1
Comer See, Italien
April 1933
Falls diese Dummheit meinen Mann nicht ohnehin das Leben kostete, würde ich ihn eigenhändig umbringen.
Es war ein herrlicher Vormittag im Frühling am Ufer des Comer Sees, aber gedanklich war ich weder beim Wetter noch bei dem atemberaubenden Ausblick aufs Wasser, das sich vor einer Kulisse aus dunstig-blauen Bergen vor mir ausbreitete. Stattdessen schirmte ich mir die Augen gegen die Sonne ab und beobachtete vom Balkon des Ferienhauses aus, wie sich ein Wasserflugzeug absenkte und dann weit über dem See hinwegglitt. Am Steuerknüppel saß mein Mann Milo, was mir, gelinde gesagt, so gar nicht behagte.
Am Morgen hatte noch nichts auf einen so gefährlichen Zeitvertreib hingedeutet. Während Milo sich ausgeschlafen hatte, war ich nach dem Frühstück am Strand spazieren gegangen. Als ich eine Stunde später wieder ins Ferienhaus kam, fand ich eine hastig hingekritzelte Notiz von Milo: Er sei draußen und fliege ein Wasserflugzeug. Ich musste die Nachricht zweimal lesen, um mich zu vergewissern, dass ich sie nicht missverstanden hatte. Da er, soweit ich wusste, noch nie im Leben ein Wasserflugzeug oder sonst irgendetwas geflogen war, fand ich die Vorstellung etwas beunruhigend.
Völlig überrascht war ich allerdings nicht. Erst gestern hatte Milo sich beschwert, dass es noch zu kalt zum Wasserskifahren sei, und so hatte er offenbar zu anderen, drastischeren Mitteln gegriffen, um seine körperliche Unversehrtheit aufs Spiel zu setzen.
Außerdem wusste ich ganz genau, wer ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt hatte: André Duveau, unser Nachbar hier am See. Er bewohnte das Ferienhaus direkt neben uns und teilte die Vorlieben meines Mannes für Autorennen, Glücksspiel und offenbar auch dafür, das eigene Leben zu riskieren. Kein Wunder, dass sie sich so schnell angefreundet hatten.
Mir blieb beinahe das Herz stehen, als die Maschine im Sturzflug auf das Wasser zusteuerte. Instinktiv klammerte ich mich an den Rand des steinernen Blumentopfs auf dem Podest vor dem Geländer. Gerade als ich dachte, das Flugzeug würde ins Wasser stürzen, hob sich die Nase und es stieg wieder auf. Unwillkürlich fragte ich mich, ob Milo wusste, dass ich auf dem Balkon stand, und mich absichtlich erschreckte.
Ich sah zu, wie das Flugzeug in die Höhe stieg, bis ich den Anblick nicht mehr ertragen konnte, dann drehte ich mich um und ging zurück ins Ferienhaus. Wenn Milo so wild entschlossen war, sich umzubringen, dann musste ich ihm nicht auch noch dabei zusehen.
Keine Stunde später näherten sich Schritte dem Wohnzimmer, in dem ich ein französisches Modemagazin las und hoffte, im Sommer nicht Trauer tragen zu müssen.
Mein Mann betrat das Zimmer, gefolgt von André Duveau. Beide waren leger gekleidet, hemdsärmelig und mit in die Stiefel gesteckter Hose – vermutlich der obligatorische Fliegerdress.
In den Wochen unter der Mittelmeersonne war Milo braun geworden. Der dunkle Teint brachte das schwarze Haar zur Geltung und ließ die blauen Augen noch heller erscheinen. Doch ich war nicht in der Stimmung, mich erweichen zu lassen, nur weil er mit dem vom Wind zerzausten Haar so gut aussah. Ich achtete penibel darauf, mir meine Erleichterung, dass er wieder wohlbehalten im Haus angekommen war, nicht anmerken zu lassen.
„Du hast es also an einem Stück zurückgeschafft, ja?“, fragte ich und legte die Zeitschrift weg.
„Du hast meinen Zettel gefunden.“ Milo lächelte. Er kam zu mir, beugte sich herunter und hauchte mir einen Kuss auf die Wange, bevor er sich mir gegenüber in den Sessel fallen ließ. Von meiner gespielten Gleichgültigkeit ließ er sich nicht täuschen.
