ist immer noch zu spitz.“
„Daran kann ich nichts ändern, du altes Dummerchen.“
„Nein“, stimmte ich zu. „Das kann wohl niemand.“
„Gefallen dir wenigstens deine Haare?“
Ich wandte mich vom Spiegel ab und sah Ruby an. „Du hast wahre Wunder gewirkt. Vielen Dank für all deine Hilfe.“
Andere Schwestern hätten sich jetzt umarmt, aber so hatten unsere Eltern uns nicht erzogen. Ich bedauerte es mit jedem Jahr mehr, wie wenig emotionale Wärme sie mir mitgegeben hatten. Ich zeigte Lizzie gegenüber mehr Zuneigung als meiner eigenen Schwester.
Woran lag das?
„Ich habe Rita Hayworth mit genau so einer Frisur in einem Magazin gesehen“, sagte Ruby, während sie mich kritisch beäugte.
Meine kluge Schwester hatte mir genaue Anweisungen gegeben, was ich mit meinen Haaren tun sollte, bevor ich am vorigen Abend zu Bett ging. Pflichtbewusst verrenkte ich mir die Arme und sorgte dafür, dass die Lockenwickler, die sie mir auf den Nachttisch gelegt hatte, jede Strähne genau so umschlossen, wie sie es angeordnet hatte. Ich musste zugeben, dass sich die Schmerzen meiner Anstrengungen gelohnt hatten, als ich das Ergebnis von Rubys Wirken sah.
Vor einer Stunde hatte sie die Lockenwickler rausgenommen und die Haare von meinem Hinterkopf oben auf meinem Kopf festgesteckt. Die vorderen Haarpartien hatte sie leicht toupiert und die Locken ruhten jetzt auf dem so geschaffenen Scheitel. Außerdem hatte sie die Seiten zurückgekämmt und befestigt, was der ganzen Frisur ein schlichtes, elegantes Aussehen verlieh. Außerdem schuf es die Illusion, dass ich Unmengen von Haaren hätte, statt der paar dünnen, schlaffen Strähnen, die ich sonst unter einem Tuch versteckte.
In meinem geliehenen Kleid und mit meiner neuen Frisur sah ich kein bisschen wie Martha Miller aus dem Tulpencottage aus, die Stans Frau und eifrige Gärtnerin war. Ich sah aus, als könnte ich auf dem Weg nach London sein, um mir mit einem jungen Mann eine Vorstellung anzusehen. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie meine Verabredung mir die Hand hinhielt, um mir bei unserer Ankunft im West End aus dem Bus zu helfen. Als das Gesicht, das mein Lächeln erwiderte, das des Vikars war, riss ich mich aus meinem Tagtraum. Ich sollte gar nicht an andere Männer denken, aber erst recht nicht an einen mit Luke Walkers Beruf.
„Wir sollten wohl besser gehen.“ Ein Blick auf die Standuhr in der Ecke verriet mir, dass es neun Uhr war. Das Dorffest sollte erst um elf anfangen, aber da ich nun die stellvertretende Vorsitzende des Komitees war, wurde von mir erwartet, dass ich früher dort erschien und der Vorsitzenden, Alice Warren, bei den finalen Vorbereitungen half.
„Du solltest gehen.“ Ruby lächelte und gab mir einen leichten Schubs in Richtung der Tür. „Ich werde später da sein, um dir moralische Unterstützung zu leisten.“
„Was, wenn ich auf die Nase falle?“
„Wenn du fällst, tust du das, egal ob ich an deiner Seite laufe oder nicht.“ Ruby öffnete die Haustür und beobachtete, wie ich die Schwelle überquerte. „Denk einfach daran, was ich dir gesagt habe. Wenn du den Kopf hoch und die Schultern unten hältst, dann schaffst du das schon.“
„Läufst du wirklich jedes Wochenende in solchen Schuhen?“ Ich runzelte die Stirn und beäugte die schönen Schuhe kritisch. „Ich hätte üben sollen, darin zu laufen. Vielleicht komme ich besser nochmal rein und ziehe mir etwas Angemesseneres an.“
„Die lassen deine Beine ganz lang und schlank aussehen, und genau darum geht es doch.“ Ruby machte eine flatternde Bewegung. „Husch, husch, ab mit dir. Du bist schlimmer als ein Kind am ersten Schultag.“
Ich klammerte mich an meiner Handtasche fest und machte einen schwankenden Schritt den Weg entlang, als sich die Tür leise hinter mir schloss. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Der Gelbstrauch zu meiner Rechten war in voller Blüte und ließ gelbe Blüten von seinen dünnen Ästen hängen. Es war kein Wunder, dass der Baum gemeinhin als „Goldregen“ bekannt war. Mir fiel auf, dass im Gras am Fuß des Baumes einige Hülsen lagen, und ich überlegte, ob ich noch einmal ins Haus eilen und sie entsorgen sollte.
