Küssen will gelernt sein
Windham Manor Sommer 1811
Penny
»Glaubst du, es hat uns jemand gesehen?« Unbehaglich drehte Penny den Kopf in alle Richtungen und verspürte gleichzeitig den vertrauten Nervenkitzel. Niemand durfte erfahren, was sie hier trieben, denn es war auf jede nur erdenkliche Art und Weise unangebracht, wenn nicht sogar unanständig. Aber gerade deshalb war es das Aufregendste, was sie mit ihren siebzehn Jahren jemals getan hatte.
»Niemand hat uns gesehen. Heute nicht und die Male davor auch nicht.« George blickte auf sie herab und wie immer zog sich ihre Brust ein klein wenig zusammen.
Sieben Jahre älter als sie und der beste Freund ihres Lieblingsbruders Gabriel, kannte sie ihn schon ihr ganzes Leben. Und wie jedes Mal, wenn sie ihn sah, bewunderte sie unwillkürlich sein gutes Aussehen.
George Burdon, Baron Lighton, war der schönste Mann, dem sie je begegnet war. Sein leicht gewelltes Haar war dunkelbraun und seine graublauen Augen wirkten im Vergleich dazu wie Eis. Allerdings wie welches, das im Mondschein leuchtete und genau deshalb warm und freundlich funkelte. Überhaupt war sein Gesicht perfekt proportioniert. Angefangen von der Stirn, die momentan in leichten Falten lag, bis hin zu den sinnlichen, schmalen Lippen, die das Bild vervollkommneten.
Doch sein gutes Aussehen war nicht der Grund, dass sie ihn darum gebeten hatte, ihr das Küssen beizubringen. Es lag vielmehr daran, dass er ein Gentleman und ein echter Freund war, dem sie bedingungslos vertraute. Er würde sie niemals verraten oder gar versuchen, die Situation auszunutzen. Außerdem verfügte er über eine Menge Erfahrung, was das Küssen anging.
Denn er war sich seiner Attraktivität wohl bewusst und scheute sich nicht, sie einzusetzen, um beim weiblichen Teil der Gesellschaft zu punkten. Vor allem bei gelangweilten Ehefrauen.
Kein Mann, in den sie sich verlieben wollte und erst recht keiner fürs Leben. Nein, sie hatte einen anderen im Auge, einen, der nicht nur ihr Herz schneller schlagen ließ, sondern auch Sicherheit und Glück versprach: Tom, den Verwaltergehilfen. Sobald dieser mit seiner Ausbildung fertig war, würde er genug Geld verdienen, um sie beide zu versorgen.
Und damit es bei ihrem ersten Kuss, der zweifelsfrei kurz bevorstand, nicht zu unschönen Überraschungen kam, hatte Penny George um Unterricht gebeten. Den gab er ihr seit ein paar Tagen und heute war ihre letzte Stunde.
»Wie beruhigend«, führte sie das Gespräch fort und setzte sich auf die schmale Bank, die zu der versteckt liegenden Lichtung zwischen den Grundstücken ihrer Familien gehörte.
Er nahm neben ihr Platz und wie selbstverständlich schob sie ihm die Jacke von den Schultern und begann damit, sanft seinen Nacken zu massieren. Er hatte ihr erklärt, dass Männer es schätzten, wenn sich eine Frau um ihr Wohl sorgte. Genaugenommen hatte das nichts mit Küssen zu tun, dennoch war sie ihm doch dankbar für den Rat.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie und drückte mit dem Daumen ein wenig fester an der Stelle kurz unterhalb seines Nackens, von der sie wusste, dass ihm das gefiel.
