Kapitel eins
„Gehe niemals die Wette ein, einen Schuft zu küssen, sonst gewinnst du sie am Ende noch.“ – Die Duchess of Hartford, Leiterin des Berkeley Square 48
Herausforderung angenommen.
Seit sie diese beiden rebellischen Worte auf die Wetttafel des geheimen Damenklubs am Berkeley Square 48 geschrieben hatte, quälte sich Miss Frederica Emelia Williams mit der Frage, wie und wann sie Percival Charles Deveraux, Marquess of Wolverton, küssen würde. Und das schon drei verflixte Wochen lang. Es hätte ein Spaß zwischen Ladys sein sollen, die ein bisschen zu viel Whisky getrunken hatten. Sie hatte sich verrucht gefühlt, wagemutig und so gar nicht wie sie selbst. Eigentlich war sie eine Lady, die ihre Abenteuer auf den Seiten eines guten Buchs fand. Vor allem auf denen von Schauerromanen.
Frederica hatte innerlich darüber gelacht, dass sie ihren Hut in den Ring geworfen hatte. Schließlich war der Marquess ihr Vormund und beinahe dreizehn Jahre älter als sie. Sie empfand ja nicht ernsthaft Zuneigung für Seine Lordschaft. Es war nur ein Spaß, eine Wette, eine Herausforderung. Diese Worte wiederholte sie im Geiste immer wieder, während sie des Nachts in ihrem Bett lag und nicht aufhören konnte, an ihn zu denken.
Aus Tagen wurden Wochen und sie hatte nicht ansatzweise einen Plan, der ihren Mund versehentlich auf seinem landen lassen würde. Sie könnte wohl recht plausibel ein Stolpern vortäuschen, das sie entweder auf seinen Schoß beförderte oder dafür sorgte, dass er sie auffangen würde. Dabei würden sich ihre Lippen rein zufällig berühren.
Mittlerweile hatte sich Frederica beinahe davon überzeugt, dass sie die Wette vollständig verdrängt hatte und in absolut keinster Weise unangebrachte Gedanken oder Gefühle für den Marquess hegte.
Deshalb war es gänzlich absurd, dass sie in diesem Moment innerlich vor Eifersucht auf die Frau tobte, die in Lord Wolvertons leidenschaftlicher Umarmung lag. Ein fester, unangenehmer Knoten bildete sich in ihrem Magen. Die Erkenntnis, dass sie diejenige sein wollte, die ihn küsste, ließ gleichermaßen Scham und Wut in Frederica auflodern.
Irgendwann war das amüsante Gedankenspiel, den Mann zu küssen, in ein tatsächliches Verlangen umgeschlagen. Es war außerordentlich unangebracht, dass ihr Vormund das Objekt ihres Begehrens war und die Hauptrolle in ihren unmöglichen Fantasien spielte. Der Mann war bekannt dafür, ein Wüstling zu sein, der recht häufig Damen in sein Bett holte. Außerdem gab es Gerüchte, dass der Marquess nicht beabsichtigte, jemals zu heiraten. Und was noch schlimmer war: Er behandelte Frederica mit einer milden Nachsicht, wie man sie sonst nur Kindern zuteilwerden ließ.
Dieser verdammte Mann.
Die Lady schlang sich um ihn wie eine Weinranke. Er unterbrach den wollüstigen Kuss und lachte leise. Das tiefe Lachen war voller sinnlicher Versprechungen, sodass Frederica ihn mit etwas Spitzem erstechen wollte. Ein klares Zeichen dafür, dass ihre Gedanken in Aufruhr waren, da sie sonst keineswegs zu Gewalt neigte. Langsam und sinnlich zog der Marquess den Körper der modisch gekleideten Lady an seinen und bog ihren Kopf zurück.
„Was für eine schockierende Zurschaustellung“, sagte Frederica mit genau der richtigen Mischung aus Humor und Spott, während sie die Treppe des prunkvollen Stadthauses hinabstieg.
Die Lady wand sich aus seinen Armen und bedeckte mit einer behandschuhten Hand in gespielter Bestürzung ihre Lippen. Herrgott, sie war wunderschön mit ihrem perfekten schlanken Körper und den leuchtend grünen Augen. Und ihr blassgrünes Kleid war einfach herrlich mit dem tief ausgeschnittenen Dekolleté und der Perlenstickerei am Saum.
„Percy“, rief sie und brachte ein wenig Abstand zwischen sich selbst und seinen Körper. Dennoch klammerte sie sich weiterhin schamlos an seinen Arm und wirkte, als könnte sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Wenn sie so zart besaitet war, fand Frederica, hätte sie nicht versuchen sollen, den Marquess mitten im Eingangsbereich zu verschlingen. Es hätte auch ein Bediensteter Zeuge ihrer lüsternen Zurschaustellung werden können.
„Wer ist das?“, verlangte sie zu wissen, als die Stille andauerte.
„Seine Lordschaft hat Euch nichts von mir erzählt?“, fragte Frederica und presste dramatisch eine Hand auf ihre Brust. „Warum stellst du uns nicht vor, Darling?“
Empörung verdunkelte die Miene der Dame. „Darling?“
Lord Wolverton durchbohrte Frederica mit einem Blick aus seinen unfassbar schönen obsidianfarbenen Augen und hob bei dem Kosenamen eine Augenbraue. Seine hochgewachsene Statur hatte eine kraftvolle, geschmeidige Eleganz. Er sah unglaublich gut aus in diesen schwarzen Hosen und der passenden Jacke und das dunkle Silber seiner Weste war ein hübscher Akzent. Sie zwinkerte ihm zu und seine Mundwinkel zuckten, doch er lächelte nicht. Stattdessen wurde seine Miene unergründlich und löste ein nervöses Flattern in ihrem Bauch aus. Sie spürte seinen Blick, der prüfend über ihre Gesichtszüge strich. Zweifellos war er erstaunt über ihre Kühnheit. Frederica musste sich eingestehen, dass sie eben ziemlich unverschämt gewesen war.
Ein seltsamer, fragender Ausdruck trat in seine Augen. „Ich glaube, ich habe erwähnt, dass mein Mündel bei mir lebt. Und sicherlich habe ich auch ihren häufig recht unangemessenen Humor erwähnt.“
Die Lady atmete scharf ein. „Das ist die kleine Freddie?“
Die kleine Freddie? Die Frau in Frederica war zutiefst beleidigt. „Es wärmt mir das Herz, dass ich im Gespräch nicht vergessen wurde“, erwiderte sie milde. Ihr Herz pochte viel zu schnell.
