Leseprobe Ein Lord zwischen Pflicht und Verlangen

Kapitel 1

Die Isle of Crewe

Vor der Küste Schottlands

Roland Montgomery, der achte Earl of Crewe, war gerade bei einem kniffligen Abschnitt seines zu veröffentlichenden Artikels für die Royal Society über den Sexualdimorphismus bei den Selasphorus rufus von Las Floridas angelangt, als jemand laut an die Tür der Bibliothek klopfte.

„Ich hoffe, dass es etwas verdammt Wichtiges ist!“, bellte er.

Alle – Familie und Bedienstete – wussten, dass Roland nicht gestört werden durfte, wenn er sich in der Bibliothek aufhielt, die ihm auch als Arbeitszimmer diente.

Sein Cousin, Arthur Montgomery, öffnete die Tür einen Spalt und steckte den Kopf herein. „Es tut mir furchtbar leid, dich zu stören, Crewe, aber ich fürchte, es gibt ein Problem.“

Roland blickte finster drein und deutete ihm, einzutreten. „Was hat meine Tochter jetzt wieder angestellt?“

„Warum nimmst du sofort an, dass Celsa etwas Schlimmes getan hat?“

„Wann ist es jemals etwas anderes?“ Roland lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wedelte mit der Hand, eine Geste, die ausdrücken sollte, dass er die Angelegenheit schnell hinter sich bringen wollte.

„Nun, wie es aussieht, hast du recht.“ Arthur ignorierte Rolands amüsiertes Auflachen und fuhr fort: „Celsa war, äh, unartig. Sie hat Miss Hatchet in den Kerker gesperrt.“

Roland stöhnte auf und ließ den Kopf zurückfallen. „Zur Hölle! Wie lange?“

„Die Frau sagt, es wären fast sechs Stunden gewesen. Ich fürchte, sie ist ein bisschen, ähm, hysterisch.“

Roland murmelte eine Reihe von Flüchen, die den anderen Mann zusammenfahren ließen. Es verblüffte ihn immer wieder. Er und Arthur hatten sich als Jungen so nahe wie Brüder gestanden und als Männer zusammengearbeitet. Trotzdem hatte Arthur irgendwie die Weltanschauung eines Landpfarrers.

„Es ist mir gelungen, Miss Hatchet zu beruhigen“, sagte Arthur und rückte sich den Stuhl vor dem Schreibtisch zurecht, bevor er darauf Platz nahm.

„Gott sei Dank für deine gottgegebenen Fähigkeiten“, sagte Crewe und ignorierte Arthurs Zusammenzucken angesichts seiner blasphemischen Worte.

Wie jede andere Frau auf der Insel war auch die pedantische Gouvernante zu drei Vierteln in Rolands engelsgleichen Cousin verliebt. Nicht, dass Arthur jemals eine der Dutzenden von Frauen, die sich ihm an den Hals warfen, ausgenutzt hätte.

Arthurs milchblasse Wangen verfärbten sich. „Ich habe nichts Unangemessenes zu ihr gesagt, Crewe.“

„Das weiß ich, du Griesgram.“ Obwohl Roland sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass es besser wäre, wenn Arthur gelegentlich die Fassung verlöre. Aber er wusste aus Erfahrung, dass sein puritanischer Cousin von diesem Vorschlag nicht begeistert wäre.

Während er über Celsa und ihre neunte Erzieherin nachdachte, massierte er sich den Nacken. „Konntest du die Frau zum Bleiben überreden? Oder müssen wir eine andere einstellen?“

„Nachdem ich versprochen habe, dafür zu sorgen, dass Celsa sich benimmt, hat sie zugestimmt, noch einen weiteren Monat zu bleiben.“

„Wie willst du das anstellen? Indem du Celsa umbringst?“

„Sie ist kein schlechtes Mädchen …“

„Sie ist ein verdammter Dämon, Arthur. Nur du glaubst, dass man das kleine Monster zähmen kann.“

Arthur warf ihm den Blick zu, den er immer dann benutzte, wenn er sich verpflichtet fühlte, als Rolands moralischer Kompass zu dienen. „Sie benimmt sich nur daneben, weil sie sich nach deiner Aufmerksamkeit sehnt.“

„Dann ist es vielleicht an der Zeit, dass ich ihr die gleiche Aufmerksamkeit schenke, die mein Vater uns beiden zukommen ließ, als wir noch Jungs waren und uns danebenbenommen haben.“

Arthur schnappte nach Luft. „Du kannst ein Mädchen nicht auspeitschen!“

„Oh, ich könnte – glaub mir –, aber ich fände die vorwurfsvollen Blicke unerträglich, die du mir danach zuwerfen würdest“, sagte er, nur zum Teil im Scherz. Wenn es etwas gab, was Arthur hervorragend konnte, dann war es, Roland ein schlechtes Gewissen zu bereiten.

„Kannst du nicht einfach ein bisschen Zeit mit ihr verbringen?“, fragte Arthur leise.

„Ich sehe sie jeden Abend beim Essen.“

„Du weißt, dass ich mehr als das meine. Wenn du nur –“

„Ich bin kein Kindermädchen, Arthur. Ich engagiere eine Gouvernante und bezahle ihr ein verdammtes Vermögen, damit sie auf dieser Insel lebt und meine Tochter beschäftigt. Und Celsa tut nichts anderes, als die Frau zu quälen und zu schikanieren!“

„Ohne ihre Mutter bist du der einzige Elternteil, den Celsa hat.“

„Sie hat dich. Du bist mehr Vater für sie, als ich es je war.“

Arthurs Wangen erröteten und er sagte steif: „Ich hoffe, du denkst nicht, dass ich versuche, dich zu übervorteilen –“

„Sei kein Narr. Ich bin dankbar für das, was du mit ihr machst – für alles, was du tust.“

Arthur wandte den Blick ab, sichtlich verlegen. „Ach, Unsinn. Ohne dich hätte ich nichts.“

Roland winkte den Protest des anderen Mannes ab, den er in der Vergangenheit schon oft gehört hatte und der jetzt genauso unwahr war wie vormals. „Ich will nichts mehr davon hören.“

Arthur versuchte zu protestieren, aber Roland brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

„Du willst also, dass ich etwas mit der Göre mache? Und was? Sie hat kein Interesse an der Natur, kein Verlangen, sich mit irgendeinem Fach zu beschäftigen – Kunst, Literatur oder Wissenschaft – und sie hat jedes andere Kind ihres Alters auf der Insel mit ihrem eigensinnigen, oft bösartigen Verhalten vergrault.“

Arthur sah betrübt aus. „Sie benimmt sich daneben, weil sie nur so deine Aufmerksamkeit erlangt. Es gibt einen Bereich, in dem sie glänzt, und das ist alles, was mit Pferden zu tun hat.“

„Sie ist eine ausgezeichnete Reiterin“, gab Roland zu.

„Vielleicht kannst du sie mitnehmen, wenn du deine Pächter besuchst? Es wäre gut, wenn sie solche Aufgaben übernehmen würde.“ Noch leiser fügte er hinzu: „Vor allem, weil sie sie wahrscheinlich erben wird.“

Damit hatte Arthur wohl recht; Roland hatte nicht die Absicht, zu heiraten und weitere Kinder zu zeugen, was bedeutete, dass Celsa nach seinem Tod die Herrin über alles wäre.

„Ich werde darüber nachdenken“, sagte Roland und damit war das Thema für ihn vorerst erledigt. „Da du gerade hier bist … ich wollte mit dir über eine andere Sache sprechen.“

„Oh?“

„Es geht um Sadie Roy und ihre Tochter, Dora.“

Arthurs engelsgleiche Züge verhärteten sich. „Was ist mit ihnen?“

„Ich habe gehört, dass du Sadie gesagt hast, sie müsse ihr Cottage verlassen, wenn ihre Tochter sich weiter weigert, vor der Geburt ihres Kindes zu heiraten.“

„Sie kam zu dir gerannt, nicht wahr?“

„Nein, Arthur, sie kam nicht zu mir gerannt.“

„Wer hat es dir dann – oh, ich weiß.“ Er warf Roland einen Blick zu, aus dem Verachtung und leichter Abscheu sprachen. „Es war Mary Neel, nicht wahr? Ich habe dich gestern Abend spät ausreiten sehen. Du warst wieder bei ihr.“

Die Tatsache, dass Roland bei dem Blick seines Cousins ein – wenn auch nur leichtes – Schuldgefühl verspürte, zeugte von den Fähigkeiten des anderen Mannes.