„Du hättest dir keine Sorgen machen müssen, Liebling. Du weißt doch, nichts bringt mich so sicher auf den Boden der Tatsachen zurück wie du.“
Ich verkniff mir einen bissigen Kommentar und wandte mich an unseren Gast. Nun tat ich nicht mehr, als hätte mir der Ausflug nichts ausgemacht. „Eigentlich müsste ich sehr böse auf Sie sein, Mr Duveau.“
Er lächelte. „Dann möchte ich Sie in aller Förmlichkeit um Verzeihung bitten, Mrs Ames. Ich wäre am Boden zerstört, wenn ich bei Ihnen in Ungnade fallen würde.“
Trotz seines französisch klingenden Namens hatte er kaum einen Akzent, denn er hatte den Großteil seiner Kindheit in England verbracht, wie er uns erzählt hatte. Derzeit lebte er unter anderem in Paris, aber am liebsten zog er sich nach Como zurück. Er besaß ein großzügiges Ferienhaus und mehrere Flugzeuge, die er regelmäßig flog.
„Natürlich kann ich Ihnen nicht allein die Schuld geben“, sagte ich zu Mr Duveau, während er Platz nahm. „Milo tut immer, was er will.“ Wenn man bedachte, dass Milo zu Leichtsinn neigte, konnte ich von Glück reden, dass er sich nicht schon früher in die Lüfte erhoben hatte.
Wie gut, dass wir nicht mehr lange in Como bleiben würden. Wir hatten das Ferienhaus nur für vierzehn Tage gemietet und wollten noch diese Woche zurück nach London. Nach einem Monat auf Capri hatten wir gerade die Heimreise antreten wollen, als Milo plötzlich nach einem Zwischenstopp am Comer See war. Natürlich hatte ich nichts dagegen gehabt, unseren Aufenthalt in Italien zu verlängern. Die Zeit hier war sehr angenehm und dank der Bekanntschaft von Mr Duveau sogar noch schöner.
„Dann verzeihen Sie mir also?“, fragte Mr Duveau augenzwinkernd.
„Ja“, antwortete ich gnädig. „Ich denke schon.“
Wieder lächelte er. Wie schwer es doch war, Mr Duveau lange böse zu sein. Genau wie mein Mann verfügte er über die unwiderstehliche Kombination aus verblüffend gutem Aussehen und Unmengen an Charme. Das helle Haar war immer ein wenig vom Wind zerzaust, egal, ob er in der Luft gewesen war oder nicht, und in der kurzen Zeit, seit ich ihn kannte, hatte ich schon so einige Frauen wegen der doppelten Anziehungskraft aus dunklen Augen und schelmischem Grinsen erröten sehen.
„Ich hingegen werde mir die Vergebung erst noch verdienen müssen“, sagte Milo. „Meine Frau hält nichts von Flugzeugen.“
„Ich weiß die Vorteile von Flugzeugen durchaus zu schätzen“, erwiderte ich. „Was mir nicht gefällt, ist die Vorstellung, dass mein Mann Hunderte Meter über dem Boden herumsaust.“
„Ich versichere Ihnen, Mrs Ames, Ihr Mann hat das Zeug zu einem hervorragenden Piloten. Noch ein paar Flüge und wir qualifizieren uns vielleicht für die Schneider-Trophy.“
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, dass Milo sich das Fliegen womöglich noch zur Gewohnheit machen oder gar an Flugzeugrennen teilnehmen würde. Falls es so weit kommen sollte, hätte ich ein paar Takte mit ihm zu reden, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt.
„Bleiben Sie zum Mittagessen, Mr Duveau?“, fragte ich.
„Das klingt verlockend, aber ich habe leider keine Zeit. Morgen früh reise ich zurück nach Paris, und ich muss mich davor noch um einiges kümmern.“
„Oh, ich wusste nicht, dass Sie schon so bald abreisen“, sagte ich.
„Das hatte ich auch nicht vor, aber da ist etwas … etwas, das meine Aufmerksamkeit erfordert.“
Eine Frau, dachte ich sofort. Da er so sorgsam vermied, den Grund für die plötzliche Abreise zu nennen, tippte ich auf eine Liebesangelegenheit. Sicher freute sich die Glückliche, dass er alles stehen und liegen ließ, um zu ihr zu fliegen. Was für eine romantische Geste.
„Wie schade, dass Sie wegmüssen“, sagte ich. „Aber ich wünsche Ihnen eine gute Reise.“
„Danke. Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe das Gefühl, alte Freunde zurückzulassen. Da fällt mir ein: Ich habe Ihnen ein Abschiedsgeschenk mitgebracht.“ Bisher war mir die kleine Schachtel, die er mir nun hinhielt, gar nicht aufgefallen.
