Prolog
Byrnewood Manor England, 1795
„Ich werde niemals hier rauskommen, ohne meine Tugend zu verlieren.“ Amelia Gräfin von Marston warf ihrem Begleiter Webb Dryden, der dicht neben ihr saß, einen verschmitzten Blick über die Schulter zu. Da sie auf einer Marmorbank in der inneren Abgeschiedenheit des Buchsbaumhecken-Labyrinths von Byrnewood saßen, hegte Amelia keinerlei Zweifel daran, warum sie eingeladen worden war, die verschlungenen Pfade zu erkunden. Innerhalb undurchdringlicher Hecken lag ein ruhiger Blumengarten, der eine willkommene Zuflucht vor dem lärmenden Haushalt ihres Gastgebers bot. Die späte Nachmittagssonne ließ goldene Lichter in den braunen Haaren ihres Liebhabers schimmern, und Amelia lächelte den attraktiven Mann an. „Was hast du für verwegene Pläne?“, fragte sie. „Willst du mich als Geisel nehmen?“ Webb grinste, und sein Blick versprach, dass sie für die Freilassung nicht in klingender Münze bezahlen würde. Amelia liebte den verruchten Schwung seiner Lippen, wenn sie ihn neckte. Obwohl Webb erst dreiundzwanzig war, wusste er um seine Vorzüge und wie er sie einsetzen musste, um sich alle Türen zu öffnen – Türen zu den Geheimnissen mächtiger Männer und zu den Schlafzimmern ihrer Frauen. „Eine Geiselnahme, sagst du? Nun, das ist eine gute Idee.“ Er rückte näher und maß sie mit dem berechnenden Blick eines Schurken.
„Was könntest du wohl anzubieten haben, was ich nicht schon gesehen oder gekostet hätte?“ Arroganter Kerl, dachte sie und musste vor sich selbst zugeben, dass gerade diese selbstbewusste Arroganz sie an erster Stelle zu ihm hingezogen hatte. Sie widerstand dem Drang, ihm die Spitze ihres Sonnenschirms in die Rippen zu stoßen, und lugte stattdessen unter dessen Fransenrand zu ihm auf. „Sei dir nicht zu sicher, Sir. Eine Frau meiner Erfahrung hat immer einen Vorrat an Geheimnissen in der Hinterhand. Ich glaube nicht, dass ich dir schon etwas von den wirklich delikaten Leckerbissen erzählt habe, die ich während meiner Zeit in Ägypten letztes Jahr aufgeschnappt habe.“ Sie warf ihm einen raschen Blick zu, um zu sehen, ob sie damit seine Aufmerksamkeit geweckt hatte.
„Unbezahlbare Informationen, die ich bei meinen persönlichen Besuchen beim Pascha bekommen habe. Brocken, die in meinem Bericht an das Außenministerium nicht erwähnt werden.“ Er gab vor, nicht interessiert zu sein, und richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf einen kleinen Rosenbusch, der in der Nähe eines Springbrunnens wuchs. Aber die Art, wie er sich unruhig in seinen engen Reithosen bewegte, zeigte ihr, dass sie seine Aufmerksamkeit gewonnen hatte. „Ein Pascha, sagst du?“, murmelte er. „Sind die nicht schon alt und fett?“
„Durchaus nicht“, lächelte Amelia. „Tatsächlich würde ich sagen, dass du genauso alt bist.“ Sie fuhr fort, beim Sprechen Webbs Reaktionen zu beobachten, wobei sie sich sehr bewusst war, dass unter seinem doppelreihigen Uniformrock und dem gestärkten weißen Hemd harte Muskeln und jugendliche Leidenschaft lagen, die der des Paschas nicht unähnlich waren.
„Und auch von gleicher … Größe.“ Sie seufzte, teils um der Wirkung willen, aber auch in Erinnerung an das, was definitiv nicht in ihrem Bericht an Webbs Vater stand, der im Außenministerium ihr Vorgesetzter war. „Im Orient – “, fuhr sie fort, während sie ihren Sonnenschirm beiseitelegte,“– nehmen die Männer die Liebe sehr ernst. Sie werden von frühester Jugend an auf sinnliche Fortschritte getrimmt, sodass ein Vergleich mit englischen Jugendlichen natürlich ganz und gar unfair wäre.“ Fast hätte sie gelacht, als sich die Brauen des englischen Jugendlichen hoben. Webb war ein guter Liebhaber, aber sie fragte sich, ob ein wütender Webb nicht ein noch besserer wäre. Wie sie es liebte, einen Mann bis an die Grenze der Wildheit zu provozieren! „Also warum hast du mich hierhergebracht?“, fragte sie erneut. „Es ist der einzige Ort, an dem wir für uns sein können“, knurrte er, brach eine weiße Rose und reichte sie ihr. „Zwischen meiner Familie und deinen Verwandten haben wir keinen Moment Frieden.“ Das stimmte zwar, aber Amelia kannte den wahren Grund für ihr heimliches Treffen – die fünfzehnjährige Tochter ihrer Gastgeber, Lüy D'Artiers.
Das Mädchen war zum ersten Mal verliebt, und Webb, das Objekt ihrer Zuneigung, machte ein heilloses Durcheinander daraus, wie Amelia fand. „In Wirklichkeit meinst du, dass Lily uns hier nicht finden kann. Oder besser gesagt, dich.“ Webb wurde blass und schüttelte sich. „Sprich ihren Namen nicht aus. Wenn ich gewusst hätte, dass diese Göre zu Besuch kommt, hätte ich nie zugestimmt, meinen Vater hier zu besuchen. Sie hat uns beim Reiten verfolgt, setzt sich bei jeder Mahlzeit neben mich und war nicht davon abzuhalten, bei dem Rundgang durch den Westflügel mitzutappen.“ Er warf ihr einen komplizenhaften Blick zu, als müsste sie über die Aufdringlichkeit des jungen Mädchens genauso empört sein. Aber Amelia konnte nicht umhin, ihn wegen seiner Verehrerin noch etwas länger zu necken. „Ich glaube, wenn wir von Byrnewood aufbrechen, wirst du Lily vermissen. Sie verwöhnt dich mit ihren Aufmerksamkeiten. Sie wird dich noch für jede andere Frau verderben.“
„Aaah, komm, Amelia“, begann Webb und beugte sich vor, sodass seine Lippen nur Millimeter von ihrem Ohr entfernt waren. „Vergiss Lily, vergiss unsere Gastgeber, vergiss alles bis auf uns – verborgen, gefangen, wenn dir das Heber ist, in diesem blühenden Gefängnis.“
„Verborgen kann man das kaum nennen“, erwiderte sie und verdrängte die lasziven Bilder, die ihr unwillkürlich in den Sinn kamen. „Jederzeit könnte hier jemand über uns stolpern.“
„Das macht es ja so aufregend“, erwiderte er und fuhr ihr mit dem Finger leicht über den Ausschnitt, wobei er geschickt die blaue Seide über ihren Schultern verschob. Amelia lehnte sich zurück und genoss die beginnende Verführung. Er hatte recht, der Gedanke, ertappt zu werden, erhöhte nur die Erregung. Genauso wie bei ihrer beider Beruf, der Spionage. Webbs Vater, Lord Dryden, hatte sie mit zweiundzwanzig in den Dienst des Außenministeriums geholt. Das war neun Jahre her, und mittlerweile gehörte sie zu den Topagenten Englands – Intrigen und amouröse Erfolge waren ihr Beitrag für König und Vaterland. Webbs Lippen erreichten eine sensible Stelle an ihrem Hals. „Wenn mein Vater erwartet, dass wir uns in Wien als Liebespaar ausgeben, sollten wir dann nicht schon einmal üben?“ Oh, wie sie ihn wollte! Aber sie wollte, dass er nach ihren Vorzügen verlangte. Sie wich zurück, erhob sich von der Bank und strich ihr Kleid glatt. „Das kann ich nicht tun. Nicht als ehrenhafte Frau.“ Sie ignorierte sein ungläubiges Schnauben. „Ich kann es nicht zulassen, dass ich das Werkzeug deines Ruins werde. Ich weiß aus erster Quelle, dass du dich für deine junge Verlobte aufsparst.“
„Meine waaaas?“, stieß Webb ungläubig hervor und wich zurück.
