Kapitel eins
Ein paar Monate zuvor
Der Regen prasselte auf Miss Felicity Harringtons Haube, während sie über die Kopfsteinpflasterstraßen des Grosvenor Squares eilte. Sie bereute es schrecklich, Lady Perditas Angebot abgelehnt zu haben, in der Kutsche ihres Bruders, des Dukes of Hartford, zum Buchladen zu fahren. Felicity war sich ihrer Position bewusst, in der sie lediglich die Gesellschafterin der Schwester des einflussreichen Dukes war, und wollte nicht allzu viel von der Großzügigkeit der Familie in Anspruch nehmen.
Felicity und ihre Mutter waren für jegliche Annehmlichkeiten auf die Freundlichkeit des Dukes angewiesen. Es reichte völlig, dass er und seine Mutter, die Dowager Duchess, Felicity und ihrer Mutter ein Dach über dem Kopf gaben, ohne ihnen jemals das Gefühl gegeben zu haben, ihrer bescheidenen Verhältnisse wegen weniger wert zu sein. Die Dowager Duchess behandelte Felicitys Mutter nicht wie eine Gesellschafterin, sondern wie eine wahre Freundin. Und Felicity war überaus gesegnet, eine ähnlich gute Freundin in Lady Perdita gefunden zu haben. Felicity wusste, dass es in Wahrheit mehr als nur Glück war: Sie waren eine gütige und ehrbare Familie, und Felicity wollte ihnen diese Freundlichkeit niemals vergelten, indem sie ihnen noch mehr zur Last fiel.
Der Himmel empfand diesen Moment wohl als überaus geeignet, noch mehr Regen auf sie herabstürzen zu lassen. „Bäh“, murrte sie vor Ärger über sich selbst. „Ich hätte meinen lächerlichen Stolz herunterschlucken und die Kutsche nehmen sollen.“
Jetzt war eines ihrer besten Kleider durchnässt und wahrscheinlich würde sie sich auch noch eine Erkältung einfangen. Sie hatte sich selbst keinen Gefallen damit getan, ein derartiges Maß an Unabhängigkeit von der Großzügigkeit Lady Perditas zeigen zu wollen. Ein paar Kutschen fuhren rumpelnd an ihr vorbei und sie zog die Schultern hoch, um den wertvollen Schatz zu schützen, den sie im Buchladen hatte ergattern können. Eine Ausgabe von Emma von Jane Austen. Felicity konnte sich nicht oft etwas leisten, das sie dann ihr Eigen nannte, aber Lady Perdie hatte eine freundschaftliche Wette zwischen ihnen verloren, und Felicity war seitdem um fünf Pfund reicher. Ein Vermögen für eine Dame in ihren Verhältnissen. Sie hatte das Geld ihrer Mutter angeboten, die sie mit einem traurigen, jedoch auch stolzen Lächeln angesehen hatte. Trotzdem hatte ihre Mutter darauf bestanden, dass Felicity das Geld ausgeben sollte, um sich selbst etwas zu gönnen. Im Nachhinein vermutete Felicity, dass der Moment ihrer Mutter vielleicht sogar peinlich gewesen sein könnte. Um sie nicht weiter zu beschämen, hatte Felicity nicht länger diskutiert.
Ein Stück vor ihr hatte sich eine große Pfütze gebildet und Felicity verlangsamte ihre Schritte. Weiter die Straße hinab erblickte sie drei Kutschen, die in halsbrecherischem Tempo auf sie zukamen. Wahrscheinlich wollten die Kutscher, die die Gefährte geschickt über das Pflaster lenkten, auch nur schnell aus diesem unerwarteten Wolkenbruch hinaus und ins Warme.
Felicity selbst zitterte wie Espenlaub und wartete ungeduldig, bis die Kutschen vorübergefahren waren, ehe sie ihren Weg fortsetzte. Sie lächelte, rannte auf die Pfütze zu und sprang hinüber. Sie geriet jedoch ins Straucheln und schnappte nach Luft, als ihre Beine unter ihr wegknickten.
Ein starker Arm legte sich von hinten um ihre Taille und zog sie auf die Füße, sodass sie an einem kräftigen Körper lehnte. Sie drehte den Kopf und erblickte ein Paar erstaunliche kobaltblaue Augen, einen strengen und zugleich sinnlich geschwungenen Mund sowie eine markante Nase. Er schien viel zu gut aussehend mit seinen unverschämt hohen Wangenknochen und dem dichten, rabenschwarzen Haar. Der Körper, der sie aufrecht hielt, schien aus Stahl zu sein.
