Prolog
St. Giles, London, 1794
Der wichtigste Mensch in Johns Welt lag direkt vor ihm im Sterben und es gab nichts, was er tun konnte, um zu helfen.
„Gran?“, flüsterte er. Mit zitternder Hand tupfte er den öligen, ungesund anmutenden Schweiß von ihrer Stirn.
Blinzelnd öffnete sie die Augen. Sie waren eingesunken und rot gerändert, das Weiße war gelblich verfärbt.
„Es tut mir leid, John … tut mir so leid.“
„Was tut dir leid, Gran?“
Sie hustete. Es war ein grässlich abgehacktes Geräusch, von dem seine eigene Brust schmerzte. John legte eine Hand auf ihre Schulter. Er musste sie berühren. Es war Stunden her, dass sie das letzte Mal wach gewesen war. Er hatte sich so einsam gefühlt.
„Ich möchte es dir sagen, aber …“ Wieder hustete sie. „Gefährlich.“ Sie holte tief Luft.
„Schon in Ordnung, Gran. Du brauchst nicht …“
„Frag Kennedy.“
„Kennedy?“ John hatte den Namen noch nie gehört.
„Er ist nicht so schlecht wie …“ Sie beugte sich in einem heftigen Hustenanfall nach vorn. Blut spritzte aus ihrem Mund.
„Gran!“, kreischte John und erstarrte dann wie eine Maus vor einer Straßenkatze. Was sollte er tun? Was hatte sie …
„Es tut mir so leid“, murmelte sie erneut und sank dann aufs Bett zurück. Ihr Atem klang noch rasselnder als zuvor.
„Schon in Ordnung, Gran“, flüsterte John. „Bitte … Schlaf einfach. Dann wird es dir besser gehen.“
Immer wenn sie die Augen öffnete, murmelte sie eine Entschuldigung. John wusste nicht, warum. Er wollte nur, dass sie damit aufhörte.
Wie eine Schlange schoss ihre Hand vor und schloss sich um seinen Arm. Überrascht schrie er auf. „Nimm das Kleid und geh zu ihm, John. Er wird wissen …“ Wieder krampfte sie sich unter einem Hustenanfall zusammen.
„Kleid?“, wiederholte John.
Doch sie verdrehte ihre Augen und wurde still.
„Gran?“ Er schüttelte sie. „Gran!“
John wimmerte vor Erleichterung, als sie sich stöhnend unter dem dünnen, schweißgetränkten Laken bewegte. Er wischte sich eine Träne von der Wange und sank in seinem wackligen Stuhl zurück.
Es war Juli und in der winzigen Dachkammer war es so heiß, dass sogar Johns Augäpfel zu schwitzen schienen. In ihrem Teil des Dachbodens gab es kein Fenster und die einzige Brise kam aus dem Nebenzimmer, in dem nur ein Mieter lebte, ein mürrischer Mann namens Dolan.
Dolan machte ihm Angst, obwohl er klein und drahtig war und nicht viel größer als John, der mit seinen eins achtzig für sein Alter ungewöhnlich groß war. Sein genaues Alter kannte er nicht, denn seine Großmutter brachte Jahre und Daten gern durcheinander.
„Wie geht es ihr, Junge?“
Beim Klang von Dolans Stimme fuhr John herum. Es war, als hätten seine Gedanken an ihn den Mann heraufbeschworen. Das war es, was Gran über den Teufel gesagt hatte: Denk nicht an ihn, John, oder er kommt dich besuchen.
Dolan war vielleicht nicht der Teufel, aber unwillkommen war er dennoch.
„Ich habe dich etwas gefragt, Junge“, herrschte Dolan ihn an. Er blickte ihn an und sein Magen zog sich zusammen, als hätte er saure Milch geschluckt.
„Sie schläft“, sagte er und war stolz, dass er eher aufsässig als verängstigt klang.
Dolan stieß ein bellendes Lachen aus und näherte sich dem Bett. „Das ist kein Schlaf, Junge. Sie ist bewusstlos. Du brauchst einen Arzt.“
Das dachte John ebenfalls. Aber er hatte kein Geld, um einen Arzt zu bezahlen, selbst wenn es ihm gelänge, einen zu überzeugen, nach Pigeon Alley zu kommen, in einen der anstößigsten Teile von St. Giles.
„Aber ich denke, das wäre hinausgeworfenes Geld“, sagte Dolan. „Ein Doktor würde dir nur sagen, dass du dich von ihr verabschieden sollst.“ Er wollte John auf die Schulter klopfen, doch er wich zurück, bevor Dolan ihn berühren konnte.
„Warum stellst du dich so an, junger Freund?“, fragte Dolan in einem Tonfall, den er wohl für freundlich hielt, doch John sah das gierige, abscheuliche Funkeln in seinen Augen.
John fiel nichts ein, was er hätte sagen können, also schüttelte er nur den Kopf. Dolan sah sich in ihrer kleinen, düsteren Unterkunft um. Sein Blick blieb an Grans Nähtasche hängen, dem einzigen Wertgegenstand im Raum. Die Schere in der Tasche, die John nicht berühren durfte, war Grans geschätzter Besitz. Ohne sie wäre sie nicht in der Lage, ihrer Arbeit nachzukommen. Darin befanden sich weiterhin ein Fingerhut, ein paar spitze Nadeln in einer kleinen Blechdose und ein Lederbeutel, der etwas enthielt, das John nie gesehen hatte, da seine Großmutter ihn zugenäht hatte.
„Das gehört dir“, hatte sie gesagt, als er nach dem Inhalt des Beutels gefragt hatte.
„Warum darf ich ihn nicht öffnen?“, hatte er mehr als einmal wissen wollen.
„Eines Tages wirst du das.“
„Wann?“
„Irgendwann.“
Das war alles, was er je aus ihr herausbekommen hatte. Obwohl er seit Jahren neugierig gewesen war, interessierte es ihn im Moment nicht, was der Beutel beinhaltete. Sein Blick glitt zu Gran zurück und mit einer Gewissheit, die ihm Übelkeit bereitete, wusste er, dass sie sterben würde, wenn er keinen Arzt herbekam. John wünschte, er könnte seine Großmutter fragen, was er tun sollte, doch nun lag es an ihm. Er war der Mann in der Familie.
„Ich habe etwas. Vielleicht reicht es, um einen Arzt zu bezahlen“, platzte er heraus, bevor er seinen Mut verlor.
Dolans Augen funkelten interessiert. „Ach ja?“
„Grans Schere.“ Halb erwartete er, sie würde vom Bett aufspringen, als er seinen Vorschlag machte, doch sie zuckte nicht einmal.
„Lass mich sie sehen“, sagte Dolan und grinste nun nicht mehr. Vielleicht wollte er helfen? John brauchte dringend Hilfe.
Er wühlte in der Tasche herum, schob Stofffetzen beiseite und ein kleines Notizbuch, das Gran immer bei sich hatte, obwohl sie nicht lesen konnte. Da waren ihre Nadeldose, der Lederbeutel und ganz unten die dicke Filzhülle mit der Schere. John sah seine Großmutter an, als er sie aus der Tasche nahm. Normalerweise wäre er nicht so wagemutig gewesen, doch sie rührte sich nicht auf ihrer Matratze, als er Dolan die wertvolle Schere reichte.
Dolan schlug den Filz auf und hielt die Schere mit den schönen Griffen näher an die rußende Talgkerze. „Die ist sehr schön. Sicher hat sie sie irgendwo mitgehen lassen.“
„Gran klaut nicht!“, schrie John, obwohl er sich selbst schon gefragt hatte, wie sie sich eine so schöne Schere hatte leisten können.
Dolan kicherte. „Beruhige dich, Junge, ich habe nur einen Spaß gemacht. Die wird ausreichen, um Feehan herzuholen, damit er einen Blick auf sie wirft.“
Feehan war ein Schlachter, der ein paar Straßen weiter wohnte und einmal eine Beule an Johns Knie aufgestochen hatte. Er war ein schmutziger, beängstigender Berg von einem Mann, doch Gran hatte ihn einst gerufen, also vertraute sie ihm offenbar.
John streckte seine Hand nach der Schere aus.
„Nee, du willst doch nich damit auf der Straße rumlaufen, oder?“
Das stimmte, doch John wollte auch nichts von Wert bei dem unangenehmen kleinen Mann zurücklassen.
