Die Bloom-Affäre
„Er hat eine Bombe!“, rief einer der Gäste, die an der Rezeption des Pariser Hotels Avelaine standen.
Audrey hielt sich nur ein paar Schritte entfernt im Foyer auf, ein Kind auf dem Arm. Es war höchstens drei Jahre alt. Ein Junge. Sie hatte keine Ahnung, wie sie zu dem Kind gekommen war. Dennoch beschlich sie das Gefühl, es schon lange zu kennen. „Dad?“, rief sie und sah sich um. „Wo bist du?“
Sie musste ihren Vater dort rausholen, bevor es zu spät war. Die Zeit wurde knapp. Das Adrenalin schoss durch ihre Adern. Sie hatte ihn vor wenigen Minuten ins Hotel gehen sehen. Er war hier irgendwo, davon war sie felsenfest überzeugt.
Der seltsame graubärtige Mann an der Rezeption wiederholte, diesmal eindringlicher: „Er hat eine Bombe!“ Sein Gesicht verzerrte sich, machte die Angst, die in ihm wühlte, sichtbar.
Die Augen des Kindes fixierten Audrey. Sie waren so hellblau wie die ihres Vaters.
„Ich glaube an ein Leben danach. Ich glaube daran, dass wir wiedergeboren werden“, hörte sie plötzlich die Stimme ihres Dads aus der Erinnerung. Da wusste sie, dass sie ihn nicht würde retten können. Dass sie das, was passiert war, nicht ungeschehen machen konnte. Dennoch versuchte sie es wieder, wie schon in zig Träumen zuvor. Sie presste das Kind an sich und rannte los. Ein junger Mann versperrte ihr den Weg. Sein Gesicht war konturlos, eine einzige dunkle Maske. „Es wird nicht wehtun, es geht schnell. Versprochen. Das weiß auch dein Vater.“
Was redete er da? „Nein, warten Sie. Sagen Sie mir, warum. Warum?“, rief Audrey.
„Schicksal. Man kann ihm nicht entrinnen“, antwortete der Mann und zog an etwas, das er unter seinem Mantel trug.
Audrey schloss die Augen. Sekunden später hörte sie einen dumpfen Knall, spürte Hitze um sich. Sie verband sich mit einem ungeheuren Druck, der ihren Körper zu zerreißen drohte.
In dem Moment wachte sie auf. Schweißnass und nach Luft ringend. Tränen rannen über ihre Wangen. Ihr Blick irrte durchs Zimmer, das nur von Sonnenstrahlen, die durch die Schlitze der Jalousien fielen, erhellt wurde. „Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen, Dad“, murmelte sie.
Audrey war die einzige Tochter von Monty Richards. Sein Sonnenschein, wie er sie oft genannt hatte. Vor rund drei Jahren war er bei einem Terroranschlag in Paris ums Leben gekommen, in der Lobby des Hotels, in dem er für einige Tage eingecheckt hatte. Die Drahtzieher des Anschlags hatten flüchten können und blieben verschwunden, genau wie die Leiche ihres Vaters. Alles, was man Tage später von ihm gefunden hatte, waren einige Zähne, anhand derer man ihn identifiziert hatte. Audrey dachte an seine letzten Worte, die für sie im Nachhinein wie eine Vorahnung klangen.
„Pass gut auf deine Mutter auf, Audrey. Ich liebe euch. Egal, was passieren wird, das wird sich niemals ändern.“ Danach hatte er sie auf die Stirn geküsst, sie fest an sich gedrückt und seiner Frau gewunken, die, von einer Sommergrippe ans Haus gefesselt, am Fenster ihres Schlafzimmers gestanden und ihm eine Kusshand zugeworfen hatte.
***
Audrey legte den Strauß roter Rosen auf das leere Grab des Südfriedhofs am Rand von Fayes, Indiana und betrachtete das Foto mittig in dem hellgrauen Marmorgrabstein, von dem ihr Vater ihr mit seinem sanftmütigen Lächeln entgegenblickte. Die damalige Reise nach Paris hatte Recherchezwecken für seinen neuen Roman gedient. Wie er Audrey verraten hatte, hatte es ein Politthriller werden sollen. Zu gern hätte sie ihn begleitet. Doch sie hatte ihm versprechen müssen, sich um Lauren, ihre Mutter, zu kümmern. Der Gedanke, dass sie seinen Tod hätte voraussehen oder gar verhindern können, quälte Audrey täglich seit dieser Tragödie, bei der fünf weitere Menschen ihr Leben hatten lassen müssen.
„Ich hab dich lieb, Dad“, flüsterte Audrey und wünschte sich, er könnte ihr antworten. Milder Sommerwind spielte mit ihrem glatten blonden Haar, das ihr glänzend über die zierlichen Schultern fiel.
„Entschuldigung, sind Sie nicht …? Ja, Sie sind es! Monty Richards’ Tochter“, hörte sie plötzlich eine helle Stimme hinter sich und drehte sich abrupt um. Eine Frau mittleren Alters stand vor ihr und lächelte sie unsicher an. Der Wind blies ihr die braunen Locken in das volle, von der Wärme leicht gerötete Gesicht.