Mit unterschwelliger Erleichterung bemerkte sie, dass der Regen dank des schwarzen Schirms, den der Fremde über sie hielt, nicht mehr auf sie herabprasselte. Erst als seine Wärme in ihren durchgefrorenen Körper drang, realisierte Felicity, wie eng er sie an sich presste. Sie versuchte, sich von ihm loszureißen, musste jedoch entgeistert feststellen, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ein eigenartiges, beängstigendes Gefühl ließ ihre Haut prickeln und ihr Herz rasen. Sie schaute sich um und war dankbar, dass weit und breit niemand zu sehen war und dass die Sonne hinter den Wolken wohl bereits unterging. Es würde sie niemand erkennen.
„Bitte, Sir!“
Ihr pikierter Tonfall ließ ihn entschieden arrogant die Braue heben. Dennoch ließ er sie los und sie atmete erleichtert durch.
„Ich glaube, dass etwas Dankbarkeit angebracht ist“, sagte er sanft. Der Ausdruck in seinen Augen war abschätzig und durchdringend, als er auf sie herabblickte. „Wenn ich Sie nicht gefangen hätte, wären Sie unschön gestürzt.“
Etwas an der Art, wie er sich gab, erinnerte sie an Perdies Bruder, einen Mann, den sie als unterkühlt, arrogant und viel zu herrisch empfand. Sie trat etwas zurück, bis er ihr zu folgen begann, damit sie unter dem Schirm blieb.
Verwirrt schaute sie zu ihm auf. „Ich bin sehr dankbar, dass Ihr mich aufgefangen habt, Sir. Vielen Dank.“
„Soll ich Sie zu Ihrer Arbeitsstelle begleiten?“
Ihre Wangen brannten. Natürlich nahm er an, dass sie eine Bedienstete war und keine Lady. Sie stand kurz davor, ihm zu sagen, dass sie die Nichte eines Barons war. Doch dann erschien es ihr außergewöhnlich lächerlich, dass sie sich von einer Annahme, die so nahe an der Wahrheit lag, zur Rechtfertigung gezwungen fühlte.
„Ich danke Euch, Mylord, allerdings habe ich es nicht mehr weit“, sagte sie mit aufrichtigem Lächeln. Man traf selten einen so einflussreichen Mann, der derart freundlich war.
„Kennen wir uns?“, fragte er, offenbar überrascht, dass sie ihn als Lord erkannt hatte.
„Ich … nein, Mylord.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Es ist Eure Nase.“
„Meine Nase?“, wiederholte er langsam, ganz offensichtlich unsicher, was er von ihr halten sollte.
Und wenn sie nervös war oder sich unsicher fühlte, neigte Felicity dazu, zu plappern – selbst wenn ihr das häufig zum Nachteil gereichte. „Ja, Eure Nase. Sie hat eine eindeutig arrogante Eleganz, die von Eurem gesellschaftlichen Rang zeugt, und die Art, wie Ihr mich anseht … Ihr seid ganz sicher ein Lord. Ein Earl vielleicht, oder ein Duke?“
Er starrte sie an, als wäre ihr ein Paar Hörner gewachsen. Doch dann verzog sich sein Mund unerwartet zu einem schiefen Grinsen. Das Lächeln auf Felicitys Lippen verblasste und sie wischte sich den Regen aus den Augen. Dieses kleine Grinsen verwandelte ihn in einen charmanten und viel zu gut aussehenden Gentleman. Schnell wandte sie den Blick ab, überrascht von der Hitze in ihren Wangen und dem verwirrenden Flattern in ihrem Bauch. Nicht einmal Sir Anthony Newcombe hatte so ein Flattern in ihrem Bauch ausgelöst, und sie hatte angenommen, sie wären das perfekte Paar – bis er zugegeben hatte, dass sie zu arm war und nicht genügend Beziehungen hatte, um seine Frau zu werden, sosehr er sie auch liebte.
„Vergebt mir meine unbedachten Worte, Mylord“, sagte sie. „Sollten wir einander je wiedersehen, werde ich darauf achten, mich besser zu benehmen.“ Sie machte einen tiefen, respektvollen Knicks.
„Verstehe.“
„Wenn Ihr mich entschuldigt, ich …“
„Bitte erweisen Sie mir die Ehre, Sie durch den Regen zu begleiten.“
„Ihr wisst, dass ich eine Bedienstete bin … im weitesten Sinne.“
„Und Bedienstete holen sich nicht den Tod durch Erkältungen oder Fieber, wenn sie den Elementen ausgeliefert sind?“
„Ich … doch, natürlich“, sagte sie und errötete. „Ich habe nur nicht erwartet, dass einfache Freundlichkeit für Euch eine ehrenvolle Tat ist.“
„Ehre und Freundlichkeit sind zwei Seiten derselben Münze, oder nicht?“
„Vergebt mir, ich bin nicht geeignet, mit Euch zu diskutieren.“
Er senkte leicht den Kopf und musterte ihr Gesicht. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Sie das doch sind“, murmelte er. „Es sind Ihre Augen, wissen Sie?“
Sie legte eine Hand an ihren Hals. „Meine Augen?“, fragte sie und fühlte sich albern. Es war offensichtlich, dass er scherzte, auch wenn sie es nicht verstand.