„Sag dem Schlachter einfach, Jake Dolan sagt, dass du bezahlen kannst.“
John zögerte. Ihm gefiel der Gedanke nicht, die Schere und seine Gran zurückzulassen, aber was sollte er sonst tun?
„Soll ich hier sitzen bleiben, während du weg bist? Ihr Gesellschaft leisten?“
Dolans freundliches Angebot machte John ein schlechtes Gewissen, weil der den Mann nicht mochte und ihm nicht traute.
Wieder nickte er und zwang sich dann, wie ein großer Junge zu reden, wie Gran immer sagte. „Danke.“
Dolan nahm den Stuhl, auf dem John gerade gesessen hatte. „Geh jetzt. Ich pass auf sie auf. Du beeilst dich besser.“
John wandte sich ab und rannte.
***
John brauchte beinahe drei Stunden, um Feehan zu finden. Er war nicht in seinem Laden, sondern in einer Rattengrube am anderen Ende von St. Giles. Der riesenhafte Schlachter wollte nicht mit John mitkommen, bis der Terrier, auf den er Geld gesetzt hatte, einen schlimmen Biss von einer Ratte kassierte und aus dem Rennen war. Aufgrund seines Verlusts war Feehan schlechter Stimmung und grummelte vor sich hin, während er hinter John herschlurfte. Er bewegte sich so langsam, dass John sich auf die Zunge beißen musste, um ihn nicht anzuschreien. Etwas sagte ihm, dass der elende Schlachter dann nur noch langsamer gehen, oder noch schlimmer, vielleicht gar nicht mitkommen würde.
„Ich hoffe, du hast etwas, um mich zu bezahlen, Junge“, drohte Feehan zwischen pfeifenden Atemzügen.
„Ich kann bezahlen.“ John sagte Feehan nicht, dass er kein Geld hatte. Ware war schließlich genauso gut. Hoffte er zumindest.
Als sie zu dem Haus kamen, in dem John wohnte, blickte Feehan hinauf und schimpfte. „Verdammt noch mal! Ihr wohnt unterm Dach. Ich erinnere mich. Die alte Lady Fielding. Du bist ihr Bengel, nicht wahr?“ Er zog eine Grimasse und seufzte, als John nickte. „Geh schon weiter.“
John eilte die Treppe hinauf. Plötzlich hatte er Angst, dass Dolan die Schere genommen und Gran alleingelassen haben konnte. Schließlich kannte er den Mann nicht. Was wenn …?
Doch als er atemlos und verschwitzt den Dachboden erreichte, stand Dolan auf dem Treppenabsatz, als hätte er auf ihn gewartet. Sein Rattengesicht sah traurig aus, doch seine Augen blickten so schlau wie immer.
„Sie ist gestorben, Junge. Nicht lange nachdem du gegangen bist.“
John schob sich an ihm vorbei, doch Dolan griff seinen Arm. „Du möchtest nicht dort hineingehen, Junge.“
„Lassen Sie mich los!“, schrie John und wand sich.
„Du musst sie nicht sehen. Es ist nicht schön, Junge.“
Dolans Ärmel rutschte hoch und entblößte sein Handgelenk. John sah, dass er dort blutige Kratzer hatte. Er öffnete seinen Mund weit und biss ihn, so fest er konnte.
Dolan stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus und ließ ihn los. John schoss durch den abgedunkelten Raum und kam vor Grans Bett stolpernd zum Stehen.
Ihre Augen waren so weit aufgerissen, wie sie es seit Tagen nicht gewesen waren, und der Schrecken stand ihr ins Gesicht geschrieben. Auf dem Boden lag das schmutzige, platte Kissen, das unter ihrem Kopf gewesen war, als John den Raum verlassen hatte. Es war feucht von Blut und etwas, das aussah wie Erbrochenes.
Eine große Hand legte sich auf seine Schulter. Im Gegensatz zu Dolans Griff war Feehans nicht abzuschütteln. „Du schuldest mir was. Ich bin hierhergekommen. Es ist mir egal, dass sie tot ist.“
John fand keine Worte.
„Der Junge hat gelogen, als er dir sagte, er hätte Geld, Feehan“, sagte Dolan und trat neben den Schlachter. Er hielt sich sein blutiges Handgelenk.
„Habe ich nicht!“ John blickte sich nach Grans Nähtasche um, doch sie war fort. Er wirbelte herum. „Wo ist sie?“
Dolan grinste höhnisch. „Wovon zum Teufel sprichst du?“
„Grans Schere und ihre Tasche! Sie haben sie genommen!“ John warf sich auf den verachtenswerten, grinsenden Mann und überraschte ihn derart, dass er zu Boden ging. Er drosch auf den kleinen Mann ein, als etwas Hartes gegen seinen Hinterkopf schlug und sein Kopf in Schmerz und weißen Blitzen explodierte.
John verlor das Zeitgefühl und kehrte erst zu sich selbst zurück, als Feehan ihn so heftig schüttelte, dass er dachte, sein Kopf würde sich von seinem Hals lösen.
„Hey, du kleiner Bastard! Du hast mich angelogen.“ Der Schlachter gab ihm eine Ohrfeige. „Niemand lügt mich an und kommt davon, ohne zu bezahlen!“ Feehan schlug erneut zu, diesmal mit seiner Faust und nicht mit der Handfläche. Alles wurde schwarz.
Als John das nächste Mal zu sich kam, war er mit in Streifen gerissenen Stücken des Lakens an den Stuhl gefesselt. Das Bett war leer.
„Wo ist Gran?“, wollte er von Dolan wissen, der die alte Kiste durchwühlte, in der Gran ein wenig Essen aufbewahrte, wenn sie denn etwas übrig hatten.
„Weg. Ist zu verdammt heiß, um sie hier herumliegen zu lassen.“
„Das habe ich nicht gefragt! Wo ist sie?“
Dolan ignorierte ihn.
„Wo ist Gran?“, brüllte John und kämpfte gegen seine Fesseln an, als der Mann weiterhin schwieg. Doch das alte Laken, das zusammengedreht als Seil diente, war stärker als er erwartet hatte.
„Wo ist die Schere?“, schrie er. Er sah rot und sein Körper zitterte vor Wut. Schließlich drehte sich Dolan zu ihm um und kam näher. Seine Augen waren so kalt, dass John in sich zusammensank.
„Feehan wollte die Schere nicht, also habe ich ihn aus meiner eigenen Tasche bezahlt.“ Seine Augen zogen sich zu kleinen Schlitzen zusammen. „Das bedeutet, du schuldest mir was.“
„Sie lügen!“
Dolan schlug ihn hart und hob seine Faust erneut, als John seinen Mund öffnete, um zu schreien. „Wenn du nicht noch eine willst, hältst du besser den Mund.“
John blinzelte den Schmerz fort und raste vor Wut, als er Tränen auf seinen Wangen spürte.
„Was hast du, um mich zu bezahlen, Junge?“
„Ich kann arbeiten“, stammelte er. „Ich kann Nachrichten überbringen und Pferdeställe ausmisten und …“
„Ich überbringe meine Nachrichten selbst und Ställe hab ich nich.“
„Ich bin groß, ich kann arbeiten. Ich kann …“ Er zuckte zusammen, als Dolan mit dem Finger über seinen Kiefer fuhr. Seine Augen funkelten dabei auf eine Weise, die John Übelkeit bereitete.
„Ja, was für ein großer Junge du geworden bist. Ich erinnere mich daran, wie ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Nicht lange nach dem Tod deiner Mutter. Du warst ein Säugling und so fein gekleidet wie ein König.“ Er lachte hässlich und zupfte am schmutzigen Kragen von Johns Hemd. „Nun bist du nicht mehr so schick, nich wahr?“
John versuchte, sich auf Dolans Worte zu konzentrieren, doch er zitterte vor Angst.
„Ich erinnere mich an deine Ma. Sie war ein richtiges Sahnestückchen.“ Er leckte auf ekelerregende Weise seine Lippen. „Ich nehm an, jeder könnte dein Dad …“
„Gran sagte, mein Dad hieß Joe …“
„Joe und Mary?“ Dolan johlte. „Auf einem Esel geritten, was? Hast du in einer Krippe gelegen?“
John blickte böse zu ihm auf. Vor Wut konnte er nicht einmal sprechen.