Prompt erklang ein leichtes Stöhnen und er ließ die Schultern noch ein wenig mehr sinken. »Langweilig wie immer hier auf dem Land«, antwortete er und drehte den Kopf so, dass sie fester zudrücken konnte. »Und bei dir?«
»Das übliche Geplänkel mit meiner Mutter. Sie möchte unbedingt eine Saison in London für mich ausrichten und lässt mich damit nicht in Ruhe. Ich wünschte, ich könnte ihr sagen, dass ich das nicht brauche, weil ich Tom heiraten werde, sobald er eine Stelle als Verwalter gefunden hat. Aber wenn ich das tue, sagt sie es Vater. Der würde ihn umbringen. Und mich gleich dazu.«
Darauf antwortete George nicht, was sie ihm hoch anrechnete. Obwohl sie ihm gestanden hatte, dass sie mit Tom nach dem Ende seiner Ausbildung durchbrennen wollte, hatte er kein einziges Mal versucht, ihr den Plan auszureden. Er hatte nur verständnisvoll genickt und versprochen, ihr den Rücken freizuhalten.
Jetzt drehte er den Kopf, nahm ihre Hand von seinem Nacken, hauchte einen Kuss darauf und sah ihr tief in die Augen. Ein Zeichen, dass er sie gleich küssen würde. Mit pochendem Herzen legte sie die Arme um seinen Hals, wie er es ihr beigebracht hatte, und öffnete den Mund leicht.
»Egal, was kommt«, sagte er sanft und sah ihr dabei eindringlich in die Augen, »du kannst dich auf mich verlassen. Solltest du jemals Hilfe brauchen, Schutz oder auch nur jemanden, mit dem du reden willst, werde ich für dich da sein. Versprochen.«
Dann senkten sich seine Lippen auf ihre und sie stöhnte ihrerseits leise. Wenn sich Küsse mit George so großartig anfühlten, wie würde es erst mit Tom sein, dem Mann, den sie liebte?
Sieben Jahre später …
London Juli 1818
George
»Verdammt, George, was hat da so lange gedauert?« Sein bester Freund Gabriel, Viscount Windham, begrüßte ihn mit besorgtem Blick.
»Unvorhergesehene Komplikation«, presste George hervor und versuchte, den Schmerz zu unterdrücken, der jedes Mal durch seinen Körper fuhr, wenn er atmete. Sein Sprint durch die dunklen Gassen Londons hatte seinen Zustand nicht gerade verbessert. »Die haben etwas geahnt und mich verfolgt. Leider …« Er zischte, weil das Stechen in seinem Brustkorb für einen Augenblick beinahe übermächtig wurde. »Wir müssen hier weg. Ich weiß nicht, ob ich sie abhängen konnte.«
»Was ist mit Helen und dem Mädchen?«
Die Sorge seines Freundes war kaum zu überhören und George dementsprechend froh, sie zerstreuen zu können. »Längst unterwegs nach Sussex. Ich habe für ausreichende Ablenkung gesorgt. Deshalb sind sie mir gefolgt und …« Die Knie versagten ihm und ohne Gabriels geistesgegenwärtige Unterstützung wäre er zu Boden gegangen.
»Bist du verletzt? Oder betrunken?«
Die letzten Worte sorgten für ein leises Lachen, welches eine weitere Welle Schmerz durch Georges geschundenen Körper jagte.
»Ich wünschte. Mindestens eine gebrochene Rippe würde ich sagen. Sie haben mich erwischt, gerade, als ich dachte, dass ich sie abgehängt hätte.«
Fluchend führte Gabriel ihn zur bereitstehenden Kutsche. Schleppte war wohl das bessere Wort, denn es gelang George kaum noch, sich auf den Beinen zu halten.
»Rein mit dir, mein Freund.« Gabriel schob ihn ins Innere und, bevor er eine halbwegs bequeme Position suchen konnte, setzte sich die Kutsche in Bewegung.
Er hoffte, dass ihm die Männer nicht gefolgt waren. Schlimm genug, dass sie sein Gesicht gesehen hatten.
Seit Jahren half er seinem Freund dabei, Frauen zu befreien, die in zwielichtigen Etablissements gefangen gehalten wurden, um die abartigen Phantasien und Wünsche reicher Männer zu befriedigen. Viele davon so gewalttätig, dass die Frauen dabei schwere Verletzungen erlitten oder gar starben.