Er brummte zustimmend. „Ihre Augen.“
„Was ist mit meinen Augen?“, fragte sie, als er nichts weiter sagte.
„Sie sind wirklich hübsch.“
Oh! Das ungezwungene Kompliment überraschte sie.
Er fuhr fort, bevor sie antworten konnte: „Sie glühen von einem inneren Feuer, das auf Ihre Intelligenz und Ihren Witz hindeutet. Dieses Feuer zeigt auch Ihre Klugheit, da Sie es rechtzeitig zurückziehen, um nicht den Fehler zu begehen, über Ihre … gesellschaftliche Stellung hinaus aufzufallen.“
Felicity lachte leise und war beinahe zu sprachlos, um zu antworten. „Mein guter Herr, meine Augen sind braun.“ Ein ziemlich langweiliges Braun noch dazu. Der Mann, von dem sie einmal angenommen hatte, dass sie ihn heiraten würde, hatte sich immer gewünscht, sie wäre nicht so gewöhnlich.
Ihre Brust zog sich zusammen und sie fühlte, wie sich eine eigenartige Faszination für diesen Fremden darin regte. Möglicherweise war aber auch immer noch etwas von dem Brandy, den sie gestern gemeinsam mit Perdie stibitzt hatte, in Felicitys Blut. Da sie nicht das Gefühl hatte, dem Mann noch irgendeine Höflichkeit schuldig zu sein, wandte sie sich ohne ein weiteres Wort von ihm ab und setzte ihren Weg zum Stadthaus des Dukes fort.
Die Leute blickten für gewöhnlich über sie hinweg. Kaum jemand bemerkte sie. Warum sollte er so etwas Albernes und zugleich Kompliziertes über ihre Persönlichkeit sagen? Sie warf ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zu, doch er starrte nur geradeaus, hielt den Schirm über sie und schützte sie so vor dem noch immer strömenden Regen. Als sie sich umblickte, entdeckte sie eine geparkte Kutsche in der Nähe einer Gaslaterne. Offensichtlich war er aus dem schützenden Gefährt gestiegen, um ihr zu Hilfe zu eilen.
„Habt Ihr Eure Kutsche angehalten, um mir zu helfen?“
„Habe ich. Wollen Sie nach Hause fahren, statt zu laufen?“
„Nein“, erwiderte sie schnell. „Ich möchte behaupten, keine Dame würde je mit einem fremden Mann in eine Kutsche steigen. Nicht einmal im strömenden Regen.“
„Wie ich vermutet habe“, sagte er schmunzelnd.
Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Sie war versucht, ihn unhöflicherweise nach seinem Namen zu fragen, aus Neugier, welcher Gentleman sich nicht zu schade war, eine Bedienstete nach Hause zu begleiten.
Etwas bewegte sich unter seinem Jackett, und Felicity fiel beinahe in Ohnmacht, als eine seltsame Kreatur daraus hervorkroch und sich auf seiner linken Schulter zusammenrollte.
„Da sitzt eine Ratte auf Euch, Sir.“ Ja, das ist bestimmt der Brandy.
Die Kreatur machte ein merkwürdiges Geräusch, fast wie ein kleines Keckern.
„Oskar ist keine Ratte. Sie haben ihn beleidigt.“
Erneut machte die Kreatur das Geräusch und Felicity musste ein Lächeln zurückhalten. „Bitte übermittelt ihm meine Entschuldigung.“
Sie spürte den Blick ihres Retters auf ihrem Gesicht, erwiderte ihn jedoch nicht, weil es ihr irgendwie unangenehm war. Felicity mochte diese seltsamen Gefühle nicht, die seine Augen in ihr auslösten, wenn er sie ansah. Wahrscheinlich bekomme ich gerade Fieber.
„Oskar ist ein Frettchen.“
„Ein Frettchen“, sagte sie langsam und fragte sich, was für eine Unterhaltung sie eigentlich gerade mit diesem unbekannten Gentleman führte.
„Ja.“
„Ein eigenartiger Gefährte für einen Gentleman“, sagte sie.