Dolan kratzte sich am Ohr. „Mary war mit jemandes Balg schwanger, bevor sie starb. Ich nehm an, dein Dad ist entweder Kennedy oder Bower. Sie hingen damals mit Mary rum. Aber an einen Joe erinner ich mich nich.“
„Sie sind ein Lügner!“
Er grinste auf John hinab. „Deine Ma hatte viele Männer, aber keinen, der ein so abgenutztes Weib geheiratet hätte.“
„Sie waren wohl verheiratet! Sie sind ein Lügner!“ John schrie immer weiter, bis er selbst die undeutlichen Worte kaum noch verstand. Er wusste einfach, dass er Dolan davon abhalten musste, weiterzureden. Er musste verhindern, dass er mit seinen bösen Lügen Johns Erinnerungen verdarb, denn sie waren alles, was ihm geblieben war.
Dolan verpasste ihm eine Ohrfeige. „Halt den Mund, du kleiner Bastard, bevor ich …“
„Was is hier los, Dolly?“, fragte jemand.
Dolan schrie auf und fuhr herum. Die Stimme gehörte zu einem großen Mann, dessen feine Kleidung in leuchtenden Farben in dem düsteren Raum beinahe blendete. „Kannst keinen Jungen unter Kontrolle halten, ohne ihn an ’nen Stuhl zu binden, oder was?“
„Lach du nur, Alfie. Du fändest es nich so lustig, wenn er deine Hand gebissen hätte.“
Alfie wandte sich an John. „Wenn du mich beißt, brech ich dir den Schädel, Junge.“
John saß ganz still, als Alfie sich vor ihm aufbaute und nachdenklich aus grünen Augen auf ihn hinabstarrte. Sein Blick war so hart wie das Buntglas der Kirche, in die Gran John an manchen Sonntagen zu gehen gezwungen hatte, wenn es ihr gut genug ging.
„Du bist also der junge John Fielding, ja?“ Alfies Blick glitt über John, sodass der sich fühlte wie ein zum Verkauf stehendes Tier. „Siehst nicht wie deine Ma aus.“
„Sie kannten meine Ma?“, platzte John heraus.
Alfie grinste anzüglich. „Klar kannte ich sie.“ Er machte eine stoßende Bewegung mit seinen Hüften und lachte. Dolan fiel ein. Das Geräusch war so hässlich wie die beiden Männer.
„Das ist eine Lüge! Sie hat niemals …“
Alfie schlug ihn mit dem Handrücken. John wich zurück, bevor der Schlag ihn voll erwischte, sodass Alfies riesige Pranke nur sein Ohr streifte. Doch es schmerzte trotzdem genug, dass seine Augen tränten.
„Du hältst den Mund, Junge. Hast ’ne Menge zu lernen“, murmelte Alfie und blickte böse auf ihn hinab, bevor er sich an Dolan wandte. „Wie viel willst du für ihn?“, fragte Alfie. „Er ist zu groß für ein Schneeglöckchen.“
John starrte zu Alfie hinauf. Schneeglöckchen? Sie sprachen doch nicht davon, ihn als Kaminkehrer zu verkaufen?
„Sie können mich nicht verkaufen! Ich bin kein …“
Alfie hob seine Faust und John hielt den Mund. Der Riese wandte sich an Dolan.
„Ich geb dir zwei Schilling für ihn.“
„Zwei Schilling?“, quakte Dolan. „Das reicht nicht einmal, um …“
Alfie holte aus. Im Gegensatz zu John war Dolan nicht schnell genug und der Schlag traf ihn voll gegen den Kopf und warf ihn zu Boden. „Du hältst ebenfalls das Maul. Oder hast du vergessen, wie viel du dem Flinken Eddie schuldest? Ich könnte diesen Jungen einfach mitnehmen.“
Dolan kauerte auf eine Weise, die John amüsiert hätte, wenn er selbst nicht so verängstigt gewesen wäre.
„Ja, ja, ’tschuldigung, Alfie. Äh, ich nehm das Geld. Danke, Alfie.“
Alfie grunzte und zog ein Messer aus einer Scheide an seinem Gürtel. John schrie auf und sank in sich zusammen, als Alfie sich zu ihm beugte. Statt ihn wieder zu schlagen, kicherte Alfie nur. „Ganz ruhig, kleiner Mann. Ich habe nicht für dich bezahlt, um dich dann um die Ecke zu bringen.“ Er schnitt Johns Arme und Beine los. „Muss ich dich fesseln? Willst du abhauen oder brav mitkommen?“
John öffnete seinen Mund, um zu fragen, wohin sie gingen, doch ein Blick in Alfies harte Augen sagte ihm, dass er sich so nur eine weitere Ohrfeige verdiente.
„Ich werde keine Probleme machen.“
Alfie zwinkerte. „Kluger Bursche.“
„Wo ist Gran?“, wagte sich John erneut zu fragen.
Alfie sah ihn stirnrunzelnd an, wandte sich dann aber an Dolan. „Wohin hast du sie bringen lassen?“
„Ein Kerl aus St Bart’s kam und hat sie geholt.“
Alfie streckte die Hand aus und seine Finger schlossen sich um Dolans Kehle. „Wo ist die Kohle?“
Dolans Mund bewegte sich, doch es kam nur ein Keuchen heraus.
„Was?“, fragte Alfie und beugte sich näher zu ihm. Dolan musste etwas gesagt haben, denn Alfie warf ihn zu Boden wie eine Lumpenpuppe und ging dann in die Hocke, um seinen Schuh auszuziehen. Münzen rollten über den Fußboden. Alfie sammelte sie auf und ließ sie in seine Manteltasche fallen. Dann wandte er sich an John. „Deine Gran ist fort. Bereits begraben.“ Er fasste ihn bei der Schulter und schob ihn zur Tür hinaus. „Du hältst deinen Mund und stellst keine Fragen. Von jetzt an musst du dir nur eines merken: Du gehörst dem Flinken Eddie.“
Damals wusste John es noch nicht, doch in den darauffolgenden Jahren lernte er, dass Alfie nicht übertrieben hatte: Er gehörte dem Flinken Eddie, mit Körper, Geist und Seele.
Kapitel Eins
London, 1818
Vierundzwanzig Jahre später
John lehnte am Laternenpfahl und beobachtete die drei Frauen, die aus der Kutsche stiegen. Er hatte sein Pferd in einer Gasse ein paar Straßen weiter stehenlassen und war die kurze Entfernung gelaufen, um den irrsinnigen Verkehr zu vermeiden, der in der Bond Street, der beliebtesten Flaniermeile der besseren Gesellschaft, immer herrschte.
Er beobachtete die drei Frauen seit Wochen. Eigentlich nur sie. Zuerst hatte er einen Grund gehabt, sie auszuspionieren, einen unerfreulichen, kriminellen Grund, aber immerhin einen Grund. Aber jetzt …
Nun, irgendwie war es zur Gewohnheit geworden, sie zu betrachten. John sagte sich, dass es so war, weil er nichts Dringendes zu tun hatte. Zum ersten Mal seit Jahren – ja, zum ersten Mal in seinem Leben – war er sein eigener Herr und konnte tun und lassen, was immer ihm beliebte.
Und offenbar beliebte es ihm, einer alleinstehenden Frau und ihren beiden jugendlichen Begleiterinnen hinterherzuspionieren.
Die jüngeren Frauen, die Ladys Melissa und Jane, bemerkte er kaum, obwohl sie beide, objektiv betrachtet, attraktiver waren als ihre Tante Miss Cordelia Page. Doch es war nicht Miss Pages Gesicht oder ihr Körper, der Johns Interesse geweckt hatte. Um ehrlich zu sein, hatte er sie kaum bemerkt, als er begonnen hatte, die drei Frauen zu beobachten. Nie hätte er sich die Mühe gemacht, sie noch einmal zu beobachten, wenn Miss Page beim ersten Mal nicht etwas Faszinierendes getan hätte.
Es war eine für London ganz alltägliche Szene gewesen und spielte sich seit Jahrhunderten so ab: eine Gruppe Jungen, die einen Straßenhund quälten. Arme Kinder, die etwas noch Schwächeres gefunden hatten, und aus nur ihnen bekannten Gründen grausam waren. Oder sie waren es ganz ohne jeden Grund.