„Ja, die bin ich.“ Audrey wusste, was folgen würde. Sie musste lächeln, weil sie überzeugt war, dass ihr Vater es in diesem Moment auch getan hätte. Er hatte seine Leser geliebt, jeden einzelnen, und hatte keinerlei Berührungsängste gehabt, wenn es um Autogramme oder Fragen gegangen war. Vorausgesetzt, sie hielten sich im Rahmen. Nun, es gab durchaus Frauen, die ihn nicht nur wegen seiner Geschichten umschwärmt hatten. Er war ein großer, stattlicher Mann gewesen. Sportlich gekleidet, ergrautes Haar, markantes Gesicht und blaue Augen, einem Sommerhimmel gleich. Obwohl er zu den Ladys freundlich gewesen war, geflirtet hatte er immer nur mit einer – Lauren, seiner großen Liebe.
„Ihr Vater war ein Genie. Ich liebe seine Romane. Alle! Das Haus im Eis hab ich bereits fünfmal verschlungen. Ich hätte so gerne die Fortsetzung gelesen, die er schreiben wollte. Das hat er in einem seiner letzten Interviews verraten.“ Die Frau lenkte den Blick an Audrey vorbei zum Grab und seufzte tief. „Er ist sicher ein toller Mann gewesen. Schade, dass ich ihn nie persönlich kennengelernt habe.“
„Ja, das war er wirklich.“
Die Frau drückte kurz Audreys Hände. „Mein Gott, Sie haben die gleichen himmelblauen Augen wie er. Gott schütze Sie und Ihre Mutter“, sagte sie leise.
„Sie auch. Herzlichen Dank.“
Langsam entfernte sich die Fremde. Bevor sie den Friedhof verließ, warf sie Audrey einen Blick über die Schulter zu und schenkte ihr ein Lächeln zum Abschied. Audrey wandte sich wieder dem Grab zu. Noch heute verkauften sich die Bücher ihres Vaters fabelhaft. Der Großteil seines Erbes war an Audrey und ihre Mutter übergegangen, nachdem man ihn offiziell für tot erklärt hatte. Gewinnanteile einiger Romane flossen an eine Stiftung für krebskranke Kinder, die ihrem Dad sehr am Herzen gelegen hatte.
Sein Bruder Kaden war im Alter von vierzehn Jahren an einer seltenen Krebsart gestorben, die nach wie vor nicht erforscht war. Die Heilungschancen lagen auch heute bei null.
Obwohl Audrey die Geschichten ihres Vaters ebenso liebte, verspürte sie selbst keinerlei Ambitionen, einmal in seine Fußstapfen zu treten. Ruhm und Erfolg waren nicht wichtig. Das Schreiben an sich, das Gefühl, Welten zu erschaffen, mit seinen Figuren zu fühlen, das zählte für sie. Seit Dads Tod war sie von der Jungautorin zur reinen Leserin geworden. Ihr Vater hatte an ihr Talent geglaubt. Dennoch war da diese Blockade, die seit dem schrecklichen Anschlag jegliche Kreativität im Keim erstickt hatte. Bis vor Kurzem, als Audrey überraschend ein paar Ideen heimgesucht hatten. Vielleicht war es nur ein Strohfeuer.
Während sie mit einer Gießkanne Wasser aus dem alten Friedhofsbrunnen holte, um die kürzlich gepflanzten weißen Rosen zu versorgen, blitzten Szenen aus der Vergangenheit vor ihrem geistigen Auge auf. Blumenduft umgab sie. Die meisten Gräber lagen im Schatten alter Virginia-Eichen. Hier ruhten ebenfalls Audreys Großeltern väterlicherseits. Ihre Mutter stammte ursprünglich aus einer anderen Ecke Amerikas, dem Sonnenstaat Kalifornien. Ihre Eltern waren rund fünfundzwanzig Jahre verheiratet gewesen, Audrey ein Wunschkind. Sie war an einem schwülen Julitag geboren worden.
„Die Engel haben auf deine Geburt angestoßen“, erzählte ihre Mutter gerne, weil in genau jener Minute ein mächtiges Donnergrollen zu hören gewesen war.
„Du wirst die Welt und vor allem uns mächtig aufwirbeln. Das war mir sofort klar“, hatte ihr Vater meistens hinzugesetzt.
Audrey musste schmunzeln, als sie daran dachte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie je einen richtigen Streit mit ihren Eltern gehabt hatte, obwohl sie durchaus ein Wildfang gewesen war. Ein Charakterzug, den sie von ihrem Vater geerbt hatte. Wahrscheinlich hatten die Engel bei seiner Geburt ebenfalls mächtig die Korken knallen lassen. Er war immer derjenige gewesen, der seine Frau, eine ruhige Seele, mitgerissen hatte.
„In seiner Nähe konnte einem schwindelig werden. Das meine ich nicht negativ“, hatte ihre Mutter einmal verraten.
In der Erinnerung sah sich Audrey neben ihrem Dad im Garten. Sie saßen auf zwei Schaukeln. Nie würde sie seine tiefe und doch sanfte Stimme vergessen. Damals hatte er ihr, wie so oft, von seiner neuesten Romanidee erzählt. Sie musste an die gemeinsamen Reisen mit ihren Eltern denken. Die wohl schönste darunter war ein Trip nach Schweden gewesen. Die Polarlichter dort hatten sie sofort in ihren Bann gezogen. Ihr Vater hatte das Naturphänomen daraufhin in einen seiner Thriller eingebaut. Nur selten hatte er in einem anderen Genre geschrieben. Liebeskomödien etwa, mit schrägen Protagonisten, über die Audrey herzhaft lachen konnte. Eine dieser Komödien war vergangenen Sommer verfilmt worden und ins Kino gekommen. Ein Meilenstein, über den sich ihr Vater mit Sicherheit gefreut hätte. Der Film war so erfolgreich gewesen, dass er inzwischen sogar in den europäischen Kinos gezeigt wurde. Außerdem war im Gespräch, einen seiner Thriller zu verfilmen.