Hatte ich Ruby gesagt, dass sie giftig waren und dass Lizzie nicht in ihre Nähe durfte? Ich war mir nicht mehr sicher.
Als ich einen Blick zurück zum Haus warf, sah ich Ruby durch das Fenster des Wohnzimmers. Sie hatte die Gardine zur Seite geschoben und deutete auf das Tor am Ende des Pfades. „Los!“, formte sie mit den Lippen.
Selbst wenn Lizzie rausmüsste, würde Ruby sie realistisch gesehen eher in den Garten hinter dem Haus lassen, aber es sollte wirklich nicht nötig sein. Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie ich heute Morgen mit Lizzie spazieren gegangen war: ein Tuch bedeckte die Lockenwickler, die ich nicht anzufassen wagte. Stans Mantel verhüllte den Schlafanzug, den ich nicht ausziehen wollte, um nicht zu riskieren, mich in einer der Haarklammern zu verfangen, die all die Lockenwickler zusammenhielten.
Welch ein Schreckensbild ich abgegeben haben musste! Zum Glück war mir niemand begegnet, als Lizzie und ich weg vom Dorf und in Richtung von Bauer Benningtons Felder spaziert waren.
Als ich nun das Gartentor erreichte, hielt ich mich für einen Moment daran fest, um mich für den kurzen Weg bis zum Dorfplatz, wo die Schau stattfinden sollte, zu wappnen. Ich schwankte die Straße entlang und wünschte mir dabei, ich hätte einen Arm, an dem ich mich festhalten könnte.
Mein Leben wäre wohl deutlich einfacher gewesen, wenn ich aufgehört hätte, mir Dinge zu wünschen, die ich nicht hatte. Hätte Stan mir seinen Arm angeboten, wenn er an diesem Morgen hier gewesen wäre? Unwahrscheinlich. Er hätte mir wohl nicht direkt verboten, hohe Schuhe, knalligen Lippenstift und ein schickes geliehenes Kleid zu tragen, aber er hätte sicher angeregt, dass ich mir das Gesicht wasche und etwas Vernünftiges anziehe, bevor ich das Haus verlasse.
Nicht zum ersten Mal war ich froh, dass er damals nicht nach Hause gekommen war, aber dann wischten leise Gewissensbisse sofort das Lächeln von meinem Gesicht. Würde das jetzt immer so weitergehen? Würde ich jedes Mal, wenn ich mich freute, danach sofort Reue empfinden, weil ich nicht wusste, ob Stan tot oder am Leben war? Es kam mir nicht sehr gerecht vor, dass ich leiden sollte, nur weil mein Mann mit einer anderen Frau davongelaufen war.
Natürlich wusste ich nicht, was er getan hatte, aber das schien doch wie die beste Erklärung, auch wenn sie gar nicht zu ihm passte. Stan war ein Mann, der von Routinen lebte – alles lief immer auf die exakt gleiche Weise ab, von der Art, wie er das Haus verließ, bis zu dem, was er tat, wenn er nach Hause kam.
Hin und wieder erlaubte ich es mir, meine Gedanken treiben zu lassen und mir die anderen Möglichkeiten auszumalen. Dass er mit den Tageseinnahmen der Bank davongelaufen war oder irgendeine andere kriminelle Aktion unternommen hatte, verwarf ich sofort. Sicher hätte man es mir mitgeteilt, wenn er auf der Flucht wäre. Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass irgendjemand ihm etwas angetan hätte. Er war doch so ein gewöhnlicher Mann.