Der Gesichtsausdruck seiner Geliebten wurde zu einer ausdruckslosen Maske. „Ich dachte, die kleine Freddie wäre vielleicht eine Zwölfjährige, Wolverton, nicht dieses … nicht eine junge Lady“, sagte sie kühl und Ärger blitzte in ihren schönen Augen auf.
„Dachtet Ihr das?“, fragte er ohne das geringste Maß an Besorgnis.
Tatsächlich erschien er wenig höflich und seine Unbekümmertheit ein wenig … einschüchternd. Offenbar empfand auch seine Besucherin so, denn sie zögerte und wirkte einen Moment lang verunsichert. Dann sammelte sie sich und hob das Kinn. „Ja, ich nahm an, sie wäre ein Kind. Warum stellt Ihr uns nicht vor?“ Ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht.
Mit einer Hand an ihrem Rücken schob er die Lady nach vorn. „Lady Bartlett, lasst mich Euch Miss Frederica Williams vorstellen, mein Mündel.“
Freddie hatte die verwitwete Countess noch nicht persönlich getroffen, aber sie hatte von ihr gehört: Offenbar hatte ihr verschiedener Ehemann ihr ein großes Vermögen hinterlassen. Die Lady war hinreißend und benötigte keinen Beschützer. Daher war sie wohl für das beiderseitige Vergnügen die Geliebte des Marquess. Frederica schluckte die unangenehme Enge in ihrem Hals herunter und machte einen anmutigen Knicks, der den Marquess stolz machen würde. „Lady Bartlett, es ist mir eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen.“
Die Lady nickte steif und schaute auf sie herab, als erwartete sie, dass Frederica sich davonmachen würde. Schlimmer noch, ihr Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass sie nicht viel von Frederica hielt. Nur mit Mühe konnte Freddie sich davon abhalten, mit den Augen zu rollen, und lächelte stattdessen höflich. „Wenn Ihr mich entschuldigt, ich war auf dem Weg in die Bibliothek, um ein Buch zu lesen.“
Die Countess schenkte ihr ein angespanntes Lächeln. „Genau, fort mit dir, Liebes. Die Erwachsenen benötigen Privatsphäre.“
Frederica schluckte das verärgerte Grollen herunter und wandte sich zum Gehen, als die Stimme des Marquess sie aufhielt.
„Ich werde mich zu dir gesellen, Freddie. Countess, lasst mich Euch zu Eurer Kutsche geleiten. Ich habe einige Angelegenheiten mit meinem Mündel zu besprechen, die keinen Aufschub dulden.“
Der Countess entfuhr ein erschrockenes Keuchen und Freddie verkniff sich ein Lächeln. Sie eilte den Flur hinunter und betrat die große, gut bestückte Bibliothek. Ein paar Minuten später öffnete sich leise die Tür und der unverkennbare, männliche Duft des Marquess wehte zu ihr herüber. Sie ließ nicht erkennen, dass sie seine Anwesenheit bemerkt hatte, und tat, als würde sie weiterhin lesen. Ihr Herz jedoch regte sich und pochte heftiger als zuvor.
„Ich dachte, du verbringst den Abend mit der Duchess of Hartford und Lady Sherburn“, sagte Seine Lordschaft. Er ging hinüber zum seitlichen Kaminsims, wo er sich ein großzügiges Glas Brandy eingoss. „Wie kommt es, dass du so früh schon zu Hause bist?“
„Es ist nach acht, Mylord. Wenn sie nicht auf einem Ball ist, wird von einer Debütantin erwartet, um diese Zeit im Bett zu liegen.“
Sie hatte ihm von dem Treffen mit den Ladys erzählt, um sich zum geheimen Damenklub am Berkeley Square 48 zu schleichen, dem sie angehörte. Die neueste Herausforderung, die heute Abend im Klub vorgestellt worden war, hatte sie atemlos und etwas zerstreut werden lassen, denn sie drehte sich wieder um ebenjenen Mann vor ihr. Er war ein Mann von Rang mit einem beträchtlichen Vermögen, schneidig und gutaussehend und stand im Ruf, die Herzen der Damen zu brechen. Aus irgendeinem Grund brachte allein die Hoffnung auf ein verruchtes Abenteuer mit ihm so einige Debütantinnen und kokette Damen dazu, ihre Tricks an ihm zu erproben. Dass Frederica ihm so nahestand, während er für den Rest der Gesellschaft ein Rätsel blieb, bereitete ihr insgeheim ein köstliches Vergnügen.
Wer wagt es, auf dem Mitternachtsball von Lady Wembley mit Lord Wolverton zu flirten und ihn zu küssen?
So viele Ladys hatten lachend ihren Hut in den Ring geworfen und kichernd unanständige Witze über ihn gemacht.
Freddie hatte still auf einem Sofa in der Ecke gesessen und sich gedacht, wenn schon jemand Percival Deveraux, Marquess of Wolverton, küssen sollte, dann ja wohl sie. Henrietta hatte Freddies Gedanken wohl an ihrem Gesicht ablesen können und gescherzt, sie hätte Wochen gehabt, die andere Kuss-Wette zu gewinnen, indem sie den Mann küsste. Wenn sie es nicht schaffte, würde es eine andere tun.
Wie ungerecht, sie so unter Druck zu setzen!
Frederica hatte nämlich nicht die geringste Ahnung, wie sie diese Wette gewinnen sollte, ohne dass ihr Herz dabei Schaden nähme. Denn sie wusste tief in ihrem Inneren, dass sie bereits heftige Zuneigung für diesen Mann entwickelt hatte. Er hatte einen wahrlich gefährlichen Ruf und jede Mutter wusste, dass er geschworen hatte, nie zu heiraten, obwohl er doch so heiratswürdig war.