„Hast du mir nachspioniert, Arthur?“

„Das habe ich ganz sicher nicht.“

Roland vermutete, dass sein tugendhafter Cousin log. Arthurs Gemächer gingen nicht in Richtung der Ställe, also hätte er aktiv werden müssen, wenn er Roland beim Verlassen des Schlosses sehen wollte.

Anstatt ihn darauf hinzuweisen, sagte Roland: „Ja, ich habe Mary gestern Abend besucht. Was ist damit?“

„Du musst wissen, dass jeder auf der Insel weiß, dass sie deine – deine –“

„Gelegentliche Bettgefährtin ist?“, schlug Roland vor, als Arthur zu erstarren schien.

„Ich wollte Hure sagen.“

Die Belustigung, die Roland empfunden hatte, verflog. „Bezeichne sie nicht noch einmal so, Arthur.“

Arthurs Röte vertiefte sich angesichts von Rolands kaltem Tadel. „Du hast recht, das war unchristlich. Aber glaubst du wirklich, dass dein Verhalten anständig ist, Crewe?“

„Nicht, dass dich das irgendetwas angeht, Arthur, aber ich bin ein unverheirateter, volljähriger Mann und kann meinen Schwanz in jede Frau stecken, die ich will – vorausgesetzt, meine Partnerin ist willens.“

Arthurs blasse Wangen wurden puterrot und er presste seine Lippen aufeinander, voller Abscheu über Rolands Grobheit. „Ja, aber das ist Kopulation außerhalb der Ehe und ein schlechtes Beispiel für deine Untergebenen.“

Dieses Argument hatte Arthur im Laufe der Jahre oft vorgebracht und Roland fand es so wenig überzeugend wie eh und je.

„Glücklicherweise habe ich mich nie als ein Leuchtfeuer der Tugend dargestellt, dem andere nacheifern sollten, Arthur. Ich habe auch nie versucht, für irgendjemanden auf dieser Insel zu definieren, was angemessene moralische Rechtschaffenheit – oder deren Fehlen – ist. Aber es hört sich für mich so an, als wärest du gerne Richter, Geschworener und Henker in Sachen Recht und Unrecht auf Crewe.“

„Das bin ich nicht. Es ist nur … Ich meinte nur …“

„Ich finde es erstaunlich, dass du meinst, Sadie aus ihrem Cottage vertreiben zu müssen, weil ihre Tochter außerehelich schwanger geworden ist.“ Es war auch verdammt ironisch, wenn man Arthurs Erbteil bedachte, aber das behielt Roland für sich. Er mochte ein unmoralischer Frauenheld sein, aber immerhin versuchte er, kein bösartiger Arsch zu sein.

„Das Mädchen hat sich geweigert, mir zu sagen, wer der Vater ihres Kindes ist.“ Arthurs Miene war so ernst, dass Roland den Mann am liebsten getreten hätte.

„Interessiert. Mich. Nicht.“

Arthur wich vor seinem wütenden Ton zurück, vor Schreck stand ihm der Mund offen.

Roland senkte seine Stimme und sagte: „Ich verstehe deine rigide, unrealistische Einstellung zum Sex nicht. Er ist bei allen Lebewesen– sowohl den Menschen als auch den Tieren – ein beliebter Zeitvertreib und da die Menschen unvollkommen sind, werden sie unweigerlich Fehler bei der Beurteilung machen. Sadie und ihre Tochter werden mit Doras Entscheidung leben müssen.“

„Du verstehst nicht, worum es geht, Crewe.“

„Worum geht es denn?“, fragte Roland müde.

„Du bist der Laird of Crewe. In dir sehen die Leute einen geistigen Führer und –“

Roland musste lachen. „Das will ich nicht hoffen! Sie haben einen Vikar, der sich um diese Bedürfnisse kümmert, Arthur. Ich bin ihr Gutsherr, nicht ihr Beichtvater. Nicht nur, dass das keine Position ist, die ich ausfüllen möchte, sondern ich bin auch denkbar ungeeignet dafür, wie du mir sicher bestätigen wirst.“ Als der andere Mann den Mund öffnete, um zu argumentieren, unterbrach er ihn. „Nun, ich habe Sadie eine Nachricht geschickt, in der ich ihr versichere, dass das Haus ihr gehört, solange sie es will.“

„Aber –“

„Nein. Du wirst dich nicht einmischen. In dieser Angelegenheit bin ich unnachgiebig.“

Arthur stieß einen verärgerten Laut aus. „Warum gibst du dieser Frau weiterhin nach, Crewe? Sie hat dich immer wieder auf ungeheuerliche Weise ausgenutzt, und das nur, weil du vor vielen Jahren ihr Bett geteilt hast.“ Arthurs Gesicht rötete sich vor Wut. Oder vielleicht vor Verlegenheit. „Die Leute reden über –“

„Es ist mir egal, ob die Leute reden“, sagte Roland. „Einer der Vorteile, wenn man reich und mächtig ist, ist, dass man sich nicht um Geschwätz kümmern muss. Was Sadie und meine Nachsicht angeht, so ist das meine Sache und dies ist das letzte Mal, dass du das Thema mit mir ansprichst.“ Er sah seinem Cousin in die Augen und ärgerte sich über die Empörung in Arthurs himmelblauem Blick. „Ich bin nicht der Moralapostel der Männer – oder Frauen –, Arthur. Und du bist es auch nicht. Triff solch eine Entscheidung nicht noch einmal. Es steht dir nicht zu. Verstanden?“

Er bemerkte, wie der Kiefer des anderen Mannes mahlte und die Muskeln dabei Knoten bildeten. Einen Moment lang dachte er, Arthur würde sich gegen Rolands Autorität als Familienoberhaupt auflehnen. Wenn er das täte, wäre es das erste Mal in zwanzig Jahren.

Doch nach einem langen, angespannten Moment nickte Arthur. „Ich werde mich in dieser Angelegenheit an deine Wünsche halten.“

„Gut. Dann lassen wir die Angelegenheit ruhen.“ Roland warf einen Blick aus dem Fenster. „Ich wage zu behaupten, wenn das Wetter so bleibt, wird meine neue Künstlerin heute Nacht in Balcrewe bleiben.“

„Der alte Em schwört, dass sich das Wetter im Laufe des Tages beruhigen wird, sodass deine Miss Burton zum Abendessen hier sein wird.“

„Wenn der alte Em das sagt, dann muss es so sein“, spottete Roland, auch wenn es stimmte. Der Alte – der schon uralt gewesen war, als Rolands Vater noch ein Junge war – besaß eine unheimliche Fähigkeit, das Wetter vorherzusagen.

„Ich verstehe immer noch nicht, warum du eine Künstlerin eingestellt hast“, sagte Arthur.

„Weil sie von allen Bewerbern die beste war.“

Arthur schien unbeeindruckt.

Roland warf dem Mann einen verärgerten Blick zu. „Ich kann verstehen, warum du glaubst, dass ein Mann ein besserer Faustkämpfer oder Landarbeiter ist als eine Frau, aber für die Malerei braucht man keine überragenden Muskeln, Arthur. Du glaubst doch wohl nicht, dass Männer von Natur aus bessere Künstler sind als Frauen?“

„Nein, natürlich nicht“, sagte Arthur. Roland fand nicht, dass er besonders überzeugend klang. „Es ist nur so, dass Frauen zu Hause sein sollten, um die Kinder zu erziehen und um sich um die Bedürfnisse ihres Mannes zu kümmern. Sie sollten nicht herumtollen und Arbeit annehmen, die Männer ausführen könnten.“

„Als wir eine Gouvernante eingestellt haben, hast du diesen Einwand nicht erhoben.“

Arthurs Mund blieb offen stehen, und einen Moment lang sah er aus wie ein verblüffter Karpfen. „Nein“, gab er schließlich zu. „Aber das ist … anders.“

„Warum?“

„Weil der Beruf der Gouvernante ein akzeptierter Beruf für eine Jungfer ist. Aber die Malerei – insbesondere die wissenschaftliche Illustration – ist zu Recht eine Männerdomäne. Stell dir nur einige der Dinge vor, die sie aus nächster Nähe betrachten wird.“ Arthurs Wangen erröteten und er beugte sich zu Roland. „Möglicherweise hat sie, ähm, die Geschlechtsteile von Tieren gesehen.“ Seine Augenbrauen drohten sich von seiner Stirn zu lösen, als er zischte: „Sie könnte sogar menschliche Anatomie studiert haben, Crewe!“

Roland lachte.

