Für all die Heyer-Ladys, die mich im Lockdown bei Verstand gehalten haben.
Es geziemt sich nicht, dass eine junge Dame von einem Herrn träumt, bevor der Herr von ihr geträumt hat.
Jane Austen, Die Abtei von Northanger
Prolog
1807
Alles fing so gut an.
Kates erster großer Ball. Sie war schon auf kleinen Feiern gewesen, auf denen getanzt worden war, sowohl hier in London als auch zu Hause in York, aber dieser Abend war ganz anders. Die Saison war in vollem Gang, und dies war eine der begehrtesten Einladungen, die in einem prächtigen Goldrahmen wochenlang auf dem Kaminsims der schäbigen Mietwohnung ihrer Großmutter in Bloomsbury gethront hatte.
Die Moretons waren weder besonders reich noch elegant, doch sie waren intelligent, liebenswürdig und amüsant. Sie wohnten schon lange nicht mehr in London, doch Mrs. Moreton führte einen regen Briefwechsel mit vielen Leuten, und so hatte sie viele Bekannte in den allerhöchsten Kreisen und wurde überall empfangen. Sie war eine enge Freundin der Schriftstellerin Madame D’Arblay und war auf deren Betreiben der Königin vorgestellt worden, vor deren Augen sie Gnade gefunden hatte. Leider war sie Ausländerin, doch von adliger Herkunft, und sie sprach perfekt Englisch mit nur einem Hauch von italienischem Akzent, den die oberen Zehntausend charmant fanden. Natürlich durfte es nicht zu viel Exotik sein, doch ein wenig Andersartigkeit – nur ein Fünkchen, nicht mehr – verlieh dem Alltag Würze. Man traf die lebenslustige Witwe und ihre hochgewachsene, majestätische Enkelin auf den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen an, und heute Abend würden sie unter den vielen Freunden sein, die das Debüt von Lord Ansells bezaubernder Tochter Vanessa feierten.
Kate kannte Miss Ansell eigentlich nur flüchtig. Vanessa war immer liebenswürdig und höflich, doch sie war der aufgehende Stern der Saison, Spross einer steinreichen Adelsfamilie. Kate Moreton war letztlich nur ein Niemand vom Land. Vielleicht war es ganz normal, dass sie keine Vertraulichkeiten austauschten. Worüber sollten sie auch reden? Doch Kate war fasziniert von der Leichtigkeit, mit der Vanessa anscheinend durchs Leben ging, und wollte zu gern wissen, was sich hinter der makellosen Fassade verbarg.
Dann und wann musste diese heitere Gelassenheit doch ins Wanken geraten. Hatte sie keine Ängste und Zweifel wie andere Mädchen, so schön sie auch war?
Doch heute Abend gab es für Kate nur Vorfreude. Sie hatte das beste ihrer neuen Kleider für dieses wichtige Ereignis aufgespart. Jetzt stieg sie mit ihrer Großmutter die Stufen zu dem imposanten Herrenhaus in Mayfair empor und wusste, dass sie gut aussah. Die Pastellfarben, die jungen Damen für ihr Debüt empfohlen wurden, standen ihr nicht, und ihre Großmutter war klug genug gewesen, nicht darauf zu bestehen, dass sie heute Abend solche Töne trug. Ihr Kleid war tiefrosa, hatte ein Überkleid aus Gaze in der gleichen Farbe, und winzige Rosenknospen aus Seide zierten ihr dichtes dunkles Haar. Ihre schönen samtbraunen Augen funkelten vor Erwartung, und ihre Wangen waren ebenso rosig wie ihr Kleid. Sie war achtzehn und meinte, verliebt zu sein. Und heute Abend würde er hier sein und mit ihr tanzen. Sicher würde er sie auffordern.
Sie hatte ihn erst vor ein paar Wochen kennengelernt, auf einem kleinen, informellen Ball, den eine Freundin ihrer Großmutter veranstaltet hatte – auch eine ältere Dame, die ihre verwaiste Enkelin in die Welt einführte. Die Anstandsdamen saßen am Rand, plauderten, fächelten sich Luft zu, denn es war stickig im Saal, und unter ihrer strengen Aufsicht tanzte Kate mit vielen jungen Herren. Das Tanzen gefiel ihr, doch die jungen Männer machten wenig Eindruck auf sie, bis auf den einen, der leider zwei linke Beine hatte, ihr auf den Fuß trat und Entschuldigungen stammelte. Doch dann hatte die Gastgeberin ihr einen anderen Herrn vorgestellt und lächelnd gesagt, dass sie sicher ein gutes Tanzpaar abgeben würden.
Benedict Silverwood. Captain Silverwood. Kate war groß – ein Nachteil, der jedoch nicht zu beheben war –, aber er war noch größer. Er war etwas älter als die anderen jungen Männer, und das machte ihn anders. Es gab ihm Gelassenheit und Selbstsicherheit, ebenso wie sein Dienst als Offizier in der Armee. Natürlich sah er auch sehr gut aus. Das war unbestreitbar. Seine Augen waren von einem faszinierenden Hellgrau, sein Gesicht ausgesprochen männlich: Eckiges Kinn, hohe Wangenknochen, schön geformte energische Lippen. Er wäre geradezu klassisch schön gewesen, wäre nicht die schiefe Nase gewesen – er hatte sie sich irgendwann einmal gebrochen. Ein scharfer Kritiker hätte gesagt, dass diese Unregelmäßigkeit seine Züge entstellte, doch Kate war keine scharfe Kritikerin. Ihr gefiel der kleine Makel, denn ohne diesen wäre er so vollkommen gewesen, dass es den Betrachter eingeschüchtert hätte. Aber was sie eigentlich fesselte, war sein Lächeln. Es brachte sein Gesicht zum Leuchten und seine Augen zum Funkeln. Niemand konnte dagegen immun sein, denn es verriet eine ansteckende Lebensfreude, und dafür war Kate empfänglich. Sie hatte kein Verständnis für Getue oder Menschen, die das Leben langweilig fanden. Das Leben war alles andere als langweilig.
Er war ein guter Tänzer, und auch sie fühlte sich in seiner Gegenwart anmutig. Sie unterhielten sich ein wenig. Sie fragte, ob er Urlaub hatte, und er erklärte etwas widerstrebend, dass er sich letztes Jahr eine Wunde in der Schulter zugezogen hatte; es war auf dem desaströsen britischen Feldzug an den Río de la Plata geschehen. Danach hatte er Fieber bekommen, das er nur dank der fürsorglichen Pflege seiner Mutter überstanden hatte. Sie fand es sympathisch, dass er sich nicht in seinem Heldentum sonnte, sondern mit Selbstironie von seinem „Arbeitsunfall“ sprach, und es war herzerwärmend, dass er seine Mutter liebte. Oh – sie mochte einfach alles an ihm!
Sie begegneten sich auf anderen Anlässen wieder und tanzten wieder miteinander, und die Zuneigung – jedenfalls auf ihrer Seite – wuchs sehr schnell. Er war ein ehrenwerter junger Mann, liebenswürdig, mit guten Manieren und viel Humor, der jedoch nie verletzend wurde. Er brachte allen die gleiche Höflichkeit entgegen und tanzte mit schüchternen unscheinbaren Debütantinnen ebenso bereitwillig wie mit der schönsten – Vanessa Ansell.
Jetzt würde sie ihn auf Miss Ansells Ball wiedersehen – sie wusste, dass die Familien miteinander bekannt waren –, und vielleicht würde er sie, Kate, zum Tanz vor dem Abendessen auffordern. Dann könnten sie kostbare Zeit miteinander verbringen, während sie sich an den Erfrischungen labten. Natürlich würden sie nicht allein sein. Keine junge Dame durfte mit einem Mann allein sein, und sie bekam bei dem bloßen Gedanken daran eine Gänsehaut – vor Angst oder aus skandalöser Neugier auf verbotene Früchte? Sie wusste es selbst nicht. Doch auch in Gesellschaft konnten sie miteinander reden … Sie hatte nicht den geringsten Grund zu glauben, dass er sich besonders für sie interessierte, aber man konnte ja hoffen und träumen.