Sogar die Polizei glaubte, dass er sich mit einer anderen Frau eingelassen und mich für sie verlassen hatte – nachdem sie sich versichert hatten, dass er nicht unter meinen Kartoffeln begraben lag.
Ich schloss das Gartentor hinter mir, wobei ich darauf achtete, die neue Strumpfhose, die Ruby mir gegeben hatte, nicht einzuklemmen. Dann folgte ich ihrem Rat.
Kopf hoch, Schultern unten, blickte ich die Straße, die ins Herz von Westleham führte, entlang, und begann zu laufen.
***
Es war kurz vor elf Uhr und die Dorfbewohner strömten aus ihren Häusern auf die Wiese. Die Sonne schien auf Bocktische mit Tischtüchern, die ebenso weiß strahlten wie die wenigen Wolken, die über den Himmel zogen.
„Das Fest wird ganz wunderbar besucht sein, Mrs Miller“, rief Alice Warren mir zu, als sie mit einem Klemmbrett in der einen und einem Stift in der anderen Hand an mir vorbeisegelte.
„Nur dank Ihrer wundervollen Planung“, sagte ich zu ihrem entschwindenden Rücken.
Die eigentlich jährliche Dorfschau fand an diesem Tag zum ersten Mal, seit der Krieg auf dem Festland ausgebrochen war, wieder statt. Als das Datum verkündet wurde, hatte sich die Aufregung wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitet. Dies war die erste Feier seit dem Victory Day und ihr wurde sehr entgegengefiebert.
„Es wundert mich, dass sich überhaupt wer die Mühe macht, aufzukreuzen.“ Ada Garrett kam in das kleine Festzelt, das die Männer aufgebaut hatten. Nachher würden hier die Sieger der einzelnen Wettbewerbe der Schau verkündet werden. Typisch Ada, zu versuchen, einen Tag schlechtzureden, den sogar das englische Wetter nicht ruinieren wollte.
Ich stapelte ein paar Gläser, die uns der örtliche Pub, The Cricketer’s Arms, für die Nutzung am heutigen Tag ausgeliehen hatte, auf dem Tisch. Das verschaffte mir die nötige Zeit, um mir eine höfliche Erwiderung auf die Worte dieser zanksüchtigen alten Klatschtante einfallen zu lassen. „Es ist die erste Dorfschau seit Jahren, Mrs Garret. Ich nehme an, dass das ganze Dorf erscheinen wird.“
„Viele aus dem Dorf haben gar nichts, womit sie an der Dorfschau teilnehmen können.“ Ihr Blick wanderte an mir entlang, von den Locken auf meinem Kopf zu den Schuhen, die Ruby mir geliehen hatte und die jetzt meine Zehen furchtbar zusammenquetschten.
„Das, was da geschehen ist, tut mir sehr leid“, sagte ich beschwichtigend. Diese Frau konnte einen wirklich auf die Palme bringen. Die Zerstörung in den Gärten der Anwohner war ein furchtbarer Akt von Vandalismus, aber mit mir hatte das alles nichts zu tun.
„Ist das so?“ Ada stemmte die Hand in die üppige Hüfte und musterte mich mit unverhohlener Abneigung.
Jemand sollte Ada Garrett wirklich sagen, dass die Haare, die aus dem Leberfleck an ihrem Kinn sprossen, noch viel deutlicher hervortaten, wenn sie ihren Kopf so schief legte. Dieser Jemand würde nicht ich sein.
Ich hob die Augenbrauen. „Warum sollte es mir nicht leidtun?“
Sie musterte mich noch einmal langsam von Kopf bis Fuß. „Nun sehen Sie sich doch einmal an, herausgeputzt wie ein Pfingstochse. Sie gehen offensichtlich davon aus, dass Sie jeden einzelnen Preis einheimsen werden.“
„Ganz im Gegenteil, Mrs Garrett“, sagte ich freundlich. Ich war Adas giftigen Ton und ihre direkten Worte schon gewohnt. Und es war so viel einfacher, nett zu dieser Frau zu sein, wenn man ihr auf den haarigen Leberfleck statt in das verkniffene Gesicht und die wütend funkelnden Augen sah.