Die Sonne schob sich hinter eine bauschige Wolkenbank, langsam wurde es kühler und windiger. Audrey band sich das lange Haar mit einem Gummi zu einem Zopf, verließ den Friedhof und wandte sich Richtung Stadt, um ihre beste Freundin Grace Cleveland von der Arbeit abzuholen. Sie kam gerade rechtzeitig und lehnte sich gegen die gelb gestrichene Wand des Bücherladens. Audrey wollte nicht aufdringlich sein und einfach hineinplatzen. Grace arbeitete erst seit drei Wochen hier. Ein paar Leute passierten ihren Weg. Fayes war eine ruhige Stadt mit rund zweitausend Einwohnern, zwanzig Meilen von Indianapolis entfernt und von Wiesen und Maisfeldern umgeben, in denen Audrey als Kind Verstecken gespielt hatte.
Der Rotschopf mit dem Sommersprossengesicht hatte sie bereits entdeckt, denn Grace zog die Tür auf und rief ihr entgegen: „In zehn Minuten bin ich bei dir.“
„Okay, kein Problem“, erwiderte Audrey und besah sich derweil die Bücher im Schaufenster genauer, die drapiert wie Schätze auf bunten Seidentüchern lagen oder mit Fäden befestigt von der Decke hingen. Darunter war ein Thriller ihres Vaters. Sie erinnerte sich, dass sie ihm geholfen hatte, signierte Bücher für Leser mit einem Geschenk, meist Lesezeichen oder Autogrammkarten, in Päckchen zu packen und zur Post zu bringen. Unterwegs hatte er ihr stets ein riesiges Eis spendiert. Später waren es so viele Signierwünsche geworden, dass er eine weitere Assistentin benötigt hatte. Nach ein paar Minuten stolperte Grace in ihre Arme.
„Hi. Das wäre fast schiefgegangen“, begrüßte Audrey ihre Freundin, die das kurze Haar schüttelte.
„Hi, Süße. Wir haben eine Bestellung beim Großhändler aufgegeben. Meine Güte. Ich sag dir, die Leute sind immer noch verrückt nach den Romanen deines Vaters. Erstaunlich, dass dieser Neuling ihm so schnell Konkurrenz machen konnte.“ Grace kramte einen Kaugummi aus ihrem Rucksack. „Auch einen?“
„Nein danke. Neuling?“
„Gene Hartman. Der neue Thrillerautor auf dem Markt. Sein Roman ist kürzlich bei Booksdome erschienen“, erzählte Grace und schob sich den Kaugummi in den Mund.
Booksdome – der Name war Audrey nicht unbekannt. Schließlich war das die Konkurrenz von Booksline, dem Verlag, bei dem ihr Vater unter Vertrag stand. Die Verlage gehörten zwei Brüdern, die sich zerstritten hatten. Sie selbst arbeitete als Büroangestellte in Indianapolis bei Booksline. Der Verlagschef, Winton Folder, wurde jedes Mal rot vor Wut, wenn der Name seines Bruders Noah fiel. Jeder, der das wusste, vermied es, ihn zu erwähnen. Wie es aus Insiderkreisen hieß, ging es bei dem Brüderstreit um persönliche Dinge und Erbsachen. Den Namen Gene Hartman hatte Audrey dagegen nie zuvor gehört. Wie hatte der unbemerkt an ihr vorüberziehen können? Sie interessierte sich für alle Neuerscheinungen.
„Um was geht es, Grace?“, fragte sie.
„Der Roman hat eingeschlagen wie eine Bombe. Das ist selten bei einem Debüt. Warte.“
Grace eilte in den Laden und kehrte eine Minute später mit einem dicken Wälzer zurück. Vorder- und Rückseite waren in Schwarz gehalten. Der Buchschnitt war grau eingefärbt. Umso klarer trat der silberfarbene Titel Im Nebel der Intrigen auf dem Cover und der ebenfalls silberfarbene Klappentext gespenstisch hervor. Audrey blätterte in dem Roman und stellte fest, dass er an die sechshundert Seiten umfasste.
Neugierig las sie die Zusammenfassung auf der Rückseite.
Ernest Bloom ist angehender Politiker, dessen Ansichten nicht jedem schmecken. Innerhalb seiner Kreise stößt er auf ein Netz intriganter Lügen, die er aufzudecken versucht. Was verheimlicht die Regierung dem Volk? Und was hat eine Sekte damit zu tun? Plötzlich wird Bloom gejagt und sein Sohn entführt. Die Schlinge um Blooms Hals zieht sich immer enger zusammen, und bald gibt es niemanden mehr, dem er trauen kann.
Audrey stockte der Atem.
Zufall? Missverständnis?, durchfuhr es sie. Sie ließ das Buch beinahe fallen.
„Was ist?“, fragte Grace und nahm es rasch wieder an sich.
„Seltsam.“
„Du bist ja ganz bleich. Willst du reinkommen und …?“
Audrey winkte ab. „Ich frag mich, ob es so viel Zufall tatsächlich geben kann“, murmelte sie.