„Lily, natürlich. Sie hat mir gestern Abend anvertraut, dass ihr beide heiratet, sobald sie sechzehn ist.“
„Zur Hölle, wenn ich …“ Webb trat ein paar Schritte zurück und stieß mit dem Fuß in den Rasen. Dann fuhr er herum. „Wie kannst du ihr glauben? Sie ist eine verlogene, ränkespinnende kleine …“
„Ts, ts, ts, so spricht man aber nicht über seine Verlobte“, neckte sie ihn. „Bei deiner Hochzeit werde ich mit Sicherheit weinen. Ich weine immer auf Hochzeiten.“ Er blieb abrupt stehen. „Hochzeit? Ich werde sie nicht heiraten, und jemand anderen übrigens auch nicht.“
„Jemand anderen?“ Amelia ergriff ihren Sonnenschirm und ließ ihn kreisen. Es war nicht so, dass sie vorhatte, einen Mann wie Webb Dryden, der weder Geld noch Titel hatte, zu ehelichen. Dennoch fand sie seine Erklärung verletzend. Sie hob ihr Kinn und wandte den Blick ab. „Verdammt, Amelia, du weißt genau, was ich meine.“ Wieder begann er, auf und abzugehen. „Ich habe es herzlich satt, mich von jedem wegen des Mädchens ärgern zu lassen. Sie folgt mir wie ein kleines Äffchen, seit wir uns kennengelernt haben – sehr zu meinem Missfallen.“
„Oh, du bist grausam“, gurrte sie. „Außerdem ist das Kind, wie du sie so abfällig nennst, fast erwachsen – oder ist dir das entgangen?“
„Was entgangen? Sie ist ein mageres, staksiges Ding. Sie ist so schüchtern, dass ich staune, dass sie in Gesellschaft mitgenommen wird. Gestern hat sie fast den halben Salon ihrer Schwester zerstört, weil sie über alles gestolpert ist. Und erst ihr Kleid, es war skandalös genug für jemanden ihres Alters. Ich kann nicht verstehen, dass ihre Eltern es zulassen, dass sie so unanständig gekleidet herumstolziert.“
„Ich denke, du hast nicht auf sie geachtet.“ Sosehr es Amelia auch missfiel, wenn seine Blicke woanders auf ihr ruhten, so hatte ihre Unterhaltung doch die erwünschte Wirkung. „Dieses Kind wird einmal eine Schönheit“, bemerkte sie ehrlichen Herzens. „Sieh dir nur die Schwester und die Mutter an. Gib deiner kleinen Verlobten noch ein oder zwei Jahre, und sie wird diese mageren Glieder, die du jetzt so verwirfst, trefflich genug ausfüllen.“ Webb schüttelte den Kopf. „Lily D'Artiers soll eine Schönheit werden? Unvorstellbar! Man sollte überlegen, ob man sie nicht als Gnade für die Gesellschaft in ein Kloster sperrt.“
„Sie will doch nur Eindruck auf dich machen, aber du ignorierst sie.“ Webb sah düster drein. „Ich wage es nicht, sie zu ermutigen. Ich werde sie ja nie los, solange sie glaubt, ich fände nur den geringsten Gefallen an ihr. Und loswerden will ich sie, sonst läuft sie mir noch bis ans Ende meines Lebens nach.“
„Sir, ich denke, du protestierst zu viel“, erwiderte Amelia. „Mir sieht es eher so aus, als hegtest du doch Gefühle für sie, ob du es nun zugeben magst oder nicht.“ Das bewog ihn zu einer ärgerlichen Schmährede über Lily D'Artiers und ihre Nachteile. Das Mädchen tat Amelia fast leid. Aber schnell verdrängte sie jedes Mitleid. Sie würde das Saphirhalsband, das der Pascha ihr geschenkt hatte, darauf verwetten, dass Lily eine Schönheit werden würde. Eines Tages würde Webb Dryden noch Schlange stehen, um einen Blick auf das Mädchen mit den goldenen Haaren und den grünen Augen werfen zu dürfen. Dann würde er nach Lilys Pfeife tanzen. Amelia wäre dann … nun, sie zählte die Jahre nicht mehr gerne. Noch ging sie für fünfundzwanzig durch, aber auch das, so wusste sie, würde nicht mehr lange anhalten. Sie musste sich langsam ernsthaft nach einem Ehemann mit einem Titel und – wichtiger noch – einem Vermögen umsehen. Dennoch, dachte sie und betrachtete Webbs blitzende blaue Augen, während er sich weiter über Lily ausließ, die Suche nach einem Ehemann hatte bis nach ihrem Auftrag in Wien Zeit. Webbs Augen versprachen zu viel Leidenschaft, zu viel Erregung, etwas zu Gefährliches und Anziehendes, um sich übereilt in einer Ehe zu binden. Außerdem war er mittlerweile am Siedepunkt angekommen. Das galt übrigens auch für sie. Amelia sah auf und hörte sich seine letzten Einwände an. „Du willst, dass ich sie ermutige, Amelia?“, fragte er empört und überrascht. „So, wie ich die Ramseys kenne, würde sie sich nachts wahrscheinlich in mein Bett schleichen und mir ihre unsterbliche Liebe erklären. Mit uns dreien im Bett würde es wahrscheinlich etwas eng werden, meinst du nicht?“ Er riss sie in seine Arme. „Es ist ja kaum Platz für mich im Bett, so, wie du mich herumscheuchst.“
„Ich scheuche nicht …“ Sie lehnte sich an ihn, ihr Mund nur Millimeter von seinem entfernt. „Ich ziehe das Wort verfolgen vor.“
„Dann fang an, mich zu verfolgen, Mylady.“ Sein Mund legte sich auf ihren. Fast hätte sie vor Triumph aufgeschrien, als sich seine aufgestaute Empörung in einem leidenschaftlichen Kuss Bahn brach. Sie sanken zu Boden und zerrten in seliger Selbstvergessenheit einander an den Kleidern. Im Nu hatte Amelia bei der leidenschaftlichen Umarmung ihres Liebhabers alle Gedanken an seine kleine ‚Verlobte‘ verscheucht. Das wäre ihr nicht so leichtgefallen, wenn sie einen Blick zur Pforte geworfen hätte, wo eine magere, schlaksige Gestalt voller Entsetzen durch die Lücke in der Hecke spähte. Oder wenn sie den tränenerstickten Schwur gehört hätte, als das weinende Mädchen davontaumelte. „Ich hasse dich, Webb Dryden! Ich werde dich bis zu meinem Lebensende hassen!“
Kapitel 1
Byrnewood Manor England, Nov. 1800
„Sie haben hoffentlich einen guten Grund dafür, dass Sie mich aus London herbefohlen haben, Sir“, sagte Webb Dryden zu seinem Vater, der am Tisch seines langjährigen Freundes Giles Corliss, Marquis von Trahern, saß. Byrnewood Manor, das Haus von Giles' Ahnen, lag ein paar Meilen außerhalb von Bath, und obwohl das eine entzückende Stadt war, wollte Webb in London sein, statt auf dem Lande in den kalten Herbstwinden zu frieren. Er konnte sich außer einer bevorstehenden Invasion der Franzosen keinen anderen Grund vorstellen, um ihn von den Abwechslungen der Stadt fortzuholen. Die letzten zwei Jahre hatte er damit verbracht, sich während Kriegen und Intrigen an den Höfen Europas herumzutreiben, und er war erst nach Hause geholt worden, als er sich nach einer Verletzung hatte erholen müssen. Aber das war erst einen Monat her. Verdammt, aber er hatte das Herumreisen zutiefst satt und verlangte nur noch nach der Sicherheit eines weichen Bettes und eines noch weicheren Frauenkörpers. Nicht, dass er das in London gefunden hätte. Er hatte bei seinem Abschied den Fehler begangen, seiner Mutter gegenüber zu erwähnen, dass er sich nach seiner Rückkehr niederzulassen wünsche. Das hatte er nur gesagt, um ihre Besorgnis angesichts seiner Mission zu zerstreuen, doch sie hatte ihn beim Wort genommen und ihn seitdem auf den Heiratsmarkt geschleppt. „Warum humpelst du noch?“, fragte sein Vater, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. „Ich denke, McTaggart hat dich in Paris wieder zusammengeflickt.“
„Das hat er“, bestätigte Webb. „Und er hat auch gesagt, dass ich Ruhe brauche und wilde Kutschfahrten aufs Land vermeiden soll.“ Sein Vater blickte nicht von den Papieren vor sich auf. Auch er war erst vor Minuten vom Familiensitz eingetroffen, wie Webb an der schmucklosen Kutsche mit dem Wappen der Drydens hatte sehen können, die vor dem efeubewachsenen Eingang Byrnewoods gestanden hatte. Der ältere Dryden hatte seinen Vorsprung genutzt, um sich auf einem imponierenden Sessel, einer lederbezogenen Monstrosität hinter dem Tisch von Giles, niederzulassen. „Ihre Nachricht besagt nur, dass ich Sie hier treffen soll“, stellte Webb fest und verbeugte sich kurz vor ihren Gastgebern – Giles und seine Frau Sophia, Marquise von Trahern – die beide auf der anderen Seite des Tisches auf einem Sofa saßen. Es scheint schlimm zu sein, dachte er, als er die Sorgenfalten auf der Stirn Sophias sah, die normalerweise nie eine Miene verzog. Selbst unter härtesten Bedingungen zeigte sie selten etwas anderes als leichtes Amüsement. Sein Vater hatte doch sicher noch nichts von seinem kleinen nächtlichen Ausflug hinter dem Rücken von Bonapartes Wachen in die Tuilerien gehört. Sie hatten ihn erst entdeckt, als er geflohen war, und die Tatsache, dass er einen Sturz aus dem Fenster des ersten Stocks überlebt hatte, bewies doch seine Zähigkeit und die Faulheit des Gärtners, der einen großen Blätterhaufen nicht weggekarrt hatte. Obwohl sein Vater das Unternehmen nicht gebilligt hätte, war Webb erfolgreich gewesen. Er hatte das Dokument gefunden, das sie gesucht hatten. Außer der kleinen Verfehlung des Ungehorsams konnte er sich beim besten Willen keinen Grund vorstellen, warum man ihn aus London vor dieses ‚Tribunal‘ gerufen hatte, zu dem auch sein Vater mit grimmiger Miene gehörte. Dennoch hatte Webb das sichere Gefühl, dass er zu einer Beerdigung gerufen worden war. Zu seiner, um genau zu sein, wenn er Sophias mitleidiges Gesicht richtig deutete. Höchstwahrscheinlich ein erneuter Ortswechsel. Oder schlimmer noch, ein Schreibtischjob in den Katakomben des Außenministeriums. Lord Dryden bedeutete Webb, sich zu setzen. „Ich war gerade dabei, Lord und Lady Trahern die Neuigkeit mitzuteilen, mein Junge. Eine Neuigkeit, die viel zu delikat ist, um sie in meinem Büro zu besprechen.“ Zu delikat für die dicken Steinwände des Außenministeriums? Die Aussicht auf einen Schreibtisch dort erschien ihm mehr und mehr wie die auf einen Sarg. Sein Vater räusperte sich und verkündete: „Henri de Chevenoy ist tot.“
„Henri tot?“, wiederholte Webb tonlos, plötzlich aus seinen egoistischen Überlegungen aufgeschreckt. Doch selbst dann verspürte er einen Anflug von Erleichterung. Das bedeutete, dass seine Eskapade bislang noch unentdeckt war. Webb beobachtete, wie sein Vater langsam seine Brille mit Goldfassung abnahm und mit einem weißen Taschentuch polierte. Die abgezirkelten Bewegungen verrieten Webb, dass die Nachricht vom Tod Henris, so schlimm sie auch war, nicht die einzige schlechte Nachricht war, die sein Vater zu überbringen hatte, nur erst der Anfang. Aber was kann schlimmer sein als der Tod von Henri de Chevenoy?, fragte sich Webb.
Fast fünfundzwanzig Jahre lang war Henri de Chevenoy Englands Meisterspion auf der anderen Seite des Kanals gewesen – und nicht nur gegen Frankreich. De Chevenoy waren die meisten Operationen Englands auf dem Kontinent anvertraut worden. Er war einmal ein hochstehender Adeliger am Hof Louis XIV. gewesen, ehe er sich in den ersten Jahren der Revolution auf die angebliche Sicherheit des Landes zurückgezogen hatte. Obwohl er kein bekannter Mann war, hatte de Chevenoy immer kurz vor einem Ehrenposten gestanden. Beim wechselnden Geschick der Regierungen hatte der Mann eine ungewöhnliche Begabung dafür entwickelt, sich rechtzeitig von der einen Regierung zu lösen, um sich bei der nächsten unentbehrlich zu machen, immer im Verborgenen. In letzter Zeit war seine Freundschaft mit dem korsischen Emporkömmling Napoleon Bonaparte für Englands Kriegspläne von unschätzbarem Wert gewesen. Und jetzt war de Chevenoy tot, gerade dann, wenn England ihn am meisten brauchte. Angesichts dessen nahmen sich Webbs anfängliche Ängste närrisch aus. „Wann?“, fragte Sophia und brach damit das betroffene Schweigen. „Wann, wollen Sie wissen“, sagte Lord Dryden und wühlte in seinen Papieren. „Vor einem Monat. Sein Diener Valet hat ihn mit dem Gesicht zu Boden in seinem Ankleideraum gefunden. Er war hinausgegangen, um etwas zu holen, und als er zurückkam, war de Chevenoy tot. Offenbar Herzversagen. Es ist traurig, Mylady, aber ich wollte, dass Sie es von mir hören, weil ich weiß, wie gerne Sie den Grafen hatten.“ Sophia nickte zustimmend. „Aber die wirkliche Sorge ist …“ Er unterbrach sich und wirkte unbehaglich, weil er in Anwesenheit einer Dame sprechen musste, selbst wenn sie so gefasst war wie Sophia.