„Ach, ich bitte sie, Mrs Miller, Ihrer ist einer der wenigen unversehrten Gärten. Über Ihre Pflanzen redet man im ganzen Dorf.“
Es war schön, das zu hören. Dann sprachen sie wenigstens nicht mehr über Stan, und wo ich ihn wohl begraben hatte.
„Es ehrt mich, dass die Leute das Essen, das ich anbaue, für hochwertig befinden.“
„Ich vermute, das liegt daran, dass es guten Dünger hat“, schoss Ada zurück, frustriert, weil ihre Worte nicht die gewünschte Reaktion bei mir auslösten. „Ihr armer Ehemann.“
Ich zog ein Taschentuch aus meiner Handtasche, die am Ende des Tisches lag, und wischte mir an den Augen herum. Ich hoffte, sie würde sich schuldig genug fühlen, um mich in Ruhe zu lassen. „Ja, es ist jetzt genau ein Jahr her, dass mein armer Stan verschwunden ist.“
„Ihre Krokodilstränen beeindrucken mich nicht.“ Ada lehnte sich vor. „Ich weiß, was Sie diesem armen Mann angetan haben.“
Mit einer Sache hatte sie recht, ich konnte keine echte Träne für meinen vermissten Mann vergießen. Aber ich wusste wirklich nicht, wo er war. Dachte diese furchtbare alte Frau etwa, dass es mir gefiel, so viele Stunden mit der Gartenarbeit verbringen zu müssen, nur damit Ruby und ich etwas zu essen hatten? Auch wenn Ada immer sagte, was ihr eben gerade so in den Sinn kam, trafen mich ihre Worte. Ich konnte mir nicht erklären, was ich nur an mir hatte, das sie glauben ließ, ich könnte meinen eigenen Mann ermorden.
„Wie furchtbar unhöflich von Ihnen“, erwiderte ich und wünschte nichts mehr, als ihr sagen zu können, sie solle lieber nach Hause gehen und sich um die Haare auf ihrem Leberfleck kümmern.
„Wenn Sie deshalb so angezogen sind, weil Sie darauf hoffen, dass der Herr Vikar in Ihre Richtung sieht, sollten Sie sich besser mal darauf besinnen, dass Sie eine verheiratete Frau sind.“
„Ich bin deshalb so angezogen, weil ich die stellvertretende Vorsitzende des Dorfkomitees bin und es wichtig ist, dass ich professionell aussehe.“ Ich schluckte die Kränkung hinunter und sprach so würdevoll, wie ich konnte. „Auch wenn ich nicht leugnen werde, dass ich darauf gehofft hatte, dass sich der Vikar zu mir umsieht. Ein Blick hat bisher noch niemandem geschadet.“
„Wenn Sie einen Preis gewinnen, Mrs Miller, dann wird das ganze Dorf in Aufruhr sein.“
„Es freut mich, dass ich Sie da beruhigen kann“, sagte ich geschickt. „Ich bin überzeugt, dass ich dieses Jahr keinen einzigen Preis gewinnen werde.“
Das ließ Ada stutzen, ihr Mund blieb offen stehen wie der eines Fisches am Haken. Schließlich gewann sie die Fassung zurück und deutete mit ihrem stummeligen Zeigefinger auf mich. „Ich lasse Sie nicht aus den Augen.“
Und ich Sie auch nicht, um ja nicht zu verpassen, wie schnell Ihre Leberfleckhaare wachsen.
Ich machte schon den Mund auf, um diese hässlichen Worte auszusprechen, wurde dann aber davor gerettet, mich auf Adas Niveau herabzulassen, von niemand anderem als dem Mann, der vorhin in meiner imaginären Verabredung im West End vorgekommen war.
„Guten Morgen, die Damen.“ Luke Walker zog den Kopf ein, als er durch den Eingang des Zeltes trat. „Hat der Herr uns nicht einen wunderschönen Tag beschert?“
„Ja, das hat er wohl, Herr Vikar“, murmelte ich.