„Oh, du würdest das amüsant finden“, sagte Arthur angewidert. „Aber allein die Tatsache, dass eine Frau sich anmaßt, eine solche Tätigkeit auszuüben, zeugt von einer beklagenswerten Unabhängigkeit, die sich für eine Frau nicht gehört.“ Er hielt inne, holte tief Luft und sagte dann: „Ganz zu schweigen davon, dass eine unverheiratete Frau in einem Junggesellenhaushalt unerwünschte Komplikationen mit sich bringt.“

Es amüsierte Roland, wie vorsichtig Arthur um das Thema der Frauen herumschlich, die eine beklagenswerte Unabhängigkeit an den Tag legten. Rolands verstorbene Frau Jane war der Inbegriff beklagenswerter Unabhängigkeit gewesen. Zumindest für Arthur.

Roland hatte die Fähigkeit seiner Frau geschätzt, sich in dem von Männern dominierten Bereich der Botanik zu behaupten. Und er hatte auch die Tatsache respektiert, dass sie darauf bestanden hatte, ihn auf all seinen Expeditionen zu begleiten, wie gefährlich sie auch waren.

Jane war nicht nur eine verdammt gute Botanikerin gewesen, sondern auch eine der schönsten, offenkundig sexuellen Frauen, die Roland je getroffen hatte. Unnötig zu sagen, dass Jane und Arthur sich auf den ersten Blick gehasst hatten.

Roland musste Arthur jedoch insofern Recht geben, als er davon sprach, dass Frauen unerwünschte Komplikationen in einer Gruppe verursachten, die ansonsten nur aus Männern bestand.

Wäre Jane sanftmütig und mild gewesen, wäre ihr Aussehen vielleicht kein Problem gewesen. Aber neben ihrer außergewöhnlichen Schönheit hatte sie auch ein unbezähmbares Temperament gehabt. Und sie hatte vor Wildheit nur so gestrotzt. Jane hatte die sexuelle Spannung, die ihre Anwesenheit auf Rolands Expeditionen auslöste, geliebt. Ja, sie hatte sogar noch dazu beigetragen und mit mehr als nur ein paar Männern geschlafen. Ein Verhalten, das Arthur auf der einzigen Reise, die er mit ihnen unternommen hatte – Janes letzter –, fast in den Wahnsinn getrieben hatte.

Es war Janes Untreue gewesen, die wahrscheinlich – zumindest indirekt – zu ihrem Tod auf ihrer Reise nach Las Floridas geführt hatte. Hätte sie in jener Nacht nicht einen der Gepäckträger gevögelt, hätte sie vielleicht die Chance gehabt, den Panther zu erschießen, der sowohl sie als auch ihren Liebhaber getötet hatte.

Beim Versuch, seine Frau zu retten, hatte die Wildkatze Roland angegriffen. Auf einem Auge blind und übersät mit schrecklichen Narben war er davongekommen. Seinen dominanten Arm konnte er jedoch nicht mehr voll belasten.

Sein Aussehen war ihm völlig egal. Es war sogar ganz gut, dass die heiratswilligen Mütter und ihre Töchter sein vernarbtes, einäugiges Gesicht hässlich fanden. Aber seine glorreiche Schlampe von einer Frau vermisste er fürchterlich. Roland hatte Jane nie geliebt – und sie ihn auch nicht –, aber sie war jahrelang seine engste Freundin und Vertraute gewesen.

Es war keine perfekte Ehe gewesen, nicht einmal eine sehr gute, aber Roland war der Typ Mann, der niemals hätte heiraten dürfen. Und er hatte gewiss nicht die Absicht, dies jemals wieder zu tun. Nicht, nachdem seine erste Frau mit ihrem Liebhaber durchgebrannt war und seine zweite mit einem anderen Mann in ihrem Bett gestorben war. Oder besser gesagt, in ihrem Zelt.

Roland machte keiner von beiden einen Vorwurf. Er hatte die arme Rebecca, seine erste Frau, zugunsten seiner Studien vernachlässigt und mit Jane hatte er sich pausenlos gestritten und bekämpft. Die einzigen Momente, in denen er und Jane sich nicht gestritten hatten, waren die, in denen sie arbeiteten oder sich dem Koitus nach dem Streit überließen.

Die Ehe war einfach nicht das Richtige für ihn – für seine Frauen war sie die Hölle gewesen – und er hatte einen schrecklichen Ehemann abgegeben.

„Es tut mir leid.“ Arthurs gedämpfte Stimme unterbrach Rolands Gedanken. „Ich wollte dich nicht an Jane erinnern. Ich weiß, dass du –“

„Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest“, sagte Roland und verachtete den sanften, mitleidigen Blick, den sein Cousin immer dann aufsetzte, wenn jemand seine tote Frau erwähnte. „Allerdings sehe ich keinen Zusammenhang zwischen meiner toten Frau und der Künstlerin, die ich engagiert habe. Eine Frau auf einer Expedition mit fünfzig Männern ist eine Sache. Eine Frau auf einer Insel, auf der mindestens die Hälfte der Bevölkerung weiblich ist, ist eine ganz andere.“

Arthur seufzte. „Ja, ich nehme an, das stimmt.“

Wieder wechselte Roland das Thema. „Glaubst du, dass du Miss Hatchet überreden kannst, länger als einen Monat zu bleiben?“ Er schüttelte den Kopf und schnaubte: „Hatchet! Was für ein unglücklicher Name. Vor allem, wenn sie wie ein Raubvogel aussieht und eine entsprechende Persönlichkeit hat.“

„Das ist nicht sehr freundlich, Crewe.“ Arthur warf ihm einen tadelnden Blick zu, der Roland daran erinnerte, dass Arthur Miss Hatchet eingestellt hatte und häufig ein Loblied auf die Frau sang.

„Ja, du hast recht – das war nicht nett“, gab er zu. „Meinst du, du könntest sie zum Bleiben überreden?“

Arthur kaute auf seiner Lippe, was ihn wie einen nachdenklichen Engel aussehen ließ. Alles, was ihm noch fehlte, waren Flügel und eine Harfe, um das Bild zu vervollständigen. „Vielleicht kann ich sie überreden, wenn Celsa sich benehmen kann –“

„Mit anderen Worten lautet die Antwort also nein.“

Arthur seufzte. „Wahrscheinlich nicht. Celsa scheint aus unerklärlichen Gründen eine besondere Abneigung gegen die arme Frau entwickelt zu haben.“

Die Abneigung gegenüber der prüden, scheinheiligen Gouvernante war ein Thema, bei dem sich Roland und seine Tochter einig waren.

Aber nur weil er Miss Hatchet nicht mochte, hieß das aber dennoch nicht, dass er es guthieß, sie zu quälen. Celsa musste lernen, dass es inakzeptabel war, grausam zu Menschen zu sein, die sich nicht wehren konnten – wie die eigenen Angestellten.

„Möchtest du, dass ich mich auf die Suche nach einer neuen Gouvernante mache?“, fragte Arthur.

Roland begann sich zu fragen, ob die Gouvernanten selbst eine Mitschuld an den Schwierigkeiten mit Celsa tragen könnten. Er hatte es seinem Cousin überlassen, die Frauen einzustellen. Sie alle waren starr, humorlos und selbstgerecht. Zuerst hatte Roland angenommen, dass das die Natur von Gouvernanten sei – Kreaturen, von denen er bis dahin nichts gewusst hatte –, aber jetzt vermutete er, dass Arthur Frauen engagiert hatte, die dessen eigene Überzeugungen widerspiegelten.

„Vielleicht spreche ich dieses Mal selbst mit ein paar Kandidatinnen“, sagte er.

