Prolog
Ein letzter Tritt
London, Shoreditch, Winter 1822
Lady Molly Batton, verwitwete Gattin eines stets klammen Baronets, sah sich um.
Alles, was Gene Batton ihr und ihrer gemeinsamen Tochter Aubrey neben einem schäbigen Stadthaus in einer gerade noch respektablen Gegend hinterlassen hatte, war dieses Gebäude. Ein weiteres Haus, aber sicherlich kein respektables.
Die Gassen zu beiden Seiten waren voller Unrat. Es stank bestialisch und obwohl das Haus an sich zu schlafen schien, war es drum herum einfach nur laut. Kutschen ratterten über den Backstein der Straße, Kutscher schrien einander wüste Beschimpfungen und den Tieren harsche Befehle zu. Peitschen klatschten, Pferde wieherten schrill und übertönten die freizügigen Frauen, die sich nur ein paar Schritte weiter lautstark anboten.
„Mein Gott“, wisperte Molly und zweifelte einmal mehr an ihrem Verstand. Dieses Haus war sicherlich nicht der Weg aus ihrem finanziellen Desaster.
„Oh Molly“, flüsterte Enola, deren hübsche braune Augen mit ähnlicher Niedergeschlagenheit auf dem schäbigen Grundstück lagen wie Mollys eigene. Enolas Nägel bohrten sich in Mollys fadenscheinigen Umhang. „Was glaubst du, was das für ein Haus ist?“
Molly hatte eine schlimme Befürchtung, wollte diese aber ihrer jungen Schwägerin nicht mitteilen. Enola beugte sich vor, die Augen sensationslustig geweitet und gleichsam gebannt wie abgestoßen.
Das arme Kind, befand Molly, so unbedarft und rein, dass ihr nicht einmal der Hauch eines unfeinen Gedankens kam. Sie selbst ahnte, dass hier keinesfalls der richtige Ort war, um aus der Mietskutsche zu steigen. Obwohl ihr ein kalter Schauer über den Rücken jagte und sie eindringlich warnte, richtete sie sich den Hut und klappte die dicke Spitze hinunter, die ihr Gesicht verbergen sollte. Zumindest dazu taugte die teure neue Trauerausstattung, sie bliebe gewissermaßen inkognito.
„Ich werde hineingehen, Enola, du bleibst bitte in der Droschke.“ Molly unterdrückte ein abgrundtiefes Seufzen. Sie mochte sich nicht mit diesem Problem beschäftigen, das sie weder voll erfassen konnte noch wollte. Leider bliebe ihr keine Wahl. Es gab nicht viele Erklärungen dafür, dass jemand ein zweites Haus besaß und jene, die ihr sogleich in den Sinn kam, war wenig schmeichelhaft. Allerdings sollte es sie auch nicht wundern, dass Gene eine Geliebte unterhielt. Der Vertrauensbruch berührte Molly nicht einmal. Es war ihr nur zu recht, dass sich ihr Gatte anders orientierte und sie hätte sich gewünscht, er hätte sie ganz aus seinem Bett entlassen. Ein anderer Faktor an dieser Geschichte machte sie jedoch wütend: Das wenige Geld, das ihnen sein kleines Gut in den Hampshires einbrachte, für Vergnügungen hinauszuwerfen, war schlicht selbstbezogen und unverantwortlich gewesen. Leider entsprach dies Genes Charakter nur zu genau.
Molly stieg aus und hüllte sich enger in ihren Umhang, den Kopf hielt sie zusätzlich gesenkt, auch wenn sie nicht zu erwarten brauchte, an einem derart unrespektablen Ort bekannten Gesichtern zu begegnen. Das Haus besaß keine Stufen und so stand sie nach wenigen Schritten bereits direkt vor der heruntergekommenen Tür.
Der Klopfer landete nach einer zögerlichen Berührung laut klirrend vor ihren Füßen. Mit einem kleinen Aufschrei sprang sie zurück und legte sich die Hand auf das laut pochende Herz. So ein Unglück!
Sie erwartete, sogleich einem wütenden Knecht oder zumindest der Dame des Hauses gegenüberzustehen, so fraglich deren gesellschaftliche Position auch war. Aber nichts rührte sich. Molly bückte sich zögerlich nach dem Klopfer und schlug ihn gegen die Tür. Eine Reaktion blieb auch weiterhin aus. Sich umsehend, haderte sie mit der Situation. Sie konnte doch nicht einfach eintreten, schließlich gehörte es sich, auf Einlass zu warten!
Nach qualvoll langen Augenblicken der Unentschlossenheit klopfte sie erneut. Der eiserne Ball, der in die Fassung des Gargoyle-Gesichtes gehörte, fühlte sich in Mollys Hand ebenso schwer an wie die Last, die bereits auf ihren Schultern ruhte. Noch ein letzter Anlauf, denn so wenig sie sich mit dieser Sache – der Geliebten und der Tatsache, dass hier ihr weniges Geld verschwand – abfinden konnte, so dringlich war es, die Situation baldig zu klären. Denn das eine, was sie nicht hatte, war Geld, was sie verschenken konnte.
Bestärkt durch die pressende Notwendigkeit schlug sie kräftig gegen die Pforte. Endlich tat sich etwas und Molly streckte die Schultern. Ein heruntergekommener Bursche öffnete die Tür.
Molly starrte ihn an, er starrte zurück. Er war halbwüchsig, vielleicht vierzehn Jahre alt, dünn und schlaksig und stand sicherlich vor Dreck. Molly zwang sich, sich vorzustellen. „Ich bin Lady Batton. Meinem Gemahl gehörte dieses Haus und ich bin gekommen, um es in Augenschein zu nehmen.“
Die braunen Augen des Knaben weiteten sich erschrocken. „Oh, My… My…“
„Bitte führe mich zu der zuständigen … Person hier.“ Sie erwartete eine Haushälterin oder etwas in der Art, schließlich würde ein solches Haus wohl keinen Butler haben. Sie seufzte bei dem Gedanken. Sie hatten auch keinen und ihre Haushälterin war gleichsam ihre Köchin und ihr Hausmädchen. „Also?“ Sie hob eine Braue, die wohl unter ihrem Schleier nicht auszumachen war.
„Ja, Mildy.“
„Mylady“, korrigierte Molly, trat ein und sah sich sogleich nervös um. Sie stand vor einer engen Garderobe in einem mehr als dunklen Flur. Der Gang war lang und wurde hinter der Ecke breiter. Eine Treppe führte in das obere Stockwerk und von dort drang etwas Licht zu ihr durch. Die Tapeten waren in einem fürchterlichen Zustand, der Teppich nicht minder. Keine Frage, Genes Geliebte hatte nicht besser gehaust als seine Gattin. Diese Tatsache beruhigte sie jedoch nicht. Noch immer glühte ob seiner beständigen Abwesenheit, seiner Trunksucht und verschwenderischer Unbedachtheit unbändiger Ärger in ihr. Und dies waren nur die schlimmsten Untugenden, derentwegen er sicherlich nicht besonders vermisst werden würde.
Sie presste die Lippen aufeinander und wagte sich tiefer in den Flur. Immerhin galt dies alles nun als ihr Eigentum, mochte auch eine andere Person in ihm leben.