„Sorry, aber ich verstehe kein Wort.“
„Entschuldige. Ich glaube, dass ich schon mal von der Geschichte gehört habe.“
Nun lachte Grace. „Kein Wunder. Der Roman ist in aller Munde, sozusagen. Vielleicht hast du nur den Titel vergessen. Oder im Verlag hat jemand …“
„Nein, nein. Ich meine, ich kenne die Geschichte bereits seit ein paar Jahren. Hast du den Roman schon gelesen?“
Grace schob die Unterlippe nach vorne und schüttelte den Kopf. „Brauch ich nicht mehr. Meine Chefin hat sich bereits mit so vielen Lesern darüber unterhalten, dass ich sogar weiß, wer der mächtige Drahtzieher hinter dem Ganzen ist.“
Audrey hob eine Hand. „Moment. Ich glaube, das kann ich dir sagen. Jonathan selbst, Blooms Sohn.“
„Stimmt. Woher …?“, wollte Grace wissen.
Audrey hob den Blick und starrte ihre Freundin an, während ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Von meinem Vater.“
Notizen
Gedankenversunken blätterte Audreys Mutter in einem ihrer Erinnerungsalben und strich über ein Foto von ihrem Mann. Das Licht der Abendsonne fiel durch die hohen Rundbogenfenster des Wohnzimmers und ließ ihr blondes Haar golden schimmern, das Audrey von ihr geerbt hatte. Audrey erinnerte sich genau daran, wann der Schnappschuss entstanden war. Bei ihrem letzten Urlaub in Miami. Audrey presste die Lippen zusammen. Sie sah wieder ihren Vater vor sich, wie er ihre Mutter danach den Strand entlanggejagt hatte, weil es das bestimmt hundertste Foto gewesen war, das sie an diesem Tag von ihm gemacht hatte.
Ihre Mutter seufzte. „Damals sagte ich ihm, dass die Erinnerungen der wertvollste Schatz seien. Fotos gehören für mich dazu. Nun bin ich froh, dass ich sie habe“, sagte sie leise und verzog die schmalen, blassen Lippen zu einem schwermütigen Lächeln.
„Ach, Mom.“ Audrey ging zu ihr hinüber, setzte sich neben sie auf die graue Eckcouch und legte einen Arm um ihre dünnen Schultern. Ihre Mutter hatte in den letzten Wochen deutlich an Körpergewicht verloren.
„Soll ich uns einen Kaffee machen?“, schlug Audrey vor. „Und was hältst du von einem Stück Schokokuchen? Den hab ich gestern gebacken.“
Ihre Mutter atmete tief durch und lächelte verhalten. „Da sage ich nicht Nein, obwohl ich keinen Hunger habe, ehrlich gesagt. Aber Schokolade soll ja angeblich Glückshormone ausschütten.“
„Du hast nie Hunger, Mom. Und du trinkst zu viel Wodka.“ Ihre Mutter überging die Bemerkung.
Audrey beschloss, ihr nichts von ihrer seltsamen Entdeckung zu erzählen. Am Ende hätte sie sich nur aufgeregt. Bald würde sowieso die Kur beginnen, zu der ihr der Arzt dringend geraten hatte und die Audrey ebenfalls befürwortete. Ihre Mutter tat es nur, um Audrey zu beruhigen, da war sie sich sicher. Sie umschloss Audreys Gesicht mit ihren knochigen Händen und sah sie an. Audrey bemerkte, dass sich der Glanz in den Augen ihrer Mutter mit jedem Tag mehr verlor. Alles hätte sie getan, um das zu ändern, ihr das Lachen zurückzugeben, die Hoffnung. Ihre Mutter hätte längst aufgegeben, würde es sie nicht geben.
„Du bist ihm in so vielem ähnlich, Audrey. Damit meine ich nicht nur, dass du smart bist. Ein bisschen zu dünn vielleicht.“
Audrey gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn. „Du bist auch zu dünn. Deswegen essen wir jetzt Kuchen, und danach ruhst du dich ein wenig aus, Mom. Keine Widerrede.“
„Okay, okay.“
Bevor Audrey den Raum verließ, kam ihr der Roman in den Sinn, den Grace ihr gezeigt hatte.
„Mom?“
„Ja?“
„Kann ich nachher mal in Dads Schreibzimmer gehen?“
Ihre Mutter runzelte die Stirn. „Natürlich. Aber warum fragst du extra? Das ist gar nicht nötig, Liebes.“
„Ich wollte nur nicht, dass du dich wunderst.“
„Nun ja. Was willst du denn dort?“
„Ich glaube einfach, es würde mir über den Schmerz hinweghelfen. Außerdem hat Dad mir vor … Er hat mir damals von seiner neuesten Romanidee erzählt. Ich wollte schauen, ob ich dazu Aufzeichnungen finde.“
„Möchtest du die Geschichte ausarbeiten? Meine Güte, darüber hätte er sich gefreut. Und ich würde es auch tun.“
Obwohl Audrey nicht daran glaubte, erwiderte sie: „Wer weiß, vielleicht springt der Funke über, wenn … Ach, ich weiß nicht.“
„Schau ruhig. Es stört mich nicht. Ihr habt so viele gemeinsame Stunden in dem Zimmer verbracht. Mir fällt es noch zu schwer, es zu betreten. Die Zeit heilt doch nicht alle Wunden.“
Audrey nickte. Leider musste sie ihr recht geben. Die Zeit machte die Trauer erträglicher, mehr nicht. Das Leben hatte sich seit jenem Tag von einer Sekunde auf die andere geändert. Seitdem erschienen Audrey sogar die Farben blasser.