Vor wenigen Wochen erst war es ihnen gelungen, eine ganze Gruppe von Männern auffliegen zu lassen, die solche Dinge nicht nur praktizierten, sondern sich dabei sogar zusehen ließen. Einer von ihnen, ein angesehenes Mitglied des Londoner ton, hatte versucht, Gabriel eine Falle zu stellen, indem er seine Frau Helen entführte. Der Mann war drauf und dran gewesen, sie auf einer Theaterbühne vor Publikum zu vergewaltigen, um sie anschließend zu Tode zu foltern.
Zum Glück war es ihnen rechtzeitig gelungen, den Übeltäter aufzuhalten und seine Machenschaften aufzudecken. Er war keine Gefahr mehr, vor allem deswegen, weil Gabriel ihn im Zuge der Befreiungsaktion erschossen hatte. Obwohl die Tötung reine Notwehr gewesen und für Gabriel folgenlos geblieben war, hatte sie ihnen dennoch einiges an unerwünschter Aufmerksamkeit eingebracht, was es zunehmend schwerer machte, Rettungsaktionen durchzuführen. Selbst mit Helen an ihrer Seite, die gerettete Frauen in ihre Obhut nahm.
»Bist du sicher, dass Helen nicht in Gefahr ist?«
Auch wenn Gabriel es zu unterdrücken versuchte, hörte George die aufkommende Panik in der Stimme seines Freundes. Verständlich, bedachte man, dass seine ersten beiden Ehefrauen brutalen Morden zum Opfer gefallen waren. In Situationen, die dieser nicht unähnlich waren.
»Zu einhundert Prozent. Sie haben auf mich eingetreten, bis ich ihnen gesagt habe, dass ich das Mädchen halbtot in den Gassen von St. Giles habe liegen lassen.« Mit geschlossenen Augen, eine Hand auf seiner schmerzenden Rippe redete er weiter. »Ich habe so lang durchgehalten, wie es ging, um es glaubhafter zu machen. Sie werden Tage damit zubringen, sie zu suchen.«
»Das war zu knapp«, sprach Gabriel das aus, was George schon eine geraume Weile durch den Kopf ging. »Wir sollten eine Pause einlegen.«
»Ich weiß nicht. Da sind noch so viele, die unsere Hilfe brauchen …« George merkte, wie ihm die Sinne schwanden, nicht zum ersten Mal an diesem Abend. Doch hier in der Kutsche, an der Seite seines Freundes, konnte er es endlich zulassen.
Als er die Augen wieder öffnete, befand er sich nach wie vor in der Kutsche. Draußen herrschte Dämmerlicht und er fragte sich, ob es Morgen oder Abend war. Stöhnend richtete er sich auf, denn seine Rippe schmerzte nach wie vor höllisch.
»Ich dachte schon, du willst gar nicht mehr aufstehen, du Faulpelz«, drang Gabriels leicht sarkastische Stimme an sein Ohr. »Arbeitsscheu und wehleidig wie immer. Trotzdem schön, dass du dein Ableben noch ein wenig verschiebst, das erspart mir die Mühe, einen neuen Freund suchen zu müssen.«
»Da hättest du ohnehin schlechte Karten. Mit dir will doch niemand was zu tun haben.« Ächzend quälte sich George in eine sitzende Position. »Wie lange war ich weg?«
»Etwas mehr als zwölf Stunden. Wir sind durchgefahren und sollten in weiteren zwölf Stunden in Windham sein.«
»Helen?«
»Wir haben sie eingeholt. Sie ist wohlauf und mit der jungen Frau in der Kutsche vor uns. Die ist völlig verängstigt und Helen bestand darauf, bei ihr zu bleiben.« Gabriel sah aus, als wäre auch er gern in der anderen Kutsche.
»Du hättest dich nicht zu mir setzen müssen.« George versuchte zu schlucken, was ihm aber nicht gelang. Seine Kehle war wie ausgetrocknet.