Miss Page war die Einzige in ihrer Gruppe gewesen, die den jaulenden Hund und die Jungen, die ihn mit Steinen bewarfen, bemerkt hatte. Nur sie hatte die lauten, groben Stimmen gehört. Mitten auf dem Fußweg war sie stehengeblieben, während ihre Begleitungen weitergingen und nicht bemerkten, dass sie sie verloren hatten. Als die beiden Mädchen und ihr Diener feststellten, dass sie nicht mehr da war, stand Miss Page bereits den fünf johlenden Jungen in der Gasse gegenüber. Mit in die Hüften gestemmten Händen hatte sie sich zwischen sie und den zusammengekauerten Hund geschoben. Sie hatte keine Ahnung von der Gefahr gehabt, in die sie sich begeben hatte.
John war auf sie zugerannt, als er erkannt hatte, was sie zu tun im Begriff war, doch er war zu weit entfernt gewesen und hätte es nie rechtzeitig geschafft.
Zum Glück war der Diener in der Nähe und erreichte die Szene gerade rechtzeitig, um sich zwischen Miss Page und einen Stein von beachtlicher Größe zu werfen. Das Wurfgeschoss traf ihn in die Brust und die jungen Grobiane suchten das Weite, als sie sahen, was sie getan hatten. Der Diener mochte einen Bluterguss davongetragen haben, war aber davon abgesehen unverletzt.
Unterdessen hob die Frau, ungeachtet der Gefahr, in der sie sich soeben befunden hatte, den zitternden Hund auf und wiegte ihn in ihren Armen. Sie kümmerte sich nicht um Schmutz oder Krankheiten, sondern hielt das Tier, als wäre es das Wertvollste auf der Welt.
John hatte erstarrt am Anfang der Gasse gestanden und sie angesehen, als wäre er derjenige gewesen, den der Stein getroffen hatte. Ein Hund. Sie hatte ihr Leben für einen schmutzigen alten Hund aufs Spiel gesetzt, der wahrscheinlich sowieso nicht mehr lange leben würde.
Frauen ihrer Klasse taten so etwas nicht.
John wusste jetzt, dass sie es sehr wohl taten. Zumindest eine von ihnen. Nach diesem Zwischenfall folgte er dem Trio in der nächsten Woche erneut. Und in der Woche danach.
John folgte ihr nicht jeden Tag. So schlecht war er nicht. Noch nicht.
Es war nicht so, dass sie etwas Interessantes oder Aufregendes unternahmen. Heute gingen sie in das Geschäft einer Schneiderin. Beim letzten Mal waren sie in einer Buchhandlung gewesen. Davor in beiden Läden. Frauen der Oberklasse schienen nicht viel anders zu tun als einzukaufen. Selbst solche wie Miss Page, die eine unverheiratete, verarmte Edelfrau war, die von den Launen und der Freundlichkeit ihrer reichen Verwandten abhängig war.
Um ehrlich zu sein, hatte John seine irrationale Besessenheit von der Frau gründlich satt. Nie zuvor war er derart auf eine Frau fixiert gewesen. Bereits früh im Leben hatte er gelernt, dass es der schnellste Weg zur Enttäuschung war, wenn man etwas zu sehr wollte. Je mehr man etwas begehrte, desto enttäuschter war man am Ende, wenn man es nicht haben konnte. Oder wenn es einem fortgenommen wurde.
Alles, was er sich je zu begehren erlaubt hatte, war Rache. Rache an dem Mann, der ihn und seine Mutter verlassen und zum Sterben in der Gosse zurückgelassen hatte.
Rache war kalt und zehrend und unerbittlich. Es war ein Gefühl, das er verstehen konnte.
Was er hier empfand, war ein Verlangen, das er tief in seinem Innern spürte. Nie zuvor hatte er etwas Ähnliches gefühlt. Er hatte versucht, sich durch gutes Zureden aus dieser Besessenheit zu befreien, doch sein Verstand weigerte sich zuzuhören. Mit jedem Tag, der verging, begehrte er Miss Cordelia Page mehr.
John hatte absolut keine Ahnung, warum die Frau ihn so faszinierte. Er wollte nicht nur mit ihr schlafen, obwohl diese Idee in ihm aufgekeimt war, nachdem er sie einige Male beobachtet hatte. Es verlangte ihn auch danach, sie kennenzulernen.
Was zur Hölle sollte das überhaupt bedeuten?
Jeder, der John nahegestanden hatte, war tot und das hatte ihn eine wichtige Lektion gelehrt: Halte die Menschen auf Distanz.
John hatte Miss Page nicht in seinen Kopf eingeladen. Er wollte sie dort überhaupt nicht haben. Und doch hatte sie ihren Weg hineingefunden. Es war verdammt ärgerlich.
In den letzten zwei Jahrzehnten hatte er einer einzigen Person Zugang zu seinem Leben gewährt: seinem ehemaligen Arbeitgeber Stephen Worth. Und das auch nur, weil Worth ihn aus der Hölle gerettet und ihm dann eine Arbeit gegeben hatte.
Er hatte John auch einen Grund zum Leben gegeben: Rache.
Rache war jahrelang genug gewesen. Bis jetzt.
Miss Page hatte keine weiteren Hunde gerettet, doch John hatte sehr wohl freundliche Taten beobachten können. Sie hatte immer einen Penny für einen Straßenkehrer übrig, ein nettes Wort für die Diener und war geduldig mit ihren verwöhnten Nichten, selbst wenn diese launisch oder unhöflich zu ihr waren.
Sie war eine arme Verwandte. Eine Frau, die nur so lange toleriert wurde, wie sie nützlich war. Und doch sah sie ihrem Leben in Knechtschaft mit Humor und gutmütiger Akzeptanz entgegen.
Wenn es eines im Leben gab, worüber John Bescheid wusste, dann war es Knechtschaft, und er war ihr nie mit guter Laune oder Akzeptanz begegnet.
Warum war diese Frau nur die ganze Zeit so fröhlich? Und warum faszinierte sie ihn so sehr? Wie ein glänzendes Ding, das er gerade so sehen konnte, aber nicht gut genug, um die Einzelheiten zu erkennen. John musste näher heran.
Neben einem Laternenpfahl blieb er stehen und beobachtete sie unter der Krempe seines Huts heraus. Soweit John wusste, besaß sie nur wenige Kleider, während die beiden Mädchen – seine Halbschwestern, auch wenn niemand je glauben würde, dass eine solche Beziehung möglich war – niemals dasselbe Kleid zweimal trugen. Es war nicht überraschend, dass die Mädchen ihm nicht glichen. Sie hatten nicht nur eine andere Mutter, sondern als legale Töchter eines Dukes auch ein gänzlich anderes, leichtes und erfülltes Leben genossen.
John konnte sich die Reaktion der verwöhnten Mädchen nur vorstellen, wenn sie erfuhren, dass er ihr unehelicher Halbbruder war.
Bei der Vorstellung musste er grinsen. Es war ein furchterregender Anblick, der einen entgegenkommenden Fußgänger ins Straucheln brachte, sodass er in eine Gruppe junger Stutzer hineinrannte.
„So früh schon beschwipst?“, grölte ein junger Edelmann dem alten Herrn hinterher. Dann fiel sein Blick auf John und sein höhnisches Grinsen wich ihm schneller aus dem Gesicht als eine Hure ihr Höschen ausziehen konnte. „Oh, Verzeihung“, murmelte er und ging John aus dem Weg.
John ignorierte sowohl seinen schreckensstarren Blick als auch seine Entschuldigung und hielt seinen Blick auf die drei Frauen gerichtet, die in der Schneiderei verschwanden, wo sie sich höchstwahrscheinlich stundenlang aufhalten würden. Und wenn sie wieder herauskamen? Dann würde sie in ihre Kutsche steigen und zum nächsten Geschäft fahren.
Wollte er wirklich stundenlang hier stehen und auf einen Blick warten, der nicht länger als ein paar Sekunden andauerte?
John seufzte. Ja, das wollte er.
Er stieß sich vom Laternenpfahl ab, überquerte die Straße und betrat eine der Teestuben, die die auf der Bond Street flanierende Meute mit Nahrung versorgte.