Arthurs Gesichtsausdruck verhärtete sich und er plusterte sich vor Empörung auf. „Wenn du mir die Entscheidung nicht zutraust, dann kannst du gerne –“

„Ich vertraue deinem Urteil“, log Roland. „Aber ich ziehe auch andere Lösungen als eine weitere Gouvernante in Betracht.“

„Zum Beispiel?“

„Sie auf ein Internat zu schicken.“

„Sie ist erst vierzehn!“

„Sie wird bald fünfzehn.“

„Das ist zu jung.“

„Mein Vater hat uns weggeschickt, als ich neun war und du elf“, erinnerte er seinen Cousin.

„Ja. Und es war die Hölle. Ohne dich, meinen Beschützer, wäre es noch schlimmer gewesen. Die arme Celsa wird niemanden haben.“

Es stimmte, dass Arthur in Eton eine furchtbare Zeit gehabt hatte. Er war groß – fast so groß wie Roland –, aber dünn und so hübsch, dass er unerbittlich gehänselt worden war.

Roland, der sich als Junge wie ein Rüpel benommen hatte – und manche würden sagen, dass er das immer noch tat –, hatte seinen zurückhaltenden Cousin beschützt, wann immer er konnte. Aber es hatte auch Zeiten gegeben, in denen Roland nicht da gewesen war, um ihm zu Hilfe zu eilen.

„Vielleicht sind Mädchen nicht so bösartig wie Jungen“, sagte Roland.

Arthur warf ihm einen ungläubigen Blick zu.

Roland lachte und hob die Hände. „Ja, du hast Recht: Das war dumm von mir.“ Zumal sie gerade über seine tote Frau Jane gesprochen hatten, die doppelt so bösartig sein konnte wie jeder Mann, den er je getroffen hatte.

„Celsa braucht wenigstens ein paar Jahre, ähm, Feinschliff, bevor sie in die Gesellschaft eingeführt wird“, betonte Roland. „Ich halte ein Internat für eine ausgezeichnete Idee.“

„Ein Jahr sollte ausreichen. Das heißt, du musst sie nicht fortschicken, bevor sie siebzehn ist.“

Roland war amüsiert über den Beschützerinstinkt, den sein Cousin seiner Tochter entgegenbrachte. Er bezweifelte stark, dass Celsa eine Außenseiterin wäre, wenn man sie in eine Internatsschule schickte. Es war viel wahrscheinlicher, dass sie an der Spitze der Rangordnung landen und anderen das Leben schwer machen würde.

Arthur deutete auf den Artikel, an dem Roland gearbeitet hatte, bevor er unterbrochen worden war. „Wie geht es damit voran?“, fragte er. Offensichtlich wollte er das Thema, Celsa ins Internat zu schicken, hinter sich lassen.

Roland hielt seine linke Hand hoch, um das Zittern seines verletzten Arms zu zeigen, der zwar noch funktionierte, aber sehr schwach war. „Ich muss häufig Pausen machen, um meine Hand zu schonen. Außerdem ist meine Handschrift schlechter als je zuvor; du wirst mit deiner ruhigen Hand alles nochmal neu schreiben müssen.“

„Sie zittert viel weniger als noch vor einem Jahr“, sagte Arthur, der Optimist in Person.

„Ja, aber meine Hand ermüdet schnell und das Zittern wird schlimmer, je länger ich sie benutze.“ Er bewegte seine Finger und starrte auf die schwarzen Narben auf seinem Handrücken – Narben, die seinen ganzen Arm überzogen. „Es war reines Wunschdenken zu glauben, dass ich bei einer der Zeichnungen helfen könnte. Ich vermute, dass ich nie so viel Kontrolle über meine Finger haben werde, wie sie zum Malen oder auch nur zum Skizzieren notwendig ist. Miss Burton wird den größten Teil der Arbeit leisten müssen.“

„Und du glaubst, dass sie dieser Aufgabe gewachsen ist?“

„Das hoffe ich doch“, sagte Roland, räusperte sich, wandte sich den Seiten auf seinem Schreibtisch zu und nahm seinen Federkiel zur Hand.

„Du willst dich wieder an die Arbeit machen“, sagte Arthur und erhob sich.

Roland leugnete es nicht.

„Wir sehen uns beim Abendessen“, sagte Arthur.

Aber Roland hörte schon nicht mehr zu.

Kapitel 2

Lady Aurelia Bellamy saß in der Kaffeestube des Gasthauses Lachende Henne und starrte aus dem Fenster auf ihr zukünftiges Zuhause.

Selbst aus drei Kilometer Entfernung beherrschte Castle Crewe den Horizont, da es auf dem höchsten Punkt der Isle of Crewe lag.

Im Reiseführer, den Aurelia konsultiert hatte, stand, dass die Festung seit über siebenhundert Jahren Sitz der Lairds of Crewe war. Es war eine imposante Festung, die durch ihre schwarzen Mauern noch abschreckender wirkte. Die schwarze Färbung wurde durch eine besondere Flechtenart verursacht. Der Legende nach hatte das Bauwerk mehrere Wellen von Eindringlingen derart abgeschreckt, dass sie es sich anders überlegten und die Insel verschonten. So konnte sich die Flechte weiter ausbreiten, auch wenn sie das Gestein langsam zerstörte. Doch bei meterdicken Mauern wog der Effekt der Einschüchterung die allmähliche Verwitterung durchaus auf.

Und genau dort würde sie das nächste Jahr verbringen.

Beim berüchtigten Earl of Crewe.

Seit fünf Jahren fertigte sie für Wissenschaftler in ganz Großbritannien Illustrationen an. Diese Reise auf die Isle of Crewe war jedoch das erste Mal, dass sie zum Anwesen eines Kunden fuhr, um die Arbeit zu erledigen. In der Vergangenheit hatten ihre Kunden sie nämlich eher für Albert Burton als für Aurelia Bellamy gehalten. Dies war also auch ihr erster Auftrag unter ihrem richtigen Namen. Na ja, fast unter ihrem richtigen Namen. Um ihrer Familie jegliche Schande zu ersparen, hatte sie dem Earl of Crewe den fiktiven Nachnamen Burton genannt.

Nicht, dass die Annahme eines solchen Decknamens ausgereicht hätte, um ihre Mutter zu besänftigen.

Wenn du jetzt gehst, um für den Earl of Crewe zu arbeiten, wirst du keine Mutter, keine Familie und kein Zuhause mehr haben, Aurelia. Ich werde den Leuten erzählen, dass du gestorben bist und ich nur fünf Kinder habe.

Selbst eine Woche nachdem ihre Mutter sie ihr entgegengeschleudert hatte, hallten die Worte der Countess of Addiscombe noch immer in Aurelias Kopf wider.

Die Countess nie warmherzig oder liebevoll gewesen, dennoch hätte Aurelia nicht gedacht, dass sie kalt genug war, eines ihrer Kinder zu verstoßen, nur weil es versuchte, seinen Lebensunterhalt zu verdienen – vor allem, wenn man bedachte, dass jeder in ihrer Familie, die Countess eingeschlossen, dank des rücksichtslosen Glücksspiels des Earls bald ohne Heim und Herd dastehen würde.

Sie seufzte, schüttelte den unangenehmen Gedanken ab, nahm einen Schluck Tee und wandte ihre Gedanken dem Auftrag zu, der auf sie wartete.

Lord Crewe hatte sie beauftragt, Flora und Fauna von Las Floridas zu malen, der spanischen Kolonie, die an die englischen Siedlungen in Amerika grenzte. Er war der erste Engländer, der das Inland des spanischen Besitztums erkundet hatte, und es hieß, dass die Musterstücke, die er mitgebracht hatte, unvergleichlich waren.

Er verkaufte Vorbestellungen für ein zweibändiges Werk, das im folgenden Jahr veröffentlicht werden sollte, und Aurelias Zeichnungen sollten die Grundlage für viele der abgedruckten Bilder sein. Es war wirklich die Chance ihres Lebens. Sie hatte sechs lange, höllische Tage in einer Postkutsche zugebracht, um hierher zu gelangen, und doch schienen die letzten drei Kilometer – vom Dorf Balcrewe zur Isle of Crewe – aufgrund des Wetters die schwierigsten zu sein.

„Miss Burton?“

Sie drehte sich um. Mr Anderson, der Gastwirt, lächelte sie an.

„Haben Sie jemanden gefunden, der mich hinüberrudern kann?“, fragte sie und legte ihre Serviette neben ihre leere Teetasse.