„Sie wissen, dass ich nicht gehen werde, Mylord“, bestätigte Sophia und lächelte höflich, als sie tiefer in das Sofa glitt. „Sie können nicht eine solche Nachricht überbringen und dann erwarten, dass ich rücksichtsvoll das Zimmer verlasse, wenn die Hauptsache erst noch kommt, nicht wahr?“ Webb wusste, dass sein Vater nie mit ihrer Verwicklung in diese Angelegenheiten einverstanden gewesen war, aber selbst die Ansichten seines Vaters konnten sich angesichts ihrer natürlichen Begabung für die Spionage oder ihrer Fähigkeit, strategisch zu denken, nicht durchsetzen. Während Giles schon lange zu den besten Männern des Außenministeriums zählte, war Sophia die Partnerin ihres Mannes und ihm vom ersten Tag ihres Kennenlernens gleichwertig. Selbst jetzt, da sie hochschwanger und eindeutig nicht für irgendwelche Missionen geeignet war, die sein Vater im Sinn hatte, sah Webb, wie sie ihrem Mann einen Blick dieser seltsamen Verständigung zuwarf, die wie eine Geheimsprache zwischen ihnen war. Webb hätte schwören können, dass die Traherns sich durch eine Zimmerlänge getrennt sehen und dennoch eine lange Unterhaltung führen konnten, ohne ein Wort zu sagen. Du gehst nicht ohne mich, schien ihr Gesicht zu sagen. Giles' finstere Miene setzte sich der dickköpfigen Bestimmtheit seiner Frau entgegen. „Nun, wenn Sie unbedingt bleiben wollen“, stieß Lord Dryden hervor, „können Sie genauso gut auch alles hören.“ Webbs Vater setzte seine Brille wieder auf und fuhr fort. „De Chevenoys Tod, der so unpassend eintrat, gefährdet unsere gesamte Operation auf dem Kontinent.“
„So schlimm ist es doch sicher nicht, Sir“, wandte Giles ein und wurde von einem missfälligen Stirnrunzeln von Dryden bedacht, der sich nicht gerne unterbrechen ließ. „Nicht so schlimm?“, explodierte Lord Dryden. „Der Narr mag tot sein, aber er hat vergessen, seine Tagebücher mitzunehmen.“
„Tagebücher?“ Sophia lehnte nicht mehr im Sofa, sondern saß mit glitzernden blauen Augen auf der Kante. „Ja. Ich nehme an, es sollte mich nicht überraschen, dass Sie unser Problem sofort verstehen“, wandte Lord Dryden sich an sie. „Jawohl, eine verdammte Chronik all seiner Aktivitäten und seiner Kontakte. Soweit ich gehört habe, gibt es mehrere Bände. Der Mann war schlimmer als Johnson und sein verdammtes Wörterbuch.“ Dryden sank zurück und stöhnte. „Der verdammte Narr hat sie seine ‚Rente‘ genannt.“
„Damit war er abgesichert, falls er enttarnt worden wäre.“ Webb schüttelte den Kopf. „Habe ich recht?“
„Genau“, bestätigte Dryden. „Jetzt weißt du, warum ich den verdammten Franzosen nie leiden konnte, den du so gemocht hast. Die ganze Zeit hat er mich mit der Existenz dieser Bücher gequält und mir versprochen, dass sie nie in die falschen Hände geraten, solange sein Bankkonto gedeckt wäre. Aber ich hätte nie erwartet, dass er einfach so stirbt und sie ungeschützt zurücklässt.“
„Und du willst, dass ich sie hole?“ Webb plante seine Abreise noch beim Sprechen. Das war keine Aufgabe für jedermann, sondern nur für die besten Agenten seines Vaters – was bedeutete, für ihn oder die Traherns –, und da Sophia kurz vor der Geburt stand, konnte das nur ihn betreffen. „Sie holen, sagst du?“ Der Ausbruch seines Vaters enthielt schon die ersten Töne eines Klagelieds. „Wenn ich wüsste, wo die verdammten Dinger sind, hätte ich dich schon in dem Moment kommen lassen, in dem ich von de Chevenoys Tod gehört habe.“ Webb nickte. De Chevenoy war kein Narr gewesen und würde diese Art Dokumente wohl kaum in der oberen Schreibtischschublade aufbewahren. Giles erhob sich und begann, auf und abzugehen. „Wenn diese Dokumente eine Gefahr für alle Agenten auf dem Kontinent bedeuten, dann sind sie auch eine Gefahr für ihre Familien.“ Er blieb stehen und wandte sich an seine Frau. „Besonders für deine, meine Liebe. Wenn irgendetwas davon an die Öffentlichkeit gelangt, kann Lucien alle Hoffnung, den Titel und die Ländereien zurückzugewinnen, vergessen.“ Mit Lucien meinte er den älteren Bruder seiner Frau. „Das habe ich mir auch schon gesagt“, stimmte sie zu und runzelte besorgt die Stirn. „Lebt Ihre ganze Familie in Frankreich?“, fragte Webb. „Nur Lucien“, erwiderte Sophia und warf ihrem Mann und Lord Dryden einen schnellen Blick zu. „Da mein anderer Bruder Julien zur See fährt, hat Lucien seine Frau und die Kinder in Virginia gelassen und kümmert sich um meine Eltern.“ Webb fiel auf, dass Sophia zwar ihren jüngeren Bruder, nicht aber ihre Schwester Lily erwähnte. Obwohl Webb von seiner Mutter wusste, dass Lily sicher verheiratet war, lief ihm bei dem Gedanken an sie ein Schauer über den Rücken. Bei seinem letzten Besuch auf Byrnewood hatten ihn Lilys hingebungsvolle Schulmädchenavancen fast verrückt gemacht. Schlimmer noch, ihre Vernarrtheit in Webb war bei den Drydens zu einem Familienwitz geworden –einem, den Webb weder amüsant noch der Wiederholung wert fand, auch wenn seine Schwestern es genossen, ihn wegen Lily und ihrer angeblich bevorstehenden Verlobung aufzuziehen. Webb schauderte es. Nein, er würde es nicht riskieren, Informationen über Sophias Familie einzuholen. Es war besser, sich Lily als Frau ihres Virginia-Farmers vorzustellen und mit einer Schar Kinder, die sich an ihren Rock klammerten, als sich vorzustellen, dass sie vielleicht in unmittelbarer Nähe im Obergeschoss war. Webb warf einen Blick auf Giles, der konzentriert die Stirn runzelte. Hier sollten seine Gedanken sein. Webb wurde klar, dass sein Freund sich in einem Dilemma befand – er hasste es, seine Frau so kurz vor der Niederkunft zu verlassen, aber gleichzeitig zwang ihn die Ehre, sich um das Wohl seiner Familie zu kümmern. Webb wusste, dass Sophias Schwangerschaften nicht einfach verliefen und Giles es sich nicht verzeihen würde, wenn er nicht rechtzeitig zur Geburt bei ihr sein würde. Webb erhob sich und klopfte Giles hart auf die Schulter. „Du musst hierbleiben, mein Freund. Wenn du jetzt gehen würdest, würde deine Frau dir nur nachreisen. Du bleibst und verhinderst, dass sie nach Paris fährt, und ich gehe hinüber, hole die Tagebücher von de Chevenoy und bin rechtzeitig zur Taufe wieder da.“ Sophia öffnete den Mund, um zu protestieren. Webb kam ihr zuvor. „Auch wenn ich mich vor der überlegenen Kunst Ihrer Einbrüche verbeuge, Mylady, so glaube ich doch, dass ich unentdeckt in das Haus von de Chevenoy eindringen und die Tagebücher holen kann.“ Lord Dryden warf ein Papier auf den Tisch, das er gerade gelesen hatte. „Glaubst du denn, ich hätte euch alle nach Bath beordert, wenn es damit getan wäre? Es ist noch mehr dran an der Sache. Setzt euch beide hin und hört zu!“ Sein scharfer Ton veranlasste Webb und Giles, sich wie gescholtene Schuljungen eilig wieder an ihre Plätze zu begeben. Lord Dryden schlug eine Ledermappe auf und ging die Notizen durch. „De Chevenoys Besitz ist auf Anordnung des Ersten Konsuls Bonaparte versiegelt worden.“
„Bonaparte“, wiederholte Webb leise. Sein Vater nickte. „Ja. De Chevenoy hat eine enge Freundschaft mit dem Ersten Konsul gepflegt. Da Bonaparte bestrebt ist, seine Position durch die Freundschaft mit den gegnerischen Parteien zu festigen, betrachtete er de Chevenoy mit seinen vielen Kontakten zu den Anhängern des alten Regimes als ein Mittel, die Adeligen zurück nach Frankreich zu holen. Es ist also keine Überraschung, dass unser wilder Korse Wachen hat aufstellen lassen, um das Eigentum zu ‚beschützen‘, und dass er einen Anwalt damit beauftragt hat, den Besitz mit seinem Leben zu schützen.“
„Wahrscheinlicher ist, dass dieser Emporkömmling und sein Gefolgsmann Fouché den Besitz selber in Ruhe plündern wollen“, murmelte Webb. Sein Vater schüttelte den Kopf. „Fouché habe ich nie unterschätzt, aber der Erste Konsul scheint es ernst zu meinen, dass er den Besitz de Chevenoys beschützen will.“
„Aber warum und wovor?“, wollte Webb wissen. „Nicht wovor, sondern vor wem“, verbesserte sein Vater. „Niemand darf hinein, außer der Diener, bis die Erbin eingetroffen ist.“
„Die Erbin? Welche Erbin?“ Soweit Webb wusste, hatte de Chevenoy wie ein Mönch gelebt, sich in seinen Landsitz oder in seine Wohnung in Paris zurückgezogen und kaum jemandem Zutritt zu seinem geheimen und gefährlichen Leben gestattet. Dryden übergab Webb ein einzelnes Blatt Papier, wobei ein teuflisches Funkeln in seinen Augen stand. „Sieh selbst, mein Junge. De Chevenoy hat alles seiner Tochter hinterlassen.“ Webb überflog die Kopie von de Chevenoys Letztem Willen. Er fragte seinen Vater nicht, wie er so schnell an das Papier gekommen war, auch wenn ihn die Kontakte seines Vaters immer wieder überraschten. „Eine Tochter? Ich wusste gar nicht, dass er eine Tochter hat.“
„Doch, Adelaide“, kommentierte Sophia. Sie wandte sich an Lord Dryden. „Wenn Sie gestatten, Mylord?“