„Man sagte mir, dass Sie den besten Garten im ganzen Dorf haben, Mrs Miller.“
„Das ist schön zu hören.“
„Nur, weil ihrer nicht sabotiert wurde.“ Ada warf mir einen so hasserfüllten Blick zu, dass ich einen Schritt zurückweichen musste. Ich wusste nicht, was ich getan hatte, weswegen sie mich so verabscheute.
„Ich hatte sehr großes Glück, dass dieser Vandale meinen Garten nicht beschädigt hat.“ Ich zwang mich, dieser giftigen Frau zuzulächeln. „Ich weiß nicht, wie Ruby und ich es ohne die Erzeugnisse aus meinem Garten durch den Winter geschafft hätten.“
Der Vikar warf mir einen anerkennenden Blick zu, während Adas Gesicht einen hässlichen Rotton annahm. „Aber habe ich Sie eben richtig verstanden? Sie haben gesagt, sie würden dieses Jahr keine Preise gewinnen. Wie kann das denn sein, wenn Ihrer doch der beste Garten ist?“
Ich schenkte Ada ein strahlendes Lächeln, bevor ich mich ganz dem Vikar zuwandte. „Ich habe mich dazu entschieden, nicht am Wettbewerb teilzunehmen. Da ich im Komitee bin, kam es mir einfach nicht richtig vor.“
Das war nicht ganz gelogen. Dass ich nicht am Wettbewerb teilnahm, hatte weniger mit Moral zu tun und mehr damit, dass es keinen Geldpreis zu gewinnen gab. Ich brauchte keine Rosette. Ich musste meine kleine Familie ernähren.
„Wie edel von Ihnen“, sagte Luke Walker bewundernd. „Und wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, Sie sehen in diesem Kleid heute einfach fabelhaft aus.“
„Sie sind zu gütig“, murmelte ich rasch. Es fiel mir schwer, genug Luft in meine Lunge zu bekommen, um sowohl zu atmen, als auch zu sprechen.
Er wandte sich Ada zu. „Was für einen wunderbaren Hut Sie haben! Sehr hübsche Federn.“
„Ach, vielen Dank, Herr Vikar.“ Ada berührte ihn am Arm. „Was würden Sie davon halten, wenn ich Ihnen zeige, wo sie meine Stachelbeermarmelade versuchen können?“
„Das klingt wunderbar, Mrs Garrett.“
Ada warf mir einen triumphierenden Blick zu, als sie das Zelt mit dem Vikar an ihrer Seite verließ, aber das Zwinkern, das er mir zuwarf, entging ihr völlig.
Was hatte das zu bedeuten? Hatte er Adas fürchterliche Worte gehört und war in das Zelt gekommen, um mich zu retten, oder bedeutete das Zwinkern etwas ganz anderes?
Es war egal, weil Ada in einer Sache recht hatte. Ich war keine freie Frau. Trotzdem war es schön, Aufmerksamkeit von einem Mann geschenkt zu bekommen. Stan hatte mich in seinem ganzen Leben nie mit Wertschätzung angesehen – nicht einmal an unserem Hochzeitstag.
Ich wandte mich wieder meiner Aufgabe zu, die geliehenen Gläser auf den Tisch zu stellen, und nahm mir fest vor, meine Fantasie nicht mit mir durchgehen zu lassen. Egal, wie sehr ich die freundlichen Gesten des Vikars genoss, wir konnten nie mehr als Freunde werden.
Aber wahrscheinlich würde es noch eine Weile dauern, bis mein wild klopfendes Herz sich genug beruhigt hatte, um die Nachricht wahrnehmen zu können, die meine Vernunft an meinen überdrehten Körper zu senden versuchte: Dass er der Dorfvikar war und ich eine verheiratete Frau.