„Mein Sohn wird Sie hinüberbringen, aber die Wogen sind noch zu rau“, sagte er und deutete zum Fenster.

Aurelia nahm an, dass er die Schaumkronen auf dem Wasser zwischen dem Festland und der Insel meinte.

„Wie lange muss ich noch warten?“, fragte sie.

„Wenn es schlimmer wird, vielleicht bis morgen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Lord Crewe hat mich bereits angewiesen, ein Zimmer für Sie bereitzuhalten.“

Aurelia verdaute diese unwillkommene Information.

„Wollen Sie auf Ihr Zimmer gehen und sich ein wenig ausruhen?“, bot Mr Anderson an.

Nach sechs Tagen eingepfercht in einer Kutsche, war das Letzte, was sie wollte, drinnen zu bleiben.

„Ich glaube, ich werde einen Spaziergang machen – nicht zu weit, damit ich zur Stelle bin, wenn die Überfahrt möglich wird“, versicherte sie ihm.

„Es gibt einen Weg, der direkt nach Norden zu Andrew’s Cove führt. Der ist richtig schön.“ Mr Anderson blickte wieder aus dem Fenster. „Ich schätze, der Wind könnte abflauen. Kommen Sie in einer Stunde wieder, dann werden wir sehen.“

Während Aurelia in Richtung des von ihm angedeuteten Weges schritt, dachte sie darüber nach, was sie beim Gespräch mit Mr Anderson und seiner Frau über Lord Crewe erfahren hatte, nachdem sie den Tee serviert hatten.

Mrs Anderson war sichtlich erfreut gewesen, die erste Person in Balcrewe zu sein, die Aurelias Bekanntschaft machte. Sie hatte ihr versichert, dass das ganze Dorf gespannt war, die Künstler–Lady zu sehen.

Obwohl keiner der Andersons offene Kritik am Earl geübt hatte – dem, wie sie sagten, nicht nur die Isle of Crewe, sondern auch der größte Teil von Balcrewe gehörte, einschließlich des Grundstücks, auf dem sich ihr Gasthof befand –, hatten sie nicht gezögert, skandalöse Leckerbissen über ihren Laird zu verbreiten.

Sie hatten zahlreiche, nicht besonders subtile Anspielungen auf die Beliebtheit des Earls bei den Witwen der Umgebung gemacht und Beobachtungen darüber weitergegeben, dass sich Lord Crewes markante Gesichtszüge in mehr als nur ein paar Kindern der Gegend widerspiegelten, sowohl den ehelichen als auch den außerehelichen.

Und dann waren sie zu den Ehefrauen des Earls übergegangen …

„Wohlgemerkt, der Herr ist nicht der Einzige, der Unfug macht“, hatte Mrs Anderson gemurmelt.

„Nein, in der Tat“, hatte Mr Anderson kichernd hinzugefügt.

„Wie meinen Sie das?“, hatte Aurelia zur Freude ihrer Gastgeber gefragt.

„Die erste Lady Crewe ist dem Herrn weniger als zwei Jahre nach ihrer Hochzeit davongelaufen“, hatte Mrs Anderson mit leiser Stimme verraten, obwohl Aurelia zu diesem Zeitpunkt der einzige Gast in der Gaststube gewesen war.

„Aber, aber, das wissen wir doch gar nicht, Mutter“, hatte ihr Mann geschimpft und dann hinzugefügt: „Das Boot der Countess wurde eine oder zwei Wochen nach dem Verschwinden Ihrer Ladyschaft in Crewe angespült. Niemand weiß, wohin sie fahren wollte oder ob sie jemals dort angekommen ist.“ Er zuckte mit den Schultern. „Könnte sein, dass Davy Jones sie erwischt hat.“

„Sie meinen, sie ist gestorben?“, hatte Aurelia gefragt.

Mr Anderson hatte sie nur geheimnisvoll angeschaut.

Stattdessen hatte seine Frau geantwortet: „Aber viele sagen, sie sei mit ihrem Liebhaber durchgebrannt.“

„Aye, aye, so war es“, hatte der Gastwirt gemurmelt, doch dann hatte sich sein Blick geschärft. „Und was die zweite Lady Crewe angeht …“

Er und seine Frau hatten beide gekichert. Der Ausdruck in ihren Augen war so eifrig, dass Aurelia einen kurzen Anflug von Scham verspürte, weil sie ihr Geschwätz unterstützt hatte.

„Eine richtige Schönheit war die zweite Ladyschaft.“ Bei der Erinnerung waren die Augen des Gastwirts ganz glasig geworden.

Mrs Anderson hatte mit den Augen gerollt, sich dicht an Aurelia gelehnt und gezischt: „Eine Hure, das war sie.“

Mr Anderson gluckste. „Ja, und eine lustige Verfolgungsjagd hat sie ihm geliefert.“

„Eine lustige Verfolgungsjagd, die sie sich gegenseitig lieferten“, korrigierte seine Frau.

Aurelia hatte dem verschmitzten Blick in den Augen der beiden Andersons entnommen, dass sie glaubten, die Berufsbezeichnung Künstlerin sei nur ein anderer Euphemismus für Geliebte. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass der geschwätzige Gastwirt und seine Frau bald Klatsch und Tratsch über Aurelia verbreiten würden – wenn sie es nicht schon taten.

Sie hätte den Andersons sagen können, dass sie nicht die Absicht hatte, Lord Crewes neueste Eroberung zu werden. Sie war zwar nicht dagegen, dass Frauen sich auf amouröse Liaisons einließen, wenn sie es wollten, aber sie lehnte es ab, sich auf eine amouröse Liaison mit einem Arbeitgeber einzulassen, der in der wissenschaftlichen Gemeinschaft so einflussreich war, dass er ihren Ruf mit nur wenigen Worten zerstören konnte.

Zu viel hing vom Erfolg dieser Anstellung ab, als dass sie ihn aufs Spiel setzen wollte. Sie hoffte, dass Lord Crewe sie seinen Mitarbeitern bei der Royal Society empfehlen würde, wenn er –

„Gib sie zurück!“

Aurelia wirbelte herum, als sie den verzweifelten Schrei der Frau hörte, der so laut war, dass man ihn über Wind und Brandung hinweg hören konnte.

Eine Gruppe von fünf jungen Männern stand vor einer Spalte in den Klippen. Einer von ihnen schwenkte spöttisch etwas – eine Tasche – über seinem Kopf, während seine Kameraden lachten und spotteten.

„Gib sie zurück oder ich werde es melden.“ Es war dieselbe Frauenstimme wie zuvor, aber Aurelia konnte immer noch nicht erkennen, zu wem sie gehörte.

„Komm und hol sie dir, wenn du willst, Verräterin!“, schrie einer der Männer zurück.

„Aye! Melde uns, so viel du willst, du Bonnie–liebendes Flittchen!“, rief ein anderer.

Und dann warf einer aus der Bande einen Stein.

Ein schmerzerfüllter weiblicher Schrei durchfuhr die Luft und Aurelias Füße waren in Bewegung, bevor ihr Verstand sich überhaupt entschieden hatte.

„Ihr da!“, schrie sie, bevor sie die Raufbolde erreichte. „Was macht ihr da?“

Das Erstaunen auf den Gesichtern der Jungen – denn das waren sie, der Älteste wahrscheinlich nicht älter als sechzehn – wäre komisch erschienen, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass Jungen in einer Bande bösartiger sein konnten als ein Rudel Wölfe.

Der Anführer straffte die Schultern und stolzierte auf Aurelia zu, während sie auf die Bande zustürmte. Er hielt eine Ledertasche in der Hand, wie sie ein Bote benutzen würde, eine, die man sich quer über den Oberkörper schlang.

„Was hast du da in der Hand?“, fragte sie.

„Warum sollte ich Ihnen das sagen?“, fragte er mürrisch.

„Die Tasche gehört mir!“ Eine junge Frau tauchte aus einer tiefen Felsspalte auf. Ihre Kleidung war zwar von guter Qualität, war aber an mehreren Stellen zerrissen und ihr langes, fast schwarzes Haar hatte sich gelöst. Blut lief ihr über eine Wange.