„Ja, ja, machen Sie nur“, erwiderte er und nickte ihr stolz zu. „Sie wissen offenbar mehr als diese beiden Taugenichtse.“ Webb und Giles tauschten einen mitleidigen Blick, weil sie einmal mehr von Sophia vor ihrem Vorgesetzten an die Wand gespielt wurden. „De Chevenoys Familie“, begann sie, „hat wie meine auch in ihre englische Verwandtschaft hineingeheiratet. De Chevenoys Mutter war Engländerin, und seine Frau, Lady Mary Haynes, ebenfalls, ehe sie die Comtesse de Chevenoy wurde. Ich habe sie nur einmal in meiner Jugend getroffen. Da Ihre Gnaden und meine Mutter als Mädchen befreundet gewesen waren, haben wir die Comtesse kurz nach Adelaides Geburt in ihrer Wohnung in Versailles besucht. Ein paar Jahre später starb die Comtesse an einem Fieber.“ Gebannt von dieser unerwarteten Enthüllung beugte Webb sich vor, um Sophias Erzählung besser zu lauschen. De Chevenoy verheiratet? Und Vater eines Kindes? In all den Jahren, die sie zusammengearbeitet hatten, hatte der Mann kein Wort über eine Frau oder gar eine Tochter verlauten lassen. „Aber was ist mit dieser Adelaide geschehen?“ Sophia, die in Gedanken an früher versunken war, fuhr hoch. „Soweit ich von meiner Mutter weiß, hat der Comte sie in ein Kloster auf Martinique geschickt, als die ersten revolutionären Flugblätter aufgetaucht sind. Falls es zu Gewalt kommen sollte, wollte de Chevenoy seine Tochter aus dem Gefahrenbereich holen. Man nannte ihn einen Narren, weil er sich so früh aus Versailles zurückgezogen hat, aber diejenigen, die damals auf seinen Rat gehört haben, sind heute noch am Leben.“ Lord Dryden griff erneut in die Mappe und holte ein handtellergroßes Porträt hervor, das er Webb reichte. Webb betrachtete das Mädchen, das höchstens zehn, zwölf Jahre alt war. Ihr Lächeln war strahlend, Mutwillen tanzte in den grünen Augen, und ihr blondes Haar, das sich auf den Schultern lockte, verhieß einst eine goldene Krone zu werden. „Aber er hat nie eine Tochter erwähnt“, sagte Webb, mehr zu sich als zu den anderen. Er sah seinen Vater an. „Wahrscheinlich ist sie jetzt ganz entzückend.“ Deshalb also wollte sein Vater ihn auf die Mission schicken – weil er zu charmant und voll männlichem Tatendrang war, wie seine Schwester ihn einst beschrieben hatte und was der Angelegenheit jetzt gut zustattenkam. „Ich soll mich also an de Chevenoys Tochter heranmachen. Einen Weg an den Wachen vorbei und in ihr Haus finden.“ Webb grinste Giles an. „Ah, die Freuden des Junggesellentums. Jetzt verstehe ich, warum du für die Sache ungeeignet bist, alter Junge.“ Sophia lachte. Sie beugte sich vor und flüsterte Lord Dryden verschwörerisch zu: „Ich glaube, Mylord, Ihr Sohn denkt, dass er die Erbin becircen soll, um an die Tagebücher heranzukommen.“ Sein Vater kicherte, was Webb sehr verärgerte. „Was ist so komisch?“, verlangte er zu wissen. Sophia konnte ihr Lachen lange genug unterdrücken, um es ihm zu erklären. „Ich glaube, nicht einmal der König könnte dir das befehlen, weil Adelaide gestorben ist, ehe ihr Schiff überhaupt in Martinique ankam.“
„Gestorben?“, fragten Giles und Webb wie aus einem Munde. Webb schüttelte den Kopf. Das Porträt fühlte sich auf einmal kalt an. Rasch legte er es zurück auf die Tischkante. „De Chevenoy hat seinen Besitz einer toten Tochter hinterlassen?“ Dryden nickte. „Ja, der Mann hat sich geweigert, ihren Tod zu akzeptieren. Er hat so getan, als wäre sie noch am Leben. Er hat sogar darauf bestanden, die Schulkosten weiter zu zahlen, sodass die Nonnen ihm aus Erbarmen Briefe seiner Tochter geschickt haben.“
„Du scheinst die Mutter Oberin gut zu kennen“, bemerkte Webb. Sein Vater stieß den Atem aus. „Sie steht in meiner Schuld, nachdem ich ihr viel Gold geschickt habe. Ich weiß nicht, wie und warum, aber de Chevenoy hat dafür gesorgt, dass alle ihm geglaubt haben, dass seine Tochter die letzten neun Jahre im Schutz eines Klosters auf den Westindischen Inseln verbracht und darauf gewartet hat, von ihrem Vater nach Hause gerufen zu werden.“
„Und wenn Napoleon herausfindet …“ Webb musste nicht weitersprechen. Jeder wusste genau, was der gierige kleine Korse tun würde – alles Wertvolle für sich behalten und die weniger wertvollen Sachen seiner Familie oder seiner gegenwärtigen Mätresse überlassen. „De Chevenoys Anwalt hat an das Kloster geschrieben und der Mutter Oberin befohlen, das Mädchen nach Hause zu schicken.“ Lord Dryden lächelte, was an sich selten war, und hielt einen Brief hoch. „Wir waren in der Lage, den Brief abzufangen, und ich habe eine Antwort geschrieben, für die ich Ihre elegante Schrift nutzen will, Lady Trahern, sowie Ihre Kenntnis der Sprache.“ Er stand auf und ging zu ihr, um ihr das Antwortschreiben zu übergeben. Während Sophia die Zeilen überflog, warf sie erst dem Brief und dann dem Bild einen Blick zu, das immer noch auf dem Tisch lag. Webb erkannte an dem verschmitzten Grinsen und dem Funkeln in Sophias Augen, dass sie die raffinierten Pläne seines Vaters schnell erkannt hatte. Sie blinzelte seinem Vater zu. „Jetzt verstehe ich, warum Sie unsere Hilfe brauchen – zumindest, wenn ich Ihren Antwortbrief richtig verstehe.“
„Das tun Sie“, erwiderte sein Vater mysteriös. Sophia nickte zustimmend. „Ich weiß nicht, wie die betroffene Person reagieren wird, aber ich denke, wenn die Dringlichkeit der Situation erst einmal deutlich wird, wird besagte Person ihre Rolle nicht nur als ihre Pflicht erkennen, sondern auch als eine Möglichkeit, die Schuld zurückzuzahlen, in der unsere Familie bei Ihnen steht.“ Sie reichte das Bild und den Text an ihren Mann weiter, der schnell las und dann zu kichern begann. Mann und Frau sahen einander an und blickten dann zu Webb, ehe beide wieder in Gelächter ausbrachen. Bevor Webb herausfinden konnte, was für amüsante Pläne sein Vater hatte, hatte Giles Brief und Bild schon an Lord Dryden zurückgegeben. Sophia zog an der Klingel. Kurze Zeit darauf kam ein Mädchen ins Arbeitszimmer, neigte kurz den Kopf vor ihrer Herrin und betrachtete dabei die Männer am Tisch aus großen, neugierigen braunen Augen. Sophia flüsterte dem Mädchen eine Anweisung zu, das daraufhin mit einem furchtsamen Blick auf Lord Dryden den Raum verließ. Ich weiß, wie du dich fühlst, Mädchen, dachte Webb, während er unruhig auf seinem Stuhl hin und her rückte und aller Augen nachdenklich auf ihn gerichtet waren. Wieder beschlich ihn das unsichere Gefühl, dass er seiner eigenen Beerdigung beiwohnte. „Nun, da jedermann sonst den Plan zu kennen scheint, könntet ihr mich dann vielleicht auch einweihen?“ Sophia nickte Lord Dryden zu. „Er hört es besser von Ihnen.“
„Wir haben vor, unsere eigene Adelaide nach Frankreich zu schicken, damit sie Anspruch auf den Besitz erhebt.“ Webb konnte nicht verstehen, was daran so komisch sein sollte, zumal sein Vater Mühe haben würde, in so kurzer Zeit eine passende Agentin aufzutreiben, die sich als Adelaide ausgeben konnte. „Kann ich davon ausgehen, dass du schon jemanden im Sinn hast?“
„Ja.“ Webb kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass Vorsicht geboten war, wenn er mit nur einem Wort antwortete. „Wie alt wäre das Mädchen jetzt, neunzehn, zwanzig?“
„Einundzwanzig“, sagte Sophia. „Adelaide war zwölf, als sie weggeschickt wurde.“ Webb ließ alle Agentinnen im Geiste Revue passieren, aber es fiel ihm keine ein, die sein Vater schicken könnte. „Einen Ersatz, der ohne englischen Akzent Französisch spricht.“
„Genau.“ Ein zweites Mal begann Lord Dryden seine Brille zu polieren. Die Intuition sagte Webb, dass sein Vater noch mehr schlechte Nachrichten in der Hinterhand hatte. Etwas wie den letzten Wunsch. „Eine geflohene Französin aus der Gosse kannst du nicht im Sinn haben“, bemerkte er auf der Suche nach der Lösung. „Sie muss von adeliger Herkunft sein und sich mit dem alten Regime, Versailles, dem König und der Königin auskennen.“
„Genau.“ Webb wurde blass, als sein Vater so einsilbig antwortete. „Wie soll jemand auf die Schnelle intimes Wissen über die Familie de Chevenoy lernen, die Namen der Diener, den Grundriss des Hauses und was alles dazugehört?“ Giles erhob sich und trat hinter Webbs Stuhl, um Webb eine Hand auf die Schulter zu legen. „Ich denke, von uns dreien wirst du, alter Knabe, in der Lage sein, ihr alles über den De-Chevenoy-Besitz zu erzählen, denn erst vor Minuten hast du gesagt, du würdest dich dort so gut auskennen.“ Webb machte sich nicht die Mühe, über die Schulter zu blicken, die Belustigung in Giles' Stimme kratzte an seinem Stolz, und er wollte nicht zusätzlich durch das Grinsen des Mannes gedemütigt werden. Er hatte natürlich eben angegeben, aber das musste sein Freund ihm doch nicht so auf die Nase binden. Webb wandte sich an seinen Vater. „Sie denken an eine neue Agentin, nicht wahr, Sir?“
„Ja.“
„Und ich soll sie ausbilden?“
„Ja.“ Er holte tief Luft. „Soll ich mit ihr reisen und sicherstellen, dass sie keine Schwierigkeiten bekommt?“
„Man könnte sagen, dass du für die Aufgabe wie geschaffen bist.“ Giles klopfte ihm auf die Schulter. „Aaah, die Freuden des Junggesellentums!“ Aus den Augenwinkeln warf Webb einen Blick auf das Porträt Adelaides, und selbst sie schien ihn auszulachen. Noch einmal sah er hin und dachte, dass ihm etwas an dem Bild vertraut vorkam, etwas, das er nicht sehen wollte. Es war ein unmöglicher Gedanke, aber er konnte nur hoffen, dass sein Verdacht unbegründet war. „Du hast ein Mädchen von adeliger Herkunft, einundzwanzig Jahre alt, blond und bereit, bei so einem verwegenen Plan mitzumachen?“ Sein Vater gab nicht mal mehr die erwartete einsilbige Antwort, sondern nickte nur. Webb warf einen Blick zu Sophia hinüber, deren Augen vor boshafter Belustigung funkelten. Zum ersten Mal seit Jahren ließen ihn seine gewöhnlich starken Nerven im Stich. „Wo finden wir so eine Frau? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, mein Vater würde Ihre kleine Schwester beschreiben, Sophia.“ Er lachte nervös. „Das tut er“, erwiderte sie. Lily. Warum hatte er nur so ein Schicksal verdient? Dann erkannte er, dass er von Anfang an recht gehabt hatte. Sein Vater hatte von seiner Eskapade erfahren und entschieden, dass ein Schreibtischjob bei Weitem nicht Strafe genug für seinen jüngsten Sohn war.