Tatsächlich befand sich hinter dem Mauervorsprung ein breiter Flur. Molly sah zurück, irritiert über den Sichtschutz. Dabei glitt ihr Blick über ein skandalöses Gemälde. Eine halb entblößte Frau saß auf einem nicht minder nackten Mann. Rittlings. Molly riss schnell die Augen von dem Bild los und entdeckte dabei weitere. Und eine Tür. Schnell steuerte sie darauf zu und schlüpfte eilig hindurch. Vor ihr lag ein großer Raum mit vielen Tischen und noch mehr Stühlen. Es stank und Rauch schwängerte die staubige Luft. Molly hustete und zog sich schnell wieder zurück. Was war das hier nur für ein Ort!
„Madame?“
Mit einem Schrei fuhr sie herum. Ein knochiger, alter Mann in halbwegs anständigem Aufzug machte einen Diener vor ihr. „Grayston, Madame. Darf ich Sie bitten, mich in die Küche zu begleiten?“
„Küche?“, quiekte sie entsetzt.
„Es gibt leider keinen anderen Ort, an dem es halbwegs respektabel wäre …“
Mollys Entschlossenheit sank und sie schlang die Arme um sich. Ein ganzes Haus und der respektabelste Ort war die Küche? Wollte sie wissen, wo sie hier gelandet war?
„Also gut“, flüsterte sie. „Bitte weisen Sie mir den Weg.“
Grayston übernahm die Führung und in der niedrigen Küche, die ebenfalls dringendst der Aufmerksamkeit einiger fleißiger Hände bedurfte, gab er einem jungen Mädchen Anweisung, Tee aufzusetzen.
Dann wendete er sich Molly zu. Seine von grauen langen Haaren durchzogenen Brauen zogen sich bei einer schnellen Musterung unter besseren Lichtverhältnissen zu. Er räusperte sich und deutete mit einer behandschuhten Hand auf den einzigen Stuhl im Raum, der an einem schmalen Tisch stand. „Bitte Madame, nehmen Sie Platz.“
Molly sank mit zittrigen Knien auf den Stuhl. Der zweite Rundumblick machte den schmalen, dreckigen Raum noch unerquicklicher und gab Molly auch einen Hinweis auf den fauligen Geruch, der in der Luft lag. Essensreste waren schlicht in die Ecke gekippt worden und zogen bereits Tiere an, die sich auch auf den Arbeitsplatten niederließen. Molly drehte es den Magen um und sie entschied, den Tee oder irgendetwas sonst nicht anzurühren, was man ihr hier anbieten mochte. Sie umfasste ihre zittrigen Finger und legte sie mitsamt ihres Retiküls und dem schweren Eisenklopfer, von dem sie nicht wusste, ob sie ihn dem alten Mann einfach überreichen sollte, auf ihrem Schoss ab. „Mr Grayston, ich bin …“, hob sie weniger fest an, als es ihr lieb gewesen wäre.
„Die Besitzerin dieses Etablissements“, unterbrach er sie mit einem schnellen Blick auf das Mädchen. Wohl ein Hinweis, vor der Bediensteten nicht offen zu sprechen. Molly entließ den Atem. Zum einen gehörte es sich nicht, eine Dame zu unterbrechen, dennoch waren gewisse Informationen besser geheim zu halten. Zum anderen waren seine Worte ebenso verstörend wie seine rüde Unterbrechung.
„Etablissement?“, fragte sie mit zittriger Stimme. Das klang nicht gut. Es war nicht gut, das bezeugte die Miene ihres Gegenübers. Seine Lippen pressten sich zusammen und seine buschigen Brauen hoben sich über seiner Nasenwurzel. Hatte er Mitleid mit ihr?
Molly überkam es eisig über ihren ohnehin frierenden Leib und sie wagte es nicht, ihre Frage zu formulieren.
„Mädchen!“, trieb Grayston, der noch immer in respektablen Abstand zu Molly stand, die Magd an, die bereits die Tassen mit heißem Wasser ausspülte und sie aufgeschreckt schnell auf dem Tisch platzierte. „Wir können den Tee selbst abseihen. Sieh zu, dass du Ordnung in den Salon bekommst.“
Das Mädchen verschwand schnell, trotzdem wartete Grayston noch einen langen Moment, bevor er seine Augen auf sie richtete. Sie musste sich dennoch weiter in Geduld üben, denn der Mann, der offenkundig jahrelange Erfahrung als Butler vorzuweisen hatte, räusperte sich bedrückt.
„Mylady, erlauben Sie mir, mich zu Ihnen zu setzen.“
Molly nickte lediglich, um nicht noch mehr Zeit zu vergeuden, die sie dem wartenden Droschkenkutscher später entlohnen müsste.
„Mylady, Sie befinden sich in einem Freudenhaus.“ Er sah ihr an, dass sie damit nichts anfangen konnte und führte deswegen vorsichtig aus: „Ein Ort, an dem Herren ihre Gelüste ausleben. Jene, die ihre Gattinnen ihnen verwehren.“
Molly klappte vor Schreck der Mund auf. Im Nest einer Geliebten zu landen, war bereits verstörend, sich an einem Ort zu befinden, an dem es noch skandalöser zuging, raubte ihr beinahe die Fassung. Ihre Finger in ihrem Schoß zitterten so stark, dass die mit Holzperlen beschwerten Bänder ihres Täschchens an den eisernen Türklopfer schlugen, den sie noch immer in der Hand hielt.
Grayston seihte den Tee ab und schob ihr eine Tasse in die kalten Finger. „Mylady, ich riete Ihnen in anderen Umständen dazu, das Haus abzustoßen. Allerdings fänden Sie derzeit keinen Käufer und Sie brächten damit einige von den hier Lebenden in arge Bedrängnis.“ Seine buschigen Brauen zogen sich zusammen. „Wir sind nicht in der Lage, die Erträge, die Ihr Gatte von uns verlangte, abzuführen.“
Molly starrte ihn noch immer entsetzt an.
„Aber Mylady, wenn Sie mich anhören wollen, so denke ich, dass wir eine für beide Seiten einträgliche Einigung finden werden.“ Er räusperte sich. „Ich bitte Sie, obwohl mir bewusst ist, wie vernichtend Ihre Erkenntnis sein muss. Für eine Frau in Ihrer Stellung.“ Er befeuchtete sich die spröden Lippen. „Aber mit etwas Zeit werden wir auch die Summe aufbringen können, die der Herr von uns verlangte.“ Er griff nach ihrer Hand. „Ich bitte Sie, uns eine Chance zu geben. Viele von uns haben nur dieses Haus und können nirgendwo sonst hin.“
Molly zog schnell die Hand zurück und torkelte auf die Füße. Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust und ebenso tanzten ihre Gedanken einen Ringelreihen, wobei sie sich nicht an die Schrittfolge hielten.
Grayston hob flehentlich die Hände. „Verzeihen Sie mir, Mylady, ich hätte Sie nicht berühren dürfen, ich habe die Kontrolle verloren.“
Molly ballte die Hände zu Fäusten. All ihre Instinkte rieten ihr zur Flucht und doch kämpfte ein kleiner Teil in ihr darum, ihm Gehör zu schenken. Jenem, der die Ausweglosigkeit ihrer Situation und ihren Ernst erfasst hatte, kaum dass Gene das Zeitliche gesegnet hatte und sie das erste Gespräch mit ihrem Nachlassverwalter geführt hatte.