»Nimm das.« Mit einem mitleidigen Lächeln reichte ihm Gabriel einen Trinkschlauch. »Verdünnter Wein, wobei es bei dem Gesöff auch besser ist, ihn mit Wasser zu strecken. Ich hielt es für klug, keine unnötigen Pausen zu machen, weshalb wir auf das angewiesen sind, was auf die Schnelle beim Pferdewechseln verfügbar war.«
Dankbar nahm George einen Schluck und verzog das Gesicht, ob des essigartigen Geschmacks. »Was qualitativ beklagenswert ist.«
»Gut erkannt. Sinne und Verstand messerscharf wie eh und je.« Gabriels spöttische Miene wurde ernst. »Das war zu knapp, mein Freund. Ich habe mich kurz mit Helen besprochen und wir haben beschlossen, dass wir für den Rest des Jahres keine Rettungsversuche mehr starten werden. Das zwielichtige Gesindel in London soll sich erst einmal beruhigen.«
»Und deine Frau hat zugestimmt?«
Die frisch gebackene Lady Windham mochte zwar aussehen wie ein Engel und sich in gehobener Gesellschaft auch so geben, doch sie besaß eine innere Stärke, an der sich viele Männer eine Scheibe abschneiden konnten. Sie hatte es sogar geschafft, sich gegen Gabriel durchzusetzen, der strikt dagegen gewesen war, sie an irgendwelchen Rettungsaktionen teilnehmen zu lassen. Und das wollte etwas heißen. Sein Freund war nämlich ein alter Sturkopf, wie er im Buche stand.
»Überraschend, nicht wahr?« Gabriel schnippte ein imaginäres Staubkorn von seinem Ärmel. »Müssen die mütterlichen Gefühle sein, die mit ihrem Zustand einhergehen.«
»Mütterliche … Dann sind Glückwünsche angebracht? Wann ist es denn so weit?«
»Im Herbst oder frühen Winter.« Ganz gegen seine Gewohnheit, sparte sich Gabriel eine sarkastische Antwort, was George zeigte, wie aufgewühlt sein Freund war.
»Das sind doch wunderbare Nachrichten, Gabriel. Du wirst ein hervorragender Vater werden.«
»Danke.« Gabriels Blick traf ihn und George sah seinem Gesicht an, dass etwas nicht in Ordnung war.
»Was verschweigst du mir? Wie geht es Helen? Oder dem Mädchen?«
»Nichts dergleichen.« Müde strich sich Gabriel über die Stirn. »Gestern, kurz bevor wir unsere Mission gestartet haben, kam ein Brief deines Bruders bei mir an. Es geht um deinen Vater.«
»Was hat der alte Mann angestellt, dass Hugh der Meinung ist, mich kontaktieren zu müssen?«
»Er hat entschieden, diese Welt zu verlassen. Dein Vater ist tot, George.«
Eine eigenartige Mischung aus Unglaube, Schmerz und Gleichgültigkeit breitete sich in George aus. Es war Jahre her, dass er mit seinem Vater mehr als ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatte. Nichtsdestotrotz spürte er einen Anflug von Traurigkeit. Egal, wie wenig er sich mit seinem Vater verstanden hatte, den Tod hatte er ihm nie gewünscht.
»Was ist passiert? War er krank? Ist er gestürzt?«
»Darüber hat dein Bruder keine Auskunft gegeben. Er bat mich lediglich, dir mitzuteilen, was geschehen ist, und dich aufzufordern, für die Beerdigung und die Testamentseröffnung nach Hause zu kommen.«
»Warum schreibt er dir und nicht mir?« Zorn flammte in George auf. Hielt Hugh ihn für dermaßen verantwortungslos?
»Er hat eine Nachricht an dich schicken lassen, auf die du nicht reagiert hast. Wenn ich raten müsste, würde ich vermuten, dass du sie ungeöffnet ins Feuer geworfen hast. Wäre nicht das erste Mal. Sei froh, dass du mich hast und dass dein Bruder offensichtlich klüger und geduldiger ist als du. Oder ich. Wobei die Latte da zugegebenermaßen nicht besonders hoch liegt.«
Gabriels beißender Sarkasmus half George, die widerstrebenden Gefühle, die in seinem sowieso schon geschundenen Brustkorb tobten, einigermaßen in Schach zu halten.
Denn sie wussten beide, dass sich Georges Leben mit dem Tod des alten Earl of Huddleston drastisch ändern würde.
Ein unerhörtes Angebot
Drei Wochen später
Penny
»George lebt ab heute bei uns.« Diese Ankündigung, in ernstem Tonfall von ihrem Bruder Gabriel ausgesprochen, versetzte Penny einen kleinen Schock. Bedeutete es doch, dass sie dem Freund ihres Bruders nicht länger aus dem Weg gehen konnte. Äußerlich ruhig legte sie den Brief beiseite, in dem sie gelesen hatte, und richtete sich gerade auf. Sie suchte Trost in der vertrauten Umgebung des Salons mit seinen schweren roten Vorhängen und der Kirschholzvertäfelung, was nicht so recht gelingen wollte.
»Warum?«, fragte sie, wohl wissend, wie unangemessen die Frage war. Nicht nur, weil besagter George direkt neben Gabriel stand und sie aus seinen grauen Augen musterte. Seit fast einem halben Jahr gehörte Windham Manor, der Ort, den Penny zeitlebens als ihre Heimat betrachtet hatte, rechtmäßig ihrem Bruder. Er konnte hier leben lassen, wen er wollte.
Zudem war ihr Nachbar, Georges Vater, vor drei Wochen gestorben. Das soeben verkündete Arrangement bedeutete höchstwahrscheinlich, dass Georges älterer Bruder ihn vor die Tür gesetzt und den Geldhahn zugedreht hatte, womit er mittellos dastand. Das traurige Schicksal jüngerer Söhne ohne eigenes Einkommen oder Rücklagen. Besonders von solchen, die bekannt dafür waren, dass sie hohe Summen setzten.
»Auch wenn ich dir keine Erklärung schulde, liebe Schwester«, sagte ihr Bruder mit dem für ihn typischen ironischen Unterton, »ist es so, dass die Bedingungen, unter denen …«
»Wenn du nichts dagegen hast, spreche ich für mich selbst«, unterbrach George ihn. Er wartete keine Antwort ab und fügte an Penny gewandt hinzu: »Mein hochgeschätzter Bruder ist der Meinung, dass ich meine bisherige Zeit auf Erden vergeudet habe und schon viel zu viel seines Erbes verschleudert hätte. Aus diesem Grund entzieht er mir die Unterstützung, was mich zu dem Punkt bringt, über den ich seit der Beerdigung meines Vaters mit dir sprechen möchte, Penny.« Er warf Gabriel einen Blick zu, der ergeben seufzte.
»Das ist dann wohl der Zeitpunkt, an dem ich mich empfehle.«
Gabriels zusammengezogenen Brauen gefielen Penny nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er zwar davon sprach zu gehen, sich aber keinen Inch bewegte. Ganz so, als sei er nicht vollkommen von dem überzeugt, was er sagte.
»Es ist das einzig Vernünftige.« George unterstrich seine Worte mit einem Nicken, das Gabriel erwiderte. Langsam ging er in Richtung Tür. Dort angekommen drehte er sich noch einmal um.
»Überlege deine Antwort gut, Penny. Niemand setzt dich unter Druck. Wie auch immer du dich entscheidest, du hast meine volle Unterstützung.«
Penny blieb keine Zeit zu antworten, denn Gabriel hatte den Raum verlassen. Sein Appell hallte in ihr nach und verursachten eine leichte Übelkeit. Ihr war bewusst, dass George seit einer Weile mit ihr reden wollte und dass sie ihm einen Gefallen schuldete. Bisher hatte sie erfolgreich jede Begegnung unter vier Augen vermieden. Jetzt hatte er offenbar Gabriel um Hilfe gebeten und sie saß in der Falle. Hatte er ihrem Bruder von dem Arrangement erzählt, welches sie vor so vielen Jahren getroffen hatten? Vermutlich nicht, wenn man seine Ruhe eben in Betracht zog. Sie wünschte inständig, dass George sich nicht mehr daran erinnerte, aber diese Hoffnung war wohl vergeblich. Denn was könnte er von ihr wollen, wenn er nicht gedachte, den Gefallen einzufordern, den sie ihm nun einmal schuldete?
»Penny«, begann George in diesem Moment und unterbrach ihren Gedankensturm. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist mir aus dem Weg gegangen.« Ein Lächeln zog über sein Gesicht, erreichte jedoch seine Augen nicht. Überhaupt schien er deutlich ernster als sonst.