Und anfangs lief es viel besser, als sie zu hoffen gewagt hatte. Der Ballsaal erschien ihr wie ein prächtiges Märchenland mit seinen Kronleuchtern aus Kristall und den unzähligen großen Spiegeln – man sah kaum, was echt und was nur ein Abbild war. Der Raum war mit beeindruckenden Säulen dekoriert, die üppig mit weißen Rosen und hellblauen Ritterspornen geschmückt waren. Der schwere Duft der Rosen wirkte in der Sommerhitze beinahe berauschend. Es war ein verzauberter Abend jenseits von Raum und Zeit, an dem einfach alles passieren konnte.
Captain Silverwood kam wie gerufen, verbeugte sich sehr gemessen vor ihrer Großmutter und forderte Kate zum ersten Tanz – zum ersten Tanz! – auf. Sie ließ sich nichts von ihrer Aufregung anmerken, sondern lächelte nur, sagte Ja und legte ihm die behandschuhte Hand auf den schwarzen Ärmel. Schon diese harmlose Berührung brachte ihr Herz zum Rasen, doch das konnte er ja nicht wissen, und was machte es schon, dass ihr Gesicht gerötet war und ihre Augen leuchteten? Einer jungen Dame musste man es nachsehen, wenn sie bei einem solchen Anlass etwas aufgeregt war.
Es war so wunderbar, in vollkommenem Einklang mit der Musik über die Tanzfläche zu schweben, sich zu treffen, sich zu trennen, sich wieder zu begegnen und sich zu drehen. Kate war noch nie so glücklich gewesen und würde sich ewig an diesen Abend erinnern: an die Musik, das Licht, die Damen in eleganten Seidenkleidern und mit blitzenden Juwelen, die Herren in Schwarz, den Duft der Rosen. Und an Benedict. Er lächelte auf sie hinunter, und alles war vollkommen.
Aber dann war es das plötzlich nicht mehr. Es war ein höchst sonderbares Gefühl – als würde der unsichtbare Faden, der sie verband, auf einmal reißen. Sie spürte es. Sie stolperte und geriet ein wenig aus dem Takt, die instinktive Harmonie zwischen ihnen verflog, und als sie ihn anblickte, sah sie, dass seine Aufmerksamkeit nicht mehr ihr galt. Er starrte wie gebannt über ihre Schulter hinweg eine andere an, und sie schaute sich um, um zu sehen, wer es war.
Vanessa! Zierlich und makellos, eine Märchenprinzessin, die Eiskönigin aus Kindergeschichten. Ihr Kleid war aus himmelblauer Seide, und darüber trug sie einen Halbrock aus weißer Gaze, über und über bestickt mit winzigen Brillanten, die funkelten, als wären sie verzaubert. Auch ihre silberblonden Locken waren mit glitzernden Juwelen geschmückt, doch sogar deren Glanz verblasste neben Vanessas blauen Augen. Sie lächelte ihren Partner strahlend an und wirbelte graziös durch den Saal. Es war ihr Tanz.
Kate sah, dass sie Benedicts Herz mit einem Schlag eroberte, sie sah seinen hingerissenen Blick, als er sich Hals über Kopf in Vanessa Ansell verliebte. Niemand sonst merkte es, aber sie um so deutlicher, und es war, als würde er ihr einen Dolch in die Brust stoßen.
Die Musik, die Lichter und die ganze Gesellschaft, sogar der Duft der Rosen – alles verblich, verdorrte und verdampfte, als wäre ein böser Geist aufgetaucht, hätte seinen Zauberstab durch die Luft sausen lassen, um sie aus dem Paradies zu vertreiben. Kate begriff, dass sie sich geirrt hatte – alle Pracht gehörte nur Vanessa. Der Ballsaal war als Bühne für sie dekoriert worden, die Blumen waren so ausgewählt worden, dass sie zu ihrem Kleid und ihren blauen Augen passten, und Kate – die große, rundliche, ungraziöse Kate, ein Niemand von nirgendwoher, war hier ein Eindringling, lächerlich aufgedonnert in ihrem rosa Kleid und völlig verrückt, weil sie sich eingebildet hatte, Benedict Silverwood würde sie lieben. Natürlich konnte er sie nicht lieben, wenn es Vanessa gab!
Die Musik verstummte endlich, und Kate murmelte ein Dankeschön. Es war egal, was sie sagte, denn er hörte gar nicht hin. Er stand da wie eine Statue, starrte Vanessa an, und als Kate ging, hatte sie das Gefühl, dass er es nicht einmal merkte.
1. Kapitel
Sieben Jahre später – 1814
„Wir machen ein Wettrennen zum Fluss!“ Lucy wartete Kates Antwort nicht ab, sondern lief über den weiten Rasen, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen.
Kate lachte und folgte ihr, aber ihre langen Röcke und das fest geschnürte Korsett erwiesen sich als hinderlich. Eine Dame sollte natürlich gar nicht rennen, doch Kate kümmerte sich nicht um solche Regeln. Sie lief ebenfalls, so schnell sie konnte, und hatte ihre Freude an der Bewegung und an dem schönen Sommertag. Als sie endlich am Fluss ankam, war die Kleine schon wie ein Affe auf ihren Lieblingsbaum geklettert. Dort oben saß sie nun, baumelte mit ihren bloßen schmutzigen Beinen und grinste triumphierend auf ihre Konkurrentin hinunter.
„Ich habe gewonnen! Und Sie haben Ihre Geschichte noch nicht zu Ende erzählt!“, rief sie. „Ich will wissen, ob der Kater das Mädchen rettet und ihm von dem magischen Brunnen erzählt!“
„Dafür reicht meine Puste nicht mehr“, keuchte Kate und tat so, als sei sie völlig außer Atem, um Lucy zu ärgern. „Du hast mir den Rest gegeben, Lucy Silverwood, und jetzt wirst du nie erfahren, wie die Geschichte ausgeht. Und außerdem ist es jetzt Zeit, dass du ins Haus gehst und dich umziehst. Dein Vater kommt heute Nachmittag zurück!“
Lucys Gesicht hellte sich auf. Das kleine Mädchen freute sich unbändig auf Sir Benedict und sprach von nichts anderem mehr. Sie war von Natur aus lebhaft und abenteuerlustig, aber vor allem war sie ein sehr liebevolles Kind, und sie vergötterte ihren Vater. Kate wusste nicht, ob er es übel nehmen würde, wenn seine Tochter ihn nicht in ihrem besten Musselinkleid empfing. Doch sie wollte nicht schuld daran sein, dass die Kleine Ärger bekam, und es würde nicht leicht für das Kindermädchen Amy sein, Lucy wieder herzurichten – sie von dem Schlamm zu säubern, mit dem sie von Kopf bis Fuß bespritzt war, ihre wilden silberblonden Locken zu entwirren, bis sie wieder halbwegs manierlich aussahen.
Kate Moreton war ebenso wie Lucy Einzelkind, und sie hatte Mitleid mit dem einsamen kleinen Mädchen, das von älteren Leuten umgeben war, die es mit ihrer Fürsorge beinahe erstickten. Kate war neu hier, aber sie hatte schon gehört, dass Sir Benedict meistens auf Silverwood Hall anzutreffen war, seit er die Armee verlassen hatte. Wenn er da war, verbrachte er viel Zeit mit seiner Tochter, ritt mit ihr aus und machte alles Mögliche, wozu seine gebrechliche Mutter und Lucys ältliche Gouvernante keine Kraft mehr hatten.
Kate war ihm seit ihrer Ankunft im Pfarrhaus noch nicht begegnet. Er war für die Saison nach London gefahren, und sie hatte Getuschel gehört, dass er wieder auf Brautschau sei. Und warum auch nicht? Er sah gut aus, war charmant und reich. Er wünschte sich sicher einen Erben, nachdem sein älterer Bruder und seine junge Frau Vanessa kurz nacheinander auf tragische Weise ums Leben gekommen waren.
„Lucy!“, rief eine tiefe Stimme.
Sie blickten auf, und plötzlich war er da. Seine hochgewachsene breitschultrige Gestalt zeichnete sich als Silhouette vor der Sonne ab. Kate stockte der Atem.
Bei ihrer Ankunft in Berkshire hatte sie geglaubt, dass sie ihm bald begegnen würde. Schließlich lebte sie jetzt in dem Dorf, in dem sein Landsitz lag, hatte sich irgendwie – sie wusste kaum, wie es dazu gekommen war – mit seiner Mutter angefreundet und gab seiner Tochter Italienischunterricht. Was für idiotische Zufälle es doch gab!
Doch dann waren Wochen vergangen, und sie hatte sich eingeredet, dass sie es schaffen würde, ihn nie wiederzusehen. Sie wusste, dass er heute nach Hause kommen würde, aber sie war nicht auf der Hut gewesen. Jetzt traf sie fast der Schlag, als sie ihn sah.
Natürlich war Eitelkeit in ihrem Fall albern, doch wenn sich eine Begegnung nicht vermeiden ließ, hätte sie gern so gut wie möglich ausgesehen statt so schlimm wie möglich – ohne Hut, mit zerzausten Haaren, einem roten verschwitzten Gesicht, über und über mit Matsch bespritzt. Obendrein hatte sie die Aufsicht über seine Tochter, und Lucy sah aus, als hätte sie sich im Schlick des Ufers gewälzt – wahrscheinlich, weil sie genau das getan hatte.
Sie stammelte irgendeine Entschuldigung.
Er kam näher. Ihre früheren Begegnungen hatten in Ballsälen stattgefunden, und nun trug er natürlich Reitkleidung. Es war eine Binsenweisheit, dass Herren am besten aussahen, wenn sie Abendanzüge trugen – oder eine Uniform. Gott sei Dank hatte sie ihn nie in Uniform gesehen! Doch nun musste sie sich eingestehen, dass er in Lederhosen und Reitstiefeln noch genauso attraktiv war wie damals in Schwarz.
Die Zeit und harte Erfahrungen hatten ein paar Falten in sein Gesicht gemeißelt, um die grauen Augen und den schönen energischen Mund, doch die standen ihm gut; sie verliehen ihm Würde. Sein Haar war immer noch goldbraun wie Honig, die Schultern breit, die Haltung aufrecht wie eh und je. Er war nach wie vor der schönste Mann, den sie je gesehen hatte, und bei seinem Anblick schlug ihr Herz – dumm, sinnlos, grausam – einen Purzelbaum. Falls sie sich je eingebildet hatte, ihre Verliebtheit überwunden zu haben, wusste sie es jetzt besser. Sie fühlte sich wieder wie das achtzehnjährige Mädchen, nicht wie eine alte Jungfer von fünfundzwanzig.
Er wusste ihren Namen, weil Lucy ihn gesagt hatte, und begrüßte sie freundlich, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen. Er erkannte sie offenbar nicht wieder, und das war kein Grund zur Verbitterung. Warum sollte er sich an sie erinnern? Zumal alles anders geworden war. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, am Ende der Saison 1807, war sie eine Debütantin unter vielen gewesen, keine mittellose alte Jungfer, und er war in Vanessa Ansell verliebt gewesen – bis über beide Ohren, für jeden sichtbar, und vor allem hatte es auf Gegenseitigkeit beruht. Er hatte getanzt und gelächelt und war zu allen jungen Damen, auch zu Kate, liebenswürdig gewesen, hatte aber nur Augen für Vanessa gehabt. Es tat immer noch weh, daran zu denken.
Kate wusste hinterher nicht mehr, wie sie diese Begegnung überstand, doch es gelang ihr, und er merkte sicher nicht, dass etwas nicht stimmte. Er sah sie kaum an. Sie verabschiedete sich von ihm und Lucy und ging gemessenen Schrittes über den Rasen. Doch als sie die Bäume am Rand des Parks erreichte, rannte sie wie wild durch die Allee, bis sie außer Sichtweite war, sank wie ein Häufchen Elend zusammen und weinte sich die Augen aus, genau wie nach dem Ball vor sieben Jahren.
2. Kapitel
Benedict blieb wie angewurzelt stehen, als er die fröhlichen weiblichen Stimmen in der Nähe hörte. Sie hatten ihn noch nicht bemerkt, und er wich zurück und verbarg sich hinter den herabhängenden Zweigen einer großen alten Trauerweide, die am Fluss stand.
Das Kind – ein Mädchen von ungefähr sechs Jahren – saß auf einem Ast und ließ seine schmutzigen bloßen Beine dicht über dem Wasser baumeln. Benedict durchlebte eine Schrecksekunde, doch es gab keinen Grund zur Sorge. Die Kleine thronte über einer flachen Stelle, und sollte sie herunterfallen, würde sie nur teilweise untertauchen – so, wie ihr Kleid aussah, war ihr das heute schon mehrmals passiert. Sie war auch nicht allein. Ihre Begleiterin war eine hochgewachsene, üppige junge Frau in den Zwanzigern, die er nicht kannte. Sie sah genauso ramponiert aus wie ihr Schützling; ihre dunkelbraunen Locken hatten sich gelöst, und ihre Stirn wies einen Streifen aus Schlamm auf. Keine der beiden trug einen Hut.
Ihre Gesichter waren vom Lachen und von der Hitze des Sommertages gerötet. Es hatte den Anschein, als hätte die junge Frau dem Kind eine aufregende Geschichte erzählt – etwas mit einem Mädchen und einem sprechenden Kater, so viel hatte er mitbekommen. Die Kleine wollte mehr hören, stieß jedoch auf taube Ohren.
„Dein Papa kommt heute Nachmittag, und du willst doch sicher gewaschen sein und dein bestes Kleid anhaben, wenn du ihn begrüßt. Deine Großmama wäre entsetzt, wenn du dich so sehen lässt!“
Lucys Gesicht leuchtete auf, und Benedicts Herz zog sich ein wenig zusammen.
„Papa! Natürlich, Sie haben recht, aber ich glaube nicht, dass es Großmama viel ausmachen würde. Sie ist nicht so streng wie Amy. Aber ich will nicht zu spät kommen – gehen wir!“
Sie sprang von dem Ast, landete auf dem Boden und lief zu ihrer Begleiterin. Sie ergriff deren Hände und rief: „Ich freue mich so auf Papa! Ich habe ihn seit Wochen nicht gesehen. Ob er wohl sieht, dass ich gewachsen bin? Das bin ich nämlich!“
Benedict fand es nicht richtig, sich weiter versteckt zu halten und das Gespräch zu belauschen. Er trat aus dem Schatten der Weide und rief laut: „Lucy!“
Sie fuhr herum und strahlte. „Papa! Papa, da bist du ja!“ Sie stürmte auf ihn zu und warf sich ihm – schmutzig, wie sie war – in die Arme.
Die junge Dame – er erinnerte sich dunkel, dass seine Mutter sie in einem ihrer unleserlichen Briefe erwähnt hatte –, die eben noch so lebhaft gewesen war, erstarrte, und ihr Gesicht verschloss sich, als würde ein Vorhang fallen. Sie stand unschlüssig da. Offenbar wäre sie am liebsten unbemerkt geblieben und hätte auch gar keine Notiz von ihm genommen, doch das ging nicht. Er war ja in gewisser Hinsicht ihr Arbeitgeber, obwohl sie sich noch nicht kannten.
„Lucy, ich gehe jetzt; du willst sicher mit deinem Papa allein sein. Sir Benedict …“ Sie machte einen formvollendeten Knicks, der überhaupt nicht zu ihrer Aufmachung passte, und man merkte ihr an, dass es ihr bewusst war. „Es tut mir leid, dass Lucy so schrecklich aussieht, aber es ist meine Schuld, also seien Sie bitte nicht böse auf sie.“
„Oh, Kate – Miss Moreton, meine ich – kommen Sie nicht mit?“, sagte Lucy und zog ihren Vater am Arm. . „Papa will Ihre Geschichte bestimmt auch hören, und ein bisschen Schlamm macht ihm nichts aus, oder, Papa?“
Benedict verbeugte sich. „Miss Moreton, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Machen Sie sich bitte keine Vorwürfe. Die Schuld liegt allein bei mir, weil ich früher zurückgekommen bin als geplant. Da blieb keine Zeit, Lucy zurechtzumachen. Meine Mutter kann ein Lied davon singen, dass ich als Kind fast jeden Tag so nach Hause gekommen bin.“
„Danke, Sir, Sie sind sehr freundlich. Lucy, wir sehen uns diese Woche noch, in deiner nächsten Unterrichtsstunde. Sollte sich der Stundenplan ändern, wird deine Großmutter es mich sicher wissen lassen.“
Sie machte einen Knicks und verschwand – aus den Augen, aus dem Sinn, denn Benedict war selig vor Freude, seine Tochter wiederzusehen.
Ein paar Stunden später saß er mit seiner Mutter auf der breiten Terrasse hinter dem großen Haus und sah zu, wie die Sonne hinter einer Biegung der Themse versank. Es war schön, wieder zu Hause zu sein. Die verwitwete Lady Silverwood trug eine moderne Haube, die unter dem Kinn zusammengebunden war und ihre grauen Locken verbarg. Sie war in bunte Tücher gehüllt und erklärte, ihr wäre überhaupt nicht kalt, schließlich sei ja Sommer, und ihre Knochen machten ihr zurzeit nicht so sehr zu schaffen. Sie waren allein, denn Miss Dorothea Sutton – Lucys Gouvernante und die Gesellschafterin seiner Mutter – besuchte ihren Bruder und dessen Familie in Bristol.
Lucy war trotz ihrer Proteste zu Bett gebracht worden. Sie gab erst Ruhe, als ihr Vater ihr versprach, am nächsten Morgen mit ihr auszureiten.
„Sie ist sonst nicht so rebellisch, sie freut sich nur so, dich wiederzusehen. Sie hat dich vermisst“, sagte Lady Silverwood lächelnd.
„Ich sie auch.“
„Und?“
Er seufzte. „Ich habe so viele Tanzveranstaltungen, Frühstücke, Konzerte, Maskenbälle und was weiß ich nicht alles besucht, dass ich sie nicht mehr zählen kann. Ich weiß nicht, wie die Leute das aushalten; es gefällt ihnen sicher nicht. Ich habe, glaube ich, mit allen Debütantinnen getanzt, die in den letzten fünf Jahren ihren Knicks vor der Königin gemacht haben und noch nicht verheiratet sind. Sollte ich eine verpasst haben, ist es nicht Marias Schuld.“
„Und sie schreibt mir, dass dir keine von ihnen gefällt. Bist du so wählerisch?“
„Anscheinend ja, Mama. Ich weiß, ich habe einmal gesagt, dass ich fast jede junge Dame heiraten würde, die meine sehr vernünftigen Bedingungen erfüllt. Und dennoch – wenn es dann ernst werden soll …“
Seine Mutter sagte ruhig: „Tut Vanessas Verlust immer noch so weh?“
„Eigentlich nicht. Manchmal denke ich tagelang nicht an sie. Aber wenn ich mit einer achtzehnjährigen jungen Dame tanze, die vor Lebenslust und Hoffnung überquillt, erinnert sie mich an Vanessa in dem Moment, in dem ich ihr begegnet bin. Ich kann nicht guten Gewissens um ihre Hand anhalten, denn mein Herz ist nicht so frei, wie sie es verdient hätte. Außerdem muss ich an Lucy denken – ist es klug, von einem jungen Mädchen, einer Debütantin, zu erwarten, dass sie die Mutter wird, die Lucy braucht?“
Lady Silverwood schwieg. Sie wirkte bekümmert, und er sagte schnell: „Meine liebe Mama, du bist viel mehr als nur eine Großmutter für sie. Denk bitte nicht, dass …“
Seine Mutter unterbrach ihn. „Ich tue mein Bestes, Ben, aber es reicht nicht. Jetzt im Sommer geht es mir gut, aber im Winter machen mir meine elenden Knochen so zu schaffen, dass ich mich nicht genug um sie kümmern kann, und mit den Jahren wird es noch schlimmer werden. Wenn sie heranwächst, wird sie mehr Liebe und Fürsorge einer Frau brauchen, nicht weniger. Es geht nicht darum, mich zu ersetzen; das Kind braucht eine Mutter. Und wir dürfen nicht vergessen, dass du einen Erben brauchst.“
„Das ist das eigentliche Problem, nicht wahr – wie bringt man beides unter einen Hut? Ich könnte jederzeit eine dieser jungen Damen haben, wenn mich eine will …“
Seine Mutter unterbrach ihn durch ihr Schnauben höchst undamenhaft.
„Wenn mich eine will, und in einem Jahr würde sie mir vielleicht einen Sohn gebären. Dann hätte ich meinen Erben, aber was ist mit Lucy? Kann ich sicher sein, dass diese imaginäre junge Dame sich gut um sie kümmern würde? Bestenfalls würde sie sie links liegen lassen und all ihre Liebe ihren eigenen Kindern schenken. Das wäre nur natürlich. Und schlimmstenfalls …“
„Würde sie sie schlecht behandeln“, seufzte Lady Silverwood.
„Ich würde lieber für immer unverheiratet bleiben, als das zuzulassen. Dann würde eben der Titel erlöschen und der Landsitz verfallen – oder an meinen Cousin Felix gehen, was so ziemlich das Gleiche wäre. Aber was würde aus Lucy werden, wenn ich sterben sollte? Ich bin zwar erst zweiunddreißig, Mama, aber in den letzten Jahren haben wir so viele Menschen verloren, dass wir nichts für selbstverständlich halten sollten.“ Er nahm die knorrige Hand seiner Mutter und drückte sie.
Sie erwiderte den Druck und widersprach nicht.
Es stimmte schließlich. Es war noch nicht lange her, dass sie eine große glückliche Familie gewesen waren. Lady Silverwood war früh Witwe geworden, und ihr ältester Sohn hatte den Tod seines Vaters besonders schwer genommen. Doch 1807 hatte alles nach einer rosigen Zukunft ausgesehen. Captain Benedict Silverwood hatte Miss Vanessa Ansell geheiratet, eine der schönsten Debütantinnen der Saison. Sie hatten eine stürmische Romanze gehabt, während der Captain sich von den Wunden und dem Fieber erholt hatte, die er sich in Südamerika zugezogen hatte. Benedicts älterer Bruder, Sir Caspar, war leider ein wilder junger Mann gewesen, doch er hatte sich sehr gebessert, als er die richtige Frau gefunden hatte. Kurz nach der Heirat war seine Frau Alice in anderen Umständen gewesen. Der Captain musste kurz nach seiner Hochzeit, als er gesundheitlich wieder hergestellt war, zurück zur Armee, was seiner Familie Sorgen machte. Aber wenigstens war der Titel gesichert und die Nachfolge ebenfalls.
Aber jetzt, sieben Jahre später, sah alles anders aus. Vanessa war tot, Caspar mit seiner Kutsche tödlich verunglückt, und Alice und ihr neugeborener Sohn im Kindbett gestorben. Übrig waren nur noch die verwitwete Lady Silverwood, gezeichnet von Arthritis, die kleine Lucy und Benedict, der die ganze Last auf seinen Schultern trug.
Er war nach dem Tod seiner Frau in der Armee geblieben und hatte seine Pflicht für König und Vaterland getan. In seinem Schockzustand war es ihm beinahe egal gewesen, ob er am Leben blieb oder nicht. Man hatte ihn zum Major ernannt, denn auf dem strapaziösen Feldzug waren viele Männer gefallen, in deren Fußstapfen jemand treten musste. Manchmal war er sicher, dass ganz Portugal, Spanien und Frankreich in Blut getränkt sein mussten, und er hatte oft genug gesehen, dass Männer – und auch Frauen und Kinder – auf die gleiche Weise Blut vergossen, woher sie auch kamen und wem auch immer ihre Loyalität galt.
Zurzeit der Schlacht bei Orthez hatte er es sattgehabt. Der Gedanke an die Pflichten, die zu Hause auf ihn warteten, lastete jeden Tag schwerer auf seinen Schultern, und er hatte den Dienst gleich nach Napoleons Niederlage quittiert. Als Grund hatte er dringende Familienangelegenheiten angegeben. Er war auf seinen Landsitz und zu seiner Tochter zurückgekehrt, der Tochter, die er in all den Jahren, in denen er Bonaparte durch halb Europa gejagt hatte, kaum gesehen hatte und die er nicht wirklich kannte. Er hatte alles mehr oder weniger unbeschadet überstanden, und 1814 war der Sommer der Siegesfeiern. Der korsische Tyrann war nach Elba verbannt worden, und es würde endlich Frieden geben. Benedict verstand, dass der Frieden gefeiert werden sollte, auch wenn er ihm nach dem langen Krieg immer noch unwirklich vorkam.
Eine Sache stand fest: Es war höchste Zeit, an eine neue Heirat zu denken, an den Landsitz, an Lucys Zukunft und seine eigene. Er hatte die Aufgabe seiner älteren Schwester Maria anvertraut und gesagt „Finde eine Frau für mich“. Sie hatte ihr Bestes getan, doch etwas war schiefgelaufen. Es musste an ihm liegen. Er fürchtete schon lange, dass etwas in ihm kaputtgegangen war.
Lady Silverwood sah ihren Sohn liebevoll und besorgt an. Jede Frau, die bei Verstand war, würde froh sein, ihn zu heiraten, und das nicht nur wegen des Titels, des Landsitzes und Benedicts Vermögen, das er von ihrem Vater hatte. Sondern auch wegen seines Aussehens, seiner liebenswürdigen Art und, wenn sie ihn besser kennenlernten, wegen seines Charakters. Einst hätte sie noch „wegen seines Humors und des schelmischen Funkelns in seinen grauen Augen“ hinzugefügt, doch sie hatte beides lange nicht mehr gesehen und fürchtete manchmal, es würde für immer verschwunden bleiben – auf ewig vertrieben durch all das, was er beim Militär gesehen und getan hatte und vor allem durch die schrecklichen Verluste, die er erlitten hatte, und die Lasten, die er hatte tragen müssen, als er noch keine dreißig gewesen war.
Jetzt sagte sie langsam: „Ben, natürlich bin ich auch der Meinung, dass du wieder heiraten solltest und dass du außer den Interessen des Landsitzes vor allem an Lucy denken musst. Sicher würden nicht alle jungen Damen sie schlecht behandeln, und viele würden sie lieb gewinnen wie ein eigenes Kind, aber mir ist klar, dass du erst sicher sein kannst, wenn es zu spät ist. Ich weiß, welche Vorwürfe du dir machen würdest, wenn du die falsche Wahl getroffen hättest.“
Sie zögerte eine Sekunde und sagte dann: „Ich denke, dass ich den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen habe. Du solltest eine Frau heiraten, die Lucy schon kennt und sie liebt.“
„Und wo soll ich eine solche Frau finden, Mama?“
„Ich glaube, du hast sie heute Nachmittag kennengelernt.“
3. Kapitel
Die verwitwete Lady Silverwood hätte ihren Sohn gar nicht fragen müssen – sie wusste schon, dass sein Plan, in London eine Braut zu finden, nicht aufgegangen war. Sie führte einen regen Briefwechsel mit ihrer Tochter, Mrs. Singleton. Deren letzter Brief war erst vor ein paar Tagen gekommen und klang höchst ungewohnt – sie kapitulierte!
Mama,
stand da in ihrer schwungvollen energischen Schrift,
ich hebe die Hände und gebe mich geschlagen. Ich hatte meine ganze Hoffnung in Miss Fanshawe gesetzt – Ben hat letzte Woche bei Almack’s zwei Mal mit ihr getanzt, sie war wunderschön und ganz in Blau gekleidet, was gut zu ihren blonden Haaren passte, und sogar Lady Jersey fand, dass sie ein schönes Paar abgegeben haben. Eine geeignete Heiratskandidatin, Mama, und eine gute Verbindung, der Duke ist ja ihr Onkel. Sie ist auch gebildet, charmant und sehr hübsch. Ich denke sogar, dass sie ein wenig Ähnlichkeit mit Vanessa hat, also kann es nicht sein, dass Ben ihr Aussehen missfällt oder anderer Unsinn dieser Art.
Lady Silverwood blickte von dem Brief auf und runzelte die Stirn, ohne dass es ihr bewusst war. Ihre Gesellschafterin, Miss Sutton, fragte, was los sei, doch sie seufzte nur und antwortete nicht, sondern las weiter. Dorothea schüttelte den Kopf und widmete sich wieder dem Packen.
Ich habe sie und ihre Mutter, Lady George Fanshawe, aufgefordert, mit uns zur Siegesfeier im Hyde Park zu gehen. Ich habe es für Ben getan, denn ich war sicher, dass er bei so einem ungezwungenen Anlass leicht mit der jungen Dame bekannt geworden wäre. Natürlich schlage ich nichts Unanständiges vor …
Das Wort „Unanständiges“ war zwei Mal unterstrichen, und Lady Silverwood lächelte ein wenig ironisch, als sie es las.
Es ist nur so schwierig, sich unbefangen zu unterhalten, wenn man sich nur auf Bällen und dergleichen sieht. Ich dachte, er bräuchte nur einen kleinen Schubs von mir, um auf die Idee zu kommen, sie zu umwerben! Doch als ich ihm von meinem Plan erzählte, sagte er – Mama, ich war so wütend, dass ich ihn hätte ohrfeigen können! –: „Miss Fanshawe? WER IST DAS?“
An dieser Stelle wurde Mrs. Singletons Klagelied etwas zusammenhanglos, und ihre Feder hatte auch noch ein paar Kleckse gemacht.
Ihre Mutter legte den Brief beiseite und machte ein Gesicht, bei dem Miss Sutton ihre Pflichten im Stich ließ und sagte: „Holland in Not? Es ist doch hoffentlich niemand krank, Charlotte?“
„Nein, meine Liebe. Maria beschwert sich nur darüber, dass Ben sich nicht für die neueste Debütantin interessiert, die sie ihm vor die Nase hält. Manchmal zweifle ich wirklich an ihrem Verstand. Ihre jetzige Kandidatin erinnert sie ein wenig an Vanessa, und sie glaubt allen Ernstes, das sei von Vorteil!“
„Vanessa war ein Diamant von höchstem Karat“, sagte Dorothea leidenschaftslos. „Ihre Erscheinung gefiel ihm. Ein zerbrechliches kleines Ding, das seinen Beschützerinstinkt weckte. Er verliebte sich in sie, obwohl er sie kaum kannte. Maria erwartet wohl, dass das Gleiche wieder passiert. Ich verstehe sie gut.“
„Ich nicht! Er brauchte eine Frau, die ganz anders ist als Vanessa!“
Miss Sutton runzelte die Stirn. „Man kann über Maria sagen, was man will, aber sie ist immer sehr gründlich. Das ist mir schon aufgefallen, als ich noch ihre Gouvernante war. Sehr eifrig und gewissenhaft, schon als Kind. Sie hat doch sicher noch ein paar Asse im Ärmel, oder?“
Die Lady seufzte wieder. „Ja, allerdings. Sie hat mir von mehreren jungen Damen geschrieben und hat in jede große Hoffnungen gesetzt, bis Ben etwas an ihr auszusetzen hatte oder sich – schlimmer noch – am nächsten Tag nicht einmal an sie erinnern konnte. Aber es ist wichtig, dass er wieder heiratet, das wissen Sie genauso gut wie ich. Was sollen wir nur tun?“
„Keine Ahnung“, sagte Dorothea. „Machen Sie sich Gedanken. Ich vertraue Ihnen, Charlotte. Ihnen fällt schon etwas ein. Ben hat es verdient – nicht nur eine Braut, sondern wahres Glück.“
„Natürlich, Dotty. Aber wo wird er das finden?“
4. Kapitel
Benedict stellte sein Glas hin. „Die junge Frau, die Lucy heute beaufsichtigt hat? Wirklich, Mama? Ich habe ihr keine große Beachtung geschenkt, aber Lucy hat in ihren Briefen immer in den höchsten Tönen von ihr geschwärmt. Du hast sie einmal erwähnt, glaube ich – soll sie Lucys Erzieherin werden?“
„Männer!“, sagte Lady Silverwood liebevoll und verzweifelt zugleich. „Ich habe dir ausführlich von ihr geschrieben, Ben! Sie ist Mr. Walthams Enkelin, und ich habe sie eingestellt, damit sie Lucy ein bisschen Italienisch beibringt. Aber das war nur ein Vorwand.“
„Natürlich“, sagte er und lächelte sie an. „Tu so, als hättest du mir nie ein Wort von ihr geschrieben oder als sei deine Handschrift – und Lucys – unleserlich, und erklär mir alles, Mama.“
„Sie ist, wie gesagt, Mr. Walthams Enkelin, das einzige Kind seiner Tochter, und sie ist vor ein paar Monaten zu ihm gezogen. Sie ist sehr gebildet und spricht fließend Italienisch. Deshalb habe ich vorgeschlagen, dass sie Lucy Unterricht gibt, denn Dorothea kann kein Wort von der Sprache und wird sie in ihrem Alter auch nicht mehr lernen. Und so hat Lucy eine lebhafte junge Frau um sich, mit der sie durch den Park rennen kann, und muss nicht den ganzen Tag mit zwei alten Frauen zusammen hocken. Und Miss Moreton verdient ein wenig Geld, das sie dringend braucht. Sie ist sehr stolz und wollte eigentlich gar keine Bezahlung, aber ihr Großvater und ich haben darauf bestanden.“
„Lernt Lucy wirklich Italienisch bei ihr?“, fragte er. Es war ein verzweifelter und wahrscheinlich vergeblicher Versuch, seine Mutter von dem Thema Heirat abzulenken. „Als ich die beiden gesehen habe, sind sie in Pfützen herumgehüpft, statt Verben zu konjugieren.“
„Man kann beides gleichzeitig tun. Das Kind scheint gute Fortschritte zu machen, und was noch wichtiger ist, sie verstehen sich gut. Das kann dir nicht entgangen sein. Ich habe dir von meinen Plänen geschrieben, mein Lieber, denn natürlich würde ich Lucy niemandem anvertrauen, ohne mich vorher mit dir zu beraten.“
Benedict öffnete den Mund, doch seine Mutter war noch nicht fertig.
„Sie war noch nicht hier, als du nach London gefahren bist, deshalb hattest du sie noch nicht kennengelernt. Das arme Mädchen ist ganz allein auf der Welt – ihre Eltern sind schon lange tot, und Theodore Waltham hat wohl auch nur noch sechs Monate, wenn überhaupt. Das Pfarrhaus geht natürlich an den nächsten Pfarrer, und dann ist sie obdachlos und hat wahrscheinlich nicht einmal mehr hundert Pfund im Jahr zum Leben. Ich weiß nicht, was aus ihr werden soll. Aber wenn du sie heiratest, wird alles gut.“
Sie strahlte ihn an, und ihre Augen leuchteten. Ihm sank das Herz bis in die Schuhe. Das war nichts Neues. Seine Mutter war keineswegs herrschsüchtig, im Gegenteil, sie war sanftmütig, vernünftig und wollte immer nur das Beste für alle. Aber es war doch auffällig, wie oft sie ihren Kopf durchsetzte, und dieser Vorschlag war sogar für ihre Verhältnisse äußerst unverblümt.
Sie verstand seinen Gesichtsausdruck falsch und sagte: „Ich schlage nicht vor, dass du eine Frau niederer Herkunft heiratest, Ben. Sie hat kein Vermögen, aber sie stammt aus einer sehr guten Familie. Mr. Walthams Mutter war eine Tochter von Lord Fitton, und die Walthams sind ein Zweig der alten Essex-Familie. Sie hatte ihr Debüt zur Zeit ihrer Großmutter, Mrs. Moreton, und wurde der Königin vorgestellt. Du hast in ihrer Saison mehr als einmal mit ihr getanzt, das hat sie mir selbst erzählt.“
„Ich erinnere mich überhaupt nicht daran“, sagte er abwehrend.
„Das wundert mich nicht. Sie hatte ihr Debüt 1807, als du gerade nur Augen für Vanessa hattest. Das erklärt es. Aber sie erinnert sich an dich.“
Er fühlte sich im Nachteil. Alles klang so unglaublich vernünftig. Eine Frau, die noch jung, aber nicht mehr zu jung und deshalb wahrscheinlich keine romantische Närrin war und die Lucy mochte. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Er hatte es bei ihrer kurzen Begegnung gesehen. Aus so guter Familie, dass die Gesellschaft keinen Anstoß nehmen würde – wenn man darauf Wert legte. Ohne Vermögen – das spielte keine Rolle. Ihm fielen keine vernünftigen Einwände ein, aber er war sicher, dass es welche geben musste. Sollte er widersprechen? Genauso gut hätte er sich einer Lawine in den Pyrenäen entgegenstellen können.
„Mama!“
„Ja, mein Lieber?“ Sie lächelte, als wäre bereits alles beschlossene Sache.
„Mama, bitte! Ich habe diese junge Dame doch kaum gesehen! Sie hat keinen Eindruck auf mich gemacht. Das werfe ich ihr nicht vor, denn meine Aufmerksamkeit galt Lucy, und ich habe sie kaum eines Blickes gewürdigt. Und ich stelle keine exorbitanten Anforderungen. Ich suche nicht nach einer großen Schönheit und habe keine Hoffnung, dass ich die Frau, die ich heirate, ebenso lieben werde wie Vanessa. Das liegt alles hinter mir. Aber du musst akzeptieren, dass ich … dass ich …“
Ihr tat das Herz seinetwegen weh, doch sie ließ es sich nicht anmerken. Sie sagte nur ruhig: „Sie ist ein sehr hübsches Mädchen und hat absolut nichts Abstoßendes an sich.“
„Das ist schön. Aber darf ich vielleicht selbst urteilen?“
„Das klingt vernünftig“, sagte sie. Es hörte sich an, als würde sie riesige Zugeständnisse machen. „Ich lade sie morgen zum Tee ein, dann kannst du dir ein Bild von ihr machen, wenn sie nicht den halben Tag mit deiner Tochter gespielt hat. Ihr Haar – vielleicht fällt dir morgen auf, dass sie sehr schöne Haare hat – wird ihr nicht den Rücken herunter hängen und ihr Rock nicht über und über mit Schlamm bespritzt sein. Du kannst ‚zufällig‘ vorbeikommen, dann ahnt sie nicht, dass etwas im Busch ist. So wird es keine Peinlichkeiten für euch beide geben, ob du sie nun magst oder nicht. Also, abgemacht! Gut.“
Benedict wusste nicht, warum er zustimmte, und auch nicht, worauf er sich einließ, aber „Tee“ klang erst einmal harmlos. So wurde eine Nachricht geschrieben, die der jüngere Diener, Philipp, Miss Moreton überbringen sollte. Es war eine Einladung zum Tee auf Silverwood Hall, die nichts davon verlauten ließ, was für eine Intrige Lady Silverwood schmiedete.
5. Kapitel
Kate saß an jenem Abend bei ihrem Großvater und las ihm vor, während er vor sich hin döste. Als sie sicher war, dass er fest schlief, legte sie das Buch, faltete die Hände im Schoß und hing trüben Gedanken nach. Die Ereignisse des Tages – die plötzliche Begegnung mit Sir Benedict – hatten sie aus der Fassung gebracht und außerdem einen inneren Zwiespalt wiederbelebt, den sie überwunden geglaubt hatte.
Es war unvermeidlich gewesen, nach Berkshire zu kommen. Eine alte Verliebtheit wäre ein höchst dummer und egoistischer Grund gewesen, Nein zu sagen. Sie hatte Mr. Waltham in den letzten Jahren ohnehin oft besucht, aber Benedict Silverwood war beim Militär gewesen, und so hatte sie nicht befürchten müssen, ihm über den Weg zu laufen. Schließlich verkehrten sie in ganz verschiedenen Kreisen. Sie hatte nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, jetzt hier zu sein, und konnte sich deshalb keine Vorwürfe machen. Peinlich werden konnte es nur für sie, niemand sonst würde etwas mitbekommen, und sie würde allein damit fertigwerden – wie mit allem.
Und dennoch hatte sie sich in den letzten Monat tausend Mal gefragt, ob sie sich wirklich nur aus hehren Motiven mit Familie Silverwood abgab, und die traurige Wahrheit war, dass sie es nicht wusste.
Sie hatte Lucy lieb gewonnen. Sie hatte Gewissensbisse gehabt, sich jedoch von allen Hintergedanken freigesprochen. Dass sie vor Jahren die Mutter der Kleinen beneidet und sich wie ein Mondkalb nach ihrem Vater verzehrt hatte, war völlig unwichtig. Das glaubte sie wirklich. Lucys Fröhlichkeit und ihre unschuldige, offenherzige Freude an ihrer Gesellschaft musste Kate für sie einnehmen. Sie waren beide Einzelkinder und hatten keine Mutter mehr, und so verstanden sie sich auf einer Ebene, auf der einsame Menschen einander erkennen.
Doch sie konnte es sich nicht verhehlen, dass sie eine bittersüße, selbstquälerische Freude am Kontakt mit der verwitweten Lady hatte, daran, sie von ihrem Sohn reden zu hören und das Gemälde von Lawrence zu sehen, das ihn und seine Geschwister zeigte; es hing im Salon der Lady. Kate war keine Lügnerin. Sie hatte seiner Mutter erzählt, dass sie ihm vor all den Jahren begegnet war und mit ihm getanzt hatte. Lady Silverwood hatte bei all ihrem gemütlichen, großmütterlichen Auftreten scharfe Augen, und es konnte gut sein, dass sie Kates Geheimnis erraten hatte. Sie hatte jedoch nie ein Wort verloren.
Kate Moreton machte sich keine Hoffnungen. Sie würde sich taub gegen die innere Stimme stellen, die ihr anklagend sagte, dass sie sich aus niederen Beweggründen in die Familie Silverwood eingeschlichen hatte. Sie wollte nichts weiter, als ab und zu seinen Namen hören. War das eine Schande? Nein, aber es war albern. Sie hatte nicht erwartet oder sich gewünscht, ihm zu begegnen, und sie würde ohnehin nicht lange bleiben.
Sie wusste, dass ihr Großvater bald sterben würde. Etwas anderes zu hoffen, wäre herzlos gewesen, denn er war am Ende seiner Kräfte und hatte keine Freude mehr am Leben. Und wenn der traurige Tag kam und die Beerdigung überstanden war, würde sie Lucy Lebewohl sagen. Der Abschied würde ihnen beiden schwerfallen. Kate würde nach Italien zu ihrer Großmutter ziehen – und zu der Urgroßmutter, die sie nie getroffen hatte, den Cousins und den vielen Frauen und Kindern. Sie liebte und vermisste ihre lebhafte Großmutter, die immer sagte, was sie dachte. Dort erwarteten sie Lachen, Sonnenschein und Lebensfreude – viel mehr als hier in einem totenstillen Haus mit einem sterbenden angsterfüllten Mann –, doch sie machte sich keine Illusionen über ihre adlige, aber verarmte Familie und deren Leben. Ihre Verwandten hofften auf ein paar Brotkrumen am Hofe von Parma, wo demnächst Napoleons zweite Frau über ihr winziges Reich herrschen würde.
Und wenn sie nicht nach Italien gehen würde – konnte sie hier in England irgendwie ihr Brot verdienen, indem sie Unterricht gab und in einer winzigen Hütte hauste oder ein Zimmer mietete? Sie fürchtete, dass der Kontakt zu Lucy ihr dann nur Kummer machen würde. Benedict würde sicher bald wieder heiraten, und dann hatte sie nur zwei Möglichkeiten: als Randfigur zuzusehen, wie er mit seiner neuen Frau und Lucys neuer Mutter zusammenlebte – oder den Kontakt abzubrechen. Das würde für das Kind und sie selbst sehr schmerzhaft werden. Sie hatte sich selbst in diese Lage gebracht, und jetzt war er wieder da, und sie würde ihn öfter sehen, was sie hätte wissen müssen. Sie hatte sich tausend Mal gesagt, dass die lächerliche Jugendliebe von einst längst vergessen war. Doch jetzt, nachdem sie ihn getroffen hatte, war sie nicht mehr so sicher. Sie hatte geweint wie ein Wolkenbruch und sich hinterher völlig ausgewrungen gefühlt. Es war eine niederschmetternde Erkenntnis, dass sie sieben Jahre später nicht klüger war als mit achtzehn.
Sie seufzte, erhob sich schweigend, räumte ihre Sachen zusammen und sorgte dafür, dass ihr Großvater alles hatte, was er brauchte, falls er aufwachte. Sie ließ die Tür angelehnt und ging in ihr eigenes Zimmer. Das Pfarrhaus war klein, und wenn er nachts nach ihr rief, würde sie ihn auf jeden Fall hören.
Am nächsten Morgen brachte ihr der Diener Philipp eine Nachricht aus Silverwood Hall. Das kam gelegentlich vor, und sie dachte, dass die nächste Unterrichtsstunde verschoben werden sollte, doch als sie den Umschlag öffnete, sah sie, dass Lady Silverwood sie zum Nachmittagstee einlud. Leider saß sie bei ihrem Großvater, als die Nachricht kam, und hatte nicht die Geistesgegenwart, ihn anzulügen. Das wollte sie ohnehin nicht. Er freute sich sehr über die Botschaft und bestand darauf, dass sie hinging.
Er behauptete, er habe gut geschlafen und fühle sich so gut wie seit Tagen nicht mehr. Sie glaubte ihm kein Wort, doch er beteuerte, dass sie ihm keinen größeren Gefallen tun könnte, als aus dem Haus und unter Leute zu gehen. Er war so eifrig, dass sie ihn nicht enttäuschen durfte. Schließlich gab es nur noch wenig, was ihn glücklich machte, und all seine Sorge galt ihr.
Sie machte sich Mut, indem sie sich sagte, dass es keinen einzigen Grund gab, warum Sir Benedict anwesend sein sollte. Er war wochenlang weg gewesen, und nun, da die Erntezeit bevorstand, hatte er sicher alle Hände voll zu tun und würde einen sonnigen Nachmittag nicht damit verschwenden, dass er drinnen saß und mit seiner Mutter und der unscheinbaren Italienischlehrerin seiner Tochter Tee trank. Allerdings musste sie ja nicht das schlaffe graue Kleid tragen, das zu häuslichen Aufgaben passte; sie konnte sich vorteilhaft frisieren und ihr bestes gelbes Musselinkleid anziehen. Sie hatte es letztes Jahr bei einer Schneiderin in York gekauft, denn sie hatte seit ihrer Ankunft in Berkshire kaum Zeit zum Einkaufen gehabt. Wahrscheinlich war es schon jetzt hoffnungslos unmodern, aber was machte das? Wenigstens konnte sie ehrenwert aussehen, auch wenn ihre innersten Gefühle sich nicht so leicht zähmen ließen.
Kate machte sich auf den Weg. Sie ging die sonnige Dorfstraße gemächlich entlang, um nicht erhitzt anzukommen, und ignorierte die leise innere Stimme, die immer wieder sagte: Vielleicht ist er doch da, vielleicht ist er doch da!
6. Kapitel
Der majestätische Butler Thompson öffnete Kate die Tür von Silverwood Hall. Sie folgte ihm die Marmortreppe hinauf, die zu den Gemächern der Lady führte.
Die Gastgeberin saß allein in ihrem bezaubernden, ganz in Rosa und Gold gehaltenen Salon, begrüßte sie herzlich wie immer und fragte nach ihrem Großvater.
Kate konnte nichts Positives berichten. Sie sagte, dass sie ihn nur ungern allein gelassen hatte, doch als er gehört hatte, dass die Lady sie zum Tee eingeladen hatte, hatte er darauf bestanden, dass sie hinging. Es hätte seinen Zustand verschlimmert, wenn sie abgelehnt hätte. Charlotte Silverwood wusste nur zu gut, wie sehr es dem Pfarrer zu schaffen machte, dass Kate ihn pflegen musste, und wie froh er immer war, wenn sie etwas anderes machte – zum Beispiel Nachbarn besuchen oder Zeit mit Lucy verbringen.
Die Sorge um die Zukunft seiner Enkelin war eine schwere Last für ihn, und er bestand hartnäckig darauf, dass ihm gar nichts fehlte. Wenn er sich eingestanden hätte, dass er im Sterben lag, hätte er sich auch der Tatsache stellen müssen, dass er sie in ärmlichen Verhältnissen zurückließ. Sie würde jeden Penny erben, den er besaß, doch selbst das war wenig. Er hatte nicht auf großem Fuß gelebt, doch seine Einkünfte waren bescheiden, und es war ein böser Zufall, dass die Silverwoods es nicht gewusst haben, sonst hätten sie dafür gesorgt, dass es ihm besser ginge. Er hatte viel Pech gehabt. Seine Frau war schon lange vor ihrem Tod ein Pflegefall gewesen, er hatte nichts zurücklegen können, und seit er selbst krank war, musste er auch noch einen Stellvertreter bezahlen, einen ernsten jungen Mann namens Newman, der seine Pflichten übernahm.
Lady Silverwood war tief bekümmert, dass es ihrem alten Freund so schlecht ging, doch sie wusste, dass es ihrer jungen Besucherin unangenehm gewesen wäre, wenn sie darauf herumritt. Miss Moreton kam ihr heute Nachmittag recht schweigsam vor, ganz anders als sonst. Sicher lag es an der Sorge um ihren Großvater und dem Wissen, wie es enden würde. Lady Silverwood brachte das Gespräch geschickt auf angenehmere Themen, erzählte von Lucy und sagte, wie zufrieden sie mit den Fortschritten ihrer Enkelin sei.
Kate lächelte und sagte: „Ich fürchte, Sie schmeicheln mir, Ma’am! Ich habe ihr gar nicht so viel Italienisch beigebracht, doch sie hat einiges aufgeschnappt und findet offenbar Gefallen daran. Wir haben beide Spaß, während sie lernt, und ich weiß, dass Ihnen das sehr wichtig ist.“
In diesem Moment ging die Tür auf. Lucy platzte herein und rief: „Miss Moreton! Ich wusste nicht, dass Sie hier sind!“
Ihr Vater folgte ihr deutlich gemessener, und er sah sofort, dass sein erster Eindruck ihn nicht getrogen hatte. Die junge Dame mochte Lucy, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Das Kind umarmte und küsste den Gast, obwohl sie sich erst gestern gesehen hatten. Auch Miss Moretons Freude wirkte echt. Natürlich konnte er nicht wissen, wie sie Lucy behandeln würde, wenn sie erst ihre Stiefmutter wäre und eigene Kinder haben würde, doch das konnte man bei keiner Frau vorhersehen.
Er hatte nicht die leiseste Erinnerung daran, die junge Dame vor der gestrigen Begegnung jemals gesehen zu haben, aber seine Mutter war nicht davon abzubringen. Sie war nicht so lebhaft wie am Tag zuvor, als er sie beobachtet hatte, während sie glaubte, mit Lucy allein zu sein. Sie begrüßte ihn höflich mit einem kleinen Lächeln, schenkte ihm jedoch keine besondere Aufmerksamkeit. Vielleicht machte seine Anwesenheit sie verlegen, denn er hatte mitbekommen, dass sie kaum unter Menschen ging. Doch an ihren Manieren hatte er nichts auszusetzen, sie waren tadellos. Sie war nicht überschwänglich und versuchte nicht, sich bei ihm einzuschmeicheln, wie es andere junge Damen in London getan hatten. Offensichtlich dachte sie gar nicht daran, mit ihm zu flirten oder ihn irgendwie zu umgarnen. Er war sicher, dass sie keine Ahnung von den Plänen seiner Mutter hatte, und er war froh darüber, denn so konnte er sie ungeniert beobachten.
Was er sah, gefiel ihm. Vanessa war zart und durchsichtig wie eine Fee gewesen, doch er wollte nicht an sie denken. Am besten verbannte er sie ganz aus seinem Kopf. Miss Moreton war groß und hatte üppige Rundungen – als Mann auf Brautschau fühlte er sich berechtigt, ihre Figur zu beobachten. Ihre Haut war leicht gebräunt, ihre Augen samtbraun mit langen dichten Wimpern, und sie hatte eine lange, lockige dunkelbraune Mähne, sehr schlicht frisiert. Schöne Haare, da hatte seine Mutter recht. Ihre Wangen waren sehr rosig.
Er war überrascht, dass er sie schön fand, aber sein Gehirn – oder vielleicht war es ein anderer Körperteil – hatte so entschieden. Doch die pastellfarbenen Musselinkleider, die die meisten jungen Damen bevorzugten, waren für sie unvorteilhaft.
Heute trug sie ein hellgelbes Kleid mit langen Ärmeln und hohem Kragen – sehr züchtig, aber weder die Farbe noch der Schnitt schmeichelten ihr. Die Kleider, die junge verheiratete Frauen trugen, hätten besser zu ihr gepasst – dunkler Samt und dunkle Seide, ein weiter Ausschnitt, der ihre schönen Schultern und den prächtigen Busen zur Geltung brachte …
Er rutschte auf seinem Platz hin und her und fühlte sich etwas unbehaglich. Er hatte seinen Gedanken zu sehr freien Lauf gelassen – und damit die Antwort auf eine andere Frage gefunden. Konnte er sich vorstellen, mit ihr verheiratet zu sein, mit allem, was dazugehörte? Offenbar ja, und es fiel ihm nicht einmal schwer. Es war verrückt – sie hatten erst ein paar Worte gewechselt, und er verwünschte seine Fantasie. Die hatte sich in den letzten Monaten kaum bemerkbar gemacht, doch nun malte er sich aus, dass … Er hielt energisch inne.
Miss Moreton stand auf, um zu gehen, und Lucy sagte: „Wir begleiten Sie, nicht wahr, Papa?“
„Natürlich, mein Schatz, wenn Miss Moreton einverstanden ist“, sagte er.