„Wir haben hier zwanzig Mädchen und fünf Männer, die keinen anderen Unterschlupf haben“, beschwor Grayston sie eindringlich, wobei er ebenfalls auf die Füße kam. „Bitte! Wir brauchen diese Chance.“
Fünfundzwanzig Personen mehr, die sie bedenken sollte? Sie hatte bereits die Verpflichtung, für das Wohl von sechs Personen zu sorgen: das der Haushälterin, des Mädchens, des Knechtes, der Schwägerin Enola und natürlich für das ihrer Tochter und für ihr eigenes. Es kostete bereits all ihre Kraft, wie sollte sie auch nur eine einzige Seele mehr verkraften?
Molly floh, stolperte die Stufen zum Flur hinauf und lief fast gegen den Mauervorsprung. Sie riss die Tür auf und stürzte weiter.
„Milburn Cresscent!“, schrie sie dem Kutscher ihre Adresse zu und kletterte selbst in die Droschke. Sie zitterte am ganzen Leib. Ihre Finger schlossen sich fest um den Klopfer und machten sie damit auf diesen aufmerksam. Sie ließ ihn fallen und rutschte von ihm fort. Gene! Oh, du verdammter Mistkerl! Selbst im Tode fand er einen Weg, sie zu drangsalieren.
Kapitel 1
Madame Noir
London, Club Noir, Frühling 1826
Molly spazierte durch den Salon und nickte einigen Stammgästen zur Begrüßung zu.
„Madame“, rief Lord Spencer gewohnt nuschelnd und schwenkte seine Karten, so dass jeder sie sehen konnte. „Kommen Sie! Seien Sie meine Göttin!“
Molly folgte dem Ruf. Für einige Stunden am Abend ließ sie sich sehen, sprach mit ihren Gästen und hielt auch schon mal ihre Hand, wenn sie sich um Kopf und Kragen spielten. Es war notwendig, denn von den Gewinnen lebten sie.
Spencer schlang den Arm um ihre Taille und zog sie an sich. „Madame! Schenkt mir etwas Glück!“
„Mylord“, tadelte sie fest, wobei sie sich direkt von dem massigen Leib des Earl of Spencer fortdrückte. „Sie sollten sich bei Ihrem Benehmen nicht wundern, dass Ihnen Fortuna nicht hold ist.“
Spencer ließ sie los, murmelte sogar eine Entschuldigung, obwohl sein Blick noch immer in ihrem Dekolleté zu verschwinden schien. Molly setzte sich neben ihn auf einen Hocker und lächelte ihn an, so gut es ihr möglich war. Auch vier Jahre in diesem Gewerbe hatten sie keine Gelassenheit gelehrt oder halfen sonst dabei, die Aufdringlichkeiten ihrer Gäste zu ertragen. „Nun Mylord, wie lange versuchen Sie bereits, dem Glück auf die Spur zu kommen?“
„Zu lang“, murrte der Earl. „Viel zu lang!“ Er warf eine Karte ab, von der selbst Molly wusste, dass es die Falsche war. Sie seufzte im Stillen. Spencer und Männer wie er waren der Grund, warum sie sich jeden Tag eine ausreichende Mahlzeit leisten konnte.
„Madame“, murmelte jemand in ihrem Rücken. Der Schauer, der sogleich über ihren Körper huschte, verriet ihn bereits, auch wenn seine Stimme im Tumult des Salons fast unterging. Dennoch sah Molly über die Schulter zurück und schenkte ihm ein überraschtes Lächeln. Der Duke of Wakefield hielt ihr die Hand entgegen. Er führte ihre, die sie ihm nur widerwillig überließ, an die Lippen zu einem formalen Handkuss. Nun, wenn man es genau besah, wäre ein dermaßen inniger Handkuss ein haushoher Skandal in jedem noblen Salon.
Er zwinkerte mit seiner ureigenen Nonchalance, die erneut einen Fluchtreflex in ihr auslöste, den sie mühsam niederrang. „Sie sehen bezaubernd aus.“
Ein solches Kompliment käme ihr nicht über die Lippen, besonders dann nicht, wenn es auf Wakefield gemünzt wäre. Zwar bestach der Duke mit einem tadellosen Auftreten und er konnte nicht nur Charme für sich verbuchen, sondern auch ein Aussehen, das so mancher Dame weiche Knie bereitete. Er war ein großer Mann, überragte nicht wenige seiner Standesgenossen und besaß dazu eine Haltung, die einem Gehorsam abtrotzte. Sein markantes Kinn verriet seine Selbstsicherheit, ebenso wie seine dunklen Augen. Sein Haar war so schwarz wie seine Seele, da hegte sie keinerlei Zweifel.
Molly hob das Kinn, behielt das starre Lächeln bei, sparte sich den Knicks, der ohnehin zu viel über ihre Herkunft verriete und bezwang ihre Aufregung. „So, Euer Gnaden?“
„So geheimnisvoll wie eh und je“, murmelte er und machte Anstalten, ihre Finger erneut an die Lippen ziehen zu wollen.
Sie lachte gespielt geschmeichelt auf und entzog sie ihm eilig. „Wist, Euer Gnaden? Ich sehe, es ist noch ein Platz frei.“ Sie deutete durch den Raum zu dem Tisch, an dem das Kartenspiel gespielt wurde, wobei sie hoffte, er möge das Angebot annehmen. „Wen soll ich zu Ihnen schicken?“ Jeder Gentleman hatte seine eigene Vorstellung davon, welches der Mädchen die persönliche Glücksbotin war und manche wechselten gern. Der Duke of Wakefield gehörte zu den Herren, die leider Gefallen daran fanden, Molly zu bedrängen, ganz gleich, wie standhaft sie Avancen abwies.
„Wie wäre es, Madame, wenn Sie mir heute Abend Gesellschaft leisteten?“
Molly verbiss sich ein Seufzen.
„Ich war zuerst!“, mischte sich Spencer ein und stolperte auf die Füße, um seinen Arm erneut um Mollys Mitte zu schlingen. Er zog sie an sich. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Grayston, der einem der Lakaien einen Wink gab, ihr zu Hilfe zu eilen, was ihre Panik sogleich linderte.
„Mylord, Sie vergessen sich erneut“, mahnte sie leise, um das Beben in ihrer Stimme zu verdecken. „Entlassen Sie mich.“
Spencer presste sie nur fester an seinen Körper. „Madame“, wisperte er. „So seid mir gefällig und ich verspreche …“
Jarred, der bulligste ihrer Lakaien, räusperte sich vernehmlich in ihrem Rücken.
„Entlassen Sie mich oder Sie finden sich auf der Straße wieder, Lord Spencer.“ Keine harmlose Drohung, denn sie anzufassen führte zum Ausschluss. Hörte Spencer nicht auf, sie zu belästigen, bekam er Hausverbot, so lautete eine der Hausregeln.
Spencers Griff lockerte sich schlagartig. Molly entwand sich ihm, streckte die Schultern durch und mühte sich zur Härte. Sie maß ihn verärgert. Der Earl bestach weder durch Schick, noch durch Manieren, seine Knollennase war durch übermäßigen Alkoholgenuss gerötet, seine blauen Augen durch dunkle Tränensäcke kaum mehr ansehnlich zu nennen. Sein blondes Haar brauchte dringend die Aufmerksamkeit eines Kammerdieners, was ebenso auf seine Kleidung zutraf. Mit einem genaueren Blick konnte man mühelos ausmachen, was er über den Tag zu sich genommen hatte. Selbst Gene hatte sich um mehr Sorgfalt bezüglich seines Aussehens bemüht.