Ich öffnete sie und fand darin ein in Samt gebettetes Glasfläschchen. Es war Parfum. Ich nahm den Flakon aus der Schachtel und sah ihn mir genauer an. Das Glas war in Facetten geschliffen und schimmerte im Licht, das durch die großen Fenster hinter mir fiel. „Wie schön.“ Ich nahm den Stöpsel heraus und ein schweres, blumiges Aroma stieg mir in die Nase.
„Der Duft ist brandneu“, erklärte Mr Duveau. „Sie werden eine der ersten Frauen sein, die ihn tragen.“
„Das ist aber nett von Ihnen“, sagte ich und betupfte mir mit dem Stöpsel das Handgelenk. Das Parfum roch herrlich, auf beruhigende Weise vertraut und doch exotisch.
„Mir ist aufgefallen, dass Sie Gardenie tragen. Da dachte ich, dieses Parfum könnte Ihnen gefallen. Es heißt Shazadi. Es hat einen blumigen Duft, aber mit einer warmen, sinnlichen Note, die zu Ihnen passt.“
„Danke. Ich werde es sicher gern tragen.“
Er lächelte. „Das hoffe ich. Jetzt muss ich mich aber verabschieden. Es hat mich gefreut, Sie beide kennenzulernen. Vielleicht sehen wir uns mal in London?“
„Das würde uns freuen“, sagte ich.
„Und beim nächsten Mal setzen wir uns in ein Jagdflugzeug, was, Ames?“, sagte er. Dann zwinkerte er mir zu und ging.
Als ich relativ sicher sein konnte, dass er weg war, wandte ich mich an meinen Mann. „Ich weiß, es bringt nichts, dich zu bitten, so etwas Leichtsinniges zu unterlassen, aber du könntest dich wenigstens persönlich verabschieden, bevor du mich zur Witwe machst.“
Wie ich geahnt hatte, winkte Milo ab. „Du machst dir zu viele Gedanken, meine Schöne. Wasserflugzeuge sind absolut sicher. Das ist kaum anders als Auto fahren.“
Ich hatte nicht vor, ihm zu widersprechen. Über die Jahre hatte ich gelernt, wann sich eine Diskussion lohnte und wann nicht. Ich konnte nur hoffen, dass nun, da André Duveau weg war, Milo der Zugang zu diesem speziellen Laster verwehrt blieb.
„Abgesehen von der Sache mit dem Flugzeug ist es schade, dass Mr Duveau abreisen musste“, sagte ich. „Er ist sehr charmant.“
Ich wedelte mit dem Handgelenk vor meinem Gesicht und atmete noch einmal den Parfumduft ein. Er hatte etwas Berauschendes.
„Ja, was das angeht“, sagte Milo und stand auf. „Wenn ein Kerl darauf achtet, welchen Duft die Ehefrau eines anderen trägt und ihr dann auch noch Parfums mit einer ‚sinnlichen Note‘ schenkt, dann ist es wohl ohnehin an der Zeit, auf diese Freundschaft zu verzichten.“
Ich lachte. „Ist es denn so seltsam, dass ihm aufgefallen ist, dass ich Gardenie trage? Ich fand es sehr nett, dass er mir Parfum geschenkt hat.“
„Nicht so nett, wie du denkst. Er macht Geschäfte mit einem Parfumhersteller. Wahrscheinlich hat er das Zeug kistenweise bekommen, um es anderen aufzudrängen.“
„Wie charmant du doch heute Vormittag bist“, sagte ich trocken.
Er kam zu mir, umfasste mein Handgelenk und hielt es sich unter die Nase. „Es riecht jedenfalls herrlich auf deiner Haut.“
„Findest du, die sinnliche Note passt zu mir?“, fragte ich leise.
„Und wie.“
Er zog mich an sich und küsste mich. Wieder spürte ich das ungewohnte Gefühl vollkommener Zufriedenheit – in letzter Zeit war das mein ständiger Begleiter. Ich war erholt, entspannt und glücklich. Noch vor einem Jahr war ich überzeugt gewesen, meine Ehe würde in die Brüche gehen. Jetzt hatte ich den Eindruck, dass es noch nie besser um uns gestanden hatte.
Unvermittelt hielt Milo inne und zog sich leicht zurück. „Seit wann ist die Post da?“
Er schaute über meine Schulter. Offenbar hatte der Stapel Briefe auf dem Tischchen hinter mir den Sinneswandel ausgelöst.