„Sie sind verletzt“, sagte Aurelia. „Was ist passiert?“

Aber die ganze Aufmerksamkeit der Frau galt dem Jungen mit dem Beutel. „Gib mir meine Tasche zurück!“

Die Jungen, die zunächst zurückgewichen waren, als Aurelia auf sie zugelaufen kam, drängten sich nun näher an sie heran, wobei ihnen ihr Anführer Mut machte.

„Du willst sie?“, spottete der Anführer. „Komm und hol sie dir.“

Die anderen kicherten, hässliche Begierde brannte in ihren Augen.

Aurelia streckte die Hand aus, um den Oberarm der Frau zu ergreifen. „Kommen Sie mit mir“, sagte sie mit tiefer, fester Stimme.

„Ich gehe nirgendwo hin ohne meine –“

Ein Stein flog und verfehlte nur knapp Aurelias Schulter.

„Was um alles in der Welt glaubt ihr, was ihr da tut?“, schrie sie und die Angst ließ ihre Stimme schrill werden.

Sie ignorierten sie, ihre hungrigen Augen waren auf die andere Frau gerichtet, während sich zwei von ihnen bückten, um weitere Steine aufzuheben.

„Wir haben keinen Streit mit Ihnen“, sagte der Anführer zu Aurelia, ohne den Blick von seiner Beute zu nehmen. „Wir wollen die Verräterin.“

Die anderen stimmten mit ein:

„Aye, die Verräterin!“

„Sie wird bekommen, was sie verdient!“

„Wir werden nicht ohne sie gehen!“

„Verschwinden Sie, dann passiert Ihnen nichts“, sagte der Anführer und pirschte sich an die andere Frau heran, seine Schergen ihm auf den Fersen.

Aurelia blieb standhaft, auch wenn ihr die Knie zitterten. „Ich werde dich melden. Ihr werdet alle ins –“

„Niemand hier schert sich um Kreaturen wie die! Und jetzt gehen Sie weg oder –“

„Was in aller Welt ist hier los?“, fragte eine tiefe, männliche Stimme.

Die Jungen drehten sich um. Anstatt zu spötteln oder zu spotten, zogen sie sofort ihre Hüte.

„Wir tun gar nichts, Sir Gideon“, sagte der Anführer und hörte augenblicklich auf, großzutun.

Ein Pferd und sein Reiter kamen in Sicht. Der Mann war elegant gekleidet und sein Reittier offensichtlich teuer. „Was habt ihr fünf hier zu suchen, Barry?“

„Sie haben diese junge Frau angegriffen“, warf Aurelia ein, bevor einer von ihnen antworten konnte.

Der Mann – Sir Gideon, wie sie annahm – wandte sich ihr zu, seine dunkelbraunen Augen stachen aus seinem blassen, gut aussehenden Gesicht hervor. Sein Blick flackerte zu der Frau neben Aurelia.

„Was ist passiert, Miss Clifford? Ihre Wange blutet.“

„Es geht mir gut, Sir Gideon.“

„Es geht ihr nicht gut“, wandte Aurelia ein. „Diese Rüpel haben sie mit Steinen beworfen und ihre Tasche gestohlen. Sie sollten für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden.“

Miss Clifford schüttelte den Kopf. „Ich will nur meine Tasche, und dann bin ich auch schon wieder weg.“

Sir Gideon wandte sich an Barry. „Ist das Miss Cliffords Tasche?“

Der Junge beäugte ihn mürrisch. „Aye.“

„Gebt sie ihr zurück.“

„Wir wollten sie nur nach Geheimnissen durchsuchen. Was ist, wenn sie Sachen an die Franzosen verkauft?“

Sir Gideon warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Du Dummkopf! Gib sie ihr zurück. Sofort.“

Der Junge runzelte die Stirn. „Hier hast du deine Tasche.“ Er schleuderte ihr die Tasche so heftig entgegen, dass die Frau zurückweichen musste, um nicht am Kopf getroffen zu werden.

Sir Gideons Kiefer spannte sich an. „Lord Crewe wird davon erfahren, Barry.“

Der Name Crewe schien bedrohlich in der Luft zu schweben und einige der Jungen begannen, sich davonzuschleichen.

„Wir haben es nicht böse gemeint“, jammerte Barry.

Sir Gideon ignorierte ihn. „Ihr alle – verschwindet hier.“

Die Jungen zerstreuten sich.

Aurelia wandte sich an die Frau, die in ihrer Tasche kramte: „Fehlt etwas?“

Miss Clifford stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Zum Glück nicht.“

„Sie sollten ins Gasthaus kommen, dort kann ich mich um die Wunde in Ihrem Gesicht kümmern“, sagte Aurelia.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe, Miss –“

„Burton.“

Die Augen der anderen Frau weiteten sich. „Oh. Sie sind Lord Crewes Künstlerin.“

„Das bin ich.“ Aurelia amüsierte sich darüber, dass jeder in der Grafschaft zu wissen schien, wer sie war.

„Es war sehr mutig von Ihnen, mir zu helfen.“ Sie lächelte, aber ihr Gesicht drückte Müdigkeit aus.

„Ich konnte kaum zulassen, dass –“

Miss Clifford lachte bitter auf. „Die meisten anderen Menschen hätten es getan.“ Sie wandte sich Sir Gideon zu, der abgestiegen war und sein Pferd näher heranführte. „Ich danke Ihnen, Sir Gideon. Mir kommt es so vor, als retteten Sie immerzu eine von uns.“

„Es tut mir schrecklich leid, dass Sie und Ihre Schwestern so viel Rettung nötig haben, seit Sie in unsere Gegend gezogen sind. Ich muss mich für die Hässlichkeit entschuldigen, mit der Sie alle konfrontiert wurden.“

Miss Clifford schenkte ihm ein müdes Lächeln. „Meine Geschwister sind bereits nach London abgereist, also werde in absehbarer Zeit nur ich gerettet werden müssen.“ Sie nickte Aurelia und Sir Gideon zu. „Ich danke Ihnen beiden. Ich fürchte, ich muss wieder an die Arbeit gehen.“ Sie neigte den Kopf und eilte dann aus Aurelias Blickfeld.

Aurelia wandte sich an Sir Gideon. „Was um alles in der Welt hatte das denn zu bedeuten?“

„Miss Clifford ist eine der Töchter von Randolph de Clyfford, dem letzten Earl of Daventry.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Aurelia den Namen zuordnen konnte. „Du liebe Güte! Derjenige, der –“

„Ja, derjenige, der des Verrats angeklagt war und sich lieber das Leben nahm, als sich seiner Strafe zu stellen“, beendete Sir Gideon den Satz für sie voller Abscheu.

„Ich dachte, Daventrys Landsitz sei in Lincolnshire?“

„Als er starb, fiel der gesamte Besitz an die Krone zurück. Seine Töchter änderten die Schreibweise ihres Nachnamens, um sich von ihrem Vater zu distanzieren, und kamen den ganzen Weg hierher, um bei Miss Pomeroy – ihrer früheren Gouvernante – Unterschlupf zu suchen. Vor ein paar Monaten wurde diese jedoch plötzlich krank und zog fort zu ihrer Schwester, sodass sie jetzt allein sind. Es scheint, dass nur Miss Larissa Clifford geblieben ist. Ich wage zu behaupten, dass sie alle weggegangen sind, um irgendeine Arbeit zu finden, die armen Dinger. Sie hatten es wirklich schwer in Balcrewe, das muss ich zu meiner Schande gestehen.“

Die Geschichte über den verräterischen Earl of Daventry stand seit Monaten auf den Titelseiten aller Zeitungen. Lord Daventry hatte Geheimnisse an die Franzosen verkauft und die Beweise gegen ihn waren erdrückend gewesen. Seine Frau war an einer Überdosis Laudanum gestorben, wenige Tage bevor ihr Mann sich in seiner Gefängniszelle erhängt hatte.

Die Zeitungen berichteten viel über Daventrys fünf Töchter, die mit kaum mehr als den Kleidern, die sie am Leib trugen, aus ihrem Elternhaus vertrieben worden waren.

Die furchtbare Situation der Mädchen rückte Aurelias Leben in ein neues Licht. Ihr Vater war ein unverbesserlicher Spieler, der an den Spieltischen alles verloren hatte, aber wenigstens war er kein Verräter an König und Land.

„Sie haben mein Mitgefühl“, sagte Aurelia.