„Das erklärt nicht deine Anwesenheit“, sagte er nun. „Ist etwas passiert?“
Der Hauch von Sorge in seiner Stimme ließ sie lächeln. „Nein, ich hatte lediglich leichte Kopfschmerzen und bin etwas früher heimgekehrt als geplant.“
„Verstehe. Wie geht es dir jetzt?“
„Viel besser. Tante Cecily hat mir einen dieser grässlichen Kräutertees gemacht, bevor sie zum Ball von Lady Middleton aufbrach.“ Die Tante des Marquess lebte nicht in seinem Haus, allerdings stattete sie ihnen erschreckend viele Besuche ab und blieb bisweilen sogar über Nacht. „Ihr wirkt etwas verstimmt, Eure Lordschaft, und ich bin schuld daran. Ihr hättet Eure … Countess nicht meinetwegen nach Hause schicken müssen.“ Sie streifte sich die Schuhe von den Füßen und überkreuzte ihre Beine an den Knöcheln. „Ich hatte vor, den ganzen Abend zu lesen. Ich wäre nicht an Eurer Tür vorbeigeschlichen.“
Er sagte nichts zu ihrer wenig damenhaften Haltung, sondern trank einen kräftigen Schluck aus seinem Glas. Mit einem kühlen, gelangweilten Blick fixierte er sie. „Ich habe sie lediglich zu Besuch mitgebracht, weil ich dachte, es wäre niemand im Haus“, sagte er mit für ihn ungewöhnlich angespannter Stimme.
Hatte es ihn derart aus der Ruhe gebracht, dass sie ihn mit seiner Geliebten erwischt hatte? Vielleicht hielt er sie für ein völlig unschuldiges Ding, das nichts von seinem Ruf wusste. Die Idee war lachhaft, allerdings durchaus im Bereich des Möglichen. „Zu Besuch also?“, fragte Frederica schelmisch, weil sie vermutete, dass er heute Nacht mit der Countess hatte schlafen wollen.
„Ja. Ich hätte die Countess nach Hause begleitet, bevor du zurückgekehrt wärst.“
Allein der Gedanke daran, die beiden könnten sich in seinen Laken wälzen, machte sie unruhig. Sie atmete tief durch, um dieses alberne Gefühl zu vertreiben. „Ihr wolltet, dass die Countess Eure nächste Geliebte wird.“
Er machte ein ersticktes Geräusch und setzte das Glas ab, um sie mit eindeutig überraschtem Blick anzustarren.
„Sind Glückwünsche angebracht, Eure Lordschaft? Den Gerüchten zufolge habt Ihr Monate der Keuschheit hinter Euch. Man fragte sich schon, welche atemberaubende Schönheit Euch wohl als Nächstes für sich gewinnen würde.“
„Was um Himmels willen weißt du davon, was zwischen einem Mann und einer Frau vonstattengeht, dass du so zwanglos darüber sprichst, ob ich mir eine Geliebte nehme?“
Frederica blinzelte erstaunt, dann lachte sie. „Wir Ladys sind nicht so ahnungslos, wie ihr Männer offenbar glaubt.“ Natürlich würde sie nie gestehen, dass ihr Wissensschatz seit ihrem Beitritt zum Berkeley Square 48 vor ein paar Monaten beträchtlich gewachsen war. „Ich bin mir Eurer Neigungen vollends bewusst. Es besteht kein Grund, sie für mich zu verschleiern, Eure Lordschaft.“
„Du bist dir meiner Neigungen besser nicht bewusst“, murmelte er finster und wirkte mit einem Mal viel zu bedrohlich.
Sie hob lässig eine Schulter. „Und wenn doch?“
„Was hast du mit meiner kleinen Freddie gemacht?“, fragte er zischend.
Eine eigenartige Hitze stieg in ihr auf. „Die kleine Freddie ist eine Frau geworden“, sagte sie leise und der Nervenkitzel ließ ihr Herz stolpern.
Etwas eindeutig Gefährliches trat in seine Augen. Er nahm einen weiteren Schluck Brandy und schaute sie unter halb gesenkten Lidern hervor an. „Ich bin neugierig. War etwa ein Gentleman an dieser Metamorphose beteiligt?“ Sein verhaltenes Lächeln war nicht unbedingt beruhigend.
„Kein Grund, die Duellpistolen zu entstauben. Ich wage zu behaupten, dass Ihr der einzige Wüstling seid, mit dem ich bekannt bin.“
„Hmm.“ Er nahm erneut einen Schluck. „Lass uns über Lord Crawford sprechen.“
Sie erstarrte. „Nein.“
„Frederica, du …“
Sie spürte den Widerstand in sich aufwallen. „Ich werde diesen Mann nicht heiraten!“
Seine Augen ruhten auf ihr, durchdringend und unnachgiebig. „Dieser Mann ist ein Viscount mit einem Einkommen von zwanzigtausend Pfund im Jahr. Er hat keinen schlechten Ruf oder Schulden und er hat aufrichtiges Interesse an deiner Hand bekundet. Warum lehnst du ihn ab?“
Mit rasendem Herzen schlug sie das Buch zu und sprang auf die Füße. „Ihr habt vergessen zu erwähnen, dass er Witwer ist, drei Kinder hat und meinte, es gefiele ihm, dass ich ein unscheinbares Gesicht habe, sodass ich wohl kaum von irgendwem in Versuchung geführt würde, mich skandalös zu verhalten. Die Klatschbasen reden noch immer über seine erste Frau und ihre Schönheit und die ganzen Liebhaber, mit denen sie durch die Stadt stolziert ist.“
Sein Gesicht wurde ausdruckslos. „Du gestattest es dem Tratsch, deine Entscheidung zu beeinflussen?“
„Ich gestatte es meinem Herzen und das begehrt ihn nicht.“ Sie stemmte eine Faust in die Hüfte. „Ich habe es Euch schon einmal gesagt. Wenn Ihr so versessen darauf seid, dass ich verheiratet werde, werdet Ihr das übernehmen müssen, Eure Lordschaft.“
Er hob amüsierte einen Mundwinkel, und sie schnaubte. „Du glaubst wirklich, ich würde vor Angst schlottern wie ein Grünschnabel, wenn du sagst, du würdest nur mich heiraten, was?“ Er kam zu ihr herüber und legte einen Finger unter ihr Kinn. „Ich bin dein Vormund und du wirst das tun, was ich dir sage. Leere Drohungen und Starrköpfigkeit werden mich nicht davon abbringen, meine Pflicht zu tun.“
Ihre Blicke trafen sich und Freddie war sich seiner Berührung unter ihrem Kinn schmerzhaft bewusst. Hätte die Welt nicht gewusst, dass er ihr rechtlicher Vormund war, hätte allein die Art dieser Unterhaltung ihren Ruf unwiederbringlich ruiniert. Frederica trat einen Schritt auf ihn zu, was seine Augen flackern ließ. Sie hob das Kinn. „Ich fordere Euch heraus, mich zu zwingen!“
Diesmal lachte er und knuffte mit dem Fingerknöchelkraulte sie sanft gegen ihr Kinn, wie ihr Bruder es immer getan hatte. Die vertraute Geste schnürte ihr den Hals zu und erinnerte sie daran, dass der Marquess sie als die kleine Freddie sah. „Warum sagen die Gerüchte, dass Ihr nie heiraten werdet?“
„Ich habe kein Verlangen nach einer Ehe.“
Sie dachte über seine Worte nach. Er war definitiv verrucht, umgeben von einer Aura gefährlicher Sinnlichkeit, und er stand im Ruf, gern zu tändeln und ein Lebemann zu sein. Aber er war mehr als sein Ruf, wie die vielen Mütter bewiesen, die noch immer versuchten, ihm ihre Töchter zu Füßen zu legen. Der Marquess war nämlich ebenfalls bekannt für seine cleveren Geschäftsinvestitionen und seine brillanten Reden im House of Lords. Er wurde häufig dafür gelobt, dass er für jene Anträge eintrat, die Reformen für die ärmeren Bürger befürworteten. Freddie verschlang nicht nur die Artikel über ihn, die in den Skandalblättern standen, sondern auch die politischen Abhandlungen.