***
Später am Tag beendeten die Schiedsrichter ihre Aufgaben. Sie hatten Blumen angeschaut, Gemüse bewundert und Marmelade probiert. Wie für solche Dorfschauen üblich, waren die Schiedsrichter die hohen Tiere aus der Umgebung. Im Fall von Westleham hieß das, der Earl of Chesden, der in einem Herrenhaus hinter Bauer Benningtons Feldern lebte, und der hiesige Parlamentsabgeordnete Rupert Gosford. Wenn die beiden sich uneinig waren, zog man Lady Chesden zurate. Alice teilte mir mit, dass Lady Chesden in all den Jahren, die die Schau schon stattfand, noch nie gegen die Wahl ihres Mannes gestimmt hatte.
„Sollen wir anfangen?“, trällerte Alice aufgeregt.
Florence Noble, die Tochter des Wirtes, schob sich mit einem Tablett durch die Menge und sorgte dafür, dass alle vor Alices Verkündung der Ergebnisse ein Glas meines Pflaumengins hatten.
Draußen vor dem Zelt spielten Kinder und irgendwo bellte ein Hund. Ich entdeckte Ruby ganz am Ende der Menschenmenge. Sie nahm einen Schluck ihres Getränkes und prostete mir zu. Die Tradition sah vor, dass die Vorsitzende als Erste trank, alle mit einem Trinkspruch folgten, und danach die Preise verkündet wurden. Ich wünschte, mir wären Traditionen ebenso egal wie meiner Schwester.
„Lasst uns anstoßen.“ Alice hob ihr Glas. „Das Westleham-Dorfkomitee freut sich, dass wir dieses Jahr den Pflaumengin unserer Mrs Miller genießen können. Bitte schließt euch mir dabei an, Mrs Miller für ihre Großzügigkeit zu danken!“
Ich lächelte und nickte, als ein gemurmeltes „Danke“ durch das Publikum wanderte. Es stimmte, dass ich für die Dorfschau einige Flaschen Gin an das Komitee gespendet hatte, aber nur, weil ich die Hoffnung hatte, dass er so beliebt würde, dass die Einwohner in Zukunft gerne dafür bezahlten. Joe Noble, der Dorfwirt, hatte mit der Brauerei ausgehandelt, dass er meinen Gin in seinem Pub verkaufen durfte.
Es war lange her, dass ich etwas aus reiner Nächstenliebe getan hatte. Leider waren meine Handlungen seit Stans Verschwinden vor allem dadurch motiviert, was dabei für mich heraussprang.
Alice hielt das Glas an ihre Lippen. „Auf Lord und Lady Chesden und Mr Gosford, unsere hochverehrten Gäste aus Westleham, auf unsere Dorfschau, unser Komitee und unsere wunderbaren Bewohner!“
Alice trank und alle anderen folgten ihrem Beispiel. Das Gefühl der Euphorie und Feierlichkeit hing für einen langen Moment in der Luft.
Dann stolperte Alice vornüber. Sie fiel auf den Tisch vor ihr und die Pflanzen und Gläser darauf krachten zu Boden. Jemand schrie auf und dann ertönte das hohe Klirren zerbrechender Gläser, als Florence das Tablett mit Pflaumengin fallen ließ. Sie starrte Alice mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an.
Das Grauen in ihrem Gesicht versetzte mich in Bewegung und ich streckte die Hand nach Alice aus. Sie kratzte an ihrer Kehle, als würde sie versuchen, die Flüssigkeit, die sie eben getrunken hatte, wieder herauszuholen. Sie war zu schwer, als dass ich sie aufrecht halten konnte, und so sanken wir gemeinsam zu Boden. Alice schnappte verzweifelt nach Luft.
Jemand verlangte nach Doktor Briggs. Eine hektische Männerstimme rief Alices Namen. Frauen schrien. Chaos herrschte.
Hatte sie irgendeinen Anfall? Ich hatte kein medizinisches Wissen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Noch nie hatte ich mich so unzulänglich und schlecht vorbereitet gefühlt. Ich legte Alices Kopf in meinen Schoß und strich ihr mit zitternden Fingern das Haar aus der Stirn, so wie Mütter es mit ihren Kindern taten.
Als Doktor Briggs sich endlich durch die Menge gekämpft hatte und sich neben mir hinkniete, wurde Alices Körper ruhig. Kaum zwei Minuten waren seit ihrem Trinkspruch vergangen, aber das war wohl mehr als genug.
Alice Warren war tot.