„Ja, die Sünden des Vaters werden in dieser Situation tatsächlich auf die Kinder übertragen.“ Er schüttelte sich. „Übrigens, ich bin Gideon Talbot.“ Er machte eine anmutige Verbeugung.

„Aurelia Burton“, sagte sie abwesend und immer noch verunsichert.

„Was Sie getan haben, war sehr mutig – aber töricht“, tadelte er sanft. „Wenn das Blut einer Bande in Wallung gerät, kann die Situation schnell in Gewalt umschlagen.“

„Ich weiß, dass Sie recht haben, aber ich konnte einfach nicht danebenstehen und zulassen, dass sie ihr wehtun.“

„Ich werde Lord Crewe den Vorfall melden. Ich sage es nur ungern, aber ich bin froh, dass die Frauen gehen. Selbst wenn diese Jungen bestraft werden, fürchte ich, dass es nicht das letzte Mal war, dass ihnen etwas zustößt.“

Aurelia wusste, dass er Recht hatte. Wären die Clifford–Frauen nach Little Sissingdon gezogen, dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, wären die Leute dort den Kindern eines berüchtigten Verräters genauso bösartig begegnet. Schließlich kannte jeder mindestens eine Person, die während des endlosen Krieges mit den Franzosen gefallen war.

„Sie waren zu Fuß unterwegs, als Sie auf die Rüpel gestoßen sind?“, fragte Sir Gideon.

„Ja. Ich warte auf Mr Andersons Sohn, der mich nach Crewe rudern soll. Er sagte, das Wasser sei zu rau, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sein Sohn im Moment einfach nicht verfügbar ist.“

Sir Gideon gluckste. „Ja, der arme Anderson hat einen höllischen Ärger mit dem Jungen.“ Er warf einen Blick auf das Meer. „Das Wasser ist ein wenig unruhig, aber es ist ungefährlich, es jetzt zu überqueren.“ Er hielt inne, lächelte sie an und sagte dann: „Ich weiß, das klingt furchtbar anmaßend, aber dürfte ich Sie nach Crewe rudern?“

„Oh.“ Aurelia war überrascht von dem Angebot. „Das ist sehr freundlich, aber ich möchte mich nicht aufdrängen.“

„Ich muss mit Crewe über die Situation mit Miss Clifford sprechen, also werde ich sowieso hinüberrudern müssen.“

Aurelia lächelte. „Dann nehme ich Ihr großzügiges Angebot an, Sir Gideon. Äh, wann möchten Sie denn hinüberfahren?“

„Warum gehen wir nicht gleich zur Anlegestelle? Ich habe dort ein Ruderboot.“

Aurelia nickte und sie schritten nebeneinander her, wobei Sir Gideon sein Pferd neben sich führte.

Nach einer Weile blickte er sie an. „Haben Sie Lord Crewe kennengelernt, als Sie sich um die Stelle beworben haben?“

„Nein, das wurde alles auf dem Postweg geklärt.“

„Ah.“

„Ah?“, wiederholte Aurelia.

„Er ist eine einflussreiche Person. Die Insel ist sein persönliches Lehnsgut. In geringerem Maße gilt das auch für Balcrewe, denn ihm gehört der größte Teil des Landes, auf dem das Dorf liegt, und noch viel mehr. Aber auf dem Festland gibt es Magistrate und Friedensrichter und so weiter. Nicht so auf der Insel. Obwohl sie nur drei Kilometer entfernt ist, liegt sie in der Zeit Hunderte von Jahren zurück.“

Aurelia musste erst einmal verdauen, was er gesagt hatte. Es deckte sich weitgehend mit dem, was die Andersons mit ihrem Geschwätz angedeutet hatten.

„Ich will Sie nicht beunruhigen“, sagte er. „Ich will Sie nur darauf vorbereiten, dass Crewe etwas … anders ist.“

„Kennen Sie den Earl gut?“

„Wir sind bestenfalls Bekannte. Er ist zwölf Jahre älter als ich und hat nur sehr wenig Zeit in der Gegend verbracht, bis er vor zwei Jahren hierher kam, nachdem er in Amerika verletzt wurde.“

Aurelia hatte von Lord Crewes Verletzung gelesen – das ganze Land hatte davon erfahren – und wusste, dass seine Frau zur gleichen Zeit getötet worden war, beide Opfer eines Pantherangriffs.

„Sie werden mit Lord Crewe über den Angriff auf Miss Clifford sprechen, aber haben Sie nicht gesagt, dass es hier auf dem Festland Behörden gibt?“

„Die gibt es. Aber der Earl ist der Gutsherr für die meisten Leute in dieser Gegend, also möchte ich, dass er weiß, was auf seinem Grund vor sich geht.“

„Was meinen Sie, was er tun wird?“

Sir Gideons Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. „Niemand kann je erraten, was der Earl in einer bestimmten Situation tun wird. Das Einzige, worauf man vertrauen kann, ist, dass er genau das tun wird, was er will.“

Je mehr Aurelia über ihren neuen Arbeitgeber erfuhr, desto mehr fragte sie sich, worauf sie sich da eingelassen hatte.

***

Roland hatte Arthurs Unterbrechung schon fast wieder vergessen und machte Fortschritte bei seinem Artikel, als es erneut an seiner Tür klopfte.

Er warf seine Schreibfeder hin und bespritzte das verstreute Pergament mit Tinte. „Verfluchter Mist!“, grummelte er und tupfte die Spritzer hastig mit seinem Taschentuch auf. „Was in Gottes Namen hat sie jetzt getan, Arthur?“, rief er.

Die Tür öffnete sich und Beekman, sein Butler, trat ein. „Ich bitte um Verzeihung, Sir.“

„Oh. Sie sind es. Was wollen Sie?“

„Miss Burton ist eingetroffen, Mylord“, sagte Beekman, scheinbar immun gegen Rolands widerwärtige Laune.

Er warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass es später war, als er angenommen hatte. Heute würde er nicht mehr weiterarbeiten können. „Dann führen Sie sie herein, Beekman.“

„Sir Gideon ist bei ihr.“

Roland runzelte die Stirn. „Talbot? Warum zum Teufel ist er hier?“

„Er hat sie hergerudert, Mylord. Er bat darum, mit Ihnen sprechen zu dürfen.“

Er erwog, den Mann zu vertrösten, aber Sir Gideon Talbot konnte hartnäckig sein, also konnte er es auch gleich hinter sich bringen. „Ja, bringen Sie die beiden nach oben.“

„Soll ich Tee hochschicken lassen, Sir?“

Das Letzte, was Roland wollte, war, eine langweilige halbe Stunde bei Tee und Gebäck mit Sir Gideon Talbot zu verbringen. „Nicht jetzt. Warten Sie, bis ich Talbot heimgeschickt habe.“

„Sehr wohl, Sir“, sagte Beekman und zeigte sich nicht im Geringsten überrascht über die Unhöflichkeit seines Arbeitgebers.

Als er wieder allein war, nahm Roland seine Brille ab und ging zum Spiegel, der über dem Kamin stand, um sein Aussehen zu überprüfen. Er hatte keine Tintenflecke im Gesicht, aber sein überlanges Haar sah aus, als hätte ihm ein Kleinbauer winzige Heuhaufen auf den Kopf gemacht. Wenn er arbeitete, hatte er die Angewohnheit, sich mit den Fingern durch die Haare zu fahren und alles mit Tinte zu verschmieren.

Bei einer denkwürdigen Gelegenheit hatte er mit schwarzen Flecken an seinem Kinn und am Ende seiner großen Nase einen Vortrag vor der Royal Society gehalten. Selbst in einer Gruppe von Männern, die für ihre mangelnde Eleganz berüchtigt war, hatte dies für Erheiterung gesorgt.

Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür. Er wandte sich um und sah Gideon Talbot neben einer überaus hübschen jungen Frau stehen.

Einen Moment lang war Roland verblüfft. Er hatte nicht viel über seine neue Künstlerin nachgedacht, war aber davon ausgegangen, dass sie eine ältere Frau wäre. Diese Einschätzung beruhte auf der Qualität ihrer überragenden Illustrationen. Die Fähigkeit, ausgestopften Tieren oder Reptilien, die in Flaschen konserviert waren, Leben einzuhauchen, war eine schwierige Arbeit. Nur wenige waren dazu in der Lage.