„Noch nicht lange“, sagte ich. „Winnelda hat sie hereingebracht. Ich bin sie noch nicht durchgegangen.“
Milo ließ mich los und nahm einen Brief. Mein Gatte war immer furchtbar schwer zu durchschauen, aber mir entging nicht, wie sich seine Laune beim Anblick des Kuverts veränderte.
„Was ist los?“, fragte ich.
Er zögerte kurz, und obwohl sein Gesichtsausdruck unverändert blieb, war ich auf einmal besorgt. „Ich habe dir etwas verschwiegen“, sagte er.
Sofort gingen mir verschiedene Szenarien durch den Kopf. Da mein Mann eine recht bewegte Vergangenheit hatte, könnte es so ziemlich alles sein. Ich wartete.
„Es gab einen Grund für unseren Aufenthalt in Como“, fuhr er fort, was mich nicht gerade beruhigte.
„Ja?“, hakte ich vorsichtig nach.
„Es hat mit Madame Nanette zu tun.“
Ich versuchte, mir die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Madame Nanette war Milos ehemaliges Kindermädchen, also die Frau, die ihn praktisch aufgezogen hatte. Was auch immer Milos Geheimnis sein mochte, es konnte nicht so schlimm sein wie befürchtet.
„Was ist mit ihr?“
„Als wir auf Capri waren, hat Ludlow mir einen Brief von ihr weitergeleitet. Sie hat eine Anstellung in Paris angenommen und wird mit der Familie nach Como reisen. In den Klatschspalten hat sie gelesen, dass wir in Italien sind, und dachte, dass wir sie vielleicht besuchen könnten.“
Seit wir im Ausland waren, hatte Milo schon mehrere Schreiben von unserem Anwalt erhalten, daher war mir dieser Brief nicht aufgefallen. Aber warum hatte er mir vor der Abreise von Capri nichts davon erzählt? Die Nachricht war schließlich nichts Schlimmes. Ganz im Gegenteil.
„Wie schön“, sagte ich. „Ich freue mich schon, sie zu sehen.“
Er ging zum Schreibtisch in der Ecke, schlitzte den Umschlag mit einem Brieföffner auf und nahm den Brief heraus. Mit neutraler Miene überflog er ihn.
Endlich hob er den Blick. „Sie bleibt in Paris und bittet uns, dorthin zu kommen.“
„Geht es ihr nicht gut?“, fragte ich, schlagartig besorgt. Es war nicht Madame Nanettes Art, um einen Besuch zu bitten. Sie und Milo schätzten sich zwar sehr, aber sie standen nicht mehr in engem Kontakt. Ich war ihr nur zweimal begegnet, einmal bei unserer Hochzeit und einmal, als wir an Weihnachten auf Durchreise in Paris waren.
„Davon schreibt sie nichts. Der Brief ist sehr kurz.“
„Darf ich mal sehen?“
Kommentarlos hielt er ihn mir hin. Ich betrachtete das Blatt in meiner Hand. Das Briefpapier war fest und hochwertig und hatte eine Prägung, vermutlich mit dem Wappen des Hauses, in dem sie nun arbeitete.
Ihre Handschrift war außergewöhnlich, eine schöne Schrift, die sich in perfekten, gleichmäßigen Schwüngen über die Seite zog.
Mein lieber Milo,
ich bin nun doch nicht in der Lage, Paris zu verlassen. Wenn Sie und Ihre reizende Frau die Zeit fänden, mich zu besuchen, würde mich das überaus freuen.
Herzlichst
Madame Nanette
Im Postskriptum hatte sie ihre Telefonnummer angegeben und gebeten, sie bei unserer Ankunft anzurufen.
„Viel steht nicht drin“, sagte ich.
„Nein.“
Die Knappheit des Briefs war etwas beunruhigend, aber ich konnte nicht genau sagen, warum.
„Du hast doch nichts gegen eine Reise nach Paris?“, fragte Milo.
„Natürlich nicht. Wir sollten so schnell wie möglich los. Am besten fangen wir gleich mit dem Packen an“, antwortete ich und begann in Gedanken schon mit den Vorbereitungen. „Wir können morgen den Zug nehmen.“
Plötzlich lächelte er auf eine Art, die mich immer sofort argwöhnisch machte.
„Liebling, was hältst du von der Idee, nach Paris zu fliegen?“
2
Wir nahmen den Nachtzug ab Mailand.