„Nun, Spencer, es scheint mir, Sie haben den Abend über Gebühr genossen.“ Sie deutete auf Jarred. „Man wird Sie hinausbegleiten. Dies ist Ihre letzte Warnung, haben Sie mich verstanden?“
Spencers Miene stürmte und er machte einen einschüchternden Schritt auf sie zu.
„Spencer“, mahnte Wakefield in ihrem Rücken. „Sie haben Madame gehört.“
Der Lord hob den Blick, aber Molly blieb angespannt, bis Spencer tatsächlich klein beigab und sich mit einer wackligen Verbeugung entschuldigte. Jarred folgte ihm, als er durch den Salon schwankte und Molly entließ den angehaltenen Atem. Momente wie diese erschütterten sie noch immer bis ins Mark. Allerdings war kaum ein Aufeinandertreffen, das sich auf den Club Noir bezog, in irgendeiner Weise angenehm zu nennen.
„Nun, Madame, da Sie Ihrer Verpflichtung für den Abend entronnen sind …“ Wakefield bot ihr den Arm an. „Leisten Sie mir doch Gesellschaft.“
Sie hatte keinen Augenblick angenommen, auch seiner Gesellschaft ledig zu werden, also stählte sie sich. „Gern, Euer Gnaden, solange Ihnen bewusst ist, dass die Hausregeln auch für Sie gelten.“ Molly hängte sich bei ihm ein und ließ sich durch den Raum führen.
„Everham, mach Platz für Madame Noir.“
Angesprochener Gentleman erhob sich von dem Zweisitzer, auf dem er gesessen hatte, und drehte sich. Seine dunklen Augen glitten schnell über sie, bevor er den Kopf neigte. „Madame Noir.“
Molly blinzelte. Es war nicht unüblich, dass ihr neue Gentlemen vorgestellt wurden, die auf eine Aufnahme in den Club hofften, doch gewöhnlich wurde sie vorgewarnt. Ihre Finger wurden klamm, während ihr Herz einen Satz machte und lospolterte. Der Blick dieser tiefbraunen Augen lag beunruhigend fest auf ihr. Sie schluckte, was ihre Nervosität nicht wie sonst eindämmte, und zwang sich dennoch zu einer Begrüßung.
„Lord Everham.“ Wieder sparte sie sich den Knicks, bei dem sie ohnehin nur ins Straucheln geraten würde, und begnügte sich mit einem leichten Neigen ihres Kinns.
„Schwarz.“
Wakefield schob sie weiter und Molly nahm mit seiner Hilfe Platz. Sie sah auf, erleichtert, sowohl der Berührung des Dukes ledig zu sein, als auch endlich ihre Fassade wieder errichten zu können. „Schwarz, Lord Everham?“
Wieder glitten die Augen des Lords über sie hinweg, als wolle er sich seiner Einschätzung erneut versichern. Ärgerlicherweise bewirkte er genau denselben Effekt wie zuvor.
Molly verkrampfte die Finger im Schoß, als auch ihr Magen einen Schlinger machte. Dieser Mann war gefährlich.
„Noir.“
Wenn er etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen wollte, sollte er genauer werden, denn weder schätzte Molly es, bei einem Gespräch nach dem Sinn zu suchen, noch wäre sie derzeit dazu in der Lage.
„Verzeihen Sie ihm, Madame, es ist sein erster Aufenthalt im Club Noir und auch sonst ist er andere Gesellschaft gewohnt.“ Wakefield lachte auf, wodurch Molly ein eisiger Schauer über den Leib lief und sie sich zwingen musste, nicht von ihm fortzurutschen und das Weite zu suchen. Er winkte einem Lakai zu. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
Molly nahm an, alles andere wäre geschäftsschädigend, denn neben den Einkünften aus den Spieltischen wurden sowohl die Getränke wie auch die Zusatzleistungen durch die Mädchen extra abgerechnet. „Gern, Euer Gnaden.“
Der Duke bestellte Champagner für sie und Brandy für die Herren.
„Ihr erster Besuch“, nahm Molly den Faden wieder auf. „Wie schön. Verdanke ich es Ihnen, Wakefield?“
Der Duke nahm ihre Hand auf, wobei er ungeniert in ihren Schoß griff. „Stets zu Diensten, Madame.“
„Sie bürgen für ihn?“ Sie zog die Finger zurück, dankbar, dass die Getränke gebracht wurden. Wakefield gehörte zu den Herren, die fortwährend versuchten, ihr näherzukommen. Zwar blieb er innerhalb der gesteckten Grenzen, aber sie spürte, dass seine Zurückhaltung nur gespielt war. Er war ein Mann, der sich auch nahm, was ihm nicht geboten wurde, weshalb Molly stets darauf achtete, nicht allein in seine Gesellschaft zu geraten, auch wenn er zu den Männern zählte, die den Club in seiner jetzigen Ausstattung erst möglich gemacht hatten, indem sie in den Club Noir investierten.
„Selbstredend.“ Wakefield prostete ihr zu, wobei sein Blick dermaßen heiß auf ihr lag, dass sie das Glas gern in einem Zug geleert hätte. „Everham ist vertrauenswürdig, dafür bürge ich.“
Molly nippte an ihrem Apfelmost, den man ihr, ihrer Anweisung entsprechend, anstelle des Champagners gegeben hatte. „Sehr schön“, krächzte sie. „Willkommen im Club Noir, Lord Everham.“ Sie lächelte ihn an, auch wenn sie kaum mehr erwarten konnte, endlich aufstehen zu können. Seine dunklen Augen hielten ihren Blick fest, hinderten sie daran, ihr Vorhaben einer schnellen Verabschiedung durchzubringen und vertrieben fast die Erinnerung daran, warum sie hatte gehen wollen. Sein Haar war tiefschwarz und rahmte sein kantiges Gesicht in einem Schnitt ein, der arg an Beau Brummel erinnerte. Fransen seines Haares lockten sich in Stirn und an den Seiten. Es wirkte etwas fehl am Platz, schließlich galt Brummel als verspielt und romantisch. Lord Everham machte nicht den Eindruck, die Art Mann zu sein, der mit dem Kopf in den Wolken schwebte und Zeilen rezitierte.
Molly schluckte. Es war völlig gleich, was für eine Art Mann Lord Everham sein mochte, von Belang war, dass er ihr hier keinen Ärger machte. Molly zwang sich, den Blick zu senken und sich auf das Geschäft zu konzentrieren.
„Nun, Wakefield, Sie weisen Everham in unsere Regeln ein, nicht wahr?“
„Natürlich, Madame. Sagen Sie nicht, Sie lassen uns schon allein!“ Wakefield suchte wieder ihre Hand, die sie in weiser Voraussicht nicht in ihren Schoß gelegt hatte, sondern neben sich auf die Chaiselongue.
Schnell sah sie zur Uhr, die auf dem Kaminsims für alle gut sichtbar platziert worden war, um die vornehmen Herren an ihre Verpflichtungen zu erinnern. Und ihr einen Anhaltspunkt zu geben, wie lange sie noch in den unteren Räumen zu bleiben gedachte. An diesem Abend schlug der Zeiger zu ihren Gunsten. Mit einem leichten Seufzen gönnte sie ihm eine weitere Minute. „Aber nein. Sagen Sie, wie ist die Debatte verlaufen, von der Sie sprachen?“
„Politik?“ Everham klang belustigt. Sein Ton wurde dabei tiefer und schickte ein kleines Kribbeln über ihren Leib, der sie verwirrte. „Wakefield, du verblüffst mich immer wieder!“ Er lachte auf, ein rauer, dunkler Klang, der sie bannte. Gefährlich fürwahr.