„Hat Euch jemand das Herz gebrochen?“, fragte sie.
Er zögerte einen Moment, ehe er antwortete. „Muss ein Mann verletzt worden sein, um zu entscheiden, dass er nicht heiraten will?“, fragte er amüsiert. „Ich genieße das Junggesellenleben. Der Ehestand reizt mich einfach nicht.“
Sie ignorierte das törichte Ziehen in ihrem Herzen und schnaubte innerlich über sich selbst. Der Marquess hatte sie nie auf irgendeine Weise ermutigt, die jetzt ihre Enttäuschung rechtfertigen könnte. Dennoch gelang es ihr nicht, so zu tun, als hätte sie keine Gefühle für ihren Vormund – vergeblich hoffen und lieben wollte sie aber auch nicht. Frederica ging zum Kaminsims hinüber und goss sich ein Glas Sherry ein. Er betrachtete es skeptisch, sagte aber nichts zu ihrer Getränkewahl. Sie verbarg ihr Lächeln darüber am Rand des Glases und nahm einen Schluck. Vielleicht musste sie ihn ein wenig wachrütteln und etwas tun – irgendetwas –, damit er sie als Frau sehen würde und nicht als kleines Mädchen.
Noch vor ein paar Monaten hätte Frederica keinen Gedanken an solche Dinge verschwendet. Damals war sie schüchtern gewesen, selbst dem Marquess gegenüber, und London war ihr viel zu groß und überwältigend erschienen. Bei ihrem ersten Ball hatte er ihr galant beigestanden. Nachdem sie einige Tänze hatte auslassen müssen, weil kein Gentleman sie aufgefordert hatte, war sie entzückt gewesen, mit einem so schneidigen, begehrten Mann zu tanzen. Die vielen neidischen Blicke hatten sie auf Wolken schweben lassen. Zu ihrer großen Bestürzung allerdings hatte Frederica es fertiggebracht, ihm nicht nur auf den Fuß zu treten, sondern auch mit der Stirn gegen sein Kinn zu schlagen. Der Marquess hatte versucht, ihr zu versichern, dass alles gut war, doch sie hatte sich viel zu erniedrigt gefühlt, um zuzuhören. Sie war in die Gärten geflohen und in Tränen ausgebrochen.
Dort hatte sie Lady Charity Rutherford getroffen, die sie freundlicherweise dazu eingeladen hatte, am nächsten Tag den Berkeley Square 48 zu besuchen. Frederica hatte mit dem Klub einen Ort gefunden, an dem sie endlich ein Gefühl der Zugehörigkeit erlebte. Fern der geringschätzigen Blicke des ton hatte sie anmutig zu tanzen gelernt. Sie hatte ihr Talent mit Wasserfarben verbessern können und das Fechten für sich entdeckt, und derzeit lernte sie viel über Investitionen. Sie hatte starke weibliche Verbundenheit erfahren und tiefe, beständige Freundschaften mit einigen der Ladys geschlossen.
Am Berkeley Square 48 hatte Frederica gelernt, sowohl das Unbehagen zu ignorieren, wenn man sie als Mauerblümchen bezeichnete, als auch den Schmerz, wenn man über sie hinwegsah. Sie liebte es, zu lesen. Sie fühlte sich nicht mehr unterlegen, nur weil sie keine atemberaubende Schönheit war und noch dazu kleiner als die meisten Ladys. Sie hatte gelernt, dass, wenn eine Lady etwas scheinbar Unerreichbares begehrte, sie es wagen musste, über die Grenzen des Anstandes und der Rollenbilder hinauszugehen – auch wenn die Gesellschaft ihnen weismachen wollte, sie hätten den Erwartungen zu entsprechen.
Das Leben war zu kurz und vergänglich, um nur nach den Launen anderer zu leben. Sie besaß die gleichen Regungen und Sehnsüchte wie alle jungen Ladys. Sie wollte eines Tages einen gütigen und liebenden Ehemann haben, wollte die Herrin ihres eigenen Haushalts sein und wunderbare Kinder bekommen. Mit einem Gentleman, den sie liebte und respektierte und der genauso für sie empfand.
Sie wollte mehr, als nur herumzusitzen und sich mit der Frage zu quälen, was hätte sein können, hätte sie nur etwas gewagt. Frederica wollte nicht in ein paar Jahren auf ihr Leben zurückschauen und von Sehnsucht und Verzweiflung zerfressen werden, weil sie es bereute, den Marquess nicht doch einmal geküsst zu haben, nicht mutig genug gewesen zu sein, erneut mit ihm zu tanzen oder ihm ihre aufkeimenden Gefühle zu gestehen. Denn sie war zweifellos verzückt von ihrem Vormund, dem faszinierendsten Mann, den sie je getroffen hatte.
Man muss das Leben leben und es nicht nur ertragen.