Das Stimmengemurmel wich aus dem überfüllten Raum wie Wasser aus einem defekten Becher, als John hereinkam. Er achtete nicht auf die plötzliche Stille oder die starrenden Blicke, sondern ließ seine große Gestalt auf einen wackligen Stuhl in der Nähe des Bogenfensters sinken. Dann bestellte er eine Kanne Tee, die er nicht zu trinken beabsichtigte, und wartete.
***
Cordelia verbarg sorgfältig ihre wahren Gedanken zu dem Hut, den ihre Nichte Melissa gerade anprobierte. Ihre Gefühle zu verstecken, war etwas, was Cordelia gut konnte. Sie hatte gelernt, dass es klüger war, Melissas Launen hinzunehmen, statt ihnen entgegenzuwirken.
„Das ist wirklich ein schickes Häubchen, meine Liebe.“ Für eine Dame der Nacht. „Aber dieser Rotton passt nicht recht zu dem apricotfarbenen Musselinkleid, das du zu Lady Northumberlands fête champêtre tragen möchtest.“
Melissa sah ihr Spiegelbild kritisch an, nahm den schrecklichen Hut ab und reichte ihn der wartenden Angestellten. „Ich schätze, du hast recht. Was ist mit diesem hier?“ Sie zeigte auf eine weitaus angemessenere Kreation aus Stroh und blassgrünem Stoff. Die Verkäuferin holte den Hut eilig herbei.
Zufrieden, dass sie Melissa in eine passende Richtung gelenkt hatte, wandte sich Cordelia ihrer jüngeren Nichte Jane zu, die auf einem Sofa lümmelte und ihre Nase in einem Buch vergraben hatte. Ihr Mantel, ihre Haube, die Handschuhe und das Retikül lagen auf dem dicken Teppich verstreut, als wäre Jane ein Vulkan, der bei einem Ausbruch Frauenkleider ausgespien hätte.
„Jane, Liebling, suchst du dir bitte einen Hut aus?“
Jane blickte auf. Ihre blauen Augen lagen hinter dicken, schmutzigen Brillengläsern. „Wie bitte, Tante Cordy?“
„Ein Hut, meine Liebe. Deswegen sind wir hier, zwischen all den Hüten. Du musst dir einen aussuchen.“
Ihre glatte Stirn legte sich in Falten. „Muss ich das?“
„Wenn du morgen Lady Northumberlands Party besuchen möchtest.“
Jane schien angestrengt über ihre Worte nachzudenken.
„Du hast die Einladung bereits angenommen, Jane. Es wäre unhöflich, so spät deine Meinung zu ändern. Außerdem möchtest du doch ihren Wintergarten sehen.“
„Das stimmt.“ Jane schürzte die Lippen und schlug grimmig ihr Buch zu. „Kannst du nicht etwas für mich aussuchen?“
Die Glocke am Eingang zum Geschäft läutete und Cordelia drehte sich um. Eldon Simpson, der Earl of Madeley, sah aus wie ein Fuchs in einem Hühnerstall.
Mist.
„Ich dachte doch, ich hätte die Kutsche Seiner Gnaden in diesem schrecklichen Gewirr draußen erkannt.“ Der Earl sprach mit Melissa, obwohl sein Blick zu Cordelia huschte, der er ein leichtes Nicken schenkte.
Melissa errötete auf eine Weise, die Cordelias Herz sinken ließ. Wie war es möglich, dass ihre Nichte einen kaltblütigen Glücksritter nicht erkannte, wenn sie einen sah? Das war eine törichte Frage und Cordelia wusste es. Die Kinder ihrer Schwester wurden seit ihrer Geburt behütet und umsorgt. Sie hatten keine Ahnung, welche Gefahren die Welt für hübsche, augenscheinlich reiche Mädchen bereithielt.
Cordelia näherte sich dem gut aussehenden Earl, von dem sie wusste, dass er ganz kurz davor war, von Ladenbesitzern mit Mistgabeln, Fackeln und unbezahlten Rechnungen gejagt zu werden.
„Guten Tag, Mylord.“ Sie milderte die Kälte in ihrer Stimme mit einem freundlichen Lächeln ab.
„Guten Tag, Miss Page.“ Er sah Melissa und Jane an. „Werdet Ihr Damen morgen Lady Northumberlands Party zieren?“
„Deshalb sind wir hier, um uns neue Hüte auszusuchen“, sagte Melissa. Jane war bereits wieder in ihr Buch vertieft und schien sich der Existenz des schönen Lords nicht bewusst zu sein. Der Earl machte große Augen, sicher um ihre himmelblaue Farbe besser zur Geltung zu bringen. „Ihr kauft Hüte? Das mache ich am allerliebsten.“
Melissa lachte. „Werdet Ihr auch zugegen sein, Mylord?“
„Nun, um nichts in der Welt würde ich das verpassen wollen, Lady Melissa.“
Cordelia nahm an, der Earl würde lieber in Öl sieden als eine derart geistlose Veranstaltung zu besuchen, doch er war so pleite, dass es für ihn eine Notwendigkeit war, schnell eine reiche Braut zu finden.
„Oje“, sagte Cordelia in dem zaghaften Ton, von dem sie wusste, dass die Leute ihn von einer unverheirateten Tante erwarteten. „Ich fürchte, wir sind schrecklich spät dran.“
Melissa sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Sicher müssen wir jetzt doch noch nicht gehen, Tante.“
Cordelia lächelte ihre Nichte vage an. Als arme Verwandte war sie geschickt darin, gegenüber Kränkungen, verärgerten Seufzern und vernichtenden Blicken unberührt zu erscheinen. „Ich erinnere mich, dass ich bei Madame Lisette etwas in genau dem Farbton deines Kleids gesehen habe. Wir müssen uns beeilen und sehen, ob der Hut noch da ist.“ Sie wartete Melissas Antwort nicht ab, sondern wandte sich Jane zu und half ihrer jüngeren Nichte, ihre verstreuten Besitztümer aufzusammeln, bevor sie die Mädchen zur Tür drängte.
„Es war eine Freude, Euch wiederzusehen, Mylord.“ Sie nickte ihm zu und lächelte ihre vor Wut kochende Nichte aufmunternd an. „Gehen wir, Melissa?“
Lord Madeley beugte sich über Melissas Hand. „Wir sehen uns bald wieder, Lady Melissa.“
Melissa wartete, bis sie draußen auf der Straße waren, und zischte dann: „Das war sehr unhöflich, Tante Cordy!“ Sie klang bemerkenswert wie ihre Mutter, Cordelias ältere Schwester, die Duchess of Falkirk.
Jane schob ihre schmutzige Brille auf ihrer recht prominenten Nase nach oben. Sie hatte mehr Ähnlichkeit mit ihrem majestätischen Vater als mit ihrer schönen Mutter.
„Ach, sei nicht albern, Mel. Jeder sieht doch auf den ersten Blick, dass Lord Madeley nichts als ein Windhund ist.“
Cordelia musste sich auf die Lippe beißen, um nicht zu lachen. „Jane, das ist wirklich nichts, was eine Lady sagen sollte.“
„Sicher hat sie das von Charles“, sagte Melissa.
Das glaubte Cordelia ebenfalls. Im Gegensatz zu den meisten Männern seines Alters empfand Charles Merrick, der Sohn und Erbe des Dukes, es nicht als unmännlich, sich mit weiblicher Gesellschaft zu umgeben.
Cordelia wartete, bis die Mädchen in die Kutsche geklettert waren. Plötzlich erschien vor ihr eine sehr breite, von einem Mantel bedeckte Brust. Sie blickte auf und sah einen Mann, der so groß war, dass seine sie überragende Gestalt die Sonne verdeckte und sein Gesicht im Schatten war.
„Ich glaube, Sie haben das hier fallengelassen.“ Die tiefe Stimme klang nicht gänzlich englisch.
Der Diener, Marcus, der Jane in die Kutsche geholfen hatte, drehte sich um, sah den Fremden und plusterte sich auf wie ein kampflustiger Gockel. „Was wollen Sie?“ Er versuchte, sich zwischen Cordelia und den Eindringling zu werfen, scheiterte aber, da der riesige Fremde sich keinen Zentimeter bewegte.
Marcus war ein großer Mann, aber neben dem Riesen erschien er wie ein Junge. Der Fremde drehte sich zur Seite, um den Diener missbilligend anzusehen, und Cordelia schnappte nach Luft, als die Sonne sein Gesicht erhellte.