„Wir hätten schon in Paris sein können“, murrte Milo, als wir uns nach dem Abendessen in unser Privatabteil zum Schlafen zurückzogen. Vor dem Fenster rauschte die dunkle Landschaft vorbei.
„Aber Züge sind doch viel romantischer“, erwiderte ich.
„Vielleicht, wenn es ein Bett gäbe, in das wir beide passen“, entgegnete er und warf einen Blick durch die Tür des Sitzbereichs unseres Abteils auf die schmalen Pritschen in der angrenzenden Schlafkabine.
Ich ließ seine Beschwerde unkommentiert und nahm auf der gepolsterten Bank Platz. Fliegen mochte zwar schneller sein, aber ich bevorzugte beim Reisen festen Boden unter den Füßen.
Außerdem fuhr ich gerne mit dem Zug. Die im weichen, gelben Licht warm glänzende Holzvertäfelung, das sanfte Wiegen des Waggons und das beruhigende, rhythmische Rattern der Räder auf den Schienen. Das alles zusammen hatte eine einlullende Wirkung und versetzte mich in eine schläfrige, friedliche Stimmung.
Ich blickte zu Milo auf – er sah weder schläfrig noch friedlich aus. Heute Abend war er ruhelos, und ich wusste, dass es ihm missfiel, in dem beengten Abteil festzusitzen.
Trotzdem hatte er mein Angebot, etwas an der Bar im Salonwagen zu trinken, ausgeschlagen und sich stattdessen nach dem Dinner und anschließenden Kaffee mit mir zurückgezogen.
„Komm, setz dich“, sagte ich und klopfte neben mir auf die Bank. Er band den Gürtel seines Morgenmantels zu und folgte der Aufforderung. Dann nahm er das silberne Etui samt Feuerzeug aus der Tasche, zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich seufzend zurück.
Einen Moment lang betrachtete ich seine ebenmäßigen Gesichtszüge im Profil, dann fragte ich: „Es stört dich doch nicht, dass wir nicht das Flugzeug genommen haben?“
Er sah mich an. „Nein, Liebling“, sagte er und drückte meine Hand auf dem Sitz zwischen uns. „Wahrscheinlich ist Duveau sowieso mit seinem Avions-Fairey-Fox-Bomber geflogen. Das ist ein Zweisitzer.“
„Du hättest ohne mich fliegen können.“
„So wichtig ist mir Duveaus Gesellschaft auch wieder nicht, dass ich sie deiner vorziehen würde.“
„Aber du wärst gerne geflogen.“
„Wenn ich die Wahl zwischen dir und sämtlichen Flugzeugen der Welt habe, dann lasse ich mich lieber mit dir in ein enges Zugabteil einpferchen“, sagte er und gab mir einen Kuss auf die Hand.
Ich lächelte, spürte aber eine zunehmende Anspannung. Für gewöhnlich fand Milo immer die passenden Worte. Aber wenn er so lieb war, war das meist ein Grund, misstrauisch zu werden. Das Gefühl hatte ich schon, seit ich Madame Nanettes Brief gelesen hatte. Hinter dieser Reise nach Paris steckte mehr als auf den ersten Blick ersichtlich.
Ich drehte mich zu ihm. „Milo, ich wollte dich etwas fragen.“
„Ja?“ Er nahm eine französische Zeitung, faltete sie auf und überflog die Schlagzeilen. „Was denn?“
„Warum hast du mir nicht schon auf Capri erzählt, dass Madame Nanette dir geschrieben hat?“
Er zuckte die Schultern. „Das hatte keinen bestimmten Grund.“
„Aber du hättest doch sagen können, dass du deshalb in Como Halt machen willst“, beharrte ich.
Er zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, als würde er abwägen, ob er mich anlügen sollte oder nicht.
„Ich muss es wohl vergessen haben“, sagte er unbekümmert, ohne den Blick von der Zeitung abzuwenden.
Jetzt stand fest, dass er log. Milo war zwar vieles, aber vergesslich war er nicht.
In unserer Ehe hatte es eine Zeit gegeben, in der ich über die abweisende Art hinweggesehen hätte, aber seit ein paar Monaten sah die Sache anders aus. Ich sah nicht ein, mich abspeisen zu lassen. Ich kniff die Augen zusammen und sah ihn an. „Du verschweigst mir doch etwas, Milo.“
„Du bist aber misstrauisch, Liebes“, sagte er trocken und faltete die Zeitung.
„Und was glaubst du, wer daran Schuld hat?“, antwortete ich nur halb im Scherz.