„Ich warnte dich, dass der Club anders ist. Die Mädchen hübscher.“ Er führte ihre Hand an seine Lippen. „Und kultivierter.“
„Ah, Euer Gnaden, Sie vergessen das Maßgebliche.“
„Nein, ich glaube, das ist die Quintessenz“, widersprach der Duke. „Also Madame, tatsächlich wurde die Entscheidung aufs Neue vertagt.“
Molly seufzte, wobei sie unauffällig ihre Hand befreite. „Natürlich. Nun, die Frage der Sklaverei hat das Parlament Dekaden lang beschäftigt, wieso sollte es bei landwirtschaftlichen Fragen schneller entscheiden?“
„Warum geht man in ein Bordell, um über Politik zu diskutieren?“ In Everhams Frage klang eine Spur Verachtung mit, was Molly direkt einen Schlag versetzte. Zwar waren ihr die gesellschaftlichen Normen nur zu bewusst, aber sie mochte sich in ihren eigenen Wänden dennoch nicht so geringschätzen lassen.
„Wir sind ein Club, Lord Everham, kein Bordell. Euer Gnaden, mir scheint, Sie haben Ihre Aufgabe noch nicht erfüllt. Entschuldigen Sie mich bitte.“ Sie erhob sich schnell, um Wakefields Widerspruch zuvorzukommen. Die Männer erhoben sich ebenfalls und der Duke streckte die Hand aus. Molly blieb schneller und wich aus. „Euer Gnaden, Mylord.“
Trent Redington, 5. Earl of Everham, sah ihr nach und schüttelte für sich den Kopf. Madame Noir. Passend, denn sie trug, anders als die anderen Mädchen, schwarz. Von Kopf, dem schwarzen Haar, der Pfauenfeder, der Maske, die ihr Gesicht verdeckte, über das eng anliegende, tief ausgeschnittene Kleid, bis zu den schwarzen Pantoffeln an den Füßen.
„Noir.“
Wakefield bedeutete ihm Platz zunehmen. „Fragst du dich, ob sie tatsächlich so dunkel ist, wie sie behauptet?“
Trent schnaubte und warf seinem Cousin einen Blick zu, den er wohl verstand.
„Politik, Wakefield? Ich kann mir beileibe nicht vorstellen, dass dich der Drang zur politischen Diskussion herführt.“ Trent lehnte sich in die Kissen zurück. Schon der erste Schritt hinein in dieses Freudenhaus hatte ihn verwundert. Nicht die Tatsache, dass sein Cousin solche Orte aufsuchte oder ihn gar ebenfalls dazu animieren wollte, es war mehr das Ambiente. Direkt an der Tür wurde man aufgehalten, als befände man sich in einem angesehenen Herrenclub. Trent wäre um ein Haar bereits bei der Anmeldung gescheitert, da er kein Mitglied war und auch kein Gesuch eingereicht hatte. Wakefield hatte ihn hereinschmuggeln können, aber nur unter erheblichen Kosten. Nach dem hell beleuchteten Vestibül, das mit einem Mauervorsprung abgegrenzt wurde, so dass man von dort kaum erkennen konnte, was einen erwartete, kam man in eine kleine Halle. Die Wände waren mit Seidentapeten verziert, was Trent direkt irritiert hatte. Auch sonst gab es an der Ausstattung nichts zu mäkeln. Der Teppich war vielleicht nicht neu, aber gut erhalten für die ständige Beanspruchung durch dutzende Füße, die Sitzgelegenheiten bequem, soweit er es von der Chaiselongue, auf der er saß, beurteilen konnte, und der Alkohol exquisit.
„Nein, selbstredend nicht“, nahm Wakefield das Gespräch wieder auf, wobei dessen Augen die Puffdame nicht einen Moment verließen. Trent folgte dem Blick. Madame Noir stoppte an der Bar und sprach mit Lord Kilbridge. Sie legte dem Marquess die Hand auf den Arm und lachte auf. Dabei beugte sie den Kopf zurück und offenbarte ihren schwanengleichen Hals.
„Madame Noir interessiert mich.“
„Natürlich“, murmelte Trent wenig überrascht. Sein Cousin war nun wirklich kein Kostverächter und Madame Noir war sicherlich einige Bemühungen wert. Sie hatte eine Aura, die zur Ausstattung des Etablissements passte, aber nicht zu dem, was hier angeboten wurde. Trent musterte die Frau in Schwarz. Es gab etwas an ihr, das tatsächlich fesselte. Ihre Haltung war erstklassig, ihr Leib schlank und wohlgerundet, was durch die gegenwärtige Mode hervorragend zu beurteilen war. Ihr Dekolleté sorgte für dumme Gedanken und sie so unbefangen lachen zu sehen, ließ die Frage aufkommen, wie es wäre, ihr näherzukommen.
„Aber für dich findet sich hier sicherlich auch etwas.“
„Wie meinen?“, murmelte er, den Blick immer noch auf Madame gerichtet. Er konnte seinem Cousin nicht folgen, wollte sich aber nicht gleich eine Blöße geben.
„Es gibt hier einige Schönheiten und natürlich Spieltische.“
„Hm.“ Trent nahm die Augen von der schwarzen Frau und ließ sie schweifen. Es gab gut ein Dutzend Mädchen, die sich im Salon verteilten. Auf den ersten Blick war jede nett anzusehen und sicherlich brauchbar, um seine Lust zu befriedigen, allerdings fehlte es ihnen an dem gewissen Etwas. Auch die Spieltische übten keinen Reiz auf ihn aus, auch wenn sie sonst gut besucht waren.
„Es gibt nette Räume und einige an ungewöhnlichen Möglichkeiten, sich zu vergnügen. Schau dich um. Ach, vielleicht sollte ich dir erst die Hausregeln näherbringen.“ Wakefield zwinkerte ihm über den Rand seines Brandyglases zu.
„Hausregeln?“, griff Trent belustigt auf. Sollte er nun darüber belehrt werden, nicht Haus und Hof zu verspielen, keines der Mädchen mit nach Hause zu nehmen oder abzuwerben und das Interieur nicht zu beschädigen?
„Oh ja. Wer sich nicht an sie hält, wird gebeten, das Haus zu verlassen – und nicht wiederzukommen.“ Wakefield stellte das Glas ab und lehnte sich zurück. „Lady Noir wird nicht angefasst, ein Nein ist ein Nein und es wird nur verspielt, was die Tasche hergibt.“
Trent starrte ihn an. „Ich fürchte, ich kann nicht folgen, Wakefield. Ein Nein ist ein Nein?“
„Wenn eines der Mädchen dich auffordert, sie in Ruhe zu lassen, solltest du besser auf sie hören.“
Trent schüttelte den Kopf. „Wie bitte?“
Wakefield deutete auf den Lakai, der mit Getränken an ihr vorbeikam. „Die sind nicht zimperlich. Wirst du erwischt, einem der Mädchen – tja, wie soll ich es sagen – gegen ihren Willen zu nahezukommen, dann befördern die dich hinaus.“
Trent schüttelte den Kopf. „Wie ungewöhnlich.“
„Wenn du deine Gespielin verprügeln möchtest, bist du hier falsch. Alles andere ist mit Zustimmung der Mädchen erlaubt.“ Wakefield seufzte und verfolgte Madame mit den Augen.