***
Das Schreibzimmer befand sich im Dachgeschoss des Hauses, in dem sie mit ihrer Mutter am westlichen Rand von Fayes wohnte. Ausgestattet war es mit einem samtgrünen Sofa, einem Schreibtisch in der Mitte und vielen Kunstdrucken von Monet an den Wänden. Ein Bücherregal an einer Eichenholzwand beherbergte die Lieblingsbücher ihres Vaters, darunter eines von Audrey: Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry. Ein Wald grenzte an das Grundstück mit dem weißen Haus und dem großen Garten, der von einer hohen Buchshecke und einem Zaun mit Eisentor umgeben wurde. Vom Fenster aus hatte man einen herrlichen Blick auf einen Teil des Gartens und die mächtigen grünen Tannen dahinter. Früher hatte Audreys Mutter es geliebt, ihn zu hegen und zu pflegen. Nach dem Tod ihres Mannes fehlte ihr dazu zunehmend die Kraft, sodass es nun ihre Tochter und manchmal ein Gärtner übernahmen, sich um die Rosenbeete und all die anderen Blumen und Gewächse zu kümmern.
Audrey ging zu dem Eichenschreibtisch hinüber. In diesem Raum hatte ihr Vater, der große Monty Richards, oft geschrieben. An schönen Tagen hatte er den Garten oder das Seeufer, nicht unweit vom Anwesen, bevorzugt, wobei ihm ihre Anwesenheit oder die ihrer Mutter nie gestört hatte. Sie wusste, wo er seine Aufzeichnungen für neue Geschichten aufbewahrte. Dafür gab es nur einen Platz. Sein Notizbuch. Sie stellte ihren Laptop auf dem Tisch ab.
Das mit einem braunen Ledereinband versehene Buch lag in der obersten Schublade. Ein Kloß bildete sich in Audreys Kehle, als sie es herausnahm und hastig aufschlug. Es war seltsam, dass ihr Vater es nicht nach Paris mitgenommen hatte. Wahrscheinlich hatte er es vergessen. Sie fand allerlei Vermerke über bereits vollendete Romane, eine Liste mit möglichen Figurennamen und Schauplätzen. Darunter die Stadt, in der er gestorben war. Audrey musste schlucken. Tränen schossen ihr in die Augen.
Einer der letzten Einträge ließ sie innehalten. Ihr Blick heftete sich an den mit Kugelschreiber gekritzelten Titel: Die Bloom-Affäre. Der Roman, den Grace Audrey gezeigt hatte, hieß zwar anders, doch dieser Name ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Also hatte sie sich richtig erinnert. Wie in Trance klappte sie ihren Laptop auf und gab den Titel, den Gene Hartman gewählt hatte, in die Suchmaschine ein. Sofort erschienen mehrere Einträge. Im ersten ein Porträt über den Autor, das dürftig ausfiel. Dort hieß es lediglich, dass sein Name ein Pseudonym sei, da der Verfasser unbekannt bleiben wollte. Das heizte das Interesse der Leserschaft und Medien erst recht an. Schlau? Oder war er ein Eigenbrötler? Vielleicht hatte er auch Angst.
„Das ist verrückt“, murmelte Audrey. Sie überflog eine Leseprobe der Geschichte, die auf einer Buchhandlungsseite abrufbar war, sowie Rezensionen, in denen zum Teil ausführlich gespoilert wurde, und danach erneut die Notizen ihres Vaters, während ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. Kein Zweifel, die Aufzeichnungen ihres Vaters wiesen deutliche Parallelen auf. Ebenso wie das, was er ihr erzählt hatte. Der gleiche Plot.
Ihr wurde übel. So viele Zufälle konnte es nicht geben! Oder fantasierte sie sich da etwas zusammen? Audreys Blick fiel auf den Computer ihres Vaters. Sie setzte sich an den Eichenschreibtisch, legte das Büchlein auf den Schoß, stützte die Ellenbogen auf und massierte sich die Schläfen. Dann schaltete sie den PC ein und überflog die wenigen Dateien, die sich darauf befanden. Möglicherweise hatte ihr Vater bereits ein Exposé zu seiner Idee verfasst. Aber außer ein paar Aufstellungen zu seinen Finanzen und Listen über die Messdaten der Photovoltaikanlage, die vor ein paar Jahren auf der südlichen Dachseite des Hauses angebracht worden war, war nichts zu finden. Noch einmal suchte sie über ihren Laptop nach Gene Hartman. Aber natürlich gab es kein Foto von ihm. Nicht einmal von hinten. Er war ein Geist.
Ein Klopfen an der Tür ließ Audrey hochschrecken. Eine Sekunde später steckte ihre Mutter den Kopf ins Zimmer. „Grace ist hier. Sie meinte, ihr seid verabredet.“
Das hatte Audrey ganz vergessen. Sie schaltete den Computer aus und klappte den Laptop zu. „Ich komme gleich.“
Ihre Mutter runzelte die Stirn. „Hast du gefunden, was du gesucht hast?“
Für einen Moment hielt Audrey die Luft an. Sollte sie ihr von dem Roman und den Notizen erzählen? Ihre innere Stimme riet ihr, es nicht zu tun. Sie wollte sie nicht unnötig aufregen.
„Ja, ich glaube schon.“
Langsam kam ihre Mutter auf sie zu. Sie sah ihr an, dass es ihr schwerfiel, den Raum zu betreten. Ihr Blick fiel auf das Büchlein in Audreys Schoß. Sie streckte die Hand danach aus. „Sind das seine Notizen?“
Audrey schluckte trocken. „Ja.“
Ihre Mutter beugte sich vor, strich mit den Fingern über den ledernen Umschlag und atmete stoßartig. „Mach was draus. Es wird dir helfen, glaube ich. Aber bitte, lass es hier. Du kannst ja immer wieder herkommen und es ansehen“, sagte sie tonlos und verließ das Zimmer fluchtartig. „Grace wartet“, hörte sie sie noch sagen.
Audrey sah ihr nach und dann auf das Büchlein. Sie wusste, dass ihrer Mutter alles, was ihr von ihrem Mann geblieben war, heilig war. Audrey wollte ihr Vertrauen nicht missbrauchen und legte das Notizbuch daher zurück an seinen Platz. Auf dem Weg nach unten kam ihr eine Idee.
Gedankenkarussell
„Du hast es tatsächlich vergessen?“ Grace bekam sich gar nicht mehr ein. „Mich, deine langjährige beste Freundin? Treulose Tomate.“
Audrey, die ihr in ihrem Lieblingsitaliener gegenüber am Tisch saß, verdrehte die Augen und lachte. „Ich war in Gedanken. Und wir hatten uns ja spontan verabredet.“
„Ah, dann lade ich dich in Zukunft schriftlich zum Essen ein. Vielleicht merkst du es dir dann besser.“
„Jetzt hör schon auf.“
„Also, wo warst du?“ Grace verschränkte ihre dünnen, langen Finger.
„Wo soll ich gewesen sein?“
„In Gedanken, meine ich. Bei einem Typen etwa?“ Grace zwinkerte ihr zu.
„Kein Typ“, wiegelte Audrey ab.
Ihre Freundin zog den roséfarbenen Lippenstift nach, der ihren geschwungenen Mund gut zur Geltung brachte, und legte die hohe Stirn in Falten. „Hat es etwas mit diesem Roman zu tun – Im Nebel der Intrigen? Du hast gesagt, du kennst die Geschichte bereits von deinem Vater. Was genau hast du damit gemeint?“
„Aber behalte es für dich, ja?“
Grace kreuzte zwei Finger, hielt sie hoch und beugte sich, ganz Ohr, über den Tisch.
Ihre Miene veränderte sich mit jedem Satz, den Audrey von sich gab. Sie wusste, dass sie Grace vertrauen konnte, und schätzte ihre Meinung in sämtlichen Lebenslagen. Sie kannten sich seit der Schule. Grace wohnte nur ein paar Straßen entfernt, im Dachgeschoss im Haus ihrer Eltern. Zwei nette, ältere Herrschaften. Beide waren schon über siebzig. Grace war wie Audrey fünfundzwanzig. Für ihre Eltern war sie ein „Spätzünder“ gewesen. Auf jeden Fall ein Wunschkind. Audreys Eltern und ihre waren früher öfter zusammen ausgegangen.
„Wow! Krass!“, stieß Grace hervor und schüttelte den Kopf. Sie tippte sich mit einem Finger an die Lippen. Dann fügte sie hinzu: „Aber das gibt es.“
„Was?“, wollte Audrey wissen.
„Dass zwei Leute nahezu die gleiche Idee haben.“
„Mit derartiger Namensgleichheit des Protagonisten und Antagonisten? Ernest und Jonathan Bloom?“
„Stimmt. Das ist merkwürdig.“ Grace verfiel in eine Starre, während sie ihre Gedanken arbeiten ließ. „Hinzu kommt“, nuschelte sie schließlich, nachdem ein junger Kellner ihnen zwei Gläser Weinschorle serviert hatte, „dass er anonym bleiben will.“
Audrey nahm ein Glas und stieß mit ihrer Freundin an. Sie brauchte jetzt einen großen Schluck. „Eben! Mysteriös.“
„Und was hast du nun vor? Du könntest die Notizen als Beweis verwenden. Sicher ist belegbar, dass dein Vater sie geschrieben hat und …“
„Das muss ich mir noch überlegen. Als Erstes werde ich mit meinem Chef darüber reden und ihm die Notizen zeigen. Wahrscheinlich muss ich sie dafür doch entführen. Ich glaube nicht, dass er uns einen Besuch abstatten würde, so beschäftigt, wie er immer ist. Allenfalls liegt ihm ein Exposé vor, das eventuell in falsche Hände geraten ist. Für mich sieht es so aus, als hätte dieser Hartman den Plot geklaut. Vielleicht kannte er meinen Dad, und der hat ihm davon erzählt. Obwohl mein Vater immer versichert hat, dass er neue Ideen nur meiner Mom oder mir erzählen würde.“
„Nicht mal mir hast du etwas gesagt, obwohl ich oft gebettelt habe.“ Grace war eine glühende Verehrerin von Monty Richards’ Werken.
„Wer ist Gene Hartman?“, sinnierte Audrey weiter.
„Sei bloß vorsichtig bei deinen Recherchen. Nicht, dass du in ein Wespennest stichst“, mahnte Grace und leerte ihr Glas mit einem Zug zur Hälfte.
„Ich pass schon auf.“
„Wenn du eine Komplizin brauchst, ich bin dabei.“
Das konnte und wollte Audrey ihrer Freundin nicht versprechen. Sie hätte nie gewollt, dass sie wegen ihr in Schwierigkeiten geriet. Einmal hatte gereicht. Kurz nachdem Grace ihren Führerschein gemacht hatte, hatte sie Audrey zu einer Spritztour überredet, um zum Konzert ihrer Lieblingsband zu fahren. Es war Winter gewesen und bitterkalt. Graces Eltern, Mary-Ann und Peter Cleveland, hatten Grace verboten, allein mit dem Wagen zu fahren, bis sie sicherer war. Außerdem brauchte Graces Vater ihn für die Arbeit. Audrey war so verschossen in den Leader der High Five Grooves gewesen, dass sich ihr Verstand kurzweilig verabschiedet haben musste. Nur so konnte diese es sich heute erklären. Weit waren sie jedoch nicht gekommen. Es schneite wie verrückt. Nicht unweit von Fayes schien der Weg eins mit der Umgebung zu werden, sodass sie irgendwann im Straßengraben stecken blieben. Natürlich nahm Audrey alle Schuld auf sich, was die Strafe für Grace und sie nicht milder ausfallen ließ. Ihre Eltern verhängten eine einmonatige Kontaktsperre und Hausarrest an den Wochenenden für einen weiteren Monat. Dummerweise war Grace damals unsterblich verliebt gewesen. In einen Jungen aus der Stadt. Der Hausarrest tat der Beziehung nicht gut, was untertrieben war. Hobi machte eine Woche vor Ende der Strafe Schluss und zog mit einer anderen von dannen. Grace machte Audrey keine Vorwürfe. Für nichts. Dennoch spürte Audrey, dass ihre Freundin sehr gelitten hatte. Unter allem. Es hatte Audrey das Herz zerrissen.
Garrett Paiden fand Audrey immer noch toll. Er war der Inbegriff eines Traummanns für sie. Schwarzes, kurzes Haar, strahlend grünblaue Augen, volle Lippen, markantes Kinn mit Grübchen, halbbogenförmige Brauen, gerade Nase. Nicht zu groß, nicht zu klein, einen guten Kopf größer als sie mit ihren gut fünfeinhalb Fuß, sportliche Figur, gebräunte Haut.
„Träumst du, Audrey Richards?“, machte sich Grace bemerkbar.
„Ich habe gerade an Garrett gedacht. Hast du den neuen Song schon gehört?“
Grace zog die Augenbrauen zusammen. „Willst du vom Thema ablenken?“
„Von dir als Komplizin? Nein. Ja, ich sag Bescheid, falls sich was ergibt“, machte sie von einer Notlüge Gebrauch. Vielleicht hätte sie erst gar nichts erzählen sollen.
„Gut, das will ich hoffen. Und was den Song angeht: Ja, davon habe ich gehört. Findest du nicht, Garrett sieht jemandem ähnlich, den du kennst?“
Der Kellner servierte ihnen eine Pizza Hawaii mit extra viel Käse und Ananasstücken und zwinkerte Audrey zu, bevor er weiterzog.
Grace lachte. „Der ist auch nicht von schlechten Eltern.“
„Ja, ganz süß. Aber ich glaube, ich bin allein glücklicher. Das hat mir die Beziehung mit Craig deutlich gezeigt.“
Grace teilte die Pizza und schob erst ihr und dann sich ein Stück auf die leeren Teller.
Audrey bedankte sich.
„Das mit Craig ist über ein Jahr her“, meinte Grace.
Craig war Audrey bei einem Sommerfest in Fayes in die Arme gestolpert. Sie waren erst ins Lachen, dann ins Gespräch gekommen, und schließlich hatte es nach dem dritten Date gefunkt, bis er nach sieben Monaten in die Arme einer anderen gestolpert war. Es hatte lange gedauert, bis Audrey diese Enttäuschung verarbeitet hatte. Die Narben blieben und hatten sie vorsichtiger werden lassen.
„Lass uns jetzt bitte nicht über das Thema reden. Also, wer ist deiner Meinung nach Garrett Paidens Doppelgänger? Ich bin gespannt.“ Obwohl Audrey nach wie vor die Notizen ihres Vaters und dieser Gene Hartman im Kopf herumspukten, war ihr jede Ablenkung willkommen.
„B-r-i-a-n“, buchstabierte Grace und ließ die Brauen wackeln.
Nicht ihr Ernst. „Mein Kollege?“
„Dein Kollege.“ Grace lächelte verschmitzt.
Brian Gomery arbeitete seit rund einem Jahr im Verlag. Er war Lektor. Audrey und er hatten bis vor Kurzem selten miteinander zu tun gehabt, da sie in einer anderen Abteilung arbeitete. Das hatte sich vor rund drei Monaten geändert, da sie überraschend an die Lektoratsfront versetzt worden war. Eine Beförderung, die Audrey von einem Tag zum anderen zur persönlichen Assistentin des Cheflektors gemacht hatte. Natürlich hatte sie sofort zugesagt. Warren Lee, halb Amerikaner, halb Japaner, war ein Urgestein des Verlags. Er war es gewesen, der ihren Vater entdeckt hatte. Für ihn zu arbeiten, machte ihr durchaus mehr Spaß, als in der Marketingabteilung zu sitzen. Insgeheim hatte Audrey immer auf diese Stelle gehofft. Es war allein interessant zu sehen, wie viele Manuskripte an einem einzigen Tag eintrudelten. Die meisten Autoren erhielten eine Absage. Sie selbst hatte noch nie etwas von sich angeboten. Bis jetzt war ja auch kein richtiger Roman dabei gewesen.
„Du träumst ja schon wieder. Erde an Audrey.“ Ihre Freundin wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. „Hab ich etwa ins Schwarze getroffen?“
Audrey verdrehte die Augen. „Vergiss es. Er ist nett, aber mehr ist da nicht. Außerdem hat er sicher schon eine Freundin.“
„Ich habe ihn erst dreimal gesehen, als ich dich abgeholt habe. Er ist echt der Hammer.“
„Dann tu dir keinen Zwang an.“
Grace schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich bin vergeben. So gut wie, jedenfalls.“
Das machte Audrey neugierig. „Hat Daniel endlich angebissen?“ Grace klatschte in die Hände wie ein euphorischer Teenager und lief rot an.