Kapitel 2
Lily D'Artiers Copeland stieg die große Steintreppe zum Portal von Byrnewood empor, nachdem sie sich durch einen Spaziergang in der kühlen Novembersonne erfrischt hatte. Als sie die Halle betrat, eilte ein Dienstmädchen auf sie zu. „Mrs. Copeland, Lady Trahern bittet Sie, ins Arbeitszimmer zu kommen.“ Das Mädchen betrachtete ihren aufgelösten Zustand mit einem kritischen Blick und streckte die Hand aus, um ihr den Mantel abzunehmen. „Es sind Besucher da.“ Du liebe Güte, dachte Lily. Sie hatte gehofft, vor der Ankunft von Adam und seiner Mutter zurück zu sein. Sie hatten sie nach England begleitet und ihr versprochen, sie auf dem Besitz ihrer Schwester zu besuchen, sobald Adam seine dringendsten Geschäfte in London erledigt hatte. Lily sah an dem geborgten Kleid hinunter, das sie trug. Da ihre Truhen noch nicht in Byrnewood eingetroffen waren, hatte sie sich ein paar Sachen von ihrer Tante leihen müssen, weil nichts aus dem Schrank der zierlichen Schwester zu ihrer Größe passen würde. Zum Glück lebte ihre Tante, Lady Larkhall, auf dem benachbarten Gut und war genauso groß und auch so proportioniert wie Lily – eine Erinnerung an ihre gemeinsame Herkunft von den Ramseys. Allerdings hatte ihre Tante ihr nur strenge Trauerkleider anbieten können, da sie seit dem Tod ihres geliebten Mannes nie mehr etwas anderes getragen hatte. Obwohl der Tod ihres eigenen Mannes erst ein knappes Jahr zurücklag, hatte Lily gehofft, bis zu ihrem Eintreffen in England nicht mehr in Trauer gehen zu müssen. Aber nun sah es so aus, als würde die Trauerkleidung sie verfolgen wie zum Hohn dafür, dass sie Thomas' frühzeitigen Tod so wenig betrauerte. Lily warf einen Blick in den Spiegel und seufzte. Das schwarze Kleid hing formlos an ihr herab und ließ ihre ohnehin blassen Züge noch bleicher wirken. Ihre Haare waren vom Wind zerzaust und voller kleiner Äste und Blätter, die von ihrem Weg durch das Unterholz stammten, als sie versucht hatte, den Hauptweg wiederzufinden. Ihre Frisur erinnerte damit an ein Vogelnest. Auch ihr Gesicht wurde von einem Schmutzstreifen geziert, der sich von der Schläfe bis zum Kinn erstreckte. Als Lily ihr Kleid betrachtete, sah sie, dass der Saum und ein gutes Stück des Petticoats ebenfalls voller Schlamm waren. Da Lily nicht vorhatte, ihrer stets makellos gekleideten Schwester und ihren Gästen dermaßen ungepflegt unter die Augen zu treten, wandte sie sich zur Treppe, um ein anderes der abgelegten Kleider ihrer Tante anzuziehen. „Oh nein, Miss“, hielt das Mädchen sie zurück. „Sie sollen sofort ins Arbeitszimmer kommen. Ihre Ladyschaft hat darauf bestanden.“ Diesmal habe ich es übertrieben, dachte Lily auf dem Weg zur Tür von Giles' Arbeitszimmer. Wenigstens wird Adam mir mein Gepäck gebracht haben. Sie klopfte an und wartete auf die Aufforderung zum Eintreten. Zögernd trat Lily über die Schwelle, verwirrt, weil ihre Schwester sie in den relativ ungemütlichen Raum bat, um ihre Gäste zu begrüßen. Sobald sie im Zimmer stand, wusste sie, dass ihre Annahme, Adam wäre gekommen, falsch war. Sophia und Giles saßen auf dieser grässlichen Rosshaarcouch, die Giles für weniger geschätzte Gäste reserviert hatte. Noch während sie sich darüber wunderte, bemerkte sie den älteren Herren, der sich von dem Lederstuhl erhob, der sonst Giles' Stammplatz war. Es war fünf Jahre her, seit Lily Lord Dryden zuletzt gesehen hatte, aber sie erkannte ihn sofort. Er war der letzte Mann in England, von dem sie gewünscht hätte, dass er sie jetzt so durchdringend musterte. „Lord Dryden, ich freue mich, Sie wiederzusehen“, brachte Lily krächzend hervor, denn ihre Stimme war noch rau von ihrem Spaziergang im Wind. „Du bist wohl gewandert, Lily, was?“, erwiderte Lord Dryden und musterte den verschmutzten Saum ihres Kleides. „Du meine Güte, du musst eine gute Kondition haben. Meine Frau wandert jeden Tag, und sie ist stärker und besser beisammen als jede Frau, die nur halb so alt ist wie sie.“
„Ja, also, es war so ein schöner Tag, da wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen.“ Lily hoffte, dass ihre Worte ungezwungen klangen und ihre Besorgnis verbargen. Lord Dryden? Der Kopf des englischen Außenministeriums? Lord Dryden hatte seine besten Agenten sicher nicht aus einer Laune heraus hier zusammenkommen lassen. Nein, das bedeutete Geschäft. Wäre es möglich, dass … rasch verbannte sie die wilden Spekulationen, die ihr in den Sinn kamen. Sie warf einen vorsichtigen Blick in die Runde und verwarf den Gedanken, dass sie gleich wegen Hochverrats weggeschleppt werden würde. Giles, Sophia und selbst der sonst so strenge Lord Dryden trugen ein so falsches Lächeln zur Schau, dass sie überzeugt war, sie würden selbst dann hurra schreien, wenn sie verkündete, eben im Westflügel Feuer gelegt zu haben. „Setz dich, mein Mädchen“, sagte Lord Dryden und zeigte auf einen leeren Stuhl vor dem Schreibtisch. Langsam nahm Lily Platz und sah sich in dem großen Zimmer um. Die Tür zum Garten war angelehnt. Kalte Novemberluft kam herein, aber Giles und Sophia liebten beide frische Luft. Nein, in Giles' aufgeräumten Arbeitszimmer schien alles an seinem Platz zu sein, nur das Verhalten der drei war sonderbar. Lord Dryden wandte sich an Sophia. „Vielleicht sollten Sie die Vorstellung übernehmen, Mylady. Es fällt ihr vielleicht leichter, wenn es von Ihnen kommt.“ Lily stockte der Atem. Sie hatte gewusst, dass das passieren könnte, hatte geahnt, dass das zu den Risiken gehörte, wenn sie … „Kein Grund zur Sorge, Lily.“ Sophias Lächeln und ihre Worte bannten Lilys Furcht. „Es geht allen gut, niemand ist gestorben.“
„Was ist es dann?“, brachte sie hervor. „Es ist Lucien“, sagte ihre Schwester. Lucien, dachte Lily. Was hat er mit meinem Besuch in England zu tun? „Hast du etwas aus Paris gehört?“
„Nun, gewisserweise ja“, seufzte Sophia. „Am besten sage ich es geradeheraus. Ich fürchte, meine Arbeit für Lord Dryden hat unsere Familie in ernste Gefahr gebracht. Tatsächlich steht unser aller Leben auf dem Spiel, falls wir je nach Frankreich zurückkehren.“ Worauf wollte Sophia nur hinaus? „Nun, du kannst versichert sein, dass ich nicht vorhabe, in nächster Zeit dorthin zurückzukehren.“ Lily erhob sich. „Sie müssen nach Paris fahren, Mylady.“ Lord Drydens abrupte Unterbrechung ließ Lily verharren. „Ich bezweifle, dass das klug wäre, Sir“, erwiderte Lily. „Meine Schwester hat gerade gesagt …“
„Deine Schwester hat dir nicht alles gesagt“, unterbrach er sie. „Setz dich und hör zu.“ Sosehr es ihr auch widerstrebte, Lord Drydens Ton verlangte Respekt. Lily ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. In den folgenden zwanzig Minuten, als er ihr seinen Plan enthüllte, dass sie sich als Adelaide ausgeben und zurück nach Paris gehen sollte, konnte sie ihn nur sprachlos anstarren. Ihre Schwester und ihr Schwager blieben stumm und bekräftigten Lord Drydens Wunsch nur dann und wann mit einem Nicken. Selbst als er damit schloss, ‚dass so viele Leben an einem seidenen Faden hingen‘, wusste Lily, dass das noch nicht alles war. Er ließ bewusst etwas aus. „Siehst du, Lily, wir brauchen dich. Es fällt mir schwer, jemand so unschuldigen und jungen auf so eine gefährliche Mission zu schicken, aber ich habe keine andere Wahl.“ Lily saß einen Moment still und überlegte, wie sie ihre Antwort formulieren sollte. „Du bist in keiner unmittelbaren Gefahr“, versicherte ihr ihre Schwester. Lily gab keine Antwort. Wen wollte Sophia überzeugen? Wenn sie gefangen wurde, würde man sie erschießen oder ihr noch Schlimmeres antun. Aber es war nicht die Angst vor der Haft, die sie jetzt ihre Antwort geben ließ. Sie hatte keine Zeit. Nicht jetzt. „Es tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss, Mylord, aber ich kann nicht nach Paris reisen“, sagte sie. „Ich bin gekommen, um meine Schwester in engem Zeitrahmen zu besuchen. Mein Schiff nach Hause fährt in drei Monaten, und ich darf es nicht verpassen.“
„Wir haben dich im Nu wieder in England, ehe jemand dich vermisst, meine Liebe“, versicherte Lord Dryden. Lily schüttelte den Kopf. „Ich bin hergekommen, um in London einzukaufen, und Sophia hat schon Termine bei den besten Schneiderinnen für mich vereinbart. Ich trage schon so lange Trauerkleidung, wenn ich zurück nach Hause komme, will ich keine Witwentracht mehr sehen.“
„Das kannst du alles machen, bevor du nach Paris reist“, versicherte er ihr. „Wenn du als Erbin de Chevenoys auftrittst, brauchst du eine komplette neue Garderobe. Ich habe nach Madame Volnay, der besten Modistin Londons, schicken lassen. Sie und ihre Assistentinnen werden alle deine Wünsche von hier aus bearbeiten.“ Oh, wie rücksichtsvoll, hätte Lily am liebsten erwidert. Sie zermarterte sich das Hirn, was sie noch dagegen vorbringen könnte, und sagte alles, was ihr in den Sinn kam, in der Hoffnung, dass eines der Argumente seinen Zweck erfüllen würde. „Es ist Jahre her, seit ich meine Schwester und meinen Schwager zuletzt gesehen habe, und ich habe versprochen, allen Tanten einen Besuch abzustatten“, begann sie. „Ich kann nicht sehen, wie ich Ihren Wunsch erfüllen und gleichzeitig meinen Pflichten gegenüber meiner Familie nachkommen soll. Was soll ich Mr. Saint-Jean sagen? Seine Mutter und er waren so nett, mich auf der Überfahrt zu begleiten. Ich erwarte jede Minute ihren Besuch, und sie haben sich so darauf gefreut, zwei Wochen hier unsere Gäste zu sein. Was soll ich ihnen sagen, warum ich sofort nach ihrer Ankunft verschwinde?“
„Wir können den Saint-Jeans sagen, dass unsere Tante in London erkrankt wäre, und da ich selber nicht reisen kann, bist du an ihr Bett geeilt“, schlug Sophia vor. Verdammt sollst du sein, Sophia, dachte Lily. Ihrer Schwester fiel immer eine passende Ausrede ein. „Ich habe mich so darauf gefreut, etwas Zeit mit euch zu verbringen, besonders mit den Kindern. Vielleicht könnte ich im Frühjahr noch einmal herkommen, und dann besprechen wir die Angelegenheit.“ Hoffnungsvoll lächelte sie ihre Schwester an. „Hast du nicht zugehört, Lily?“, fragte Sophia in dem überlegenen Tonfall, den Lily so hasste. Ihre schwangere Schwester kämpfte sich auf die Füße. „Lucien ist in diesem Moment in Frankreich. Sein Leben steht auf dem Spiel. Du kannst deiner Familie nicht einfach absagen, weil es dir gerade nicht passt. Glaubst du denn, du wärst noch am Leben, wenn ich nicht dasselbe Risiko auf mich genommen hätte?“ Lily wurde wütend. Das sah Sophia ähnlich, dass sie jetzt so tat, als wäre alles ihre Schuld. Lily erhob sich und trat ihrer Schwester ebenso entschieden entgegen. „Du hättest wissen müssen, dass deine Entscheidung, dich für England einzusetzen, unsere Familie in Gefahr bringen würde. Deine Entscheidungen, Schwester, bringen Luciens Leben in Gefahr, nicht meine mangelnde Bereitschaft, das wieder auszubügeln.“ Unbehagliches Schweigen senkte sich über den Raum, als die beiden Schwestern, die einander ähnlicher waren, als sie zugeben wollten, einander wie Straßenkatzen vor dem Kampf musterten. Giles brach die Spannung, indem er an die Seite seiner Frau trat und sie zurück zum Sofa führte. „Sophia, Lily hat jedes Recht, sich zu weigern. Wir haben uns daran gewöhnt, mit der Gefahr im Rücken zu leben, und vergessen, dass das für andere nicht so natürlich ist.“ Er lächelte Lily an. „Lord Dryden macht dir nur das Angebot, weil du Adelaide so ähnlich siehst, in den Farben wie in der Größe.“ Er nahm ein goldgerahmtes Bild vom Tisch und drückte es ihr in die Hand. „Sieh selbst, Lily-Biene“, forderte er sie auf und nannte sie bei ihrem alten Spitznamen. „Ihr zwei könntet Zwillinge sein. Wer weiß, vielleicht wäret ihr ja sogar Freundinnen geworden.“ Er nickte ihr zu, das Bild zu betrachten. Bei Giles' Worten kühlte Lilys Ärger sich etwas ab. Aber er hatte immer schon diese Wirkung auf sie gehabt, auch wenn es ihr nicht gefiel, wie leicht er ihre Gefühle lenken konnte. Sie versuchte dem Drang, das Bild zu betrachten, zu widerstehen, aber ihre Neugier war größer, und sie betrachtete das Mädchen, das von dem zeitlosen Ölbild zu ihr auflächelte. Innerhalb von Sekunden fühlte sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt, ehe die Französische Revolution ihre Welt in Stücke geschlagen hatte. Sie sah sich selbst, wie sie damals war – die verwöhnte und umsorgte Tochter eines angesehenen Comte, die in einem Märchenschloss aufwuchs oder in der Wohnung der Familie in Versailles lebte. Adelaide wäre ihre Freundin gewesen, da hatte Giles recht. Vielleicht hätten sie dieselbe Klosterschule bei Paris besucht, geheime Ehewünsche gehegt und wären schließlich mit gebührendem Pomp bei Hofe vorgestellt worden wie die Generationen vor ihnen. Lily schüttelte den Kopf. Oh nein, sie würde kein Opfer der Gefühle werden, die Giles in ihr wecken wollte. Dieses alte Leben war vergangen, genauso wie Adelaide. Lily hatte ihr eigenes Leben, und das hieß, dass sie in London sein musste, nicht in Paris. Niemand würde sie davon abbringen. „Ich glaube nicht, dass ich die richtige Frau dafür bin“, wandte sie ein. Auch wenn es ihr schwerfiel, fuhr sie doch fort: „Ich bin weder so klug noch so mutig wie du, Sophia. Ich würde bestimmt etwas falsch machen. Wenn ihr mich schickt, wird das eine Katastrophe.“
„Keine Sorge, mein Mädchen“, schaltete sich Lord Dryden ein. „Ich würde dich nicht schutzlos in diese gefährliche Stadt schicken.“ Lily sah, wie ihr Schwager bestätigend nickte. Hatte Giles etwa vor, Sophia so kurz vor der Niederkunft alleine zu lassen? Die Situation war ernst genug, und einen Moment lang überlegte Lily, ob sie die Zeit hatte, um nach Paris zu reisen. Und wenn es nur war, um Luciens Sicherheit zu garantieren. „Hältst du es für klug, Sophia jetzt allein zu lassen, Giles?“, fragte sie ihren Schwager. „Ich gehe nicht mit, Lily“, erwiderte er. „Lord Dryden will dir seinen besten Agenten mitgeben. Ich bin mir sicher, dass gerade du sehr mit diesem Arrangement einverstanden sein wirst.“ Es gefiel ihr gar nicht, wie er grinste, als er das sagte. Wenn es nicht Giles war, wer war es dann, den Lord Dryden ihr als Begleiter mitschicken wollte? Lord Dryden räusperte sich und fuhr in väterlichem Ton fort. „Lily, ich will alles tun, um sicherzustellen, dass du rechtzeitig wieder nach Hause kommst, um deinen Verpflichtungen nachkommen zu können. Was deinen Mut oder deine Tapferkeit angeht, scheinst du mir genau die richtige zu sein. Du wirst schon alles richtig machen. Betrachte es als ein großes Abenteuer.“ Er fuhr fort, ihre Qualitäten zu loben und Argumente für ihre Sicherheit anzuführen. Lily hörte nur mit einem Ohr zu, drehte den kleinen Granatring an ihrem Finger und überlegte, wie ihre Chancen standen. Sie musste in der ersten Januarwoche in London sein, aber das konnte sie Lord Dryden unmöglich erklären. Sie brauchte einen Grund, den selbst er anerkennen würde, um den ganzen Plan abzublasen. Sie sah auf den Ring hinab, ein seltsames Schmuckstück, das ihr Schwiegervater ihr kurz vor seinem Tod gegeben hatte. Er passte ihr genau, und aus irgendeinem Grund hatte sie das seltsame Stück immer getragen, auch wenn sie nicht wusste, warum Thomas' Vater sie gebeten hatte, ihn zu tragen oder was er bedeutete. Etwas an der Hummelform und den Edelsteinaugen, die jetzt in der Sonne glitzerten, hatte sie zu dem Schmuckstück hingezogen. Lily sah aus dem Fenster, und ihr Blick fiel auf die Buchsbaumhecke des Labyrinths – eine kalte Erinnerung an ihren letzten Besuch in Byrnewood. Bei diesem Besuch waren ihre kindischen Mädchenträume von Liebe und Ehe erloschen. Und du hast gedacht, du würdest diesen herzlosen Schuft heiraten. Verheiratet und überglücklich. In dem Moment, wo es ihr um die Zukunft leidtat, die sie sich erträumt hatte, fiel ihr die perfekte Entschuldigung ein. Eine Ausrede, die so überzeugend war, dass selbst Lord Dryden nicht mehr argumentieren könnte. Lily holte tief Luft und verkündete: „Ich kann unmöglich nach Frankreich gehen. Ich sage es nicht gerne, weil es eine Überraschung werden sollte, aber nun muss ich es sagen. Ich muss in der ersten Januarwoche wieder in London sein, weil ich dann heirate.“