Sie wollte nichts bereuen. Trotz allem musste eine Lady einen Plan haben. Wie schon der Dichter Vergil sagte: ‚Audentis fortuna iuvat‘ – das Glück ist mit den Mutigen. Und in ihrem Fall musste es einfach auf der Seite eines Mauerblümchens sein, das etwas Verruchtes wagte.
Kapitel zwei
Percival ließ sich auf einem großen Ohrensessel nieder und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne. Er starrte Freddie an und fragte sich, was er nur mit diesem sturen Ding machen sollte. Der Umgang mit ihr war wahrlich zur Last geworden, seit er ihr eröffnet hatte, dass es Zeit war, zu heiraten. Herrgott noch mal, das war nun mal das Los einer Lady. Es war der größte Wunsch ihres Bruders gewesen, dass Percy für ihre glückliche Vermählung sorgte. Es war seine Pflicht und Ehre, dieses Versprechen zu halten. Selbst seine Tante Cecily war der Meinung, dass Freddie nicht mehr unter seinem Dach leben konnte – angeblich wegen seines skandalösen Rufs. Sie war kein unreifes siebzehnjähriges Mädchen mehr, sondern wurde langsam zur Frau. Wenn Freddie mit ihren zwanzig Jahren noch länger bei ihm lebte, würde sein schlechter Ruf irgendwann auch den ihren beschmutzen. Das konnte er nicht zulassen. Für sie war das Beste gerade gut genug.
„Möchtest du nicht irgendwann Kinder haben, Freddie?“, fragte er sanft.
Ein zartes Lächeln trat auf ihr hübsches Gesicht. „Sicher doch.“
„Dann sag mir die Wahrheit: Warum sträubst du dich so gegen das Heiraten? Wir streiten uns seit Wochen deshalb. Das kann so nicht weitergehen.“
„Dem stimme ich zu. Tyrannei kann wirklich kräftezehrend sein.“
Percy lachte. „Wenn ich ein Tyrann sein muss, um sicherzustellen, dass du glücklich bist, dann soll dem so sein.“
„Ich finde es faszinierend, dass Ihr meint, ich sollte kein Mitspracherecht haben, wo es doch um mein eigenes Wohlergehen geht.“
Das ließ ihn innehalten. „Denkst du denn überhaupt über deine Zukunft und eine Ehe nach?“
Sie lächelte süß. „Ist Euch wirklich nicht bewusst, dass noch niemand sein Interesse bekundet hat, obwohl ich bereits an gesellschaftlichen Ereignissen teilnehme?“ Sie fuhr fort, noch bevor er etwas erwidern konnte. „Und erwähnt bitte nicht wieder Lord Crawford. Er ist kein ernstzunehmender Verehrer.“
„Er ist ein Viscount mit dem Ruf, sehr charmant zu sein.“
Sie schaute ihn aus ihren schönen, großen blauen Augen an und runzelte die Stirn. „Manchmal frage ich mich, ob Euer felsenfester Glaube, ich könnte eine gute Partie finden, mich verspotten soll oder ob Ihr meine Fähigkeiten diesbezüglich einfach maßlos überschätzt. Zunächst einmal bin ich ganz ohne Frage ziemlich unscheinbar. Innerhalb des ton hat man mich schon oft als Mauerblümchen bezeichnet. Ich wage zu behaupten, dass das Gerede auch Eure erlauchten Ohren erreicht hat. Ich war geradezu schockiert, als Ihr meintet, jemand hätte mir einen Antrag gemacht. Als Ihr mir allerdings sagtet, dass es sich bei diesem Jemand um Lord Crawford handelte, habe ich sofort verstanden. Er sucht nach einer Betreuerin … für seine Kinder. Mein Mangel an Schönheit sowie die großzügige Mitgift, die Ihr versprecht, scheinen die einzigen Argumente zu sein, die in Lord Crawfords Augen für eine Heirat mit mir sprechen. Vermutlich glaubt er, ich sei verzweifelt und wir daher das perfekte Paar. Allerdings würde diese Verbindung nur dem Viscount zum Vorteil gereichen, nicht mir.“
Sie sagte es so pragmatisch, völlig frei von Selbstmitleid. Percy hingegen wollte die herzlosen Schufte finden und ausweiden. Sich selbst eingeschlossen, der diesen Heiratsantrag in Betracht gezogen hatte, ohne Rücksicht auf ihre Gefühle zu nehmen.
„Sicher findet Lord Crawford deine Mitgift ansprechend, doch er ist kein Mitgiftjäger. Du hast andere Vorzüge, die er an dir schätzt, Freddie.“
Percy erinnerte sich vage daran, wie der Mann eine Liste all jener Dinge heruntergebetet hatte, nach denen er und Miss Frederica perfekt für eine Ehe miteinander geeignet wären. Percy war allerdings zu beschäftigt damit gewesen, das eiskalte Gefühl der Ablehnung, das in seinem Inneren getobt hatte, zu bekämpfen und dessen Bedeutung zu verstehen, als dass er den Worten des Viscounts wirklich hätte Beachtung schenken können.
„Oh, lasst mich raten, er war von meinem Charme wie gefesselt?“, fragte sie scharf. „Der Mann ist weder besonders galant, noch hat er mich auf dem letzten Ball, den wir beide besucht haben, zum Tanzen aufgefordert. Dennoch besitzt er die Dreistigkeit, anzunehmen, ich wäre begeistert, seine Frau zu werden. Ganz offenbar glaubt er, eine Frau ohne umwerfende Schönheit oder Beziehungen würde sich mit seinen mittelmäßigen Bemühungen zufriedengeben.“
Ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck verrieten, wie äußerst unbeeindruckt sie vom Viscount war. Amüsiert erinnerte Percy sich an den Abend, als er ihr den Antrag in Form eines Befehls präsentiert hatte. Sein Mündel hatte die Krallen ausgefahren – die seitdem nur noch gewachsen und schärfer geworden waren – und sie hatten sich gestritten. An jenem Abend hatte sie ihm zum ersten Mal gedroht, wenn er sie verheiratet sehen wollte, müsste er das wohl selbst übernehmen. Am nächsten Morgen hatte sie sich ein gutes Stück ihrer Haare abgeschnitten. Auf diese Weise drückte sie Protest gegen seinen Befehl aus.