„Wir werden ausgehen.“
Daniel Chantler, Kurzvita: angehender Anwalt bei einer Kanzlei in der Nähe der Buchhandlung, liest gerne, Single, dreißig, blond, groß, schlank, graublaue Augen, trägt meist Anzug, sehr korrekt, aber äußerst charmant.
„Hast du ihn endlich gefragt? Nach, warte mal, wie vielen Anläufen?“
Grace winkte ab. „Nein, war nicht mehr nötig.“
„Warum?“
„Er hat gefragt. Wir sind ins Gespräch gekommen, da er neuen Lesestoff gesucht hat. Vor dem Schlafen und nach dem Fitnesstraining und Checken seiner Mails liest er immer noch eine Weile. Diesmal habe ich ihm Im Nebel der Intrigen empfohlen. Für meine gute Beratung will er mich morgen Abend zu einem Drink einladen. Süß, oder?“
„Süß!“
Grace atmete tief ein und starrte zur Decke, als wäre dort ein Porträt von ihm zu sehen. Sie war mehr als verknallt.
„Ich wünsche dir Glück.“
Grace nahm Audreys Hände, drückte sie und wisperte: „Danke schön.“ Dann seufzte sie theatralisch und kehrte langsam von ihrer Wolke zurück. „Du und Brian solltet auch mal etwas zusammen trinken gehen, einen Kaffee vielleicht. Vergiss Craig. Nicht jeder Typ ist so wie er. Ich hatte selbst schon ein paar Frösche.“
In der Zwischenzeit war ihre Pizza kalt geworden. Sie ließen sie einpacken und stießen noch einmal an.
„Brian und ich trinken jeden Tag zusammen Kaffee. Nur jeder in seinem Büro. Wenn wir uns doch mal sehen, führen wir Smalltalk. Er ist ein ruhiger Typ.“
„Daniel ebenfalls. Ich denke, ich würde ihm guttun.“
„Ja, höchstwahrscheinlich würdest du seine Paragrafen vom Staub befreien.“
Grace lachte. „Stimmt, genau das braucht er. Ich habe es im Gefühl.“
Der Abend mit Grace hatte sie abgelenkt, obwohl am Ende wieder die Nachdenklichkeit zurückgekehrt war. Ihre Mutter war noch wach, als sie nach Hause kam. Erleichtert stellte Audrey fest, dass sie nicht getrunken hatte. Zumindest machte es nicht den Anschein. Sie strickte an einem weiß-blauen Schal. Eine Beschäftigungstherapie, die ihr die Psychologin ans Herz gelegt hatte.
Sobald Audrey das Zimmer betrat, sah ihre Mom auf und lächelte. „Na, wie war’s?“
„Ganz gut. Wenn du etwas essen möchtest, ich habe Pizza dabei.“
„Nein danke.“
Audrey ließ sich auf das graue Ecksofa neben ihrer Mutter nieder. „Sieht hübsch aus.“
„Danke. Es beruhigt mich. Und du kannst ihn im Winter tragen.“ Sie lächelte verhalten. „In einer Woche beginnt die Kur in der Health Clinic in Huntsville.“
„Es wird dir helfen.“
Ihre Mutter schluckte und nickte, ohne aufzusehen. Doch Audrey bemerkte, dass sie die Maschen enger strickte.
„Hast du Angst? Wegen … der Abgewöhnung?“, traute sich Audrey zu fragen.
Wie zu erwarten gewesen war, wollte ihre Mutter abwiegeln, hielt dann jedoch inne und nickte erneut. „Ich schäme mich dafür. Am meisten vor dir.“
Audrey ergriff ihre Hände.
Ihre Mutter blinzelte und lehnte den Kopf an Audreys Oberarm. „Dein Vater wäre enttäuscht von mir. Aber der Alkohol hat mir geholfen, den Schmerz zumindest für eine kurze Zeit zu betäuben, wenn ich geglaubt habe, es nicht mehr auszuhalten. Du bist anders. Stärker. Wie er. Ich weiß, dass ich das wieder werden will.“
„Dad hätte es verstanden, ich tue es ebenso. Es ist nur der falsche Weg. Und das siehst du ja nun ein. Das ist der erste Schritt. Ich bin stolz auf dich, Mom.“
„Danke, Schatz. Weißt du, als dein Vater gestorben ist, da ist auch ein großer Teil von mir gestorben. Der andere muss und will für dich da sein. Ich möchte keine Versagerin sein. So eine Mutter hast du nicht verdient.“
„Für mich bist du die beste Mom auf der ganzen Welt. Wir schaffen das. Gemeinsam. Ich könnte mitkommen.“
„Nein. Das muss ich allein schaffen. Ich vertraue da meiner Psychologin völlig. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit dir nach meiner sogenannten Neugeburt wird mir ans Ziel helfen. Dein Vater hat dich so geliebt. Ich würde alles dafür tun, wenn ich nur noch eine Minute mit ihm erleben dürfte. Nur wir drei.“
Ihr entfuhr ein Schluchzen, und Audrey drückte sie fest an sich. Lange saßen sie einfach nur so da und hielten sich gegenseitig fest.
„Dafür würde ich auch alles tun“, flüsterte Audrey irgendwann.