»Das könnte daran liegen, dass es so war.« Warum das Offensichtliche leugnen. »Ich nehme an, du bist hier, um mich an meine Jugendsünden zu erinnern?«
»Wie bitte? Ich … nein.« Seufzend schüttelte er den Kopf. »Ich … ich wollte … Würdest du … Darf ich mich setzen?«
Sie nickte und deutete auf den Sessel ihrem gegenüber. Die Situation war irritierend. Zuerst Gabriels kryptische Aussage und wie der nie um Worte verlegene George vor ihr stand und mit sich rang, hätte man meinen können, er wolle ihr einen Heiratsantrag machen. Doch das wäre völlig lächerlich. Zwischen ihnen hatten zu keiner Zeit romantische Gefühle geherrscht, auch wenn sie sich vor so vielen Jahren geküsst hatten. Mehrmals. Aber nur zu Übungszwecken. George war kein Mann, der eine ernsthafte Beziehung anstrebte oder gar heiratete.
»Deinem Gesicht sehe ich an, dass du ahnst, was jetzt kommt.« Nach wie vor blickte George sie ungewohnt ernst an.
»Du möchtest deinen Gefallen einfordern«, antwortete sie mit gespielter Ruhe.
»Wie bitte? Ach, das.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das hatte ich vollkommen vergessen.«
Penny stöhnte innerlich und schloss die Augen. Warum hatte sie ihren Mund nicht halten können?
George hob beschwichtigend die Hände. »Wenn es dich beruhigt, können wir den Gefallen ab sofort als erledigt betrachten. Alles, was du dafür tun musst, ist, dir in Ruhe meinen Vorschlag anzuhören und darüber nachzudenken.«
Noch erlaubte sich Penny nicht aufzuatmen. Das klang zu gut, um wahr zu sein. »Ich bin ganz Ohr. Was ist so wichtig, dass du unbedingt allein mit mir sprechen musst?«
George räusperte sich und straffte die Schultern. »Ich bitte dich, meine Frau zu werden«, sagte er nüchtern.
Also doch.
»Wie bitte?« Sehr zu Pennys Unmut war ihre Frage eher ein heiseres Krächzen.
»Es ist nichts Romantisches. Und ich würde dich auch niemals anrühren.« Er merkte wohl selbst, wie das klang. »Nicht ohne deine Einwilligung«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Betrachte es einfach wie einen guten Handel.«
»Handel? Heißt das, ich würde einen Nutzen daraus ziehen?« Das kam ihr doch eher seltsam vor. Mit einer Hochzeit würde sie ihre Freiheit verlieren und an einen Mann gefesselt sein, der den Großteil seiner Zeit an Londons Spieltischen und in den Betten verheirateter Frauen verbrachte. Worin lag da der Vorteil für sie?
Auch wenn es ihr durchaus schmeichelte, dass der gutaussehende George Burdon, Baron Lighton, sie als Ehefrau in Erwägung zog, verletzte sie die Art und Weise, wie es geschehen war. Hätte er nicht zumindest den Anschein von Romantik wahren können? Und was bildete er sich eigentlich ein? Er war es vermutlich gewohnt, dass ihn die Frauen anschmachteten und er sich alles erlauben konnte. Wenn er glaubte, dass es reichte, mit dem Finger zu schnippen, damit sie angelaufen kam und ihm jeden Wunsch von den Augen ablas, dann kannte er sie schlecht. Sie merkte erst, dass sie wiederholt den Kopf schüttelte, als sich Georges Miene verfinsterte.
»Bevor du ablehnst, hör dir bitte die Vorteile an, die diese Ehe für dich und mich bringen würde.«
Sie hob die Brauen, aber sie hatte versprochen, ihm zuzuhören, und ein Teil von ihr wollte wissen, was diese angeblichen Vorteile waren, weshalb sie huldvoll nickte.
»Ich beginne mit mir, damit du verstehst, in was für einer Lage ich mich befinde.«
Mit einer Handbewegung forderte sie ihn auf fortzufahren.