„Und du wartest noch auf die Zustimmung, ja?“ Auch Trent beobachtete Madame Noir. Sie verabschiedete sich von Kilbridge und wanderte weiter. Jeder Schritt wirkte wie ein fließendes Gleiten, wobei kaum eine Falte an ihrem Kleid in Bewegung geriet. Unglaubliche Eleganz für diese Umgebung.
„Sie ist interessant, Everham, und vielseitig.“
„Sagtest du nicht, eine der Regeln wäre …“
Wakefield lachte auf und riss sich vom betörenden Anblick der Lebedame los. „Ja. Finger weg von Madame Noir.“
„Deine Regel oder eine Hausregel?“ Trent leerte sein Glas wobei er sich fragte, warum es für ihn von Belang sein sollte. Schließlich gedachte er nicht, den amourösen Angeboten des Hauses nachzugehen.
„Hausregel und zu meinem Bedauern eine, die sehr scharf überwacht wird.“ Wakefield seufzte und schlug Trent aufs Knie. „Also, Handkuss ja, Po tätscheln nein.“ Er stand auf. „Schau dich um. Mach dir eine schöne Nacht!“
Trent hob verabschiedend die Hand. Sein Blick glitt durch den Raum. Es war ein dunkler Raum, viel schwarze Spitze und roter Samt, aber die gut positionierten Lüster machten den Salon gleichsam anheimelnd. Besonders die Bar in der vorderen Ecke war gut ausgeleuchtet. Über jedem Tisch hing ein Lichtspender. Die Mädchen waren allesamt zumindest bekleidet zu nennen, auch wenn sie deutlich mehr Bein und Brust zeigten, als Frauen es auf der Straße taten. Allerdings kannte er Bordelle, da waren die Mädchen deutlich nackter. Seine Augen blieben wieder an Madame Noir hängen. Sie war die Einzige im Raum, deren Röcke bis auf den Boden fielen. Sie war auch die Einzige, die eine Maske trug und deren Gesicht dadurch nicht zu erkennen war. Außer ihren lebendigen Augen und einem energischen Kinn mit weichen Lippen darüber.
Trent konnte Wakefield verstehen. Sie war eine anziehende Frau. Eine geheimnisvolle Frau und offenkundig äußerst begehrt. Sie wich Lord Chesterfields haschenden Händen aus. Madame strebte zur Tür, gab dem Lakai davor einen Wink und verschwand. Die Tür schloss sich hinter ihr und damit auch vor Chesterfield. Und blieb zu, obwohl dieser lautstark verlangte, durchgelassen zu werden. Interessant.
London, Shoreditch, zwei Nächte später
„Ah, Lord Everham, wie geht es Ihnen?“
Trent drehte sich zu Madame Noir um, überrascht, dass sie ihn ansprach. „Madame Noir“, grüßte er und sah an ihr herab. Wieder war sie ganz in Schwarz gekleidet, verführerisch, aber nicht aufdringlich. Sie lächelte ihn an. Ihre Lippen süß gebogen. Sie war der Grund, warum er wiedergekommen war. Sie allein, denn ihr Anblick hatte ihn in so manchen Momenten beschäftigt.
Sie hob eine Braue, die nicht pechschwarz war wie ihr Haar. „Nun, genießen Sie Ihren Aufenthalt.“ Sie wendete sich ab und Trent fing schnell ihre Hand ein.
„Verzeihung Madame, ich war unhöflich.“ Er hob ihre Finger an die Lippen. Ihre Handschuhe reichten bis über die Ellenbogen und waren selbstredend schwarz. Darüber gab es einen Streifen milchig weißer Haut, bevor die Spitze ihres Kleides ihre Oberarme verdeckte. Über ihren Schultern lag eine Spitzenstola, die unter der Brust mit einer Brosche zusammengefasst war. „Sie sehen hinreißend aus.“
„Danke, Lord Everham.“ Sie zögerte merklich. Weil er ihre Hand noch hielt?
„Das hielt mich einen Augenblick gefangen.“
Sie legte den Kopf leicht zur Seite und befreite ihre Finger. „So? Nun, dann sollte ich Ihnen besser keine Gesellschaft am Kartentisch leisten, nicht wahr? Ich möchte keinesfalls, dass mir nachgesagt wird, zu Gunsten des Hauses zu agieren.“
Ein Scherz. Trent grinste und drückte ihre Finger. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?“
Noch immer zögerte sie, lächelte aber weiterhin. Trent runzelte die Stirn, denn er meinte einen starren Zug um ihre Lippen ausmachen zu können.
„Vielleicht ein andermal. Ich habe leider noch einige Dinge zu erledigen.“
Madame Noir umrundete ihn und Trent griff nach ihrem Ellenbogen. „Madame …“
Er spürte, wie sie starr wurde, sah, wie sich ihre Augen weiteten und sie einen schnellen Luftzug inhalierte. Sie sah über die Schulter zurück, die Lider gesenkt, wodurch ihre leuchtenden Augen verborgen wurden. „Lassen Sie mich los!“ Leise, aber bestimmt. „Augenblicklich!“
„Gehen Sie nicht“, bat er, ihren Ellenbogen freigebend. „Bitte. Ein paar Minuten bloß.“
Ihr Kinn hob sich.
„Bitte.“
Langsam wendete sie sich um. „Seine Gnaden war wohl nicht deutlich genug, als er Ihnen unsere Regeln aufzählte.“ Sie legte ihre Hand flach auf die Theke, die andere war in ihrem Kleid vergraben und bebte leicht. „Also noch einmal deutlich: Hier wird kein Mädchen ohne seine Einwilligung angefasst.“
Trent sah ihr geradewegs in die hellen Augen. Sie strahlten von innen heraus. Wieder hob sich diese viel zu helle Braue.
„Gab ich Ihnen die Erlaubnis, mich zu berühren?“
„Nein. Es tut mir leid.“ Er hielt ihren Blick fest. „Es kommt nicht wieder vor.“
Ihre Lider senkten sich, ihr Kinn folgte. „Das hoffe ich.“
„Darf ich Ihnen einen Champagner bestellen?“
Sie atmete tief durch. Ihr Mund verkniff sich für einen klitzekleinen Moment, bevor sich ihre Haltung lockerte. „Ja, gern.“
Trent orderte einen Champagner und deutete zu einer freien Sitzgelegenheit. „Mögen Sie sich setzen?“
„Lord Everham, mehr als ein paar Minuten kann ich Ihnen nicht widmen.“ Sie lächelte dem Burschen hinter dem Tresen wesentlich zugeneigter zu als ihm und nippte an ihrem Champagner. „Nun, haben Sie Gefallen an unserem Club gefunden?“ Sie warf ihm einen abwägenden Blick zu. „Was genau interessiert Sie?“
Trent setzte sein Glas an und nahm einen hastigen Schluck, einen zusätzlichen Moment, sich seine Antwort zu überlegen. Offensiv oder passiv? Er wusste, dass Wakefield bereits einige Monate regelmäßig im Club Noir verkehrte und wenn er Madame Noir noch nicht dort hatte, wo er sie haben wollte, nutzte er nicht den richtigen Weg. Er ließ das Glas sinken und zuckte die Achseln. „Es ist mein zweiter Besuch, Madame Noir, ich bin mir noch nicht im Klaren, ob der Club nach meinem Geschmack ist oder nicht.“
Ihre feine Braue hob sich und mit ihr ein Mundwinkel. „So? Nun, vielleicht sollten Sie sich in Ruhe umsehen.“
„Vermutlich. Vielleicht hülfe eine Führung.“
Ihr zweiter Mundwinkel gesellte sich zum Ersten. „Eine Führung? Fein.“ Sie winkte und eine kleine Brünette tauchte schnell neben ihm auf. „Lord Everham, dies ist Milly. Milly, Liebes, Lord Everham ist neu bei uns. Sei doch so gut und führe ihn durch das Haus.“
„Madame, Ihre Begleitung wäre mir lieber“, mischte Trent sich schnell ein, schließlich wäre es ihm nicht recht, seinen kleinen Sieg bereits genommen zu bekommen. Einige Minuten hatte sie ihm zugestanden, die wollte er auch einfordern.