Webb Dryden hatte draußen gestanden und durch die geöffnete Gartentür zugehört. Lilys erste Einwände hatten glaubwürdig geklungen, aber diese offensichtliche Lüge über ihre baldige Vermählung … nun, es war an der Zeit, ihr Spiel zu beenden. Wenn sie erst einmal erfuhr, wer ihr Begleiter werden würde, so dachte er, würde sie diesen imaginären Bräutigam vergessen und nur zu gerne mit nach Paris reisen. Jeder wusste, dass Lily D'Artiers eine tiefe Zuneigung zu ihm gefasst hatte, und wenn Gefühle nötig waren, um die Sicherheit seines Landes zu garantieren, so musste es eben sein. Er musste nur daran denken, seine Schlafzimmertür abzuschließen und die Fenster zuzulassen, solange sie zusammen unterwegs waren. Sie war immerhin jetzt erfahrener als mit fünfzehn und Witwe, wie er gerade erfahren hatte. „Wieder heiraten? Wem folgst du jetzt auf Schritt und Tritt?“, fragte Webb und trat ein. Das erste Mal seit fünf Jahren sah er Lily wieder vor sich und konnte nicht glauben, wie sein Vater sie als das sanfte, im Kloster erzogene Mädchen durchgehen lassen wollte, das Napoleon erwartete. Falls sie gewachsen war, war es schwer zu sagen, denn ihr Kleid war ihr zu groß und verhüllte ihre Figur vollkommen. Er musste lächeln, als er sich daran erinnerte, wie Lady Marston behauptet hatte, dass sie eines Tages zu einer Schönheit werden würde. Wenn er Amelia das nächste Mal sah, musste er sich die Krone holen, die er gewettet hatte, dass das nie der Fall sein würde. Tatsächlich wirkte Lily durch das Schwarz noch blasser, ein starker Kontrast zu ihrer blühenden Schwester. Anscheinend hat das Leben in Amerika ihre wilde Art nicht gemildert, dachte er, als er die Blätter in ihrem Haar und das schmutzige Kleid betrachtete. Sie sah aus, als wäre sie auf einen Baum gestiegen. Wenn ihr Gesicht schön war, konnte man das bei der wilden Mähne und dem Schmutz nicht sagen. Tatsächlich, dachte er und verwarf Amelias Theorie, sah sie noch ziemlich genauso aus wie vor fünf Jahren, und dann dachte er gar nicht mehr über ihr Aussehen nach. Selbst jetzt starrte sie ihn nur sprachlos an, den Mund vor Überraschung über sein plötzliches Auftauchen geöffnet. Sicher der freudige Schreck über seine Rückkehr in ihr trübes Witwendasein. Webb ging zu ihr und grinste, wobei er all seinen Charme aufbot. „Hochzeit? Wirklich, Lily, kannst du dir nicht etwas Glaubwürdigeres ausdenken? Vergiss deinen Verlobten und komm mit mir nach Paris.“ Er streckte ihr die Hand hin und erwartete, dass sie mit begierigem Entzücken danach greifen würde, aber zu seiner Bestürzung sah sie auf seine Finger hinunter, als wären sie mit einem grässlichen Bazillus behaftet. Was ist das?, dachte Webb, der plötzlich doch die Unterschiede zwischen der Frau vor ihm und der mageren Fünfzehnjährigen bemerkte. Wo ist ihr sanfter, auffordernder Blick? Das scheue Flirten? Diese grünen Augen bohrten sich kalt und hart in seine und erschütterten ihn zutiefst, weil es so aussah, als hätte sie die Veränderungen in ihm erkannt und ihn verworfen. Nein, Lily sah wahrlich nicht erfreut aus oder verklärt oder wie eine Frau, die mit ihrer ‚einzigen, großen Liebe‘ wieder vereinigt ist, wie sie ihn in einem Liebesbrief vor fünf Jahren genannt hatte. Wenn Webb ehrlich sein sollte, musste er sogar zugeben, dass aus ihrer Miene eher Abneigung und Wut sprachen. Vielleicht ist sie wütend, weil ich so lange gewartet habe, bis ich wieder in ihr Leben getreten bin, dachte er, als sie herumfuhr und sich an die anderen wandte. „Das“, sagte sie und deutete mit dem Daumen auf Webb, „soll der großartige Agent sein, den ihr mir mitschicken wollt? Ich werde nicht meinen Ruf aufs Spiel setzen, indem ich mit der Art leichtsinnigen Lothario reisen werde.“
„Lothario?“ Webbs Ohren brannten angesichts der Verachtung, die aus ihren Worten sprach. „Ja. Weiberheld. Betrüger. Schurke. Leichtfuß“, führte sie aus. „Soll ich weitermachen, oder gibt es noch andere Sünden, die ich auf die Liste setzen könnte?“ Webb lächelte, als er begriff. Lily war eifersüchtig. Sophia hatte vielleicht die Namen einer oder zwei seiner Geliebten erwähnt, um die Gefühle ihrer kleinen Schwester in andere Bahnen zu lenken, aber das hatte Lily nur noch besitzergreifender gemacht. Er sah sie an. Oder? Sowohl Sophia als auch Giles sahen zu fröhlich aus, um ihn in seiner Annahme zu bestätigen. „Ich gehe nicht in den Tod mit diesem inkompetenten Schuft an meiner Seite“, fuhr Lily fort. „Inkompetent?“, echote er. Jetzt war es an Webb, wütend zu werden. Man konnte ihm viel vorwerfen, etwas Tollkühnheit vielleicht, aber bestimmt nicht Inkompetenz. „Lord Dryden, ich verstehe, dass Sie sofort handeln müssen, aber ich lehne Ihr Angebot ab. Ihr Sohn und ich sind für jede Art von Partnerschaft ungeeignet. Wenn mein Verlobter je herausfinden sollte, dass ich in der Gesellschaft eines solchen Mannes gereist bin, würde meine Zukunft auf dem Spiel stehen. Ich bitte Sie, suchen Sie sich jemand anderen. Ich kann nicht nach Paris reisen, und ganz bestimmt nicht in der Begleitung eines solchen Mannes wie ihm.“ Das klang ja fast, als sei er ein Aussätziger. Webb betrachtete Lilys feine Züge und fand keine Hinweise darauf, dass sie die schwer zu Kriegende spielte. Nein, sie verachtete ihn und hatte jedes Wort ernst gemeint. Lothario. Schuss. Inkompetent. Ihr entschiedene Ablehnung irritierte ihn, obwohl er doch eigentlich hätte erleichtert sein sollen. Nun, die Vorstellung, dass Lily ihn verachtete, passte einfach nicht in seine Welt. Während all der Gefahren, in die er sich begeben hatte, in all den Situationen, in denen er gedacht hatte, er könnte sein Leben verlieren, hatte es immer ein leises Stimmchen in seinem Hinterkopf gegeben, das ihn in die grünen Hügel Englands zurückgerufen hatte. An einen Ort, wo unschuldige Herzen wie das Lilys darauf warteten, dass ihr Liebster nach Hause kommen würde. Das hatte ihm nie viel bedeutet, außer in den Momenten tiefster Verzweiflung, aber seltsamerweise wollte er es jetzt wieder so haben. Außerdem war er doch derjenige, der protestieren müsste, nicht sie. Jeder wusste, dass Lily ihn liebte. „Lily, wir wussten nicht, dass du heiraten willst“, sagte Sophia. „Mama hat in ihren Briefen kein Wort darüber verloren.“
„Ich habe es ihr auch noch nicht erzählt“, erwiderte Lily. „Es hat sich … an Bord des Schiffes ergeben. Ja, während der Überfahrt. Er hat sich in einer stürmischen Nacht erklärt, als ich dachte, es wäre alles verloren. Ist das nicht romantisch?“ Webb sah Lily prüfend an. Er konnte Menschen und ihre Glaubwürdigkeit beurteilen, und eben gerade hatte er Lily misstraut. Ihre Geschichte kam zu zögernd und wies zu viele Lücken auf. Auch jetzt drehte sie nervös an dem seltsamen Ring und lächelte unglaubwürdig. Ja, Lily log. Das hatte er sich schon gedacht, als er vom Garten her ihre Unterhaltung belauscht hatte, und jetzt, wo er ihr Gesicht dabei sehen konnte, war er davon überzeugt. Aber warum? „Erzähle“, sagte Webb, ging um sie herum und setzte sich auf ihren Stuhl. Lily sah ihn böse an, weil sie so in der Mitte des Raumes stehen musste. Webb grinste und ließ sie dort stehen, wo jeder im Raum jede ihrer Regungen sehen konnte. So kann man sie am besten überführen, dachte er, streckte die Beine aus und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich liebe romantische Geschichten. Ist es ein gewöhnlicher Matrose oder hast du die Aufmerksamkeit eines großen Kapitäns geweckt?“ Sie runzelte die Stirn, und Webb dachte, dass sie ihm gleich etwas über den Kopf schlagen würde. „Weder noch“, erwiderte sie scharf. „Er … er … er ist …“
„Am Leben und atmet?“, schlug er vor. „Ist es dein Mr. Saint-Jean?“, fragte Sophia. „Hast du ihn deshalb hierher nach Byrnewood eingeladen?“ Webb setzte sich auf und sah Lily forschend an. Einen Moment wirkte sie ertappt, als wüsste sie nicht, in welche Richtung sie sich jetzt wenden sollte – ob drohen oder ihre Verstrickung weiterverfolgen. „Ja“, sagte sie dann, „ich bin mit Mr. Saint-Jean verlobt.“ Sophia lächelte ihre Schwester an. „Nun, das hat sich ja gut ergeben. Ich weiß, dass es Mama sehr recht war, dass er und seine Mutter dich auf der Reise begleitet haben, aber stell dir ihr Erstaunen vor, wenn sie erfährt, dass sie bald zur Familie gehören werden. Oh, kein Wunder, dass du dich umziehen wolltest, wenn du mit ihrer Ankunft gerechnet hast.“ Webb griff diese Neuigkeiten auf. „Dein Mr. Saint-Jean kommt her? Man stelle sich das nur vor. Ich kann es kaum erwarten, den künftigen Bräutigam kennenzulernen.“ Noch während er sprach, nahm er eine Bewegung auf der Auffahrt wahr. „Wie es die Vorsehung will, trifft der glückliche Mann gerade eben in diesem Moment ein.“ Die kleine Hexe hatte zumindest die Grazie, zu erblassen, aber ob aus Angst, in ihrem derzeitigen Aufzug vor ihrem Verlobten erscheinen zu müssen, oder deshalb, weil der Tag ihrer Entdeckung so schnell gekommen war, vermochte er nicht zu sagen. Auch Lily sah aus dem Fenster und beobachtete entsetzt, wie die goldene Kutsche der Traherns die letzte Rabatte umrundete. „Du liebe Zeit!“, stieß sie hervor, ehe sie sich beherrschen konnte. Sophia erhob sich. „Geh hoch und zieh dich um. Giles und ich können deine Gäste ohne dich empfangen.“ Ohne mich, dachte Lily. Nicht sehr wahrscheinlich. Nicht, solange Webb Dryden dabeistand und so offensichtlich darauf wartete, ihre Lüge bloßzustellen. Sein Grinsen verriet ihr genug. Er glaubte ihr nicht. Der große Affe dachte womöglich, sie hegte immer noch zärtliche Gefühle für ihn. Er hatte recht, was die Verlobung betraf, aber eher würde sie sterben, als sich je wieder in Webb zu verlieben. Auch wenn er immer noch der attraktivste Mann war, den sie je getroffen hatte. Die leichten Veränderungen, die die Zeit mit sich gebracht hatte – der zynische Ausdruck in seinen Augen, die kleinen Falten um seine Augen und die Wachsamkeit, die früher gefehlt hatte – taten wenig dazu, den Reiz seines unwiderstehlichen Lächelns oder seines schlanken, starken Körpers zu mindern. „Beeil dich, Lily, sie sind fast da“, mahnte Sophia und scheuchte sie zur Tür. „Du willst doch nicht, dass sie dich auf der Treppe abfangen.“