Hitze kroch ihren Hals hinauf, als Cordelia ihre unhöfliche Reaktion bewusstwurde.
Anstatt deswegen beleidigt zu sein, erschien der Mann eher amüsiert. Seine Lippen verzogen sich zu etwas, das vielleicht ein Lächeln war. Es war jedoch schwer zu sagen, weil seine vernarbten Wangen sich so unnatürlich verzerrten.
Der Blick aus seinen pechschwarzen Augen brannte sich in sie hinein. „Gehört das Ihnen?“, wiederholte er.
Cordelia wusste, dass sie zumindest gucken sollte, was er ihr zurückgeben wollte, doch sie konnte sich nicht von seinem Blick losreißen. Abgesehen von den heftigen Narben, die von seinen beiden Mundwinkeln ausgingen, war er auf eine ernste Weise gut aussehend. Seine Nase glich dem majestätischen Schnabel, der in Englands ältesten Familien so verbreitet war. Seine war zumindest einmal majestätisch gewesen, bevor sie gebrochen und schlecht wieder zusammengewachsen war. Nach seinem vernarbten Gesicht war sein Haar sein außergewöhnlichstes Charakteristikum. Es war glänzend schwarz und lang genug, um zu einem Zopf gebunden werden zu können. Außerhalb weniger militärischer Einheiten, die noch immer an dem Brauch festhielten, war es unüblich, einen Mann mit langen Haaren zu sehen.
„Ma’am?“ Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an. Sie riss ihren Blick von seinem Gesicht los und schaute hinab. Er hielt einen rosafarbenen Handschuh in seiner riesigen Hand.
Cordelia blinzelte. Seine Hand hatte sechs Finger.
„Tante Cordy?“ Jane streckte ihren Kopf aus dem Fenster der Kutsche heraus. Sie blickte von dem Riesen zu seiner Hand. „Oh, das ist mein Handschuh.“ Ihr offenes Lächeln wies Cordelia noch deutlicher auf ihr eigenes, unhöfliches Starren hin. Der Fremde schenkte Jane einen beiläufigen Blick und reichte ihr den Handschuh.
„Danke, Sir“, sagte Jane.
Doch seine Augen waren bereits wieder auf Cordelia gerichtet.
Sie stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte, und setzte ein Lächeln auf. „Ja, danke, Sir.“ Sie freute sich, dass ihre Stimme so viel ruhiger klang als ihr Verstand es war.
Seine Nasenflügel bebten leicht. Er nickte abrupt und drehte sich um. Seine Bewegungen waren überraschend geschmeidig für seinen massiven Körper.
Cordelia konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden, als er den entgegenkommenden Strom von Fußgängern teilte wie eine menschliche Axt. Die Menschen warfen ihm verstohlene, ängstliche Blicke zu.
Dann bog er in eine Gasse ab und verschwand.
„Meine Güte“, murmelte Cordelia. Ihre Beine fühlten sich seltsam schwach an, während ihre Gedanken rasten.
„Hast du das gesehen, Tante Cordy?“ Jane beugte sich zu Cordelia. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen.
Cordelia legte sich gerade eine sanfte Ermahnung darüber zurecht, dass eine Dame die Missbildungen anderer nicht kommentierte, als ihre Nichte fortfuhr. „Ich habe noch nie so jemanden außer mir, Charles und Papa gesehen. Du?“ Sie hielt ihre rechte Hand hoch.
Cordelia betrachtete Janes sechsfingrige Hand und freute sich, dass sie das Interesse ihrer Nichte an dem Fremden missdeutet hatte. Wie der Zufall es wollte, hatte Cordelia tatsächlich zwei andere Menschen mit dem auffälligen zusätzlichen Zeigefinger an ihrer rechten Hand gesehen und beide waren Nachkommen des Dukes. Konnte dieser Berg von einem Mann eventuell mit dem Duke of Falkirk verwandt sein? Der Ehemann ihrer Schwester war bekannt dafür, seinen Samen weit und reichlich zu streuen …
„Hast du sonst noch jemanden mit sechs Fingern gesehen?“, fragte Jane erneut.
Cordelia konnte die Beweise für die Untreue ihres Vaters wohl kaum erwähnen, also lehnte sie sich einfach in das Samtpolster zurück. Von der kurzen Begegnung seltsam erschöpft, sagte sie: „Nein, Jane, das habe ich nicht.“
***
John wartete, bis er in die Gasse abgebogen war, und nahm dann das kleine Quadrat aus besticktem Stoff in die Hand. C. F. P.
Dank seiner Nachforschungen über die Familie des Dukes wusste er, dass die Initialen für Cordelia Frances Page standen.
Er wusste ebenfalls, dass sie die viel jüngere Schwester der Duchess of Falkirk war und vor ein paar Jahren in deren Haushalt gekommen war. Miss Page war in der Nähe des Familiensitzes der Falkirks im bescheidenen Haus eines Landedelmannes aufgewachsen und war in ihren frühen Dreißigern. Sie hatte keinen Verehrer in London oder der Gegend, in der sich des Dukes Landsitz befand. Dort verbrachte sie den Großteil ihrer Zeit, wenn sie nicht gerade eine Nichte in die Gesellschaft einführte.
John fuhr mit dem Daumen über die Stickerei. Es war leicht gewesen, ihr das Taschentuch zu entwenden, das sie an ihrem linken Handgelenk in ihren Handschuh gesteckt hatte. John war zwar kein geschickter Taschendieb, oder Langfinger, wie es im Jargon der Straße hieß, aber als Junge hatte er darin Erfahrung gesammelt, bis er zu groß geworden war, um unauffällig zu sein.
Winzige Veilchen und sogar noch kleinere grüne Blätter umgaben die Buchstaben. Die Handarbeit war herausragend. John hob das Tuch an seine Nase und atmete tief ein. Dem kleinen Stück Stoff haftete ein Duft an, es roch jedoch nicht nach Veilchen. Was auch immer es war, es war sehr aromatisch und John konnte es nicht identifizieren. Er inhalierte tief und behielt den Atem in seiner Lunge, genoss den Duft wie feinen Brandy.
John wusste, dass Frauen aus Miss Pages Klasse ihre Zeit mit Handarbeiten verbrachten, wenn sie nicht gerade einkauften oder Bälle besuchten. Doch es war nicht die Art von Handarbeit, die seine Gran gemacht hatte. Sie hatte für einen Schneider im Dämmerlicht einer Talgkerze Kleidungsstücke zusammengenäht, bis ihre Augen zu erschöpft waren, um noch etwas zu sehen, und ihre Finger zu verkrümmt und steif, um eine Nadel zu führen.
John schob die brüchige Erinnerung beiseite und stellte sich stattdessen die Frau vor, die an diesem winzigen Stück Stoff gearbeitet hatte.
Die Sonne hatte in seinem Rücken gestanden und ihr Gesicht beleuchtet. Ihre Augen waren ein Kaleidoskop aus Grün- und Brauntönen mit goldenen Sprenkeln. Aber es war nicht so sehr die Farbe, die ihn aufmerken ließ, sondern vielmehr der Ausdruck. Groß und an den äußeren Winkeln leicht nach oben geneigt, schienen sie zu lächeln, selbst als sie zu ihm aufgeblickt hatte.
Und Menschen lächelten nie, wenn sie zu ihm aufsahen.
Ihre Lippen waren nicht so ausdrucksstark, wie sie von Poeten beschrieben wurden, jedoch voll und beweglich.
Sie hatten so dicht beieinandergestanden, dass er feine Linien neben ihrem Mund hatte erkennen können: Fältchen, die durch Lachen und Lächeln entstanden waren. Auch wenn sie es vielleicht nicht wusste, war ihr Mund einer, der für sinnliche Freuden gemacht war. Ihre Figur war nicht schmal und zerbrechlich, wie die bessere Gesellschaft es liebte, doch John war schließlich kein Mitglied dieser illustren Runde. Sie war üppig und entsprach damit seinem liebsten Frauentyp. Er konnte sich vorstellen, wie gut sie in seine Arme passen würde, und hatte das bereits viel zu oft getan.
Ihre großen grünbraunen Augen hatten seine Narben mit einem nachdenklichen Ausdruck gemustert, der ihn erschreckt hatte. Es war nicht der Blick gewesen, den er normalerweise im Gesicht einer Frau sah. Nein, die üblichen Reaktionen waren entweder Angst oder eine Kombination aus morbider Anziehung und sexueller Neugier.