„So leid es mir tut, Lord Everham, aber dafür reicht meine Zeit nicht aus.“
„Etappenweise“, schlug er schnell vor. „Zeigen Sie mir eine Kleinigkeit an jedem Abend, den ich hier verbringe.“
Sie zögerte. Ihre Lider senkten sich, ebenfalls ihr Blick und ihre Lippen öffneten sich zu einem Hauch.
„Was ist nötig, damit Sie mir diesen Wunsch erfüllen?“
„Sie verbringen den Abend hier? Die Nacht?“ Sie schlug die Lider zu einem atemberaubenden Blick auf. Da war keine Zurückhaltung mehr, keine Schutzwand, die sie voneinander trennte. Das in diesem Augenblick war die wahre Frau hinter der Maske der Madame Noir. Ein Feuerstoß schoss in seine Lenden und lenkte seine Zunge.
„Ja, ich verbringe die Nacht hier.“ Mit ihr, wenn es nach ihm ginge. „Was immer es kostet.“
Sie lächelte Milly an, legte die Hand auf ihre Schulter. Ihr Daumen rieb über das bare Fleisch. „Ich bringe ihn dir in fünf Minuten zurück, versprochen.“
„Wie wäre es mit einem Glas Champagner, während du wartest?“, bot Trent schnell an und bemerkte sogleich Madame Noirs Zufriedenheit.
„Oh, wie zuvorkommend, M´Lord“, flötete Milly. Ihre Finger glitten über seinen Arm. „Ich warte dann.“ Sie befeuchtete sich lasziv die Lippen und schenkte ihm einen Blick, den er sich von Madame erhoffte: offen und bereitwillig.
„Schön.“ Trent hob die Hand und hielt sie Madame Noir entgegen. Aber sie ignorierte die Geste. Sie drehte sich von ihm fort.
„Folgen Sie mir, Lord Everham.“ Ihr fast volles Glas ließ sie stehen. „Ich nehme an, den Salon kennen Sie bereits?“ Sie sah mit einem mokierten Lächeln zu ihm zurück, das ihn durchaus neckte. „Dann zeige ich Ihnen unseren chinesischen Salon – so er frei ist.“
Der Lakai an der Tür öffnete ihr und ein Wink bedeutete ihm, Trent könne ihr folgen. Sie umrundeten die Treppe und Madame Noir streckte die Hand nach der Klinke aus. Trent kam ihr schnell zuvor. Sicherlich schätzte sie neben Großzügigkeit auch gute Manieren.
„Darf ich?“ Er schob die zweiflügelige Tür auf und stand in einem roten Palast.
„Voilà, der chinesische Salon.“ Sie trat neben ihm ein und ging tiefer in den Raum. „Wenn Sie einige interessante Stunden hier verbringen möchten, wenden Sie sich an Grayston.“
Trent sah sich um. Auf den ersten Blick war es lediglich ein Raum, der im asiatischen Stil eingerichtet war.
„Wir bieten hier anregende Massagen an.“ Ihr Grinsen war anregend genug. „Sie sollten es ausprobieren. Ich habe nur Gutes darüber gehört.“
„Gern. Wann haben Sie Zeit dafür?“
Sie lachte auf und wendete ihm den Rücken zu. Ihre Hand glitt über die erhöhte Lehne eines mit einem Tuch bedeckten Stuhls. „Annie, Gerry und Fi bieten ihre Dienste auf diesem Gebiet an.“
„Hm.“ Langsam wanderte er durch den Raum. Es gab eine Liege, die ebenfalls mit einem Tuch bedeckt war. Vor dem Kamin stand ein Kessel, der mit Wasser gefüllt war. Handtücher lagen bereit. Fläschchen und Phiolen bevölkerten kleine Tischchen. Er hob eines auf und entkorkte es. Der Duft nach Flieder stieg ihm in die Nase.
„Sprechen Sie Grayston an, Lord Everham.“
Trent stellte das Fläschchen ab. „Das werde ich, Madame Noir. Ich muss gestehen, Sie haben mich neugierig gemacht.“
„Ich denke, Ihnen wird unser Angebot zusagen, Lord Everham. Wir haben hier viele interessante Variationen. Sprechen Sie die Mädchen an.“ Sie deutete zur Tür. „Ich müsste mich nun verabschieden.“
Trent durchquerte den Raum, um sie an der Tür abzufangen. „Madame?“ Er stoppte sie, indem er ihre Hand ergriff. „Was werden Sie nun tun?“
Sie entzog ihm ihre Finger. „Meine Gäste begrüßen, wie jeden Abend. Begleiten Sie mich doch zurück in den großen Salon.“
„Madame?“ Er versperrte ihr den Weg und Madame Noir erstarrte erschrocken. Ihre Augen huschten hinter ihn und sie verlor etwas ihrer Steifheit.
„Lord Everham, ich muss darauf bestehen, dass Sie mich nun meine Aufgabe erfüllen lassen.“ Sie lächelte, aber ihre Bitte war fest und bestimmt.
„Madame, ich wollte mich lediglich über den Umfang Ihrer Aufgaben erkundigen.“ Dass er sie damit ängstige, hatte er weder beabsichtigt noch erwartet.
„Und ich habe Ihnen gesagt, ich müsse meine Gäste begrüßen.“ Sie hob ihr Kinn. „Was ich nun gerne täte!“
Trent hatte keine Wahl, also trat er zurück und deutete in den Flur. „Bitte, Madame. Es lag nicht in meiner Absicht, Sie von ihrer Verpflichtung fernzuhalten.“
„Bitte, Lord Everham“, überging sie seine Entschuldigung. „Hier entlang.“
London, Club Noir, am nächsten Morgen
Molly ging ihre Einnahmen durch. Einer der wenigen Beschäftigungen rund um den Club Noir, die sie mit Freuden ausführte. Es war ein guter Abend gewesen, eine gute Woche. Sie hatten gute Gewinne einfahren können und es hatte auch verhältnismäßig wenig Ärger gegeben.
Es klopfte und Grayston trat in ihr Zimmer. „Madame“, murmelte er. „Misty hat ein Problem.“ Er räusperte sich und Molly schwante Böses.
Hatte sie sich nicht gerade noch über den ausgebliebenen Ärger gefreut? Sie seufzte schwer und bedeutete Grayston, die Tür zu schließen.
„Welcher Art ist das Problem, Grayston?“
Er räusperte sich wieder und nahm Farbe an.
Molly seufzte erneut. Auch nach vier Jahren war es ein Thema, das sie beide vor Scham vergehen ließ.