Wir müssen tun, was wir tun müssen, um uns gegen die Tyrannei aufzulehnen, hatte sie gesagt und mit den Schultern gezuckt.
Percy fürchtete, dass das verdammte Mädchen wohl bald kahl wäre und er die nächste Krise meistern müsste.
„Vielleicht ist er nicht besonders galant, aber er ist ein guter Mann. Und du bist nicht unscheinbar, Freddie.“
Sie zog die Nase kraus. „Darum geht es doch gar nicht. Ich habe eine Entscheidung getroffen.“
Verdammter Mist, fluchte er innerlich und bereitete sich auf das vor, was da entschlossen in ihren Augen funkelte. Wenn sie wollte, konnte Freddie ein furchtbarer Plagegeist sein. Und sie tat es mit diesem lieblichen, entwaffnenden Lächeln, was es in seinen Augen noch schlimmer machte. Sie konnte mit ihrem trockenen Witz einen Mann in der Luft zerreißen, wenn der nicht aufpasste. Und wer könnte das besser beurteilen als er selbst – so oft, wie es ihn schon getroffen hatte.
„Wird diese Entscheidung mir weitere graue Haarsträhnen bescheren?“
Sie kicherte. „Meines Wissens waren es bisher drei graue Haare. Und keins davon tat Eurer Attraktivität einen Abbruch. Es war völlig unnötig, wie Ihr Euren Kammerdiener angebrüllt habt, sie auszuzupfen. Ihr seid schrecklich eitel, Mylord, schließlich erwartet man graue Haare bei einem Mann Eures fortgeschrittenen Alters.“
„Ich bin zweiunddreißig“, knurrte er.
„Ihr habt Euch gut gehalten, Mylord“, sagte sie. Ihre Augen funkelten belustigt.
Er trank langsam einen Schluck Brandy. „Ich will dich lediglich daran erinnern, dass allein deine leichtfertigen Handlungen dafür verantwortlich sind, dass meine prächtige Mähne überhaupt verunstaltet werden konnte.“
Percy hatte sie dabei erwischt, wie sie aus dem Fenster geklettert war, um eine verdammte Katze zu retten. Zunächst hatte er angenommen, sie würde einen Wüstling in ihr Zimmer lassen. Schließlich war Percy selbst für Liebeleien durch das eine oder andere Fenster geklettert, als er noch jünger gewesen war. Aufgebracht und entschlossen, den dreisten Rabauken umzubringen, hatte ihn die Geschichte der Katze in Nöten nur wenig besänftigt.
„Erzähl mir von deiner Entscheidung“, sagte er.
Ihre Zähne gruben sich in ihre volle Unterlippe und ein Ausdruck von Unsicherheit huschte über ihr Gesicht. „Ich hege leidenschaftliche Zuneigung für jemanden, der mich aber überhaupt nicht wahrnimmt.“
Warum fühlte sich dieses sehnsüchtige Geständnis an wie ein Stich in sein Herz? „Klingt nach einem einfältigen Narren.“
Ihre Augen glänzten. „Das habe ich auch schon ein paarmal gedacht.“
„Aber du schätzt diesen Narren?“
„Wenn ich denn heiraten muss, dann soll es dieser Gentleman sein.“
„Wer ist er?“, entfuhr es Percy grollend, noch ehe er es zurückhalten konnte.
„Als würde ich Euch das erzählen.“
Verdammter Mist. „Wieso nicht? Ist er heiratsunwürdig?“
„Er ist von respektablem Rang und hat Vermögen. Einige würden sogar sagen, ein beträchtliches.“ Ein unergründlicher Blick trat in ihre Augen. „Er nimmt mich überhaupt nicht wahr und ich komme nicht umhin zu glauben, dass ich etwas tun muss, damit er mich sieht.“
„Du brauchst mir nur seinen Namen zu nennen und ich werde euch einander vorstellen.“ Nachdem er den Mann sorgfältig überprüft hatte, verstand sich.
Sie hob eine Braue und schürzte die Lippen. „Glaubt Ihr wirklich, Ihr könntet jemandem befehlen, mich zu heiraten, und er tut es dann?“
„Ich habe Macht und Einfluss, Frederica“, sagte er mit absoluter Gewissheit. „Viele würden ein Bündnis mit meiner Familie sehr begrüßen.“
Ihr Blick wurde weich. „Nur, dass wir keine Fam…“
„Du bist meine Familie.“ Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu. „Innerhalb des ton wird dir das ganze Gewicht meines Ranges und Namens zur Verfügung stehen. Jetzt verrate mir den Namen dieses Narren, den du willst, und ich sorge dafür, dass er dich wahrnimmt und nie wieder vergisst.“
Sie starrte ihn an und er war dankbar für das amüsierte Funkeln in ihren Augen. Um sie nicht mit dem Ausmaß seiner Macht und Beziehungen innerhalb der Gesellschaft zu verschrecken, sagte er nichts weiter. Selbst wenn sie einen verdammten Duke wollte, dann würde sie einen bekommen.
„Ich möchte meinen, wenn Ihr so erpicht darauf seid, dass ich heirate, dann solltet Ihr mir mit Freuden helfen, meinen Ehemann an Land zu ziehen.“
„Das tue ich, Liebes.“
Sie errötete bei dem unbedachten Kosenamen und die ungewöhnliche Reaktion ließ ihn innehalten. Etwas Ursprüngliches regte sich in ihm und innerlich schlug er mit wildem Knurren die Tür zu.
Sie fuhr mit schlanken, eleganten Fingern durch ihre kurzen Locken. Als ihr Haar noch schulterlang gewesen war, hatte sie die Angewohnheit besessen, lose Strähnen hinter ihr Ohr zu streichen. Ihr Haar sah aus, als wäre es frisch geschnitten. Die kurzen, weichen Locken umrahmten schimmernd ihr rundes Gesicht mit den großen, schönen Augen. Sie war tatsächlich recht hübsch.
„Mir ständig zu erzählen, dass ich bald und vorteilhaft heiraten muss, hilft nicht unbedingt.“
Ihr Lächeln war herausfordernd und er verkniff sich einen Fluch.
„Wusstet Ihr, dass viele in der Gesellschaft mich als armes Waisenkind sehen, das nicht viel mehr ist als eine mittellose Bekannte, die von Eurer Großzügigkeit lebt? Es ist nicht von Vorteil, mit einem Marquess in Verbindung gebracht zu werden – besonders nicht mit einem derart liederlichen –, wenn ich nicht mit ihm und seinem Reichtum verwandt bin.“
„Ist deine Zunge immer so spitz?“
Der amüsierte Ausdruck in ihren Augen und um ihren Mund vertiefte sich. „Das fragt Ihr Euch noch immer, obwohl Ihr seit fast zwei Jahren nahezu mein Vater seid?“
Percy sah sie böse an, und das kleine Biest grinste, weil sie wusste, dass ihre Worte ihm unter die Haut gingen. Warum gelang ihr das bloß so mühelos, wenn es doch kaum ein anderer schaffte?
Sie lehnte sich in ihrem breiten, gepolsterten Stuhl zurück und trommelte mit den Fingern auf die Armstütze. „Viele nennen mich ein Mauerblümchen und ich schätze, das bin ich auch. Ich werde bei Bällen nie zum Tanzen aufgefordert. Erst recht nicht, seit bekannt geworden ist, dass ich mich bei dem Tanz mit Euch blamiert habe. Ich habe schon oft gesagt bekommen, ich sei nur halbwegs hübsch. Dass ich zu klein sei, meine Grübchen zu tief und meine Augen zu blau.“
Er lehnte sich im Sessel vor. „Freddie …“
Sie hob die Hand. „Kein Grund, mich mit Beschwichtigungen zu unterbrechen, Mylord. Natürlich weiß ich, dass ich hinreißend bin …“ Sie machte eine Kunstpause. „Auf meine eigene Art, versteht sich.“
Sie lächelte und sein verdammtes Herz stolperte. Hinreißend auf ihre eigene Art war genau der Punkt. Wann auch immer Freddie lächelte, sich angeregt unterhielt oder lachte, strahlte sie eine Schönheit aus, die er noch bei keiner anderen Frau gesehen hatte. Percy wollte ihr das sagen, hielt sich aber zurück, da die Worte falsch ausgelegt werden könnten. Oder in diesem Fall richtig, da er sie sehr wohl bemerkte und sogar ein- oder zweimal von ihr geträumt hatte. Verdammter Mist. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, über diese schweißtreibenden und sehr unangebrachten Träume nachzudenken. Eines Tages würde er dafür im Fegefeuer landen, dachte er finster.
„Freddie …“
„Ich glaube, der Gentleman, den ich gern heiraten möchte, ist meinem Charme gegenüber immun, weil ich einiges an sinnlichen Reizen vermissen lasse.“
Herr, hab Gnade. Was zur Hölle wusste sie über sinnliche Reize? „Freddie …“
„Ich nehme an, Ihr könnt meinem Gedankengang folgen, Mylord?“
„Keineswegs“, erwiderte er schroff und hoffte, seine wilden Fantasien gingen in die falsche Richtung.
„Ich muss lernen, wie man einen Gentleman verführt.“
Er verschluckte sich am Brandy, räusperte sich und starrte sie schockiert an. Sie hatte es wirklich gesagt.
„Ihr habt bekannt gemacht, dass meine Mitgift dreißigtausend Pfund beträgt und nicht einmal die Mitgiftjäger beißen an. Lasst uns bitte nicht wieder mit Lord Crawford anfangen. Er ist eine Ausnahme.“ Freddie wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger. „Was glaubt Ihr denn, warum ausschließlich der Viscount sein Interesse bekundet hat? Von all den Gentlemen im ton? Weil ich einiges zu wünschen übrig lasse.“
„Du bist weder unscheinbar noch lässt du etwas zu wünschen übrig“, beharrte er.
Sie rollte mit den Augen. „Bin ich schön?“
„Nicht auf die klassische Art“, gab er zu. „Aber du bist hübsch. Selbst mit deinem kurzen Schopf.“
Die Macht ihres breiten Grinsens raubte ihm den Atem. „Der ist allein Eure Schuld.“
Ihr außergewöhnliches Lächeln überraschte ihn jedes Mal von Neuem. Percy war nur langsam bewusst geworden, dass sich ihre lieblichen, lachenden blauen Augen, die kurzen Locken und die Grübchen in ihren Wangen geradewegs an seinen sorgsam errichteten Mauern vorbeigestohlen hatten, um vor seinem geistigen Auge zu ungebetenen Bildern zu werden. Er hatte genug Verwaltungs- und Parlamentsangelegenheiten, mit denen er seinen Verstand tagsüber beschäftigen konnte, doch in der Stille der Nacht schlich sie sich in seine Träume.
In der ersten Nacht war er aus dem Schlaf hochgeschreckt. Sein Schwanz war härter gewesen als ein Speer und sein Herz hatte gerast. Percy hatte stundenlang am Fenster gestanden und in die Gärten gestarrt. Er konnte – er sollte Frederica verdammt nochmal nicht begehren. Sie war die kleine Schwester seines besten Freundes und er hatte ein verfluchtes Versprechen gegeben, sich um sie zu kümmern und für ihre glückliche Vermählung zu sorgen. Er hatte seinem Freund vor einem Jahrzehnt geschworen, ihr Vormund zu werden, sollte Matthew etwas zustoßen. Dann, vor zwei Jahren und ein paar Monaten, war das Schlimmste eingetreten: Sein Freund war auf See verschollen und für tot erklärt worden.
Sie zu begehren erschien Percy schändlich, da er nicht an einer Ehe interessiert war. Er verstand nicht, warum alle so einen Wirbel um die Angelegenheit machten. Er war verdammt froh, dass er einen jüngeren Bruder hatte, der sein Erbe sein würde. Daher gab es keinen Grund, ihn in eine Ehe zu zwängen. Er konnte das Leben in vollen Zügen genießen, während er sich um die Ländereien kümmerte, die Henry erben würde.
„Ich glaube, dass ein Mann mit Eurer weltgewandten Erfahrung sich ausgesprochen gut dafür eignet, mir beizubringen, was ich wissen muss. Ihr seid wahrlich die beste Wahl, da Ihr ein recht eigennütziges Interesse daran habt, dafür zu sorgen, dass ich …“ Eine weitere Kunstpause, in der sie mit dem Finger an ihr spitzes Kinn tippte. „… glücklich vermählt werde.“
„Und was genau glaubst du, was ich dir beibringen könnte?“
Ihr Blick landete mit unverhohlenem Interesse auf seinem Mund. „Wie man küsst.“
Percy war sich nicht sicher, ob das erneut ihre schelmische Ader war, mit der sie gnadenlos die Grenzen seiner Geduld zu erforschen suchte. Seine Laune wankte gefährlich und es hing eine bedrohliche Anspannung in der Luft. „Wie man küsst?“
„Ja. Denn Ihr müsst wissen, wenn man erkennen will, ob ein Mann und eine Frau zusammenpassen, braucht es heimliche Küsse. Das ist eine ziemlich große Sache, habe ich mir sagen lassen.“
Er würde jemandem die Zunge aus dem Mund entfernen müssen.
„Ihr seid einer der lasterhaftesten Wüstlinge der Gesellschaft. Wer, wenn nicht ein Mann mit Euren Fähigkeiten in den amourösen Künsten, könnte einem naiven Mädchen besser beibringen, wie man tändelt … wie man verführt …“
„Ich bin mir sicher, du wirst dich auch so beweisen können, wenn die Zeit gekommen ist“, sagte er trocken. „Ohne die Hilfe von irgendeinem lasterhaften Wüstling.“ Percy war fast amüsiert, dass sie diese Unterhaltung tatsächlich führten.
„Ich hatte eine Begegnung mit einem Lord, der Eure Annahme wohl widerlegen würde, Mylord.“
Sie war offenbar entschlossen, seine prachtvolle Mähne vorzeitig ergrauen zu lassen. „Eine Begegnung?“
„Ja.“
„Mit einem Mann?“
Sie zog die Nase kraus. „Natürlich.“
„Bei der er versuchte, dich zu küssen?“
„Etwas in der Art. Ein Kuss stand zur Debatte, aber es kam nicht zu einem Versuch.“
„So amüsant wie rätselhaft. Erzähl mir von dieser Begegnung.“ Percy versuchte es. Er versuchte wirklich, den drohenden Ton in seiner Stimme zu unterdrücken. Er wollte umgänglich klingen, als wären sie Freunde und sie könnte ihm alles erzählen. Allerdings verzog sie das Gesicht, also musste er wohl versagt haben. Wahrscheinlich sollte er Sprechübungen vor dem Spiegel machen.
Ihre Wangen färbten sich rosa und sie räusperte sich. „Ein gewisser Gentleman hatte eine Wette im White’s abgeschlossen, nach der die nächste junge Lady, die in seiner Anwesenheit ihr Taschentuch fallen ließe, von ihm geküsst würde.“
Er kannte den jungen Dandy, von dem sie sprach. Der trug bunte Kleider und behauptete, ein Mann von Welt zu sein. Er war außerdem ein Bewunderer Byrons und meinte, er selbst wäre ebenso launenhaft und gelehrt wie der Dichter.
„Beim Ball von Lady Pennington fiel mein Taschentuch vor seine Füße. Ich versuche noch immer herauszufinden, ob das nun eine bewusste Entscheidung oder ein Versehen war.“
„Er hat dich beleidigt?“ Percy konnte es sich nicht erklären, aber das Mädchen weckte seinen Beschützerinstinkt. Er hatte sogar erkannt, dass er sich ihretwegen freudig mit jedem Schurken duellieren würde.
„Nun, er hat mich nicht geküsst, sondern ist mit amüsiertem Schnaufen an mir vorbeigegangen. In seinen Augen war ich die Sache wohl nicht wert. Ich musste mich darüber amüsieren, sonst hätte ich womöglich noch geweint.“
Auch wenn sie lächelte, lag schmerzerfüllte Scham in ihrem Blick. Percy würde ihn ausweiden, diesen kleinen …
„Dennoch werdet Ihr den Gentleman nicht darauf ansprechen. Stellt Euch nur vor, wie albern und skandalös das wäre. Er weigerte sich, Eurem Mündel gegenüber ungebührliches Verhalten an den Tag zu legen, und Ihr äußert Euer Missfallen darüber.“ Sie lachte mit funkelnden Augen – es schien ihr zu gefallen, welche gefährliche Richtung seine Gedanken eingeschlagen hatten.
Sie betrachtete ihn erwartungsvoll, als wüsste sie nicht genau, wie er jetzt reagieren würde. Diesen Blick hatte er bei ihr noch nie gesehen. Die Erkenntnis traf ihn hart: Das hier war wahrlich nicht mehr die kleine Freddie, sondern eine Frau mit subtiler, wenngleich sehr präsenter Sinnlichkeit. Er weigerte sich entschieden, diesen Gedankengang zu verfolgen, um nicht eine Grenze zu überschreiten, nach der es kein Zurück gäbe.
Auch wenn sie sich um eine gleichgültige Miene bemühte, konnte er an ihrem Hals ihren flatternden Puls erkennen. Diese Sache war ihr wichtig. Sehr sogar. Trotzdem konnte er ihr beim besten Willen nicht geben, was sie wollte. Ihr beibringen, wie man küsste? Wie man tändelte? Wie man auf dem schmalen Grat zwischen Verlockung und Lust wanderte? Dabei würde er erbärmlich versagen. Er war kein Mann, der nur von seinem Schwanz und seinen Trieben geleitet wurde. Diese wilden Jahre lagen längst hinter ihm. Alles, was er heute tat, geschah infolge sorgsamer Planung und kühler Berechnung. Selbst die Wahl einer Geliebten. Dennoch glaubte Percy, dass ein einziger Kuss mit Freddie, selbst unter dem Deckmantel des Unterrichtens, sein Ruin wäre. Und ganz bestimmt der ihre. Das war beeindruckend unlogisch, dennoch hielt er daran fest wie ein Ertrinkender.
Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Zum ersten Mal in zweiunddreißig Jahren wusste er nicht, was er tun sollte. Seine Gedanken überschlugen sich, als sie aufstand und zu ihm herüberschlenderte. Ihr sanfter, weiblicher Duft reizte seine Sinne stärker, je näher sie ihm kam. Freddie streichelte mit dem Blick über sein Gesicht, studierte seine Miene. In ihren Augen lag ein verschmitzter Ausdruck, etwas Unsicherheit, aber vor allem Entschlossenheit. Sein Herz begann zu rasen, als sie noch näher trat. Was hat der kleine Sonnenschein jetzt im Sinn?