John hatte sich schon lange daran gewöhnt, dass die Leute sein Gesicht anstarrten, und es störte ihn nicht. Warum sollten die Menschen auch nicht starren? Er war schließlich schrecklich vernarbt.
Doch Miss Page hatte unter seine Narben geschaut. Zumindest hatte es sich so angefühlt, als wäre er ein Buch, das sie geöffnet und dessen erste Seiten sie umgeblättert hatte. Konnte sie die Dinge sehen, die er getan hatte? Die Dinge, die er noch immer tat? Die er mit ihrer Familie vorhatte?
Dieser wunderliche Gedanke sah ihm so gar nicht ähnlich. Es war sehr viel wahrscheinlicher, dass Miss Page einfach nur mehr Selbstbeherrschung besaß als die meisten Menschen. Was wie Nachdenklichkeit ausgesehen hatte, war vielleicht nur eine höfliche Maske gewesen, um ihren Schrecken und ihre Abneigung zu verbergen. Er wusste, dass Frauen ihres Standes beigebracht wurde, ihre Gefühle zu verstecken.
John stöhnte verzweifelt, als er ihm klarwurde, dass er wie ein vernarrter Idiot in einer Gasse stand und schon wieder an die verdammte Frau dachte. Es spielte keine Rolle, wie oft er sich sagte, dass sie einfach nur irgendeine verarmte Junggesellin war, eine Frau von durchschnittlicher Schönheit, die weit über ihre Blüte hinaus und nichts Besonderes war.
Nein, dieses Argument hatte ebenso wenig Biss wie ein altes Weib.
Er wollte sie. Sehr.
John machte ein finsteres Gesicht und schob die Gedanken an die Frau beiseite. Sorgsam steckte er das Taschentuch ein, das er ihr gestohlen hatte, und näherte sich dem Jungen, der sein Pferd hielt. Er nahm die Zügel und warf dem Burschen eine Münze zu. Der Junge, der nicht älter als zehn oder elf war, legte seinen Kopf in den Nacken und starrte einen guten halben Meter zu John hinauf. „Der hat mich gebissen, Sir.“ Zum Beweis streckte er ihm einen mageren Arm hin. Er war so dünn wie ein Stock und blasse Haut spannte sich über den Knochen, wie es für die halbverhungerten Straßenkinder üblich war. Auf seinem kleinen Unterarm sah John den unverkennbaren, u-förmigen Abdruck von Pferdezähnen.
John war nicht überrascht. Der große Falbhengst war ein unschönes, reizbares Tier. Genau wie John selbst.
Er schwang sich in den Sattel und blickte in das nach oben gewandte Gesicht des Jungen hinab. „Er hat dich gebissen und du hast ihn nicht losgelassen?“
„Nein, Sir.“ Der Junge blickte ihm ernsthaft in die Augen, obwohl den meisten erwachsenen Männern dabei der Mut wich.
John warf ihm eine weitere Münze zu. „Wenn du wieder gebissen werden möchtest, komm zum Berkeley Square. Ich kann einen wackeren Stallburschen gebrauchen.“
Der Junge grinste und entblößte zwei Zahnlücken. „Sehr wohl, Sir.“
John schnaubte und wendete sein Pferd.
„Sie haben nicht gesagt, welches Haus, Sir. Ich kenne all die Häuser der Reichen. War bis vor kurzem ein Schneeglöckchen“, sagte er und trottete neben Johns Pferd her. Dank der Rußflecke in seinem Gesicht hatte John den Jungen sofort als Kaminkehrer erkannt. „Es ist das größte Haus am Square.“
„Aber ist das nicht das Haus des Dukes of Falkirk?“
John lächelte grimmig und trieb sein Pferd in einen Galopp. „Nicht mehr.“
Kapitel Zwei
St. Giles, 1798
John kaute ein trockenes Rosinenbrötchen und sah den kleineren Kindern zu, die sich um ihren Anteil vom Essen stritten, als Des Houlihan einen Jungen namens Ben Watkins bei der Schulter fasste.
„Für deinesgleichen gibt es kein Essen, Watkins!“, bellte Des und schubste das Kind quer durch den Raum. Alle außer John lachten, als Ben als Knäuel aus Armen und Beinen zu Boden ging.
Des blickte auf den kauernden Jungen hinab. „Du bekommst Essen, wenn du es dir verdienst.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und ging Richtung Tür. Als er bemerkte, dass John ihn ansah, hielt er inne.
„Was glotzt du so, Fielding?“ Des kam auf ihn zu und erwartete offenbar, dass John ebenfalls vor ihm zurückweichen würde.
„Ich glotze überhaupt nicht.“ John sah den verachtenswerten Mann böse an und weigerte sich, seinen Blick abzuwenden. In den letzten zwei Jahren war er in die Höhe geschossen und konnte Des direkt in seine kleinen Schweinsäuglein blicken.
Der Flinke Eddie hatte Johns ungewöhnliche Größe bemerkt und ihn zweimal gegen andere Jungen kämpfen lassen, einmal auch gegen einen Hund. Eddie hatte sich gefreut, als John alle drei Kämpfe gewonnen hatte, und versprach ihm weitere.
John wusste, dass es Eddie nicht gefallen würde, wenn er Des Houlihan angriff, denn Des war Eddies Bruder. Also gab er klein bei.
„Du richtest besser deine höllenschwarzen Augen nicht auf mich, sonst schlage ich sie dir aus dem Kopf.“ Des hob seine Faust, um John zu knuffen. John senkte bescheiden seinen Blick. „Du solltest deinen Platz kennen, Fielding.“
John entspannte sich erst, als Des den schmutzigen, überfüllten Raum verlassen hatte, den die jüngsten der Angestellten des Flinken Eddie, die Kiddies, wie die kindlichen Diebe genannt wurden, ihr Zuhause nannten.
Des verachtete John seit dessen erster Woche. Entweder weil John so groß und er selbst so untersetzt war oder weil John den Mumm – oder die Dummheit – besessen hatte zu fragen, ob Des einen Mann namens Dolan kannte.
Des hatte ihm eine verpasst, dass er durch den Raum geflogen war. „Dolan arbeitet für Eddie und deshalb geht er dich gar nichts an. Deinesgleichen haben ihre Nasen nicht in die Angelegenheiten des Flinken Eddie zu stecken.“
Des hatte es nicht bemerkt, doch er hatte einen Teil von Eddis „Unternehmen“ preisgegeben, indem er John erzählt hatte, dass Dolan für Eddie arbeitete. Das hatte er vorher nicht gewusst.
Doch der verhasste Mann hatte in einer Sache recht: Es war gefährlich, so offenkundig nachzuforschen.
Es war das letzte Mal gewesen, dass John Dolan so direkt angesprochen hatte, doch das bedeutete nicht, dass er aufhörte, nach dem Mann zu suchen, der wahrscheinlich seine Großmutter getötet und ihre Tasche gestohlen hatte.
John würde niemals aufhören, nach Dolan zu suchen.
Ein leises Wimmern riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Ben kauerte in einer Ecke und hielt seinen Arm, als wäre er ein Kleinkind.
Seufzend ging John zu dem Jüngeren hinüber, ging neben ihm in die Hocke und untersuchte die Kratzer und Blutergüsse auf seinem Arm und seinem Gesicht. „Hat dieser Bastard dir den Arm gebrochen?“
Ben schüttelte den Kopf und zuckte dabei vor Schmerz zusammen.
Der Junge hatte Glück, dass der Knochen noch heil war. Erst letzte Woche hatte Des einem Kiddie namens Tommy den Knöchel gebrochen, nachdem er herausgefunden hatte, dass Tommy ein paar Penny aus seiner Tagesbeute zurückbehalten hatte. Tommy hatte danach drei Tage herumgelegen, gestöhnt und um Essen gebettelt und war dann verschwunden. Zwei Tage später war sein Körper bei Ebbe an den schlammigen Ufern der Themse angespült worden.
Zwei Dinge hatte John aus dieser Sache gelernt: Erstens niemals vom Flinken Eddie zu stehlen, und zweitens warst du es nicht wert, weiter versorgt zu werden, wenn du nicht arbeiten konntest.
Tommy hatte John leidgetan, aber er hatte sein Essen nicht mit ihm geteilt und ihm auch sonst nicht geholfen, weil Tommy eine fiese kleine Kröte gewesen war, die die kleineren Kinder gegängelt hatte.
Ben hingegen war sanft, schüchtern und nicht allzu klug. Doch er war freundlich und John hatte gesehen, wie er mehr als einmal sein Essen mit den kleineren Kiddies geteilt hatte.
John reichte dem Jungen ein Brötchen. „Hier.“
„Aber Des sagte …“
„Es interessiert mich einen feuchten Dreck, was dieser Wichser sagt“, knurrte John.
Ben zuckte zusammen, nahm jedoch das Brötchen und nickte heftig, um seine Dankbarkeit zu zeigen.
Zwei verschiedene Stiefel und ein schmutziger grüner Rock erschienen neben John, und Lily ließ sich neben ihm nieder. „Was ist los? Hast du ein neues Tierchen, John?“
John blickte sie böse an und sie lachte. Lily lachte viel, obwohl es nicht viel zu lachen gab, soweit es John anging.
Lily war zu alt, um mit dem Rest von ihnen zu leben, doch aus irgendeinem Grund gehörte sie noch immer zu den Kiddies, statt in einem der Bordelle des Flinken Eddie zu arbeiten, wohin die Mädchen normalerweise gingen, sobald sie ein bestimmtes Alter erreicht hatten.
Es war Lily gewesen, die sich John als Erste genähert hatte, als er zu den Kiddies gestoßen war. Zuerst hatte er allein gearbeitet und Leute bestohlen, wobei er nicht sonderlich erfolgreich gewesen war. Lily hatte ihn davon überzeugt, mit ihr loszuziehen, nachdem der Junge, mit dem sie zusammengearbeitet hatte, eine neue Position angenommen hatte.
Ohne ihre Hilfe hätte er vielleicht wie Tommy geendet – tot im Fluss.
„Morgen kommt Ben mit uns“, sagte John zu Lily. Er sprach mit vollem Mund, wofür er von seiner Gran eine Ohrfeige kassiert hätte. Doch hier kümmerte das niemanden. Es war wichtiger, dass überhaupt etwas zum Kauen da war.
„Ah, du bist jetzt also der Chef, ja?“, neckte sie gut gelaunt.
John antwortete nicht, also wandte sich Lily an Ben. „Du kannst mit mir und John kommen. Wir haben gerade einen Lauf.“
Das war eine Untertreibung. John und Lily brachten mehr Geld nach Hause als jeder der anderen einschließlich der Älteren, die im Stockwerk über ihnen wohnen. John machte sich nicht vor, dass ihr Erfolg auf seine Kappe ging. All das hatte er Lily zu verdanken. Als sie das erste Mal zu ihm gekommen war, war John beschämt darüber gewesen, mit einem Mädchen loszuziehen. Doch er hatte seinen Stolz schnell hinuntergeschluckt und getan, was sie ihm gesagt hatte. Lily war der Grund dafür, dass er jeden Tag so gut gegessen und so groß und stark geworden war.
Obwohl Des ihn hasste, behandelte er ihn nicht schlecht, weil John gutes Geld verdiente und in der Organisation des Flinken Eddie nur zwei Dinge eine Rolle spielten: dass man tat, was einem gesagt wurde, und Geld nach Hause brachte.
John aß den Rest seines Brötchens, während Lily Ben erklärte, dass er sich morgen vor die Kutsche eines feinen Pinkels werfen würde.
„Was?“, fragte Ben mit großen Augen nach.
Lachend stieß Lily John in die Rippen. „Erinnerst du dich, wie du mich genannt hast, als ich dir das erzählt habe, John?“
John lächelte schwach. „Ich sagte, du seist doch verrückt wie ein Schmutzfink.“ Das glaubte er immer noch, obwohl er sich in der Zwischenzeit vor mehr als eine Kutsche geworfen hatte. Doch das war es nicht, was er am besten konnte.
„Verrückt wie ein Schmutzfink, richtig.“ Lily lachte und selbst Ben, der üblicherweise zu ängstlich war, um irgendetwas lustig zu finden, lachte mit.
Lily stieß John an und reichte ihm ein weiteres Brötchen. Ihre grauen Augen, die ihr weit bestes Merkmal waren, blickten ungewöhnlich ernst. „Du hättest deins nicht abgeben sollen. Du bist viel zu groß, um auf eines zu verzichten. Nimm das hier. Du brauchst es mehr als ich.“ Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten und sie sah erschöpft aus. Dennoch versuchte sie, ihm Essen zu geben, das sie eigentlich brauchte. Warum Lily so gut zu ihm war, war ihm immer ein Rätsel geblieben.
„Ich habe keinen Hunger.“
„Lügner.“ Doch sie lachte und nahm das Brötchen zurück.
Einen Moment lang aß sie schweigend, bevor sie sich zu ihm beugte und sagte: „Des sagte, ich gehe zu Jenny Holloway’s.“
Johns Kiefer klappte hinunter. Er drehte sich zu ihr und starrte sie an. Jenny Holloway’s war eines von Eddies Hurenhäusern – das schlimmste und schmutzigste.
„Wann?“
„Freitag.“
„Das sind nur noch zwei Tage!“
Lily nickte.
John suchte nach Worten, fand aber keine. Sich zu weigern war … nun, undenkbar. Selbst wenn Des sie hinauswarf – und nicht gleich in den Fluss -, gab es keinen Ort, an den sie gehen könnte, und Lily würde ohnehin verhungern oder sich prostituieren müssen.
„Ich … ich hätte nie gedacht, dass sie dich dorthin schicken“, sagte er lahm.
„Ich auch nicht. Des hat immer gesagt, ich sei so hässlich und langweilig.“ Sie lachte, doch diesmal klang es freudlos. „Nun, offenbar bin ich nicht hässlich und langweilig genug.“
„Du bist nicht hässlich“, sagte John. Die Hitze stieg ihm ins Gesicht, weil er einst genau das gedacht hatte. Es war seltsam, aber nachdem er mit ihr gearbeitet, sie lachen gehört und gesehen hatte, wie freundlich sie war, konnte John sich nicht mehr erinnern, warum er sie je für hässlich gehalten hatte.
Lily tätschelte sein Knie, als wäre er derjenige, der Trost nötig hatte. „Mein ritterlicher Beschützer.“
John errötete. „Ich versteh das nicht, Lil. Warum schicken sie dich fort? Spielt all das Geld, das du hereinbringst, keine Rolle?“
„Des sagte, Jungfrauen sind eine Stange Geld wert. Selbst solche wie ich.“
John wusste, dass das stimmte. Reiche Männer waren verrückt nach Jungfrauen und bezahlten horrende Summen.
„Des sagte, den Freier wird es nicht kümmern, wie hässlich ich bin, wenn es dunkel ist.“
„Er ist ein stinkender Hurensohn!“, sagte John verächtlich. Der Zorn brannte in ihm wie Säure. „Eines Tages werde ich ihn umbringen, Lil. Ich schwör’s.“
„Scht! Was, wenn das jemand hört?“
John hatte es so satt, in ständiger Angst zu leben und die dauernden Schläge und Tritte einzustecken, die Des ihm verpasste. Und er hatte es satt zu sehen, wie die wenigen Menschen, die er mochte, wie Ben und Lily, wie Dreck behandelt wurden.
Lily zu Bella’s zu schicken, ins schönste von Eddies Bordellen, wäre schon schlimm genug gewesen. Doch sie zu Jenny Holloway’s zu schicken, war mehr als grausam. Die Mädchen, die dort arbeiteten, sahen verlebt, krank und innerlich tot aus. Lily hatte so viel Leben in sich – wie lange würde sie sich das bewahren können?
„Ich werde schon klarkommen, John. Mach dir keine Sorgen.“ Lily beugte sich zu ihm und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. Er errötete und alle anderen Kiddies kicherten leise.
John glaubte nicht, dass Lily klarkommen würde. Niemand von ihnen würde das, wenn sie dem Flinken Eddie nicht entkämen, bevor der sie aussaugte und fortwarf. John dachte über Lilys düstere Zukunft nach und glaubte, sein Kopf würde explodieren.
Und es gab nichts, was er tun konnte, um die Dinge aufzuhalten.