„Ich ganz allein.“ Er lächelte, warf die Zeitung beiseite und neigte sich zu mir. „Was für ein schlimmer Mensch ich doch sein muss, wenn dein unschuldiges Herz wegen mir ständig mit Misstrauen belastet ist.“ Sein Blick ließ keinen Zweifel: Er würde sein Bestes geben, um mich von dem Gespräch abzulenken.
Mein Verdacht bestätigte sich, als er den Mund auf meinen drückte und die Arme um mich schlang. Für einen Moment vergaß ich beinahe, dass ich wütend auf ihn war. Beinahe.
Ich löste mich von ihm und schob ihn entschlossen weg. „Antworte mir, Milo.“
Er zog den Mundwinkel hoch, halb belustigt, halb verärgert, und lehnte sich seufzend zurück. „Ich habe nichts gesagt, weil ich befürchtet hatte, dass du genau das tun würdest, was du jetzt tust: anschlagen wie ein überreizter Bluthund, weil du glaubst, Ärger zu riechen.“
Ich zog die Brauen hoch. „Ich werde mal großzügig über diesen höchst beleidigenden Kommentar hinwegsehen und bitte dich einfach, dich klarer auszudrücken. Worum geht es?“
Er streckte sich über mich und drückte die Zigarette im Messing-Aschenbecher auf dem Tischchen vor dem Fenster aus. „Das weiß ich nicht so genau. Aber Madame Nanettes erster Brief war seltsam.“
„Inwiefern?“
„Zum einen hat sie von einer privaten Angelegenheit geschrieben, die sie gern mit mir besprechen wollte. Dass sie das nicht konkretisiert hat, fand ich ungewöhnlich. Es ist ihr noch nie schwergefallen, sich klar auszudrücken. Die vorsichtige Formulierung passt nicht zu ihr. Der ganze Ton des Briefs war merkwürdig.“
Sich vage auszudrücken war an sich noch kein Grund zur Sorge, aber ich vertraute auf Milos Bauchgefühl. Wenn er wollte, konnte er auf geradezu nervige Weise scharfsinnig sein.
„Sie hat es nicht direkt geschrieben“, fuhr er fort, „aber ich hatte den Eindruck, dass es Probleme mit der Familie gibt, für die sie arbeitet.“
„Sie wollten eigentlich in Como Urlaub machen“, sagte ich.
„Ja. Ich habe es nicht erwähnt, weil ich nicht wusste, ob da etwas dran ist. Ich wollte einfach hinfahren und mit ihr sprechen, ohne dich zu beunruhigen.“
Ich kaufte ihm diese Ausrede nicht so richtig ab, erst recht nicht nach der wenig schmeichelhaften Anspielung auf meine Neigung, Ärger zu riechen.
„Aber dann kam heute Morgen ein zweiter Brief“, sagte ich, „in dem stand, dass sie nicht aus Paris wegkann.“
Er nickte. „Das bestätigt doch, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sonst hätte sie mich nicht gebeten zu kommen.“
Trotz der spärlichen Informationen konnte ich der Einschätzung, dass womöglich etwas im Argen lag, nicht widersprechen. Hätte er sich mir doch schon früher anvertraut.
„Du hättest mich ruhig einweihen können“, sagte ich.
Seine Miene zeigte keinerlei Reue. „Du bist in letzter Zeit oft genug in Gefahr gewesen. Ich habe mir vorgenommen, dich von Problemen fernzuhalten, und dafür werde ich mich nicht entschuldigen.“
Ich runzelte die Stirn. Er hatte recht, im letzten Jahr waren wir tatsächlich in die ein oder andere nicht gerade wünschenswerte Situation geraten, aber war das nicht ein Grund mehr, alles zu tun, um Madame Nanettes Problem zu lösen? Immerhin wurden wir allmählich Experten auf diesem Gebiet.
„Es wird schon nichts Gefährliches sein“, sagte ich. „Und falls Madame Nanette in Schwierigkeiten steckt, sollten wir alles tun, um ihr zu helfen.“
„Ja, ich werde alles tun, was nötig ist“, sagte er mit einer Endgültigkeit, die mich ärgerte.
„Tja, aber nicht ohne mich“, erwiderte ich.
Er musterte mich kurz, dann schüttelte er den Kopf.
„Warum siehst du mich so an?“, fragte ich.