„Er gehörte zunächst meiner Schwester Mary“, sagte er. „Ein Geschenk von ihrem Ehemann. Er wusste, dass seine Frau eine große Bewunderin von Queen Elizabeth war, die ebenfalls ein zahmes Frettchen besaß.“
Die Neugier nagte an Felicity. „Und wie … kam Oskar nun zu Euch?“
„Meine Schwester hatte fürchterliche Angst vor ihm. Sie rannte die ganze Zeit vor ihm weg und kreischte.“
Das Bild, das er vor ihrem inneren Auge heraufbeschwor, brachte Felicity kurz zum Lachen.
„Oskar und ich verstehen uns und sind die besten Freunde geworden“, sagte er, seine Stimme voller belustigter Nachsicht.
Sie sah kurz zu ihm – er lächelte und die Kreatur hatte sich in seinem Jackett zusammengerollt, sodass nur das Köpfchen herausschaute. Wenn Felicity sich nicht irrte, dann schlief Oskar.
Als sie das Stadthaus des Dukes in der Ferne erblickte, seufzte sie leise vor Erleichterung. Oder war es Enttäuschung? Felicity zuckte zusammen, als sie sich eingestehen musste, dass diese Begegnung wohl das Spannendste war, was in den letzten zehn Jahren ihres Lebens passiert war.
„Warum sind Sie ‚eine Bedienstete im weitesten Sinne‘?“, fragte er. „Sind Sie eine Gouvernante?“
Es überraschte sie, wie aufmerksam er ihr zugehört hatte. „Meine Mutter ist die Gesellschafterin einer Duchess und ich … ich bin ebenfalls Gesellschafterin, die der Tochter der Duchess.“
„Ah … Wohltätigkeitsfälle.“
Sie errötete und Scham brannte in ihrer Brust.
„Vergeben Sie meine Direktheit“, sagte er ausdruckslos.
„Es gibt nichts zu vergeben, es entspricht schließlich der Wahrheit“, sagte sie mit gezwungenem Lächeln. Ihr Vater war vor einigen Jahren verstorben. Da er keinen Sohn hatte, ging das Familienanwesen in Berkshire an den nächsten männlichen Verwandten. Der wiederum hatte ihnen mitgeteilt, dass sie nicht weiter auf dem Anwesen mit den sieben Schlafzimmern wohnen konnten, denn er war nicht großzügig genug, sie mit Essen und Kleidung zu versorgen.
Alle Heiratsanwärter, die bis dahin um Felicity geworben hatten, waren über Nacht verschwunden, und nur weil ihre Mutter noch einige Freunde in der Stadt gehabt hatte, hatten sie überhaupt so lange überlebt. Trotzdem war es schrecklich demütigend gewesen, zu Gast in den Häusern verschiedener Ladys zu sein, bis sie sanft ermutigt wurden, weiterzuziehen, weil sie die Gastfreundschaft überbeansprucht hatten.
Sie erreichten das Haus des Dukes und Felicity wurde langsamer. „Wir sind da. Vielen Dank.“
Er schaute zur eindrucksvollen Haustür hinauf. „Ah, Hartfords Residenz.“
„Ihr seid befreundet?“
„Hartford ist mir bekannt“, sagte er auf rätselhafte Weise.
Felicity biss sich auf die Unterlippe, erneut versucht, ihn nach seinem Namen zu fragen. Doch sie hatte bemerkt, dass er nicht nach ihrem gefragt hatte, und sie wollte nicht vermessen sein. Es war unwahrscheinlich, dass sie einander je wiedersehen würden. Stattdessen machte sie einen weiteren kurzen Knicks und sagte: „Auf Wiedersehen, Sir.“
„Nehmen Sie den Schirm.“
Mit einem Blick zurück bemerkte sie, dass seine Kutsche noch immer ein ganzes Stück entfernt bei der Laterne parkte. „Ich kann Euch nicht Euren Schutz vor dem Regen nehmen, Sir. Es ist nicht weit bis zur Tür. Ich werde schon nicht weggeschwemmt.“
Felicity huschte unter dem Schirm hervor und schnappte nach Luft, als der eisige Regen auf ihre Haut traf. Sie lief die Stufen hinauf und der Butler öffnete die Tür, als hätte er ihre Ankunft erwartet. Als sie durch den Eingang trat, schaute sie noch einmal zurück, doch ihr Fremder war nicht mehr da. Sie entdeckte ihn ein Stück die Straße hinauf, wie er zur Kutsche ging, die nun auf ihn zurumpelte.
Reichlich tropfend stellte Felicity fest, dass sie den Bediensteteneingang hätte benutzen sollen. Während sie zur Seite trat, sodass der Butler die Tür schließen konnte, kam Felicity nicht umhin, sich zu fragen, wer der Mann wohl gewesen war und ob sie ihn je wiedersehen würde.