»Zuallererst solltest du wissen, dass ich kein Lord mehr bin. Als neuer Earl of Huddleston beansprucht mein Bruder den Titel Baron Lighton für seinen zweitgeborenen Sohn. Allerdings hat mich mein Vater zum Missfallen meines Bruders in seinem Testament bedacht. Er hat mir Clay Industries vererbt, die Ziegelei, die südlich an Ländereien meines Bruders grenzt. Das Unternehmen wirft ausreichend Gewinn ab, um mir ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Leider gibt es einen Haken.«
»Natürlich gibt es den«, murmelte Penny, was er ignorierte. In den vielen Jahren, die sie sich kannten, hatte sie einige Male mitbekommen, wie er sich mit seinem Vater gestritten hatte. Was ihrer Meinung nach nicht am alten Lord Huddleston gelegen hatte, sondern vielmehr an Georges unstetem und skandalösem Lebenswandel.
»Damit das vollkommen klar ist und einmal laut ausgesprochen: Ich bin nur noch Mister Burdon und meine Frau wäre Mrs Burdon, ganz ohne Titel.« Obwohl er sich bemühte, emotionslos zu sprechen, sah Penny den unterdrückten Zorn in seinem wohlgeformten Gesicht.
»Das zählst du zu den Vorteilen?«, fragte sie, wohlwissend, dass ihm der Kommentar ein Lächeln entlocken würde. Und wirklich, seine Mundwinkel hoben sich ein klein wenig.
»Nein, eigentlich nicht.« Das Lächeln verschwand. »Aber es erschien mir fair, es dir zu sagen. Du solltest dir darüber im Klaren sein, bevor du dich entscheidest.«
»Ich behalte es im Hinterkopf.«
»Gut. Ich erbe also die Ziegelei. Aber nur, wenn ich im nächsten halben Jahr eine standesgemäße Ehe schließe. Das ist mein erster Punkt. Du bist eine akzeptable Partie und wir wären damit finanziell versorgt.«
»Na, immerhin.« Es gelang ihr nicht, ein Lächeln zu unterdrücken. Von seinem Charme merkte sie an diesem Morgen wenig. In ihren Augen stellte er sich eher ungeschickt an.
»Du weißt, wie ich das meine. Als Tochter eines Duke bist du …«
»Akzeptabel, ich verstehe schon. Fahr fort.«
»Mit dem Geld aus der Ziegelei könnte ich mein Leben weiterführen wie bisher. Mein Stadthaus gehört zu den Dingen, für die bisher mein Vater aufgekommen ist. Die Einnahmen würden mir erlauben, es weiter zu mieten und irgendwann auch zu kaufen, damit könnte ich dir ein eigenes Heim in der Stadt bieten.«
Penny wollte einwerfen, dass sie nicht vorhatte, in London zu leben, schwieg aber. Bevor sie widersprach, sollte er all seine Argumente loswerden, so viel war sie ihm schuldig. »Ich verstehe«, sagte sie deshalb und wartete, dass er weitersprach.
»Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass wir uns ewig kennen und stets gut verstanden haben. Ich habe weder Zeit noch Geld, lange nach einer passenden Partie zu suchen, ihr den Hof zu machen, und was es sonst braucht. Das ganze Brimborium könnten wir uns sparen. Schließlich hast du damals mich gefragt, ob ich dir helfe, als du lernen wolltest, wie man küsst.«
Er hatte es also doch nicht vergessen und Penny konnte nicht verhindern, dass ihre Wangen heiß wurden. Bilder an Stunden der Zweisamkeit, die eine Ewigkeit her schienen, formten sich in ihrem Kopf. In dem kleinen Hain, der die Ländereien ihrer Eltern voneinander trennte, hatte George sie in die Geheimnisse des Küssens eingeweiht. Ihr gezeigt, wie man sich vorsichtig herantastete, es genoss und am Ende seiner Lektion auch die leidenschaftliche Variante, die seinen Wort nach zu einer Erfüllung führen sollte, die sie sich nicht einmal erträumen konnte. Damit hatte er Recht behalten, denn sie verstand bis heute nicht, was er gemeint hatte. Zwar wusste sie, was in der Ehe zwischen Mann und Frau geschah, doch der Teil mit der Erfüllung erschloss sich ihr nicht gänzlich.