„Dieser Gesichtsausdruck. Ich weiß, was der bedeutet.“
„Und zwar?“
Er seufzte. „Ärger.“
Wir erreichten Paris an einem strahlenden, warmen Morgen, und der Duft von Vanilleblumen lag in der Luft. Trotz der Sorge um Madame Nanette und des Ärgers über Milos anfängliche Geheimnistuerei hatte mich das Schaukeln des Zugs in einen tiefen Schlaf versetzt, und ich war erfrischt und voller Zuversicht aufgewacht. Vielleicht war alles nur halb so schlimm. Womöglich wollte Madame Nanette uns nur gern wiedersehen. Schließlich war der letzte Besuch schon lange her.
Wir aßen in einem Café zu Mittag und fuhren dann zum Hotel, einem schönen Steingebäude mit blauen Fensterläden und Fensterkästen voller bunter Blumen. Normalerweise übernachteten wir in Paris anderswo, aber das Hotel war unweit der Adresse in Madame Nanettes Brief, und wir hielten es für das Beste, in ihrer Nähe zu sein.
Milo hatte ihr ein Telegramm mit unserer Ankunftszeit geschickt und erkundigte sich an der Rezeption, ob es Nachrichten für uns gab.
„Ja, Sie haben eine, Monsieur“, sagte der Empfangschef und reichte Milo eine Notiz.
Milo warf einen Blick darauf. „Sie schreibt, sie versucht, heute nach dem Abendessen anzurufen.“
Ich nickte, und plötzlich schwand mein Optimismus. Ich hoffte aufrichtig, dass es kein größeres Problem gab und sie nicht krank war. Obwohl Milo seine Gefühle normalerweise für sich behielt, wusste ich, dass er Madame Nanette sehr gern hatte. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben, und Madame Nanette hatte für ihn eine Rolle übernommen, die der einer Mutter am nächsten kam.
Anscheinend spürte er meine Sorge, denn er lächelte aufmunternd und drückte mich sanft am Arm, als wir aus dem Aufzug stiegen und dem Pagen zu unserem Zimmer folgten.
Ich betrat unsere Suite und sah mich um, während der Page unser Handgepäck abstellte. Die Koffer waren bereits mit meinem Dienstmädchen und Milos Kammerdiener vom Bahnhof gekommen.
„Alles zu deiner Zufriedenheit?“, fragte mich Milo, gab dem jungen Mann Trinkgeld und zog dann die Tür zu.
„Ja, sehr schön“, sagte ich.
Die Tür vom Flur hatte uns direkt ins Wohnzimmer geführt, das geschmackvoll in Pastellfarben eingerichtet und mit dezenten Blumen dekoriert war. Vor dem Marmorkamin standen ein Satinsofa und ein Sessel, und an der Wand hingen mehrere hübsche Kunstwerke. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Reihe deckenhoher Fenster, und ich ging über die flauschigen Teppiche hin und zog die Vorhänge zurück. Unter uns glitzerte die Seine in der Nachmittagssonne.
„Wie schön, wieder in Paris zu sein“, sagte ich. „Es ist schon eine Ewigkeit her.“
Obwohl ich das ehrlich meinte, fiel selbst mir die mangelnde Begeisterung in meiner Stimme auf. Ich konnte das wachsende Unbehagen nicht abschütteln. Milo musste das bemerkt haben, denn er folgte mir zum Fenster und stellte sich direkt hinter mich.
„Es gibt keinen Grund zur Sorge, Liebling“, raunte er, legte die Arme um mich und hauchte mir einen Kuss auf den Hals. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass alles in Ordnung ist.“
„Ja“, sagte ich. So zuversichtlich, wie er klang, wollte ich ihm gern glauben. „Du hast bestimmt recht.“
Hinter uns machte jemand mit schlurfenden Schritten taktvoll auf sich aufmerksam – das musste Milos Kammerdiener Parks sein. Ihm waren Liebesbekundungen zwischen Milo und mir immer höchst unangenehm, weshalb er stets darauf bedacht war, uns nicht versehentlich zu ertappen.
„Ja, Parks?“, sagte Milo, ließ mich los und drehte sich zu ihm.
„Alles ist vorbereitet, Sir, und ich habe Ihre Abendgarderobe herausgelegt. Gibt es sonst noch etwas tun?“
„Ich glaube nicht“, antwortete Milo. „Warum nehmen Sie sich den Abend nicht frei, Parks? Ich würde doch sagen, dass selbst Sie eine Möglichkeit finden, sich in Paris zu amüsieren.“
„Gewiss, Sir“, sagte Parks ohne jegliche Begeisterung. „Ich danke Ihnen.“
„Ist Winnelda hier irgendwo?“, fragte ich.