„Oh, Mr. Saint-Jean nimmt es mit solchen Dingen nicht so genau“, erwiderte Lily wahrheitsgemäß. Nein, Adam waren ihr jungenhaftes Benehmen und ihre Kleider egal, weil er es bewunderte, wie sie reiten und den Besitz wie ein Mann verwalten konnte. In der Tat käme ihm ihre Lüge wie gerufen, und er würde nur zu gerne bei dem Betrug mitspielen. Er hatte sie sogar mehrmals gebeten, ihn zu heiraten, aber das war immer so spielerisch geschehen, dass sie seine jungenhaften Avancen nie ernst genommen hatte. „Er will mich sicher sofort sehen. Wenn ihr mich entschuldigt, ich will sie begrüßen und hereinbringen.“ Mit dem letzten Rest Beherrschung ging sie ruhig aus dem Raum, aber sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, rannte sie durch die Halle und die Treppe hinunter, als die Kutsche bereits vorfuhr. Lily warf einen Blick über die Schulter und sah alle vier Leute aus der Bibliothek in unverhohlener Neugier am Fenster stehen. Wenn sie überhaupt etwas trösten konnte, dann der Moment, als Adam Saint-Jean aus der Kutsche stieg. Ihr war Webbs abfälliger Blick nicht entgangen. Er hielt sie immer noch für ein Kind, das nur Ärger machte. Nun, Mr. Dryden, dann seht mal gut hin, dachte sie, was für eine Art Mann mich anziehend findet. Adam Saint-Jean fuhr sich mit der Hand durch die rabenschwarzen Haare. Der Dreiundzwanzigjährige streckte seinen großen, schlanken Körper nach der Kutschfahrt. Mit einem breiten, strahlenden Lächeln trat er auf Lily zu, das jedem verriet, dass sich das Erbe seiner galanten französischen Vorfahren trotz der fraglichen Herkunft seiner Mutter bei ihm durchsetzte. „Adam, hör mir schnell zu, ich habe nicht viel Zeit“, flüsterte Lily hastig in sein Ohr, als er sich vorbeugte, um ihre Hand zu küssen. „In Bezug auf unsere Pläne hat sich ein Hindernis ergeben.“ Bei diesen Worten sah Adam ihr in die Augen. „Hindernis? Ich glaube, du machst dir zu viele Sorgen, Lily Und selbst wenn, jetzt bin ich ja hier und stehe ganz zu deinen Diensten.“ Sie nickte zu seinen üblichen Komplimenten. „Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber um zu vermeiden, dass … ich in einer Familienangelegenheit für ein paar Monate wegmuss, habe ich meiner Schwester und ihren Freunden eine kleine Lüge erzählt.“ Lily hatte es geschafft, ihn ein Stück von der Kutsche und den aufnahmebereiten Ohren seiner Mutter wegzubringen, um ihm die Sache zu erklären. „Eine Lüge?“, sagte er und grinste. „Die Sache gefällt mir immer besser.“
„Das ist nicht komisch, Adam. Du musst mitspielen. Im Ernst. Unser Leben hängt davon ab.“ Adams Vater konnte seinen Stammbaum bis zu Karl dem Großen zurückverfolgen, aber bei seiner Mutter sah das anders aus. Es hieß, dass der ältere Saint-Jean nach der Koketterie der Damen bei Hofe die Unkompliziertheit Imogene Evermounts bei seinem Dienst unter Lafayette in Amerika höchst erfrischend fand. Obwohl es plausibel war, dass der dritte Sohn eines englischen Barons bei den Möglichkeiten, die sich in dem Land boten, in Amerika geblieben war, hatte keiner verstanden, warum er die Tochter einer Dienerin geheiratet hatte. Und doch hatte das Paar drei Söhne und vier Töchter als Beweis der gegenseitigen Zuneigung gezeugt und lebte seit dem Ende der amerikanischen Revolution glücklich und zufrieden zusammen in Amerika. „Was ist das, Adam, was ist das?“, unterbrach Mrs. Saint-Jean. „Was sagt ihr da? Ich brauche Hilfe, um aus dieser verflixten Falle zu steigen. Meine Knochen sind müde, und mein Kopf schmerzt davon, stundenlang durch die Gegend geschaukelt worden zu sein.“ Sie sah an der imponierenden Fassade Byrnewoods empor, und ihre kurzsichtigen Augen kniffen sich zusammen, als sie die Höhe und Größe des Gebäudes ausmachte. „Ein wahres Sodom und Gomorrha, nicht wahr? Nun, die Reichen lieben es, ihr Gold vor den Augen der hart arbeitenden Bevölkerung zu zeigen.“ Sie schnaubte und warf einen Blick auf die elegante Kutsche der Traherns, die Giles großzügig zur Verfügung gestellt hatte, um sie nach Byrnewood zu bringen. „Ja, jetzt sehe ich, dass wir armselig behandelt worden sind, Mrs. Copeland. Wirklich armselig. Während wir Stunden voller Unbehagen in diesem … diesem Gefährt verbracht haben, hätte Ihre Familie uns etwas ganz anderes schicken können, in dem wir hätten reisen können.“ Lily knirschte angesichts der vertrauten Klagen mit den Zähnen und warf einen Blick zum Fenster des Arbeitszimmers, um zu sehen, ob ihr noch Zeit blieb. Zu ihrem Kummer war das Fenster leer. Sie zuckte zusammen, als sie sich vorstellte, ihre Schwester und ihre Gäste könnten Mrs. Saint-Jeans krasse Feststellungen gehört haben. Sie hatte Sophia und Giles schon gewarnt, dass Mrs. Saint-Jean sehr geradeheraus sprach, aber sie hatte nicht vorgehabt, sie ihnen als ihre künftige Schwiegermutter vorzustellen. Nicht, dass sie das jetzt wollte. Lily schloss die Augen und drehte den Kopf zum Eingang. Als sie die Augen wieder öffnete, standen alle aufgereiht da und warteten auf eine Vorstellung ihres Verlobten und der künftigen Schwiegermutter. „Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen“, zischte Lily Adam zu, während Mrs. Saint-Jean die Diener schalt, weil sie ihr Gepäck so langsam ausluden. „Wir sind verlobt. Wenn meine Familie fragt, so sage, dass wir in der ersten Januarwoche in London heiraten wollen.“
„Verlobt?“ Adam blickte an dem Haus empor, und Lily konnte förmlich sehen, wie er seine Zuhörer abschätzte. Dann grinste er. „Gut, also verlobt.“ Damit senkte er den Kopf und nutzte die Situation aus, indem er einen Verlobungskuss einforderte. „Verlobt? Wer ist verlobt?“, fragte Mrs. Saint-Jean so laut, dass man sie nicht nur am Eingang, sondern wahrscheinlich auch auf dem nächsten Gut hören konnte. „Adam, hör sofort auf, Mrs. Copeland zu küssen!“ Adam gehorchte, aber erst, nachdem er noch ein paar Sekunden seine neue Rolle ausgenutzt hatte. Dann hob er den Kopf und grinste wie beim letzten Mal, als er ihr einen Kuss geraubt hatte. Nur dass sie ihm diesmal nicht eine hinter die Ohren geben konnte wie beim letzten Mal. Und das wusste er sehr gut. „Lächeln, meine Liebe. Du siehst im Moment gar nicht überzeugend drein.“ Lily, die mit dem Rücken zu den anderen stand, warf ihm einen wütenden Blick zu, ehe sie sich strahlend zu ihren Verwandten umwandte. So sehr sie sich auch davon zu überzeugen versuchte, dass es zu Sophias und Giles' Nutzen geschah, so sehr verriet ihr ihr Herz, dass diese Vorführung nur einem einzigen Mann gegolten hatte. Webb Dryden. Sophia, Giles und Webb kamen jetzt über den Kies der Auffahrt auf sie zugeschlendert. „Wer heiratet?“, verlangte Mrs. Saint-Jean mit noch lauterer Stimme zu wissen. „Nun, Ihr Sohn und Lady Lily“, erwiderte Webb und sah Lily an. „Wir haben die gute Nachricht gerade erst erfahren.“ Mrs. Saint-Jeans Mund blieb offenstehen, und sie sah aus, als wollte sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Ein rascher Blick verriet Lily, dass Adam sie eher noch einmal küssen würde, als seiner Mutter beizuspringen. Lily löste sich aus Adams Arm und eilte an Mrs. Saint-Jeans Seite. „Ja, Mrs. Saint-Jean, es tut mir leid, dass Sie es so überraschend erfahren, aber ich habe an Bord des Schiffes zugestimmt, die Frau Ihres Sohnes zu werden.“ Die Lider der Frau flatterten, und sie schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Erst habe ich zugestimmt, zu diesem königlichen Sodom und Gomorrha zu kommen – wo ich mein Seelenheil aufs Spiel setze bei den Versuchungen des Adels und alledem. Und nun das! Mein lieber Sohn verlobt mit einer hochgeborenen Miss!“, zischte sie. „Also wirklich, Lady Lily. Ich nehme an, sie wollen in Virginia ein großartiges neues Haus von meinem Sohn haben. Nun, Sie werden sich wundern. Wenn Waterton –“, womit sie sich auf die Plantage der Saint-Jeans bezog,“– für mich gut genug war, wird es auch für Sie ausreichen müssen.“ Sie wandte ihren stechenden Blick ihrem grinsenden Nachwuchs zu. „Wie kannst du das deiner Mutter nur antun, Adam?“, fragte sie und zerdrückte ihn fast in einer mächtigen Umarmung. „Oh, Himmel, wie stolz dein Vater wäre!“ Die Dame wandte ihren wässerigen Blick Webb zu. „Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass mein Sohn einmal in den Adel einheiratet. Ich kann es kaum glauben!“
„Ich auch nicht“, flüsterte Webb Lily ins Ohr.