Denn die Lehrstunden bei George hatten nicht zum erwünschten Erfolg geführt. Ihr Angebeteter hatte nach einem einzigen kurzen Kuss Windham Manor verlassen und sie hatte ihn danach nie wiedergesehen. Sie war einfach nicht dazu bestimmt, einen Mann zu fesseln. Was ihr inzwischen ganz recht war. Sie hatte ein gutes Leben, an dem sie nichts zu ändern wünschte.
»Wie ich sehe, erinnerst du dich an meine Lektionen.« Das Lächeln um seine Lippen war weicher geworden und in seinen Augen blitzte es kurz selbstsicher. »Diese, nennen wir es Vertrautheit, ist ein weiterer Pluspunkt für unsere Ehe. Wir wissen, dass wir in dieser Beziehung halbwegs kompatibel sind. Zumindest finden wir uns nicht abstoßend.«
»Ich fasse zusammen, was wir bisher haben«, sagte Penny, der es mit jedem Satz schwerer fiel, die Sache von der komischen Warte aus zu sehen. »Du besitzt keinen Titel mehr und brauchst diese Ehe, um nicht komplett zu verarmen. Ich bin eine akzeptable, zeit- und kostengünstige Partie, die du zumindest nicht abstoßend findest. Alles deine Worte, nicht meine.«
Sein Gesicht verzog sich, als habe er Zahnschmerzen. »Aus deinem Mund klingt das so negativ. Vielleicht behalte ich mein letztes Argument besser für mich.«
»Nein, bitte. Immer heraus damit. Ich will alles hören. Es geht um eine wichtige Entscheidung.«
Seine rechte Hand zupfte unruhig an seinem Ohrläppchen, er musste wirklich nervös sein. Das war keine Entschuldigung für sein unsensibles Verhalten, aber immerhin ein Trost. Zumindest war es ihm ernst.
»Zum Schluss wollte ich dein Alter in die Waagschale werfen. Du wirst in wenigen Wochen sechsundzwanzig und bist damit auf dem besten Weg, eine alte …«
»Danke, an dieser Stelle können wir das Gespräch abbrechen.« Kaum zu unterdrückende Wut baute sich in Penny auf. Er hatte es tatsächlich gewagt, ihr Alter anzusprechen. Was er sagte, stimmte. Sie war drauf und dran, eine alte Jungfer zu werden. Damit hatte sie ihren Frieden gemacht. Wütend war sie über seinen Tonfall und diesen herablassenden Ausdruck in seinen Zügen, als er es aussprach.
Irgendwie schien er zwar zu merken, dass er sie verärgerte, das sah sie seinem Gesicht an. Doch wie alle Männer war er offenbar der Meinung, dass es in Ordnung war, über Frauen zu urteilen.
»Nun«, sprach sie weiter und war stolz darauf, wie fest ihre Stimme klang, »ich fühle mich geehrt und geschmeichelt, dass du an mich und meine missliche Lage gedacht hast und sie mir so schonungslos vor Augen führst. Dennoch muss ich ablehnen. In London findest du bestimmt jede Menge heiratswillige Frauen von Stand, die dein Angebot zu schätzen wissen. Sicher wird auch die ein oder andere darunter sein, die du nicht völlig abstoßend findest. Und wenn du großen Wert darauf legst, eine Frau im fortgeschrittenen Alter vor der Schmach des Alleinseins zu bewahren, lässt sich gewiss auch dafür eine Lösung finden. Ich für meinen Teil muss auf jeden Fall ablehnen.«
»Aber, Penny, ich …« Er stand auf und näherte sich ihr.
»Nein.« Abwehrend hob sie die Hand. »Bitte, geh jetzt.«
Ihrer Bitte nachkommend, wandte er sich zur Tür. Kurz davor blieb er noch einmal stehen und sah sie an. »Eine Heirat wäre für uns beide von Vorteil und ich werde alles daransetzen, dich umzustimmen.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.
Penny sah ihm mit gemischten Gefühlen nach. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber sicher nicht damit.