„Sie scheint in anderen Umständen.“
Molly stockte der Atem. Das war ein ernstes Dilemma. „Ich dachte“, hauchte sie, „die Mädchen nutzen Vorkehrungen.“
„Es ist nur eine Vermutung“, murmelte Grayston, wobei er ihrem Blick auswich.
Molly senkte ihren auf die Rechnungstabellen. „Ich möchte mit ihr reden.“
„Madame, Sie sollten …“
„Etwas ist schiefgegangen und ich möchte wissen, was. Oh, verflixt!“ Welche Tragödie. Sie legte ihre Feder zur Seite und stand auf, um Grayston zu folgen.
Die Zimmer der Mädchen befanden sich unter dem Dach. Sie waren eng und dunkel, aber immerhin hatte jedes der Mädchen ein eigenes und damit einen Ort zur Ungestörtheit. Molly klopfte an Mistys Tür. Man konnte verzweifeltes Schluchzen dahinter vernehmen. Ivy öffnete mit verweinten Augen, die sie sogleich aufriss.
„Madame!“
„Guten Tag, Ivy. Ich möchte mit Misty sprechen.“
Ivy machte Platz. Misty lag in den Armen eines weiteren leichten Mädchens, Fi.
„Misty?“
„Es ist ein Unglück“, versetzte Fi düster. „Aber es passiert.“
„Dann ist es sicher?“ Molly setzte sich zu den Mädchen auf die Bettkante. Fi zuckte die Achseln. „Sicher ist es, wenn es rauskommt.“
Misty brach in lautes Wehklagen aus. Molly griff nach ihrer Hand, um sie versichernd zu drücken. „Schickt mich nicht weg, Madame! Wo soll ich denn hin? Was soll denn aus mir werden?“
„Was können wir tun?“, krächzte Molly, Zahlen im Kopf. Misty war eines ihrer begehrtesten Mädchen. Wenn sie ausfiele, gäbe es erhebliche finanzielle Verluste. Dazu kamen die zusätzlichen Ausgaben für ihre Versorgung. Dann das Kind. Was sollten sie mit einem Säugling in einem Bordell anfangen? Molly schwirrte der Kopf.
„Was getan werden muss“, murrte Ivy und tätschelte Misty die Schulter. „Madame, die Hebamme wird eine Bezahlung erwarten.“
Molly sackte das Herz ab. Zusätzliche Kosten. „In Ordnung. Sie soll bei mir vorsprechen.“
Sie schluckte schwer, schließlich hatte sie gehofft, in diesem Jahr endlich etwas Geld zurücklegen zu können. Endlich Aubreys Mitgift anlegen zu können und sie womöglich endlich auf eine Schule schicken zu können. Sie schloss die Augen.
„Madame?“, sprach Grayston sie an. „Es ist üblich in dem Gewerbe, die Mädchen fortzuschicken.“ Wie wenig ihm die Aussicht gefiel, war ihm deutlich anzuhören. „Ich bitte Sie jedoch, es nicht zu tun.“
„Was genau ist schiefgegangen?“, fragte Molly ablenkend. „Ich dachte, es werden Vorkehrungen getroffen. Ich dachte, nach Lizzy wäre jeder von euch klar …“ Sie schüttelte den Kopf. Lizzy hatte ihre Schwangerschaft vor zwei Jahren verheimlicht und war bei einem Treppensturz ums Leben gekommen, mit dem sie das Kind hatte vertreiben wollen.
„Ich habe es gemacht“, beschwor Misty schluchzend. „Jeden Abend! Nach jedem Mal!“
„Du musst es falsch gemacht haben.“ Das war doch die einzige Erklärung, die Molly einfallen mochte. Zugegeben, sie hatte keinerlei Erfahrung darin, den Samen eines Mannes daran zu hindern, sich festzusetzen und war damit durchaus zufrieden. Sie konnte tatsächlich nicht einschätzen, ob die Prozedur nun schwierig durchzuführen und zu Fehlern führen konnte oder nicht.
„Madame, man kann nicht viel falsch machen“, wandte Ivy ein. „Man nimmt ein Schwämmchen, taucht es in Essig und führt es ein. Nach dem Akt wäscht man sich ausgiebig. Jede von uns erneuert ihr Amulett einmal in der Dekade und wir trinken den Tee.“ Sie zuckte die Achseln.
Molly starrte Ivy an. „Mehr kann man nicht tun?“
„Sie könnten Schafdarm zur Verfügung stellen, aber die meisten feinen Herren verzichten lieber darauf.“ Ivy tat es mit einem Schulterzucken ab und wendete sich der jungen Kollegin zu, die herzzerreißend schluchzte.
„Schafdarm?“, murmelte Molly verwirrt, sie konnte sich beileibe nicht vorstellen, was sie mit dem Tiergedärm anfangen sollten.
Grayston räusperte sich in der Tür. „Zum Überziehen, Madame. Ich denke, so genau möchten Sie es nicht wissen.“
Überziehen. Molly schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte es wohl nicht so genau wissen.
„Also, Grayston, schicken Sie einen der Burschen zur Hebamme.“ Sie seufzte laut. „Misty, beruhige dich bitte. Wir werden einen Weg finden, wie wir das Problem aus der Welt schaffen.“ Sie drückte die kalten Finger des Mädchens. „Ruh dich aus. Ivy und Fi müssen aber ihren Aufgaben nachgehen und können dir keinen weiteren Trost spenden.“
„Bitte, Madame, schicken Sie mich nur nicht fort“, flehte Misty verzweifelt, wobei sie sich wieder an Molly klammerte.
„Vorerst nicht“, versicherte Molly und zog sich erschlagen zurück. Das war nicht nur ein kleines Problem und sie hatte keine Vorstellung davon, wie sie es lösen sollte. Nichts in ihrer Erziehung hatte sie auf solche Dinge vorbereitet und sie wünschte erneut, sie müsste sich nicht mit den Schattenseiten des Lebens auseinandersetzen. Ein zutiefst müßiger Wunsch, schließlich hatten sie die mehr oder weniger durchdachten Entscheidungen in ihrem Leben genau an diesen Ort geführt. Es hätte alles anders sein können, aber daran zu denken, ließe nur ihren Magen sich umstülpen. Besser, sie beschäftigte sich mit dem Hier und Jetzt.
„Grayston, wie oft kommt so etwas vor?“
„Madame, es ist der Lauf der Dinge.“
Sie stockte. „Aber es ist das erste Mal, dass Sie mich involvieren!“
„So ist es, Madame. Bisher entschieden sich die Mädchen selbst dafür, wie sie es handhaben wollen. Sie gingen oder beendeten es beizeiten. Lizzy fiel unglücklich, aber es ist ein gängiges Mittel, um die Frucht abzutöten.“
Molly lehnte sich gegen die blanke Holzwand. „Die Frucht? Das Baby? Mein Gott!“ Sie starrte ihn an. Grauen lähmte sie.
„Ein Mädchen kann sich schlecht anbieten, wenn ein Säugling an ihrer Brust hängt.“
Molly schloss die Augen, Aubrey im Sinn. Ihr kleines Mädchen, das sie selbst hatte stillen müssen, weil sie sich keine Amme leisten konnten. Man konnte nicht mehr viel tun, wenn man sich um so ein kleines Wesen kümmerte. Schon gar nicht, Männern zu Willen sein. Nicht einmal einem, geschweige denn ein Pensum, wie es Misty erfüllte.
Es war mehr als ein Desaster!