Die Frau, die jetzt in der Tür stand, war nicht alt. Auch wenn sie ziemlich matronenhaft gekleidet war, konnte sie nicht älter als vierundzwanzig oder fünfundzwanzig sein. Ob sie glaubte, ihre Kleidung würde von ihren ausdrucksstarken haselnussbraunen Augen, ihren exquisiten Gesichtszügen und ihrer wohlgeformten Figur ablenken?

„Hallo, Crewe“, sagte Talbot in seiner sonnigen, heiteren Art und riss Roland aus seiner Starre.

Ohne seinen Blick von der Frau abzuwenden, zwang sich Roland zu einem Lächeln. „Guten Tag, Talbot. Willkommen in Crewe, Miss Burton.“

„Mylord.“ Sie machte einen anmutigen Knicks.

Schön und anmutig. Sie bräuchte diesen Eigenschaften jetzt nur noch sexuell bedenkenlos hinzuzufügen und Arthur würde der Schlag treffen.

„Sie fragen sich wahrscheinlich, wie ich zu dem Glück kam, Ihnen Ihre neueste Mitarbeiterin bringen zu dürfen“, sagte Talbot, als er und Miss Burton vor Rolands Schreibtisch Platz genommen hatten.

„Ja, das tue ich in der Tat.“ Es fiel ihm schwer, seinen Blick von Miss Burton abzuwenden, aber die Röte auf ihren Wangen verriet Roland, dass sein unverhohlenes Starren bemerkt worden war, also zwang er sich, sich Talbot zuzuwenden.

„Wussten Sie, wer mit Judith Pomeroy zusammenlebte?“, fragte Talbot.

Rolands Augenbrauen zogen sich bei dieser bizarren Überleitung zusammen. „Daventrys Töchter. Warum?“

„Ehemals Daventry“, korrigierte Talbot, als ob die ganze Nation nichts von der Ermordung des Adligen wüsste – etwas, das in den letzten fünfhundert Jahren nur eine Handvoll Mal vorgekommen war, soweit Roland bekannt war.

„Was ist damit?“, fragte er und ließ seinen Blick wieder zu Miss Burton gleiten.

Sie starrte auf den gut aussehenden Mann neben sich. Zweifellos bewunderte sie sein perfektes Profil. Er konnte es ihr nicht verübeln; es war nicht zu leugnen, dass der Baronet weitaus ansprechender aussah als Roland.

„Eine Gruppe junger Männer hat Miss Larissa Clifford heute Morgen belästigt. Glücklicherweise hat Miss Burton sie aufgehalten, bevor sie zu viel Schaden anrichten konnten.“

Roland riss die Augen auf – sowohl das funktionierende, als auch das unter der schwarzen Leder–Augenklappe verborgene.

„Haben Sie das wirklich getan, Miss Burton?“

„Ich habe nur ihren Übergriff unterbrochen“, erwiderte sie. „Sir Gideon war der wahre Held.“

Talbot murmelte etwas angemessen Bescheidenes und ließ seine weißen Zähne aufblitzen, die so perfekt waren wie der Rest von ihm.

Abwesend knabberte Roland an der abgebrochenen Ecke seines Schneidezahns, während er beobachtete, wie sich das hübsche Paar anlächelte. Warum fand er ihre gegenseitige Wertschätzung so verdammt nervig?

Als er genug von ihrem Paarungstanz hatte, fragte Roland: „Kennen Sie die Männer?“

Mit sichtlicher Anstrengung löste Talbot seinen Blick von Miss Burton, holte ein Stück Papier aus seiner Manteltasche und reichte es ihm.

Roland studierte die kurze Liste. Er erkannte die Nachnamen, aber nicht die Burschen selbst. Er blickte auf. „Ich werde mich morgen darum kümmern.“

„Es ist unwahrscheinlich, dass Miss Clifford fordern wird, etwas gegen die Bande zu unternehmen“, sagte Talbot.

„Das würde mich nicht wundern. Glücklicherweise ist eine Anzeige nicht die einzige Waffe in meinem Arsenal. Den Nachnamen nach zu urteilen, leben mindestens drei dieser Burschen in meinen Cottages. Ich werde mit ihren Vätern sprechen, ihnen meinen Unmut kundtun und ihnen erklären, dass dies zur Aufhebung ihrer Pachtverträge oder zu einer drastischen Erhöhung der Pacht führen könnte.“ Roland lächelte. „Ich wage zu behaupten, dass das etwas zur Förderung des guten Benehmens beitragen wird.“

Talbots Miene drückte leichte Missbilligung aus. Der gut aussehende Baronet war wie der weiße Ritter zu Rolands schwarzem Prinz. Sie kannten sich nicht besonders gut, aber Roland wusste, dass Sir Gideon von allen bewundert wurde.

Roland bezweifelte, dass es viele Menschen gab, die ihm selbst gegenüber gleichermaßen empfanden.

„War das alles, worüber Sie mit mir sprechen wollten? Oder gibt es noch etwas anderes?“

Talbot schien über Rolands offensichtliche Ablehnung verblüfft, aber er erholte sich schnell. „Nein, nein, das war alles. Oh, eigentlich gibt es doch noch etwas.“ Er wandte sich an Miss Burton. „Könnte ich die Skizze haben?“

Miss Burton sah Roland an.

Roland hob die Augenbrauen. „Ja?“

„Äh, ich habe eine Skizze von Sir Gideon angefertigt, während er mich nach Crewe ruderte, und ich möchte sie ihm schenken als Dankeschön dafür, dass er mich hergebracht hat. Dürfte ich etwas Pappe haben, um sie zu schützen? Damit sie nicht beschädigt wird.“

Roland starrte sie gerade lange genug an, um ihre Wangen herrlich zum Glühen zu bringen, dann neigte er den Kopf zur Nordwand. Unter dem Fenster gab es einen kleinen Arbeitsbereich. „In diesen Regalen werden Sie finden, was Sie benötigen.“

Sie stand auf. Roland genoss den Anblick ihrer Rückseite, der genauso reizvoll war, wie der von vorne.

Er hörte ein Räuspern und drehte sich um. Sir Gideon musterte ihn mit einem strengen Blick.

Roland war eher amüsiert als verärgert, dass der Mann die Frechheit besaß, ihn unter seinem eigenen Dach zu tdeln.

Miss Burton kam eilig mit zwei steifen Stücken Karton zurück. Sie kramte in ihrer Umhängetasche und holte ein Skizzenbuch heraus. Ihre Finger zitterten, als sie darin blätterte und dann eine Seite herausriss.

„Lassen Sie mich sehen“, sagte Roland.

Miss Burton blinzelte angesichts seines herrischen Tons, reichte ihm aber die Skizze.

Die Frau hatte Talbots Wesen, das Meer und die Miniaturansammlung von Gebäuden in der Ferne, die unbestreitbar Balcrewe war, meisterhaft eingefangen. All das hatte sie mit erschreckend wenigen Strichen gemacht. Sie war in der Tat eine sehr begabte Künstlerin.

Roland blickte auf und gab ihr die Skizze zurück. „Wie viel berechnen Sie ihm dafür?“

Ihr fiel die Kinnlade herunter und Roland lachte. „Das war nur ein Scherz. Talbot kann mich direkt bezahlen, da Sie ja derzeit bei mir angestellt sind“, fügte er scherzhaft hinzu.

Keiner lachte.

Miss Burton verpackte die Skizze geschickt und gab sie Talbot.

„Danke“, sagte Sir Gideon mit einem, für Rolands Geschmack, viel zu freundlichen Lächeln.

Roland räusperte sich und unterbrach damit den Moment der Vertrautheit. „Danke nochmals, Talbot.“

Talbot schenkte Roland ein schiefes Lächeln, bevor er zu der Frau sagte: „Es war mir wirklich ein Vergnügen, Miss Burton. Ich hoffe, Sie werden Talbot House einen Besuch abstatten, wenn Sie eine freie Minute haben.“

„Das werde ich sicherlich.“

Talbot wandte sich an Roland. „Bemühen Sie sich nicht, Crewe“, sagte er ironisch, denn Roland hatte keine Anstalten gemacht, aufzustehen und hatte auch nicht die Absicht, dies zu tun. „Ich kenne den Weg nach draußen.“

Gut so. Dann geh!

Roland wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, bevor er sich an Miss Burton wandte. „Endlich allein.“