„Ich glaube, sie ist in ein Geschäft um die Ecke gegangen, Madam, um sich, äh, Lesestoff zu besorgen.“ Die Missbilligung war nicht zu überhören.
Ich wusste, welche Art von Lesestoff Winnelda suchte. Klatschzeitschriften. Für sie ging nichts über pikante Skandale, und daran würde es in Paris sicher nicht mangeln. Ich bezweifelte jedoch, dass sie viel auf Englisch finden würde.
„Danke, Parks“, sagte ich.
Er nickte und verließ geräuschlos die Suite.
„Der Arme kann seine Aufregung ja kaum zügeln, so sehr freut er sich auf einen freien Abend in Paris“, bemerkte Milo trocken.
Ich lächelte. „Manchmal frage ich mich, wie Parks so ist, wenn er allein ist. Glaubst du, er ist immer so tadellos?“
„Keine Frage. Würde mich nicht wundern, wenn er sogar in seinem Anzug schläft.“
„Die Zusammenarbeit mit Winnelda muss anstrengend für ihn sein.“ Winnelda war ebenso leichtherzig wie Parks verlässlich, und ich konnte mir vorstellen, dass er sich oft über sie ärgerte.
„Vielleicht muss er sich nicht mehr lange mit ihr herumschlagen. Würde mich nicht wundern, wenn du das Mädchen in Paris verlierst“, kommentierte Milo. „Entweder verliebt sie sich Hals über Kopf in irgendeinen schnauzbärtigen Halunken oder sie endet auf der Bühne und wirft mit einer Reihe Cancan-Tänzerinnen die Beine in die Luft.“
„Wohl kaum“, sagte ich. „Dazu fehlt ihr der Gleichgewichtssinn.“
In dem Moment ging die Tür auf, und Winnelda kam mit einem Stapel Zeitschriften unterm Arm herein. Als sie uns sah, blieb sie stehen und machte unbeholfen einen kleinen Knicks. „Oh, Madam, Mr Ames, ich wusste nicht, dass Sie schon da sind. Ich war nur kurz um die Ecke und habe ein paar Kleinigkeiten gekauft. Das heißt … Ich … Also, ich habe Ihre Koffer schon fast ausgepackt, Madam. Soll ich den kleinen Handkoffer auspacken, den Sie dabeihatten?“
Ich warf einen letzten Blick auf die malerische Aussicht, dann wandte ich mich von dem Fenster ab und zog die Handschuhe aus.
„Ja, Winnelda, danke. Und würden Sie mir für heute Abend etwas zum Anziehen herauslegen?“
„Ich dachte, Sie kaufen sich neue Kleider.“ Sie klang entsetzt, dass ich etwas tragen wollte, das bereits mir gehörte, wo mir doch alle Geschäfte in Paris zur Verfügung standen.
„Ja, vielleicht gehe ich wirklich einkaufen“, sagte ich lächelnd, „aber nicht vor dem Abendessen.“
Sie sah ein wenig geknickt aus, daher schnitt ich ein Thema an, dass sie sicherlich aufheitern würde.
„Steht etwas Interessantes in den Klatschspalten?“, fragte ich. Die Fehltritte der Reichen und Berühmten bereiteten Winnelda immer das größte Vergnügen. Seitdem es Milo gelang, seinen Namen mehrere Monate in Folge aus den Klatschkolumnen herauszuhalten, war ich diesen Zeitschriften viel weniger abgeneigt als zu der Zeit, als er ständig zusammen mit bezaubernden Berühmtheiten und Filmstars in den Schlagzeilen stand.
„Ich musste viele Zeitschriften durchblättern, bis ich etwas Interessantes gefunden habe“, sagte Winnelda mürrisch. „Die meisten waren auf Französisch und hatten einen alten Mann auf der Titelseite.“
„Einen alten Mann?“, wiederholte ich.
„Ja, bei ganz vielen war ein Foto von ihm vorne drauf. Er war ziemlich alt und überhaupt nicht schön.“
„Wie schade“, sagte ich und unterdrückte ein Schmunzeln.
„Ich habe alle gekauft, die ich auf Englisch gefunden habe, und auch ein paar französische. Ich dachte, vielleicht könnten Sie mir ja bei Gelegenheit sagen, was drinsteht.“
„Gerne.“
Hätte ich gewusst, worauf unser Aufenthalt in Paris hinauslaufen würde, dann hätte ich den Klatschspalten wohl von Anfang an etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet.